cover
Uwe Post

SchrottT





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Hinweis

 

Alle Maßnahmen dienen Ihrer eigenen Sicherheit.

Ruhrstadt, Sommer 2026


Die Textur der Fliesen besteht aus grüner und schwarzer Kälte. Colin kann das Muster nicht komplett überblicken, weil er mit dem Gesicht nach unten drauf liegt und bestimmt gleich stirbt. Sein Bauch fühlt sich an, als befände sich etwas ziemlich Ekliges darin, aber vermutlich sind das lediglich seine Organe, die hektisch ihre Koffer packen für die Reise ins Jenseits.

Colin will den Kopf bewegen, aber monströse Träume lasten zu schwer auf seinen Knochen. Ein unsichtbarer Elefant sitzt auf seinem Rücken und häkelt hoffentlich ein warmes Unterhemd, das Colin jetzt wirklich gut gebrauchen könnte, denn sein nackter Bauch friert auf dem kahlen Keramikboden. Ganz zu schweigen von seinem Unterleib. Anscheinend trägt Colin seine Boxershorts, jedenfalls meldet sein Hintern als einziges Körperteil kein Heimweh.

Heimweh wohin? – Colin zieht die wenigen Schubladen seines Gedächtnisses auf, die gerade greifbar sind. Darin befinden sich keine Wegbeschreibungen gen Heimat, keine Besitzurkunde eines netten Häuschens, keine Schlüssel einer hübschen Dreizimmerwohnung. Er findet lediglich einzelne Socken, zerlesene Mangas und angefangene Pillenschachteln.

Die nächste Schublade klemmt etwas, und aus ihr dringt ein angenehmer Geruch. Es ist der Geruch des Erfolgs, und in der Schublade verbirgt sich ein Lied. Als Colin seiner habhaft wird, will er es singen oder wenigstens summen. Aber nur ein Keuchen dringt aus seiner Kehle, die trocken ist und rau.

Er sollte sich etwas zu trinken suchen. Ja, diese Absicht fühlt sich gut und richtig an. Man soll sich Ziele setzen im Leben, sagt Colins Mutter immer. Etwas trinken, das ist ein gutes Ziel. Es mobilisiert Kräfte, übermenschliche Kräfte. Sie erlauben es Colin, den Elefanten von seinem Rücken zu werfen, den Bauch von den kalten, grün-schwarzen Fliesen zu heben.

Colin schafft es nicht, seinen Oberkörper ganz hochzustemmen, aber er rollt sich auf die Seite. Weiter geht es nicht, denn sein Rücken trifft auf eine Wand. Eine zweite kann er jetzt sehen, sie begrenzt gegenüber seinen Lebensraum. Da sieht ein Mann auf ihn herab, freundlich und warmherzig.

Colin will einen Gruß murmeln, wie es der Anstand gebietet, aber es gelingt ihm einfach nicht. Er sieht, dass der Mann seine Bemühungen wahrnimmt, denn er senkt kaum merklich den Kopf, erwidert den vergeblichen Grußversuch in mitfühlendem Minimalismus.

Der Mann trägt einen ordentlichen Anzug, und daran ist ein Schild befestigt. Es kann nur ein Namensschild sein, folglich heißt der Mann Zweieinhalb.

Ein heiseres Lachen stolpert durch Colins Rachen. Zweieinhalb reagiert nicht, wirkt apathisch und schweigt still.

Unter Zweieinhalbs freundlichen Augen gelingt es Colin, sich weiter aufzurichten. Seine Organe purzeln durcheinander und beschweren sich über die Unterbrechung der Ausreisevorbereitungen. Colin kneift die Augen zu, spürt in Rumpf und Schädel Schmerzwellen, die es sich kurz vor der Resonanzkatastrophe anders überlegen und eine Frühstückspause einlegen. Als Colin die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf die dritte Wand. Die ist mit einem kleinen Waschbecken und einem Wasserhahn ausgestattet. Trinken! Das Ziel vor Augen. Nun muss Colin nur noch die Entfernung dorthin überbrücken. Zentimeterweise verlagert er sein Gewicht, schiebt seinen Körper an der Wand entlang, sammelt Kräfte, stemmt sich hoch. Leider sind seinen Armen anscheinend die Muskeln abhandengekommen, aber irgendwie wird es schon gehen.

Beinahe hat er es geschafft: Der silberne Knopf mit dem blauen Punkt, der einen kühlen, erfrischenden Wasserstrahl verspricht, ist fast in Reichweite. Aber Colin klammert sich mit beiden Armen am Waschbecken fest, und er müsste einen Arm lösen, um nach dem Knopf zu langen.

Er überlegt, wie er das anstellen soll, ohne hintenüberzufallen. Er überlegt etwas zu lange.

Ein metallisches Knallen lässt ihn zusammenfahren, er verliert den Halt, liegt schon wieder auf den Fliesen, grün, schwarz, grün, kalt.

Die vierte Wand hat er bisher ignoriert. Schade, denn sonst hätte er die Tür gesehen, die offen steht. Dahinter Licht und zwei Schatten, die etwas Unverständliches murmeln. Langsam geht Colin auf, dass das laute Geräusch vom Öffnen der Tür herrührte, sie also vorher sicher geschlossen war. Die zwei Schatten treten näher, dahinter taucht ein dritter auf.

»Spam!«, flucht einer. »Der ist im Arsch. Aber so was von.«

»Bewahren Sie Würde.« Das ist der Dritte im Hintergrund. Er tritt vor: braun-grau karierter Dreiteiler, Krawatte mit gelben Blümchen, schwarzer Vollbart, hohe Stirn. »Herr Weinland, können Sie aufstehen?«

Zweieinhalb reagiert nicht. Colin überlegt, wer sonst gemeint sein könnte. Er kommt nicht drauf und starrt hilflos den Karierten an.

