Antje Babendererde

Schneetänzer

Weitere Bücher von Antje Babendererde im Arena Verlag:

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Rain Song

Indigosommer

Die verborgene Seite des Mondes

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Der Gesang der Orcas

Lakota Moon

Talitha Running Horse

Findet mich die Liebe?

Schneetänzer ist auch als Hörbuch erhältlich.

Antje Babendererde,

geboren 1963, wuchs in Thüringen auf und arbeitete nach dem
Abi als Hortnerin, Arbeitstherapeutin und Töpferin, bevor sie sich
ganz dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gilt ihr besonderes
Interesse der Kultur, Geschichte und heutigen Situation der Indianer.
Ihre einfühlsamen Romane zu diesem Thema für Erwachsene wie für
Jugendliche fußen auf intensiven Recherchen während ihrer
USA-Reisen und werden von der Kritik hochgelobt.

Antje Babendererde

They tried to bury us.

They didn’t know

we were seeds.

Mexikanisches Sprichwort

Whe-tiko

Weißer Flockenwirbel. Kalt, so kalt. Ich laufe, setze einen Fuß vor den anderen. Meine Schritte werden vom kalten Weiß verschluckt. Mein Kopf schmerzt und ich will um Hilfe rufen, doch aus meinem Mund kommen nur weiße Wolken, in denen die Schneeflocken tauen.

Plötzlich höre ich knirschende Schritte im Schnee und ein wildes Schnaufen. Ohne mich umzudrehen, fange ich an zu rennen. Kälte sticht in meine Lungen, die Schritte kommen näher. Mit jagendem Herzen laufe ich zwischen verschneiten Bäumen hindurch, aber meine kurzen Beine versinken immer tiefer im frischen Schnee. Ich höre meinen Verfolger krachend durchs Holz brechen, brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was mir da dicht auf den Fersen ist. Das Ungeheuer des Waldes. Ein Monstrum mit einem Eisherzen, das Appetit auf ungehorsame Jungen hat.

Plötzlich bleibe ich mit dem Fuß an einem im Schnee verborgenen Ast hängen, stolpere und fliege der Länge nach hin. Das kalte Weiß ist überall um mich herum, sogar in meinem Mund. Mit letzter Kraft sauge ich Luft in meine Lungen. Doch der Schrei gefriert in meiner Kehle.

1

EISBÄRENEXPRESS

Mit einem wilden Atemzug fuhr ich aus meinem Albtraum vom zotteligen Ungeheuer im Schnee. Mein Blick jagte im Zickzack durch den Raum. Vier weiße Wände statt Winterwald. Kein Ungeheuer. Aber warum war mir dann so furchtbar kalt?

Mein Handywecker klingelte. Fluchend kämpfte ich mit dem Bettzeug, die Arme und Beine verstrickt in das schweißnasse Laken. Die dicke Wolldecke war zu Boden gerutscht, deshalb fror ich auch so in meinem T-Shirt und den Boxershorts.

An der Wand gegenüber dem Bett hing eine fotografierte Winterlandschaft: schwarze Baumspitzen, die aus einer endlosen, unberührten Schneefläche ragten. Nun wusste ich auch wieder, wo ich war: in einem Hotelzimmer in Cochrane, Ontario, auf dem Weg in meine Vergangenheit.

Es war kurz vor acht und in einer Stunde ging mein Zug in den hohen Norden. Mein Ziel war Moosonee, ein abgelegenes Nest, zu dem es keine Straßenverbindung gab. Ich schwang die Beine aus dem Bett und tappte ans Fenster. Der Himmel war von dicken Wolken verhangen und überall türmten sich schmutzige Schneeberge an den Straßenrändern. Direkt gegenüber vom Hotel lag der kleine, eingleisige Bahnhof von Cochrane. Ein Bus aus Timmins lud gerade neue Fahrgäste mit Unmengen Gepäck auf dem Bahnhofsvorplatz ab und auf einmal konnte ich nicht schnell genug dort unten bei den anderen Reisenden sein. Ich duschte, packte zusammen und checkte aus.

Das digitale Thermometer am Bahnhofsgebäude zeigte 15 °C, was so weit nördlich vermutlich okay war für Mitte April. Im Bahnhofsrestaurant bestellte ich mir einen Milchkaffee und zwei Croissants mit Butter und Marmelade.

Auf dem lang gezogenen Bahnsteig ging es kurz vor Abfahrt des Polar Bear Express ins rund dreihundert Kilometer entfernte Moosonee geschäftig zu. Menschen, die aussahen wie ich, schleppten riesige Koffer und mit Klebestreifen umwickelte Kartons zum Gepäckwaggon, wo alles verladen wurde: von rosafarbenen Kinderfahrrädern über Küchengeräte, riesige Packungen Pampers, Computer und Stereoanlagen bis hin zu sperrigen Staubsaugern und Tetrapacks voller Milch. Irritiert starrte ich auf den Flyer von Moosonee in meiner Hand. Gab es dort etwa keinen Supermarkt?

Ich war tief verletzt und wütend gewesen und hatte meiner Mutter keine Gelegenheit gegeben, mir mehr über den abgeschiedenen Ort an der James Bay zu erzählen, bevor ich Hals über Kopf von zu Hause abgehauen war, nur vier Wochen vor den Abiprüfungen. Als ich Mum dann vom Frankfurter Flughafen aus anrief, fragte sie mich, ob ich lange Unterhosen eingepackt hätte. Und sie warnte mich, dass es schwer werden könnte, mich unter einem Volk von Jägern fleischlos zu ernähren.

Dann sagte sie noch: »Er wird dich enttäuschen, Jacob.«

Ich bestieg einen der beiden dunkelblauen Passagierwaggons mit dem gelb-roten Logo, das eine fliegende Kanadagans darstellte, und suchte wie alle anderen meinen Platz. Eine indianische Großfamilie beschlagnahmte gleich mehrere Sitzbänke, die Kinder warfen sich in die blauen Sitze.

Das Ticket nach Moosonee und wieder zurück nach Cochrane hatte mich hundertzwanzig kanadische Dollar gekostet. Inzwischen war ich mit meinen Reisekosten bei knapp tausend Euro angelangt und mein Budget schrumpfte rapide. Tante Sonja hatte noch einen Hunderter auf mein Konto überwiesen, somit blieben mir knapp zweihundert Euro für die nächsten beiden Wochen. Ich ging fest davon aus, dass mein Erzeuger mich beherbergen und ernähren würde, nachdem er vierzehn Jahre lang keinen Cent für mich ausgegeben hatte.

Erneut stieg Wut in mir hoch. Auf meine Mutter, die mich jahrelang belogen hatte, aber auch auf meinen verantwortungslosen Vater, der vor vierzehn Jahren unsere Familie zerstört hatte. Beide waren schuld daran, dass ich mein bisheriges Leben unter falschen Vorzeichen gelebt hatte. Dass nun ein gewaltiges Drunter und Drüber in meinem Inneren herrschte.

Es gab reservierte Plätze. Zu meinem Ticket gehörte der Fensterplatz einer Viererbank. Nachdem ich meine Sporttasche und meine Jacke in der Gepäckablage verstaut hatte, machte ich es mir bequem. Blaues Kunstleder, weiche Polster und eine breite Fußablage wie bei diesen Omasesseln. Gar nicht übel für die fünf Stunden Fahrt ans Ende der Welt, die mich erwarteten. Mein Blick fiel wieder auf den Flyer von Moosonee, der am Bahnhof ausgelegen hatte. »Come visit us and touch the edge of the Arctic.«

Obwohl es gemütlich warm war im Zug, rann mir ein Schauer über den Rücken. Eine Vorahnung?

Der Waggon füllte sich schnell, doch die anderen Fahrgäste beachteten mich gar nicht. Familien mit kleinen Kindern, die auf wackligen Beinen durch den Gang liefen. Männer in karierten Wolljacken, Frauen und Mädchen, die lachend schwatzten. Neugier schluckte meinen Groll, denn es war ein seltsames Gefühl, unter Menschen zu sein, die aussahen wie ich: kohlschwarze Haare, dunkle Haut, leicht schräge dunkle Augen. Kanadische Ureinwohner, deren Vorfahren dieses Land noch allein gehört hatte.

Einige dieser Leute waren von meinem Stamm. Die Wahrheit über meine Herkunft wusste ich erst seit ein paar Tagen und ich hatte mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, einen Cree-Indianer zum Vater zu haben.

Mum hatte mir jahrelang weisgemacht, ich wäre die Folge eines One-Night-Stands. Meinen Erzeuger, irgendein Student aus Südostasien namens Greg (wenigstens was seinen Vornamen anging, hatte sie mich nicht belogen), hätte sie mit achtzehn auf ihrer großen Reise durch Kanada in einem Hostel kennengelernt. Und am nächsten Morgen, als sie aus ihrem Marihuana-Rausch erwacht war, hätte er bereits das Weite gesucht. Damit hatten sich alle weiteren Fragen erübrigt.