»Herr Weinland, können Sie mich verstehen? Herrgott, hat ihm schon jemand die Trommelfelle perforiert?«

Der fluchende Schatten von vorhin trägt auf den zweiten Blick eine Art Uniform, schlicht, elegant, mit einem Badge um den Hals. »Er wurde bisher nicht befragt.«

»Das kann ich bestätigen«, schaltet sich der bisher schweigsame Mann ins Gespräch ein. »Aus der Datei geht der Timestamp der Anlieferung hervor, und es gibt keinen weiteren Entry.«

Colin gafft den Mann an. Er trägt dieselbe schwarze Uniform wie sein Kollege: Turnschuhe, Stoffhose, Hemdjacke, Badge, ausdrucksloses Gesicht.

Zweieinhalb greift immer noch nicht ins Gespräch ein. Aber für Colin ist es an der Zeit, ein wenig zu plaudern. Er schluckt trocken, bringt mit Totengräberstimme hervor: »Ich … wollte gerade was trinken.«

»Sehen Sie, es geht ihm gut«, sagt der eine Uniformierte.

»Natürlich. Ich habe ja auch noch nicht angefangen.« Der Vollbart beugt sich ein wenig vor. »Herr Weinland, mein Name ist Albert Ralfs. Ich bin heute Ihr persönlicher Befragungsreferent. Bitte stehen Sie auf und begleiten Sie mich.«

»Kann … nicht aufstehen«, röchelt Colin, »wollte gerade was trinken.«

»Sie bekommen später zu trinken«, beruhigt ihn Ralfs. »Wenn Sie kooperieren.«

Colin sammelt seine Kräfte, dann versucht er aufzustehen. Es funktioniert nicht.

»Meine Herren«, sagt Ralfs, »ich stelle hiermit fest, dass der Informationsträger sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen kann. Bitte machen Sie eine Notiz und folgen Sie dann der entsprechenden Prozedur.«

Der linke Uniformierte brummt unwillig und hält plötzlich – oder schon die ganze Zeit? – ein Pad in der Hand und tippt darauf herum. Der andere zieht sich unterdessen Einweghandschuhe an.

Ralfs geht einen Schritt zur Seite. »Ich weise Sie hiermit darauf hin, Herr Weinland, dass der Transport in den Konferenzraum auf Ihre eigene Gefahr erfolgt.«

»Fremdtransport«, nuschelt der Uniformierte mit dem Pad.

»Wie war das bitte?«

»Laut Prozessspezifikation handelt es sich um einen Fremdtransport, Herr Ralfs. Das ist der korrekte Begriff.«

Einen Moment lang sagt niemand etwas, als würde jeder gespannt beobachten, wie der Uniformierte sein Pad in die Westentasche schiebt und ebenfalls Einmalhandschuhe überstreift.

»Vielen Dank für die Aufklärung«, schnappt Ralfs. »Dann beginnen Sie bitte jetzt mit dem … Fremdtransport.«

Die beiden Uniformierten beugen sich zu Colin hinunter, jeder greift sich ein Handgelenk. Während Colin rücklings aus seiner Zelle geschleift wird, ziehen schwarze und grüne Muster an ihm vorbei, die jetzt beinahe einen Sinn ergeben.

»Augenblick!«, meldet sich plötzlich Ralfs. »Er verliert ja seine Unterhose, wenn Sie das so machen.«

Die Uniformierten verharren einen Moment. Colin kann ihre Gesichter aus seiner Perspektive nicht erkennen, er sieht nur den Wasserhahn in der Wand, dem er schon deutlich näher war.

»Soll’n wir ihn an die Füße ziehen oder was, hä?«, fragt der Mann an seinem linken Handgelenk. »So ne shit Spam!«

»Dann würde er vermutlich seine Unterhose nicht verlieren.«

»Boah, echt witzig Mann! Keine Ahnung von den Prozessen, was? Mann, Mann! Wir arbeiten hier nach Kriterien, klar? Is mir doch scheißegal, ob der Hobbit hier seinen Schlüpfer verliert, ich mach meinen Job nach Vorschrift, ich will ihn nämlich behalten, klar? Mein Vertrag is befristet und wird nich verlängert, wenn ich schlampe.«

»Herrgott, meine Herren, bewahren Sie doch Würde! Ich kann ja an meinem zweiten Tag hier noch nicht alle Vorschriften kennen, oder?«

Colin fragt sich, was Herr Ralfs an seinem ersten Tag schon alles erlebt hat. Sein eigener erster Arbeitstag damals … nein, er wird sich später in Ruhe erinnern. Jetzt wird er erst mal weiter durch die Gänge geschleift und muss die Pobacken zusammenkneifen, um die Unterhose nicht zu verlieren. Er ist sehr zufrieden mit sich selbst, denn erneut gelingt es ihm, sich ein übersichtliches Ziel zu setzen statt utopischer Wunschvorstellungen wie Weltherrschaft oder goldener Schallplatten.

Unterwegs riecht es nach Krankenhaus und Feuchtigkeit, Türen werden geöffnet und hinter ihm geschlossen. Als Colin in einem Raum mit gepolsterten Wänden auf eine eiskalte, stählerne Liege gehievt wird, hängt seine Unterhose an seinem rechten Fußknöchel.

»Nee, also ich zieh ihm die nich wieder hoch, auch nich mit Handschuhen.«

Herr Ralfs murmelt einen Dank, dann klingt es so, als würde er sich auf einen Drehstuhl setzen. Die Uniformierten schnallen Colin mit dünnen Stahlbändern auf der Liege fest.