Wie oft hatte ich in den vergangenen Jahren vor dem Spiegel gestanden und nicht gewusst, wer mich daraus anblickte. Ein Teenager mit dunkler Haut, halb deutsch, halb …Ja, was?

Ich hatte meine ausgeprägten Wangenknochen, die braungrünen, wie liegende Halbmonde geformten Augen und mein rabenschwarzes Haar betrachtet und mich gefragt, wer ich war – wo auf der Erdkugel diese andere Hälfte beheimatet war.

Ein paar Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag hatte mein Freund Ben mir geraten, meine DNA bei einem genetischen Testdienst einzuschicken, um vielleicht per DNA-Matches eine Übereinstimmung zu erzielen. Beinahe hatte er mich so weit gehabt, das Geld zu investieren, als sich die Frage schlagartig von selbst erledigte und ich endlich eine Erklärung dafür geliefert bekam, wieso ich manchmal in Englisch träumte.

Weil es meine Vatersprache war.

Meine Welt stand kopf, ich war wütend und durcheinander, aber auch von einer prickelnden Aufregung erfasst. Mein Vater war kein Phantom mehr. Er hatte einen Namen: Greg Cheechoo. Und es gab einen Ort, an dem ich schon gelebt hatte: Moosonee.

Eine Indianerin unbestimmbaren Alters setzte sich mir gegenüber auf den Platz am Gang. Sie grüßte mich mit einem freundlichen Lächeln und widmete sich ihrem Smartphone. Punkt neun Uhr stieß die Diesellok einen langen, durchdringenden Pfiff aus. Der Eisbärenexpress setzte sich in Bewegung.

In meinem Inneren brodelte es. Ich konnte es kaum erwarten, endlich meinem Erzeuger gegenüberzutreten. Immer wieder stellte ich mir Greg Cheechoos verblüfftes Gesicht vor, wenn ich plötzlich vor ihm stand – nach all den Jahren. Dabei wusste ich nicht mal, wie er aussah. Hatte er dieselben Augen, Haare, Wangenknochen? Als ich Mum nach einem Foto gefragt hatte, war sie wieder in Tränen ausgebrochen und hatte gemeint, sie hätte damals alle Fotos vernichtet. Was ich ihr nicht glaubte.

Wie dem auch sei, mein Cree-Vater hatte keine Ahnung, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Aber ich hatte in Erfahrung gebracht, dass er immer noch in Moosonee lebte. Und die Chancen, ihn dort zu finden, standen in Anbetracht der Überschaubarkeit des Ortes ziemlich gut.

Ich nahm mein Smartphone, rief Wikipedia auf und las zum wiederholten Mal, was das Online-Lexikon über das Nest ausspuckte: Moosonee ist eine Siedlung mit etwas mehr als 1700 Einwohnern im Norden Ontarios, Kanada. Der Ort wurde im Jahre 1903 als Stützpunkt der französischen Pelzhandelsfirma Revillon Frères in Konkurrenz zur Hudson’s Bay Company gegründet. Der Ort beherbergt zwei Schulen und einen Ableger des Northern College, den Northern Store, ein Postamt und einige kleine Läden. Die einheimischen Cree machen 80 Prozent der Bevölkerung aus. Die Siedlung Moosonee liegt am Moose River, einem etwa 80 Kilometer langen Fluss, der unweit des Ortes in die James Bay mündet. Auf einer der vielen Inseln im Mündungsdelta liegt Moose Factory, das Reservat der Moose-Cree-Indianer, ursprünglich ein alter Stützpunkt der Hudson’s Bay Company.

Jedenfalls kam man nur mit dem Eisbärenexpress oder einem kleinen Flieger in das Nest, in dem ich die ersten vier Jahre meines Lebens verbracht hatte. Letzteres wollte mir immer noch nicht in den Kopf, denn ich hatte nicht den kleinsten Funken einer Erinnerung daran.

Nachdem ich vor fünf Tagen mit blutverkrusteter Lippe und völlig durch den Wind bei Tante Sonja in Hanau aufgekreuzt war, war sie nach einigem Zögern schließlich mit der Adresse und Telefonnummer meines Cree-Vaters herausgerückt. Außerdem hatte sie mir eine kleine Schachtel mit einem Amulett gegeben, das jetzt unter Stoffschichten auf meiner Brust lag. Es war ein flacher, aus Horn geschnitzter Wolf an einem Lederband, den ich offenbar am Hals getragen hatte, als Mum mit mir für immer nach Deutschland zurückgekehrt war.