»Ich stelle für das Protokoll fest, dass sich der Informationsträger im Konferenzraum eingefunden hat«, sagt Ralfs außerhalb von Colins Blickfeld. Der kann derzeit nur die Zimmerdecke betrachten, deren langweilig weiße Farbgebung nur von metallischen Gittern unterbrochen wird.

»Soweit ich sehe, ist der Informationsträger körperlich unversehrt.«

Das stimmt im Großen und Ganzen, findet Colin, denn ihm fehlen weder Arme noch Beine. Er wagt dennoch einen Widerspruch. »Ich friere.«

»Das liegt an der Kaltluft«, erklärt Herr Ralfs. »Wir wollen uns hier ja nicht zu wohl fühlen, nicht war?«

»Spammen Sie nicht rum, fangen Sie lieber an. In einer halben Stunde ist Kaffeepause.« Einer der Uniformierten hat das gesagt, er steht neben Colins Kopf.

»Das genügt für Schritt eins des Prozesses, nehme ich an«, sagt Ralfs. »Lassen Sie uns beginnen.«

»Ich nehm auch einen Kaffee«, sagt Colin. Eine Faust donnert in sein Gesicht, stumpfer Schock, Geschmack von Blut.

»Humor ist hier verboten, klärchen?«, fragt der Uniformierte.

Colin fängt an, vor Kälte zu zittern – oder vor Schmerz, er weiß es nicht genau.

Ralfs räuspert sich. »Start der Aufzeichnung. Leiter der Befragung ist Herr Albert Ralfs, identifiziert durch Sub-ID. Informationsträger der Befragung ist Herr Colin Weinland, Identifikation folgt. Ich beginne jetzt Prozessschritt eins, Formular eins Punkt eins, Frage eins. Herr Weinland, wie lautet Ihr Name?«

»Free«, sagt Colins Stimme. »Colin Free.« Sofort donnert ihm die Faust ins Auge, Dunkelheit, Sterne, Feuchtigkeit. Blut tropft auf die stählerne Liege. Pling, pling.

»Kein Humor, check? Sprech ich Haussa?«

»Herr, äh …« Ralfs verharrt. »Ich glaube, dass Herr Weinlands Künstlername tatsächlich im System hinterlegt ist.«

»Ja dann: Sorry.«

In Colins Mundhöhle hat sich Blut gesammelt, er schiebt es mit der Zunge hinaus. Es fließt den Mundwinkel hinunter bis in den Nacken, bevor es auf die Liege tropft.

»Gut, weiter. Prozessschritt eins, Formular eins Punkt eins, Frage zwei. Herr Weinland, wann wurden Sie geboren?«

»Sorry, Herr Ralfs«, unterbricht der Uniformierte. »Ich weiß, Sie machen das noch nicht lange, okay? Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen aus meiner langjährigen Joberfahrung mal so ein paar Tipps, okay?«

»Wenn Sie es für angemessen halten …«

»Na, Sie müssen nicht bei jeder Frage die komplette Systemnummer aufsagen. Der Computer kann das auch so zuordnen, und hinterher freuen Sie sich über die gesparte Zeit, kann ich Ihnen garantieren. Der Info hält ja nicht ewig durch, okay?«

»Der … Info?«

Der Uniformierte seufzt. »Informationsträger.«

»Ach so, natürlich. Gut, wie Sie meinen. Also, noch mal, Herr Weinland …«

»Sie dürfen eine Frage nicht wiederholen«, sagt der Uniformierte. »Sorry, wenn ich nerve.«

»Nein, keineswegs. Ich lerne gerne.«

Colin will noch mal nach etwas zu trinken fragen, aber er traut sich nicht, außerdem zittert er zu sehr, seine Zähne klappern, sein Auge pocht, seine Unterlippe ist angeschwollen. Er will sich etwas anders hinlegen, weil eines der Stahlbänder in seinen Oberschenkel schneidet und sein linkes Bein schon kribbelt.

»Ja also, dann erklär ich noch mal, der Prozess ist so definiert: Sie stellen eine Frage, okay?«

»Selbstverständlich, und weiter?«

»Dann kommt so ein … Verzweigungspunkt. Sie kennen doch das Flussdiagramm?«

»Auswendig.«

»Wenn der Info, also der Informationsträger, antwortet, geht’s weiter zum nächsten Schritt. Wenn nicht, erfolgt eine Sofortmaßnahme, dann wird die Frage erneut gestellt. Okay so weit?«

Colin überlegt, ob er die Antwort einfach in den Raum brüllen soll, aber er hat Angst vor der Faust, und sein Bein kribbelt unerträglich, weil die Durchblutung abgeschnitten ist.

»Sicher«, antwortet Ralfs ruhig.

»Sie können die Frage also nicht noch mal stellen, ohne dass vorher eine Sofortmaßnahme durchgeführt wurde.« Der Uniformierte klingt, als wäre er am liebsten Lehrer geworden.

»Danke für die Erläuterung«, sagt Ralfs und meint es anscheinend ernst. Natürlich, denn Humor ist hier ja verboten. »Dann warten wir jetzt auf die Antwort, richtig?«

»Alternativ kann ich eine Sofortmaßnahme durchführen, denn genau genommen haben wir bereits eine Weile gewartet.«

»Zwölfter März zweitausendsieben!«, ruft Colin.

»Sehen Sie?«, fragt der Uniformierte. »Es funktioniert!«

»Prozessschritt eins, Formular eins Punkt eins, Frage drei. Wo hielten Sie sich am 1. Juli 2022 auf?«

»Ich …« Colin versucht, sich zu erinnern. Aber das Kribbeln ist unerträglich, schlimmer sogar als die Schmerzen in Gesicht und Organen. Erstaunlich, er wird beizeiten darüber nachdenken müssen, vielleicht in der Kaffeepause. Vielleicht schreibt er sogar ein Lied darüber. Er überlegt, wie es heißen könnte. Sein Unterbewusstsein kontrolliert seine Zunge, und während er den Satz spricht, weiß er, dass er die Faust herbeirufen wird.

»Mein Bein ist eingeschlafen.«

Colin fährt heftig zusammen, als ihn etwas Hartes völlig überraschend in den Unterleib trifft.

»Formular eins Punkt eins, Frage drei. Erste Wiederholung. Wo hielten Sie sich am 1. Juli 2022 auf?«

»Da war ich … in …« Tonnenschwere Erinnerungen überrollen Colin. Und er weiß, dass das erst der Anfang ist.

Heidelberg, Sommer 2022


Die eine Videoleinwand hatten sie im Schlosshof aufgebaut, die andere vor dem Tor. Am frühen Nachmittag hatten sie das WM-Spiel zwischen Deutschland und Japan übertragen, live aus Katar. Der Jubel nach dem 2:1-Sieg im Achtelfinale hatte sich in Grenzen gehalten. Eine viel wichtigere Entscheidung stand an.

»Hier«, sagte Colin. »Hab ich besorgt.« Er hielt zwei Flaschen Rotwein hoch.

»Wein?« Leo verzog das Gesicht, nahm aber eine Flasche entgegen. »Woher?«

Colin deutete vage nach hinten. »Verschenken sie da.« Er drehte den Verschluss ab und warf ihn weg.

»Mmmh.« Auch Leo öffnete seine Flasche. »Bier hatten sie nicht?«

Colin grinste. »Dinge ändern sich. Salute!«

»Salute?«

»Das heißt so viel wie Prost.«

Leo verzog das Gesicht. »Kriegen wir jetzt Italienisch in der Schule?«

»Keine Ahnung. Besser als Mathe. Trink einfach.« Colin nahm nur einen vorsichtigen Schluck. Er war erst 15, die Sonne knallte erbarmungslos und er wollte einen klaren Kopf behalten. Zumindest eine Weile noch. Der Wein schmeckte bitter, aber Colin grinste trotzdem. Leo allerdings machte ein Gesicht, als hätte er eine Zitrone inhaliert.

»Was verziehst du die Fresse? Das ist der Geschmack der Zukunft!«

»Das steht noch gar nicht fest«, brummte Leo und sah auf sein Handy.

»Aber bald«, sagte Colin und trank.

»Ich glaub, ich geh nach Hause«, murrte Leo.

»Dann entgeht dir was.«

Leo hatte rot gefärbtes Haar, erste Fransen am Kinn, rosa Wangen, ein zerfetztes Shoot-me-Shirt. Er verließ sein Zimmer nur wegen der Schule oder im Notfall. Musste sich um seine Mutter kümmern, die unter Depressionen litt. Ab und zu klaute Leo einige ihrer Pillen und verkaufte sie auf dem Schulhof. Er wäre nicht hier, wenn seine Mutter nicht bei einem Anfall den Fernseher zerdeppert hätte. Im Internet kostete es Geld, sich das Fußballspiel anzusehen, also raus an die frische Luft. An die heiße, stickige Luft, die über dem Neckar stand und alle Gehirne kochte, die nicht schlau genug waren, in den Schatten zu fliehen.

Verdrossen starrte Leo auf die Leinwand. Jemand hatte den Ton leise gedreht, damit man das Gebrabbel der Politiker nicht anhören musste, die gerade der Reihe nach erklärten, warum heute ein historischer Tag sei.

»Wir sind als Erste dran«, beruhigte ihn Colin. »Baden-Württemberg kommt im Alphabet vor den anderen Ländern.«

»Die kenn ich nicht mal alle.«

»Die anderen sind auch nicht wichtig. Sind weit weg. Die meisten. Guck, es geht los!«

Auf der Leinwand lächelten Matthias Müller und Gabi Laikova um die Wette. Die beiden Gastgeber des Abends, wie die Einblendung sie bezeichnete, gingen Hand in Hand zu einer riesigen Deutschlandkarte, die auf den Boden des Studios gemalt war, jedes Bundesland in einer anderen Farbe. In jeder Hauptstadt steckte eine meterlange Plastikstange, an deren oberem Ende je ein Umschlag mit dem Landeswappen befestigt war.

»… und während Thüringen noch lange an den Fingernägeln kauen muss, kommt für Süddeutschland gleich die Minute der Wahrheit.«

Der Ton war aufgedreht worden, und die hohe Stimme der ehemaligen Popsängerin hallte von den ehrwürdigen Mauern des Heidelberger Schlosses wider.

»So ist es«, fuhr Müller fort, der angezogen war wie die Politiker, die sich inzwischen auf einem Sofa abseits der Kamera niedergelassen hatten. »Wir öffnen die Umschläge in alphabetischer Reihenfolge, und daher sind zunächst Baden-Württemberg und dann Bayern an der Reihe.«

»Langweilig«, sagte Leo.