Sonja Peters war eine Art Patentante für mich. Sie und meine Mutter waren zusammen in Eisenach aufgewachsen und kannten sich seit der ersten Klasse. Einst waren die beiden beste Freundinnen gewesen, unzertrennlich, doch inzwischen telefonierten sie höchstens noch ein, zwei Mal im Jahr miteinander. Was Sonja anging, hatte ihr Rückzug aus dieser Freundschaft etwas mit meinem Vater und Mums Lügen zu tun.

»Christine wollte, dass ich den Anhänger wegwerfe«, hatte Sonja mir offenbart. »Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, denn es war alles, was du hattest von deinem Vater.«

Ich warf ihr vor, mich ebenso belogen zu haben wie Mum, aber Sonja sagte, sie hätte sich schon einmal in das Leben meiner Mutter eingemischt und hatte ihr schwören müssen, es niemals wieder zu tun.

Weder meine Mutter noch Sonja hatten gewusst, ob Greg (ich hatte beschlossen, meinen Vater Greg zu nennen) noch in Moosonee lebte, ob mein Vater überhaupt noch lebte. Nachdem ich seine Nummer zigmal vergeblich gewählt hatte, kam ich auf die Idee, kurzerhand auf der Gemeindeverwaltung von Moosonee anzurufen. Dort hatte ich erfahren, dass Greg Cheechoo sich zurzeit noch in seinem Buschcamp aufhielt, aber in den nächsten Tagen zurückerwartet wurde.

Sonja arbeitete als Dispatcherin am Frankfurter Flughafen und mit ihren Connections konnte ich ein bezahlbares Ticket für einen Direktflug nach Toronto und weiter nach Timmins ergattern. Ich hatte die Einreisegebühren abgedrückt und war gestern, am Samstag vor den Osterferien, nach Kanada geflogen, um meinen Cree-Vater zu treffen.

Obwohl der Zug nur gemächlich voranzuckelte, hatte der Übergang zur Wildnis überraschend schnell stattgefunden. Hin und wieder führten die Gleise noch über eine Schotterpiste, doch schon bald gab es zu beiden Seiten nur noch zerzauste Birken, Erlengestrüpp und krüppelige Fichten. Den Busch, wie die Kanadier ihre Wildnis nannten. Es war, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten.

Ich presste meine Stirn an das kalte Fensterglas. Fragen schoben sich in meinen Kopf. Andere Fragen, als ich sie mir in den vergangenen vierzehn Jahren gestellt hatte.

Würde ich meinen Vater tatsächlich finden? Hatte er mich vermisst in den vergangenen Jahren oder überhaupt einen Gedanken an mich verschwendet? Und warum hatte er nie versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen?

Wenn ich gewusst hätte, dass es ihn gibt, hätte ich mich niemals von Stefan adoptieren lassen. Unwillkürlich betasteten meine Finger die verschorfte Stelle an meiner Lippe, wo Stefans Siegelring sie aufgerissen hatte.

»Vielleicht hat er sich ja längst totgesoffen, dein Indianervater«, hatte das Arschloch zu mir gesagt.

Als Mum Stefan anschleppte, waren wir gerade zum sechsten Mal in zehn Jahren umgezogen (inzwischen ahnte ich, warum), jedes Mal in eine andere Stadt, und lebten in einem Plattenbau in Jena-Winzerla. Ich war vierzehn und dachte, der aalglatte Typ würde eines Tages einfach nicht mehr auftauchen, so wie die anderen Ersatzväter vor ihm. Doch Stefan Berger war hartnäckig. Er war Witwer und hatte einen kleinen Sohn, Jonas. Der brauchte eine Mutter und meine Mum brauchte jemanden, der seine kleinen Arme um ihren Hals legte, was ich zu dem Zeitpunkt schon seit einer Weile nicht mehr getan hatte.

Im Gegensatz zu den anderen Typen war Stefan solide und verdiente mit seiner Schweinemastanlage einen Haufen Kohle. Also wurde geheiratet und wir zogen in Stefans Villa im italienischen Stil am Rande der Stadt. Weiße Säulen und Steinlöwen vor dem Eingang und so.

Stefan war bereit gewesen, mich zu adoptieren, und Mum wollte es unbedingt. Damals muss ich wohl an einer Art geistiger Umnachtung gelitten haben, denn zu diesem Zeitpunkt fand ich die Idee von einem Vater aus Fleisch und Blut noch ganz verlockend.

Ich konnte ja nicht wissen, wie sehr das mit »Fleisch und Blut« passte, denn für Stefans Schweinemastanlage in Rodendorf interessierte ich mich erst ein Jahr später im Rahmen eines Schulprojektes. Aber da war längst alles gelaufen zwischen uns. Ich konnte meinen Stiefvater nicht leiden und er hatte längst das Interesse an mir verloren. Stefan hatte mich abgeschrieben. Er machte sich lustig über unsere Band und meine Versuche an den Drums. Für ihn war ich ein Nichtsnutz, ein langhaariger Querulant, der den Rockstar mimte und es nie zu etwas Ordentlichem bringen würde.

Alles, was meinen Stiefvater noch an mir interessierte, waren die Abiprüfungen. Weil ich danach schon bald das Haus verlassen würde, mitsamt meinen Drums und der Verstärkeranlage im Keller. Weil er mich dann endlich los war, diesen Jungen, der ihm von Anfang an fremd gewesen war. Ich war derjenige, der störte. Stefan hatte nie wirklich etwas mit mir anfangen können und es war ernüchternd gewesen, das zu erkennen.

Dabei hätte mir etwas mehr Familie durchaus gefallen. Ich kannte das nämlich kaum. Mum war Einzelkind und meine Großeltern schon lange unter der Erde. Sie waren bei einem Busunglück in der Türkei ums Leben gekommen, da war ich ein Jahr alt gewesen. Also gab es lange Zeit nur Mum und mich und dieses rätselhafte Loch in meinem Inneren, in das ich alles versenkte, was mit meinem nicht existenten Vater zu tun hatte.

Klar hatte ich einen Vater vermisst in meinem Leben. Einen, der mit mir Männerkram machte und mit dem ich über das Mysterium Mädchen hätte reden können. Aber ich war nie wütend auf den Südostasiaten gewesen, weil er ja nicht ahnen konnte, dass ich überhaupt existierte.

Doch nun lagen die Dinge völlig anders. Greg Cheechoo und meine Mum waren ordnungsgemäß verheiratet gewesen. Ich war also nicht das Resultat eines banalen One-Night-Stands, ich hatte einen richtigen Vater, einen, der mich im Arm gehalten, mich gefüttert und meine Windeln gewechselt hatte. Der mich mal geliebt hatte. Das musste einfach so sein, sonst würde ich nicht in diesem Zug sitzen.

Doch was, wenn mein Vater eine neue Familie hatte und nichts mehr von mir wissen wollte? Die Vorstellung, ihn zu treffen und nach zwei Wochen mit zufriedenstellenden Antworten und einer guten Vater-Sohn-Zeit im Gepäck nach Deutschland zurückzukehren, wurde immer unwahrscheinlicher. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich bei der Frage, was mich am Ende meiner Reise erwartete. Was für ein Mensch war dieser Greg Cheechoo überhaupt?

Vor vierzehn Jahren war er betrunken mit mir in sein Auto gestiegen und hatte mich beinahe umgebracht. Das war das Einzige, was ich mit Sicherheit über ihn wusste. Doch ganz egal, was er damals getan hatte, er war immer noch mein Vater und das bedeutete doch etwas. Mum hätte ihn mir nicht vorenthalten dürfen.

»Es war zu deinem eigenen Schutz, Jacob«, hatte sie mir unter Tränen versichert.

Okay, als ich vier war, mochte das vielleicht gestimmt haben. Aber jetzt war ich kein Kind mehr. Ich war achtzehn, verdammt, und keine acht. Sie hätte es mir sagen müssen. Sie hätte es mir schon vor Jahren sagen müssen.

Ich erinnerte mich daran, als Kind leidenschaftlich gerne Cowboy und Indianer gespielt zu haben. Doch auch wenn ich wie einer aussah, ich wollte nie der Indianer sein. Jetzt war ich es. Ich konnte es mir nicht mehr aussuchen.

Auf dem Weg zur Toilette stieg ich über Taschen und Beine. Männer und Frauen schliefen in Schieflage oder quer über zwei Sitze gestreckt, Kinder zusammengerollt inmitten ihres bunten Spielzeugs. Teenager spielten auf Tablets oder hörten Musik über ihre Smartphones. Die wenigen Weißen im Zug konnte ich an einer Hand abzählen.