»Bayern ist super spannend«, widersprach Colin. »Der Papst soll sich gestern über die unchristliche Höhe der anderen Gebote aufgeregt haben.«

»Der Papst kann mich mal.«

»Mich auch. Salute!«

Auf der Leinwand bauten sich Matthias Müller und Gabi Laikova beiderseits des Stuttgarter Umschlags auf. Müller stand mit dem linken Fuß in Baden, sein rechter Lackschuh und Leikovas High Heels in Württemberg. »Es ist so weit, liebe Zuschauer! In diesem Umschlag befindet sich das höchste Gebot für die Übernahme der Ausübung der Sicherheitsrechte der Bundesrepublik innerhalb des Bundeslandes Baden-Württemberg.« Müller musste den Satz ablesen, vermutlich hatten ihn die Politiker vorgeschrieben. »Und öffnen wird diesen Umschlag kein Geringerer als der Schwabe, der den KSC zur Meisterschaft schoss: Diego Schumacher!«

Es gab Applaus, als der Fußballer die Showtreppe herunterhumpelte, verlegen winkte und sich hinter dem Umschlag aufbaute.

»Diego«, sagte Gabi Laikova in einem Tonfall, als würde sie dem Gast am liebsten am Schwanz nuckeln, »du hast heute sicher das Spiel deiner Kollegen verfolgt. Hast du auch so ausgelassen gejubelt wie die Fans im ganzen Land?«

»Das geht mit Krücken nicht so gut«, presste Schumacher hervor. »Ich wäre gern dabei gewesen, aber durch meinen Kreuzbandriss …«

Die Laikova streichelte seinen Oberarm. »Irgendwie hat deine Verletzung ja auch ihr Gutes, dann so kannst du heute Abend bei uns sein!« Die Zuschauer applaudierten, während Schumacher tapfer ein Lächeln probierte.

»Und nun ist es so weit«, verkündete Moderator Müller. »Öffne den Umschlag und zeig uns, was drin ist.«

Colin schüttelte Leos Schulter. »Jetzt guck hin!«

»Mir is nich so gut, will nach Hause«, murmelte Leo und starrte mit glasigen Augen auf die Leinwand. Der Wein wirkte schnell bei ihm.

Der Fußballer zupfte den Umschlag aus seiner Halterung, klappte ihn umständlich auf und zog ein Pappkärtchen hervor. Die Kamera zeigte es in Großaufnahme, und am Rand des Bildes zitterten Schumachers Fin­ger.

»Cosa Nostra Deutschland GmbH für 29,85 Milliarden Euro!«

Applaus und Jubel – im Studio, im Schlosshof und überall in der Altstadt. Irgendwo fing eine Kapelle zu spielen an. Frauen kreischten, Männer warfen ihre Hüte in die Luft.

Leo fing an zu kotzen.

Plötzlich fand sich Colin inmitten einer Gruppe Jugendlicher wieder, die er nicht kannte. Sie tanzten Tänze, die er nicht kannte, und sangen Lieder, die er nicht kannte. Er sang trotzdem mit, trank viel mehr herben Wein. Die Fernsehübertragung kam nach Showeinlagen und Interviews zu den anderen Bundesländern, aber ein schwarzhaariges Mädchen namens Antonia beanspruchte Colins gesamte Aufmerksamkeit. Er bekam nur noch mit, dass der Papst nicht genug für Bayern geboten hatte – ein Scheich aus Katar bekam den Zuschlag. Er wurde danach per Video zugeschaltet, und der Synchronübersetzer erklärte stotternd, ihm habe Neuschwanstein so gefallen. Die Leute jubelten schadenfroh, lachten sich halb tot und tranken auf den Scheich. Der Liveschaltung zur etwas verkniffenen Fußballnationalmannschaft, die sich wegen der WM gerade in Katar aufhielt, jubelte man zu, ohne ein Wort zu verstehen.

Die Rechte für die Berliner Sicherheit hatte Scientology sich gekauft, Brandenburg ging an einen gewissen Hans Schwan, der vor einigen Jahren in den Schlagzeilen gewesen war, weil er die NPD vor der Pleite gerettet hatte.

Bremen war als Nächstes dran, aber da war Colin schon mit seinen neuen Freunden damit beschäftigt, mit Enrico, dem Pizzabäcker, um die Wette zu trinken. Colin war am Verlieren, aber er wollte Antonia beeindrucken, trank weiter und bestand darauf, dass dieser Rotwein der leckerste sei, den er je genossen habe. Daher konnte er sich später nicht mehr an den Namen des Spaßbieters erinnern, der als Einziger für Bremen geboten hatte, und zwar den Mindestbetrag von 50 Cent.

  


»Karl Fenster«, sagte Colins Mutter am nächsten Tag – einem Samstag – beim Mittagessen. Das Frühstück hatte Colin ausgelassen, und auch von den Spaghetti auf seinem Teller bekam er nichts runter.

»Mir doch egal.«

Seine Mutter schüttelte den Kopf, dann rieb sie sich die Augen. »Das geht nicht klar«, sagte sie. »Dass ein Spaßbieter jetzt für die Polizei in Bremen verantwortlich ist und hier bei uns die Mafia …«

»Cosa Nostra Deutschland GmbH«, unterbrach Colin. »Das ist nicht dasselbe.«

»Ach, Junge … wie viel haben sie geboten? 30 Milliarden? So viel Geld gibt man nicht aus, bloß um den Polizisten in Mailand designte Uniformen zu spendieren.«

»Die Typen sind cool«, sagte Colin.

»Weil sie schwarze Sonnenbrillen und Hüte tragen? Wie die Kerle in der Matrix? Ach, wäre das hier doch die Matrix …«

»Mum, du bist altmodisch.«

»Und du bist modern, weil du mich Mum statt Mama nennst? Wart’s ab, Mama ist wieder im Kommen, du musst es nur italienisch aussprechen. Mama

»Leo findet’s auch cool.«

»Vorhin hast du noch erzählt, er hätte gekotzt.«

»Das lag am Wein, nicht an der Versteigerung.«

»Privatfirmen sollten nicht für so was Wichtiges zuständig sein«, sagte Colins Mutter zu ihrem Glas Orangensaft. »Vor Jahren haben sie Autobahnbaustellen privatisiert. Die Unfallzahlen stiegen. Aber die Politiker haben nichts draus gelernt. Haben vermutlich nette Beträge eingesteckt.«

Colin ließ die Gabel samt Spaghetti sinken. Er hatte gerade an Leos Kotze gedacht, daraufhin rebellierte sein Magen. Er musste sich ablenken. »Wer hat noch mal den Norden gekriegt?«

Seine Mutter seufzte. »Welchen Norden meinst du?«

»Den da ganz oben.« Colin hielt den Zeigefinger hoch.