Ich holte mir ein Käsesandwich und zwei Müsliriegel im Speisewagen, dann begab ich mich zurück auf meinen Platz und aß das pappige Sandwich. Die Landschaft draußen hatte sich verändert. Je weiter nördlich wir kamen, umso mehr schrumpften die Bäume. Bald waren nur noch verfilzte Büsche und kleine, spitz aufsteigende Nadelhölzer übrig, die eine gezackte Horizontlinie bildeten.

Beim Anblick dieser pinselförmigen Baumspitzen und der wie Quecksilber schimmernden kleinen Moorseen wusste ich, dass ich nicht zum ersten Mal mit dem Polar Bear Express fuhr.

»Siehst du den Biberbau?«, hörte ich hinter mir einen Mann sagen.

»Aber wo ist der Biber, Daddy?«, fragte eine neugierige Jungenstimme.

»Vermutlich in seinem Haus«, antwortete der Vater.

Die dunkle Stimme des Mannes kam mir seltsam vertraut vor. Ich wandte mich um und spähte zwischen den Sitzlehnen hindurch nach hinten. Doch auf den beiden Plätzen saß ein älteres Ehepaar, das schlief. Der Mann schnarchte mit offenem Mund.

Hatte ich akustische Halluzinationen? Oder war das die Erinnerung an eine Zugfahrt mit meinem Vater? Warum konnte ich mich nicht an ihn und unser gemeinsames Leben in Moosonee erinnern? Immerhin war ich schon vier Jahre alt gewesen, als Mum mit mir nach Deutschland flüchtete, um nie wieder zurückzukehren.

Laut meiner Mutter hatte der Unfall, den mein Vater mit mir in einer kalten Winternacht gehabt hatte, mein Gedächtnis ausgelöscht. Jener Unfall, von dem mein immer wiederkehrender Albtraum von einem zotteligen braunen Ungeheuer rührte, das mich verschlingen wollte.

Ich fasste mir an den Haaransatz, wo sich eine blasse Narbe über meine linke Stirn zog. Mum hatte mir mit wenigen Worten von jener Schneesturmnacht erzählt. Wie mein Vater nach einem furchtbaren Streit betrunken mit mir in sein Auto gestiegen und viel zu schnell gefahren war.

»Er kam von der Straße ab und überschlug sich. Du wurdest dabei durch die kaputte Windschutzscheibe geschleudert. Dein Vater war bewusstlos und du bist verletzt und völlig verwirrt in den Wald gelaufen. Damals waren zehn Grad unter null und du warst halb erfroren, als die Rettungskräfte dich fanden.«

Drei Tage hatte ich im Koma gelegen. Als ich aufwachte und nur wenige Tage später wieder quicklebendig und reisefähig war, flüchtete meine Mutter mit mir nach Deutschland, während mein Vater wegen Trunkenheit am Steuer im Gefängnis von Moosonee saß.

»Es war zu deinem Besten, Jacob, das musst du mir glauben.«

Hätte Mum mir das alles auch dann erzählt, wenn ich nicht die Existenz unserer Patchworkfamilie aufs Spiel gesetzt hätte? Wenn Stefan nicht vor lauter Wut auf mich mit der Wahrheit über meinen Vater herausgeplatzt wäre? Hätte meine Mutter mich für den Rest meines Lebens belogen?

Ich schloss die Augen, gab mich dem rhythmischen Rattern der Gleise hin und dachte an den Abend vor einer Woche, an dem alles ans Licht gekommen war. Fühlte mich wie ein Scheusal, als ich Jonas, meinen kleinen Stiefbruder, vor mir sah. Er war neun und fürchtete, dass sein Vater meinetwegen ins Gefängnis musste. Jonas liebte seinen Vater und meine Mum. Und er liebte mich. Er wollte keinen von uns verlieren.

Dass ich Jonas diesen Ängsten ausgesetzt hatte, darauf war ich nicht stolz. Doch ich hatte das Elend in Stefans Schweinemastanlage einfach nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Es hatte viel zu lange gedauert, bis ich kapierte, dass Stefan Berger nicht zu helfen war, seinen Schweinen aber schon. Nein, verdammt, es war richtig, die Fotos und Videos, die ich heimlich in seinem Stall gemacht hatte, an PETA zu senden.