»Schleswig-Holstein? König Frederik von Dänemark hat die Versteigerung gewonnen. Im Fernsehen haben sie ihn mit seiner Tochter gezeigt. Die ist so alt wie du, wusstest du das?«

»Hm«, machte Colin und überlegte, ob er von Antonia erzählen sollte. Er ließ es lieber bleiben.

»Dann haben sie nach Kiel auf den Marktplatz geschaltet und weinende Frauen gezeigt.«

»Wieso haben die geweint?«

»Vor Freude. Sie haben jetzt wieder einen König und eine Königin, jedenfalls sagten sie das, obwohl es natürlich Unsinn ist. Nur die Polizeigewalt gehört den Dänen.«

»Hatte Deutschland auch mal einen König?«

»Ganz viele«, erklärte Colins Mutter geduldig. »Der letzte war sogar ein Kaiser. Lies es im Internet nach.«

»Keine … mmmh … Lust.«

»Geht’s dir nicht gut? Hast du gestern doch zu viel gefeiert?«

Colin schüttelte energisch den Kopf.

Dann sprang er auf, rannte ins Bad und kotzte vors Klo.

  

Colin sah Antonia nie wieder, obwohl er lange nach ihr suchte. Immer wenn er eine Schulstunde boykottierte – Sozialkunde oder PoWi zum Beispiel –, radelte er zu einer der anderen Schulen der Stadt, um heimlich am Ausgang nach dem Mädchen Ausschau zu halten. Aber sie lebte anscheinend nicht in Heidelberg. Nach einiger Zeit gab Colin das Herumspionieren an anderen Schulen auf. Erstens wurde es Herbst, die Tage kalt und regnerisch. Zweitens standen immer mehr Sicherheitsbeamte in Zivil an den Straßenecken. Diese Männer, alle in schwarzem Anzug und mit schwarzer Fliege, beäugten jeden, der sich auffällig benahm.

Mitte Oktober versuchte Herr Toellmer, seine Schüler in der Klasse einzuschließen, bevor sie seinen Unterricht boykottieren konnten. Erfinderisch, wie die Kinder waren, drehten alle ihre Handys laut und spielten die Charts rauf und runter. Auch das verhinderte den Politikunterricht nachhaltig, zudem mussten sie nicht raus in den Regen. Gunnar, der eine Reihe hinter Colin saß und statt Schuluniform seinen Konfirmationsanzug trug, rief den Direktor an, der eine Viertelstunde später mit Unterstützung von eilig herbeigerufenen Sicherheitsbeamten die Tür aufbrach und Herrn Toellmer zu einem Gespräch abholte.

Am nächsten Tag erklärte die Klassenlehrerin, dass der PoWi-Unterricht bis auf Weiteres ausfalle.

»Ich find das nicht gut«, sagte Leo in der nächsten Pause. Er sah schnell nach links und rechts, aber weder Gunnar noch ein anderer Anzugträger waren in der Nähe. »Ich wollte das nicht.«

»Wir ziehen alle an einem Seil«, sagte Colin. »Toellmer hat’s nicht kapiert. Sein Gefasel von der Gewaltenteilung war eine Gefahr für die Sicherheitslage.«

»Du redest wie die

»Die GmbH hat recht! Guck mal, wir haben erst seit ein paar Monaten die neuen Sicherheitskräfte. Klar, es gibt immer Anlaufschwierigkeiten, aber man soll die Sache doch erst mal ausprobieren! Und bisher ist die Anzahl der Gewaltverbrechen sogar zurückgegangen.«

»Das sagen die

»Ja und? Hast du in letzter Zeit was von Schlägern oder Messerstechern in der S-Bahn gehört?«

»Nein«, musste Leo zugeben.

»Eben! Und Betrunkene werden von freundlichen Beamten nach Hause gebracht, bevor sie sich selbst oder anderen was antun können.«

»Freundlich sind sie wirklich«, meinte Leo und strich sich die Haare aus der Stirn. »Aber ich trau ihnen nicht.«

»Sicherheit ist doch keine Vertrauensfrage.«

»Deine Mum hält auch nichts von der GmbH.« Als Colin nicht antwortete, schob Leo entschuldigend nach: »Hat sie mir letzte Woche erzählt, als ich euch besucht habe.«

»Mama wird auch noch sehen, dass jetzt alles besser ist.«

»Siehst du den da?« Leo deutete mit dem Kinn Richtung Raucher­ecke.

Colin sah hinüber. Ihm fiel ein Oberstufenschüler auf, der mit einem Mädchen Händchen hielt, das in der Parallelklasse war. »Wer ist das?«

»Wie er heißt, hab ich vergessen. Aber die Ella ist seine Stiefschwester.«

Colin zuckte mit den Schultern. »Ja und? Soll er doch mit ihr rummachen. Vielleicht kriegt er keine andere ab.«

»Mann!«, zischte Leo. Seine Lippen bebten. »Erst vor ein paar Wochen haben sie gesagt, dass Inzest nicht mehr verfolgt wird, und du tust so, als wäre es schon immer normal gewesen! Ich frage dich, was hat das mit Sicherheit oder Gewaltprävention zu tun?«

»Das ist doch kein Inzest mit der Stiefschwester.« Colin zögerte, dann ging er zum Gegenangriff über. »Wenn Herr Toellmer uns das erklärt hätte, wüssten wir es. Stattdessen hat er immer bloß gepredigt, was für ein Fehler es war, die Polizei zu verkaufen. Dabei haben wir jetzt alle neue Pads gekriegt, und sogar das Essen in der Kantine schmeckt besser als vorher! Pizza und Pasta statt Rotkohl und Kartoffelpampe! Plötzlich gibt’s nachmittags Theater-AGs, zu denen wirklich jemand hingeht!«

»Aber …«

»Mann, wir sind schon fast erwachsen! Wir sind nicht blöd, wir müssen uns nicht jeden Scheiß erzählen lassen! Den Boykott hat Toellmer sich selbst eingehandelt. Der ist ein alter Mann, der nicht kapiert, dass man mit den alten Methoden heutzutage nicht mehr weit kommt. Wir leben nicht mehr im zwanzigsten Jahrhundert, warum sollten wir uns so verhalten?«

»Also«, grinste Leo, »ich glaube, die Wurzeln der Mafia liegen schon ziemlich weit in der Vergangenheit.«

Colin winkte ab. »Du hörst mir gar nicht zu.«

»Doch«, widersprach Leo. »Aber du dir selbst nicht.«

Zwei Wochen vor Weihnachten zog man Leo aus dem Neckar. Er hatte Kabelbinder um Hals und Handgelenke.

Fraport, 5. Juli 2026


»Willkommen auf dem größten Flughafen Europas«, sagte die Hostess, die neben dem Ankunftsgate die Reisenden begrüßte.

»Gebaut auf gerodetem Wald und zwangsgeräumten Siedlungen«, murrte Tier.

»Klappe!«, versetzte James Bond. »Wir sind hier, um zu feiern, nicht um festgenommen zu werden.«

Colin sagte gar nichts, weil er sich im Flieger eine 3D-Droge reingezogen hatte und sein Sprachzentrum vorübergehend nur Wörter enthielt, die er lieber für sich behielt.

»Die Tussi hat ne Knarre, ne Knarre hat die Tussi«, stieß Tier hervor. »Wir sind eindeutig in Frankfurt, es stinkt nach Techno.«

Der Drummer sagte die Wahrheit, fand Colin. Die Hostess trug einen Taser am Gürtel und stand in einem Sicherheitskreis, der gelb auf dem Boden markiert war. Jedes unbefugte Betreten würde einen Alarm auslösen.

Am Ende des Ganges, am Eingang zum Terminal, standen drei Fraport-Sicherheitsleute in voll digitaler Plastikuniform. Darüber trugen sie die charakteristischen neongelben Leibchen. Als die Band näher kam, wurden tragbare Röntgengeräte, RFID-Scanner und Maschinenpistolen sichtbar.

»Geht langsamer«, raunte Lars-Peter von hinten. Dabei war er es, der am ganzen Körper zitterte, als würde er gleich hopsgenommen. Der Tourmanager kümmerte sich um alles, wusste um die große Zukunft seiner Schützlinge und schleppte ganz offensichtlich einiges an historischem Ballast mit sich herum. Mit einem schneeweißen Stofftaschentuch wischte er sich Schweiß von der hohen Stirn, zupfte an seiner Krawatte und setzte ein übertriebenes Lächeln auf, das »Ich bin harmlos!« bedeuten sollte, aber bloß »Ich versuche, harmlos zu wirken« schrie.

Glücklicherweise waren die Sicherheitsleute unter ihren Helmen anderweitig beschäftigt oder sie planten, Lars-Peter vor weniger Publikum zu erschießen.

Ein Kichern stieg in Colin hoch, als er plötzlich sechs statt drei Uniformierte sah, die noch dazu umeinandertanzten – Nachwirkung der 3D-Droge, die seine Wahrnehmung als Einfallstor genutzt hatte, um jetzt in seinem Hirn zotige Späße zu veranstalten.

»Los, weiter!«, drängte Lars-Peter, als die Band Richtung Gepäckbänder abbiegen wollte. »Der Kram wird direkt ins Hotel gebracht.«

»Oh nein«, heulte James Bond künstlich, »ich kann keine Sekunde länger ohne meine Fender leben!«

»Ich hab meine Süße immer am Mann, nicht wahr, Süße?« Tier streichelte seine Umhängetasche, die seinen Drumcomputer enthielt.

Colin kicherte albern, Lars-Peter stöhnte. »Warum um alles in der Welt muss ich mich nur mit Musikern abgeben? Hätte ich nicht Schlachter werden können? Oder Rinderbesamer?«

»Alles ehrenwerte Berufe«, nuschelte Tier. »Nicht so ehrenwert wie Trommler, aber immerhin.«

An der Zollsperre mussten sie erneut an einem Aufgebot Uniformierter vorbei. Zwei davon hielten ihre Maschinenpistolen schussbereit, vermutlich für den Fall, dass sich jemand mit fremden Koffern davonmachen wollte. Verzollen wollte ohnehin niemand etwas. Ein Gespräch in den Katakomben des Terminals, nackt ausgezogen, befragt von einer Kompanie in Plastikuniform, erschien niemandem wünschenswert.

»Vielen Dank, dass Sie auf Fraport gelandet sind«, sagte die Hostess neben dem Ausgang. Als hätte man eine andere Wahl gehabt. Seit Fraport für die Sicherheit in Hessen verantwortlich war, waren die Regionalflughäfen geschlossen worden. Der Flughafenbahnhof war zum Hauptbahnhof erhoben worden, der alte Kopfbahnhof mit seinen erhabenen Hallen war nur noch ein verfallender S-Bahn-Haltepunkt für die Unterschicht, die nicht anders konnte, als in der alten Innenstadt ihren primitiven Geschäften nachzugehen.