Meine Aktion brachte Stefan eine Strafanzeige vom Veterinäramt ein – und mir einen Cree-Indianer als Vater.

»Wachay. Ist hier noch frei?«

Erschrocken setzte ich mich aufrecht hin. Ich war wohl eingenickt und hatte nicht bemerkt, dass der Zug gehalten hatte. Die beiden Sitze mir gegenüber waren leer, die Frau war wahrscheinlich im Speisewagen oder auf der Toilette.

Vor mir stand eine vermummte Gestalt: tief ins Gesicht gezogene Fellmütze, voluminöser Parka mit Fellkragen an der Kapuze, Jeans und hohe Lederschnürstiefel. Der Zugestiegene war angezogen, als käme er aus der Arktis. Ein frostiger Hauch umgab ihn.

»Ja«, sagte ich und deutete auf den Fensterplatz mir gegenüber. »Der ist noch frei.«

Ein wenig irritiert von den winterlichen Klamotten, warf ich einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass hier tatsächlich viel mehr Schnee lag als in Cochrane. Deshalb war ich froh, dem Rat meiner Mutter gefolgt zu sein und mir in Hanau vor meiner Abreise noch ein paar lange Unterhosen gekauft zu haben.

Draußen war noch immer kein Zeichen von Zivilisation zu erkennen und ich fragte mich, wo der Typ auf freier Strecke hergekommen war. Offenbar mitten aus der Wildnis. Ein Blick auf mein Handy: schon halb eins durch. Nur noch anderthalb Stunden bis Moosonee.

Als sich mein Gegenüber die Mütze vom Kopf zog und aus seinen Sachen schälte, stellte ich mit einiger Überraschung fest, dass es ein Mädchen in meinem Alter war – vielleicht auch ein bisschen jünger. Ihr Haar, glatt und schimmernd schwarz wie Holzkohle, fiel ihr bis über die Schultern. Unter dem Parka trug sie ein XL-Flanellhemd, beige-braun kariert und nicht unbedingt vorteilhaft. Die anderen Indianermädchen, die während der Fahrt durch den Zug gelaufen waren, hatten typische Mädchenklamotten getragen: Skinny Jeans, eng anliegende Pullover und darunter Push-up-BHs.

Sie ist viel zu klein für ihre Kleidung, schoss es mir durch den Kopf. Das Mädchen setzte sich und zog ein Buch aus dem Rucksack. Mit meinen hochgelegten Beinen auf der Fußstütze kam ich mir vor wie ein Greis, aber als ich versuchte, die Stütze unauffällig verschwinden zu lassen, klappte sie mit einem lauten Schlag nach unten. Das Mädchen grinste in sich hinein.

Mein rechtes Bein war eingeschlafen und ich versuchte, die Durchblutung wieder in Gang zu kriegen, ohne die Beine des Mädchens dabei zu berühren. Ich tat so, als würde ich gedankenverloren aus dem Fenster schauen, doch in Wahrheit musterte ich sie aus den Augenwinkeln.

Die Kleine trug kein Make-up, aber das hatte sie auch nicht nötig, denn ihr Teint war dunkel und makellos. Auf ihren Wangen lag eine leichte Röte von der Kälte, und als sie den Kopf ein wenig drehte, entdeckte ich eine schneeweiße Strähne in ihrem Haar. Wow. Doch ihre Augen, groß, tiefbraun und leicht schräg, waren das Eindrucksvollste an ihrem Gesicht.

Neugier packte mich und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder zu ihr hinübersah. Die Mädchen, mit denen ich es bisher zu tun gehabt hatte, wollten aller Welt zeigen, wie hübsch sie waren, wie begehrenswert. Aber die Kleine mir gegenüber, so schien es, versuchte das unter ihren weiten Jungsklamotten zu verstecken.

Krampfhaft überlegte ich, wie ich sie ansprechen konnte, doch der kühle Hauch, den sie von draußen mit hereingebracht hatte, schien sie immer noch wie eine Aura zu umgeben. Ich bekam kein Wort heraus, obwohl das gar nicht meine Art war. Bisher hatte ich nie Probleme damit gehabt, Mädchen anzusprechen.

Auf einmal hob sie den Kopf und unsere Blicke begegneten sich. »Hi«, sagte ich lächelnd und merkte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Fährst du auch bis Moosonee?«

Mein Gegenüber bedachte mich mit einem spöttisch kühlen Blick. »Du bist nicht von hier, oder?«

»Doch, bin ich«, entgegnete ich. »Aber ich war lange weg.«

Das Mädchen zog eine Augenbraue nach oben. »So lange, dass du nicht mehr weißt, dass alle in diesem Zug nach Moosonee fahren? Dort ist Endstation und vorher gibt’s keinen Halt.«

Sie hatte eine angenehme Stimme und es wäre cool gewesen, mich mit ihr zu unterhalten. »Ich bin Jacob und komme aus Deutschland«, erklärte ich, obwohl ich ahnte, dass mein Versuch nichts fruchten würde. »Meine Mum ist Deutsche«, schob ich hinterher.

Kurz blitzte in ihren dunklen Augen etwas auf. Neugier? Interesse? Ermutigt fragte ich: »Und du bist…?«

Doch in diesem Moment schien hinter diesen schönen Augen ein Vorhang zu fallen und das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das braucht dich nicht zu interessieren, okay?«

Wow. Auf so eine Abfuhr war ich nicht gefasst. Zugegeben, es war die erste dieser Art, die ich in meinem Leben einstecken musste. Deshalb wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte.

»Lass mich das gleich klarstellen«, bemerkte sie entschieden, »ich bin nicht interessiert an Small Talk.«

»Okay, verstehe. Aber ich suche nach meinem Vater und dachte, du könntest mir vielleicht helfen, wenn du aus Moosonee stammst«, unternahm ich noch einen Versuch.

»Mir egal, was du dachtest.« Sie vertiefte sich wieder in ihr Buch.

»Ist angekommen.« Beschwichtigend hob ich die Hände. »Sorry.«

Das fing ja gut an. Was, wenn alle hier oben im Norden so drauf waren? Ich war zu dieser Reise aufgebrochen, ohne zu wissen, was mich am Ziel erwartete. Ich kannte niemanden in Moosonee und niemand kannte mich. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass meine spontane Erkundungsreise auch scheitern könnte.

Frustriert stöpselte ich meine Kopfhörer in die Ohren und blickte wieder aus dem Fenster. Chester Bennington von Linkin Park sang: Tell me what I’ve gotta do. There’s no getting through to you. Was passte. But you’re not giving me a chance. Unsere Band hatte ein paar Titel von Linkin Park gecovert, die kamen bei den Mädchen gut an. Vor zwei Jahren, nachdem der Sänger sich das Licht ausgeblasen hatte, hatte ich begonnen, eigene Songs zu schreiben. Die kamen auch gut bei den Mädchen an.

Der Zug fuhr jetzt noch langsamer, zuckelte auf einer Brücke über einen breiten, zugefrorenen Fluss. Das musste der Moose River, der Elchfluss, sein. Die Schneedecke war geschlossen, eine weiße, fast makellose Fläche. Winterland. Ein neuer Songtitel? Ich schrieb ein paar Stichpunkte in mein Notizbuch, was mein Gegenüber mit einem kurzen Blick registrierte.

Eine halbe Stunde später hielten wir in Moosonee. Das unfreundliche Mädchen hatte sich längst angezogen und war mit ihrem Rucksack zur Tür gelaufen. Ich reihte mich in die Schlange der Aussteigenden, und als ich auf dem Bahnsteig stand, wehte mir tatsächlich der kalte Hauch der Arktis um die Nase. Hier war es bestimmt zehn Grad kälter als in Cochrane und ein Blick auf die Wetter-App bestätigte meine Vermutung.

Ich zog meine Strickmütze tiefer in die Stirn und schloss den Reißverschluss meiner Jacke. Ich war zwar am Ziel, aber noch längst nicht da. Als ich loslief, wurde ich zufällig Zeuge, wie ein drahtiger Typ das Mädchen in die Arme schloss. Klar: Wer so aussah wie sie, war natürlich nicht solo. Der junge Mann, ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, hatte strähniges, langes Haar und einen dünnen Oberlippenbart. Die beiden liefen zu den geparkten Wagen. Okay, sie hatte einen Freund. Trotzdem hätte sie sich mit mir unterhalten können.

Ich verließ den Bahnsteig und stand nach wenigen Schritten mitten auf einer breiten Schlammpiste. Zur Linken die verschneiten Warenstapel eines Baustofflagers, rechts ein alter grüner Waggon mit seltsamen Zeichen, die mich an ägyptische Hieroglyphen erinnerten. Ein schiefes verwittertes Schild verkündete: Welcome to Moosonee.