In der Ankunftshalle warteten die Fans.

Colin trat als Erster durch die blinden Türen, stellte sich den spitzen Schreien. Der Rest der Band stieß zu ihm. Eine massive Wand aus gepanzerten Sicherheitskräften hielt den jubelnden Fans stand, die skandierten: »Ihr – seid – Schrott! Ihr – seid – Schrott!«

Colin breitete die Arme aus und badete im Kreischen der verrückten Mädchen. Während James Bond und Tier im Hintergrund blieben, schritt der Bandleader die Reihen der Huldigenden ab und ließ sich hier und da berühren. Er musterte die Gesichter der Verzückten, und Lars-Peter überholte ihn, um sicherzustellen, dass am Ende der Parade das gemietete Großtaxi wartete.

Colins Blick fiel auf eine Blondine mit tränenverschmierter Schminke, die schon nicht mehr kreischen konnte. Durch eine Lücke in der Phalanx der Fraport-Rüstungen wedelte ein New-Gothic-Girl ihre Hand mit blau lackierten Fingernägeln. Colin strich ihr über den Handrücken und spürte so etwas wie einen Stromschlag.

Sie war die Falsche.

Colin ging weiter, sah eine Schwarzhaarige, die ihm zu viele Falten hatte, eine Brillenschlange, vermutlich aus der Fraport-Verwaltung, die sich kurz aus dem Büro geschlichen hatte – ganz schon mutig, seinen Job aufs Spiel zu setzen. Todesmutig. Todesmut führte oft genug zum Tod, und Colin hatte keine Verwendung für eine Leiche.

Auch sie war die Falsche.

Er machte drei Schritte rückwärts, zurück zu der Blonden. Sah in ihre verheulten blauen Augen. Sie trug ein knallbuntes SchrottT-Shirt, das sich über runden Brüsten spannte. Sie schrie nicht. Sie rief seinen Namen. Seinen Künstlernamen.

»Freeeeee!«

Colin trat näher an die dunkelblaue Uniformwand, streckte die Hand aus.

»Lass das sein«, murmelte Lars-Peter hinter ihm. »Lass das bloß sein!«

Colin berührte Blondys Hand. Das war ihr Name. Kein anderer passte. Und sie würde jetzt sein Groupie sein.

»Herr Fraport-Sicherheit«, sagte Colin zu der gehärteten Uniformwand vor ihm, »bitte lassen Sie diese Frau durch. Ich kenne sie.«

»Oh-nein-oh-nein …« Lars-Peter weinte fast.

Verzerrt kam die elektrische Stimme des Fraport-Mannes: »Wie ist der Name dieser Frau?«

»Blondy«, antwortete Colin laut und ohne zu zögern. Er hörte, wie der Sicherheitsmann das Mädchen fragte, ob sie Blondy heiße, und die Antwort befriedigte ihn offensichtlich.

Für einen winzigen Moment entstand eine Lücke zwischen den Plastikpanzern, und Blondy schlüpfte durch.

»Oh-nein-oh-nein …« Lars-Peter bekreuzigte sich. Dann zog er Colin am Ärmel aus dem Terminal, der zog seinerseits das Mädchen hinter sich her.

Als die Fans das sahen, brandeten neue Wellen gegen die Wand der Uniformierten. Aber Tier streichelte nur seine Umhängetasche und James Bond hatte nichts als seine Fender im Kopf. Sie verzichteten darüber hinaus auf weibliche Gesellschaft.

Endlich war die Band zur Tür hinaus und bestieg den Kleinbus, der sie zum Hotel bringen würde.

Lars-Peter saß vorne neben dem Fahrer, Tier und James dahinter. Auf der Rückbank kuschelte sich das Mädchen an Colins Schulter und schnurrte.

Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, und der Fahrer hielt es für sinnvoll, einen Britpop-Sender einzustellen. Tier murmelte zusammenhanglose Flüche, und James Bond drehte sich im Sitz um, fragte über die Schulter nach hinten: »Wie heißt du, Girl?«

»Blondy«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Vorne stöhnte Lars-Peter, als hätte ihn die Kugel getroffen.

  

Den Namen des Hotels hatte Lars-Peter vorsorglich geheim gehalten, denn es hieß »Zum Husaren«. Die Lobby war leer, als die Band eintrat, bloß ein breiter Kerl mit Mantel und Hut lungerte auf einem der ab­gewetzten Polstersessel herum. Er sprang auf und ergriff Colins Hand, bevor der sie zurückziehen konnte. »Spanisch«, schnappte der Mann, »Armin Spanisch. Zu Diensten. Willkommen in Fraport formerly known as Frankfurt. Sie haben doch nichts dagegen?« Und schon hielt er eine Cam in der Hand und fing an, Colin und Blondy zu knipsen.

»Bloß nicht in 2D, da seh ich so flach aus«, flötete Blondy.

Spanisch lachte höflich, dann zeigte er auf die Doppellinse seiner Cam. »2D würde einer fotogenen Person wie Ihnen nicht gerecht wer­den«, schleimte er.

»Ah!«, rief Lars-Peter und ging mit ausgebreiteten Armen auf Spanisch zu. »Sie müssen der Mann vom Express 3D sein. Wunderbar, ganz fantastisch.«

Tier grunzte. »Will auf mein Zimmer.«

»Klar«, winkte Lars-Peter. »Ich kümmere mich um die Schlüssel. Ihr macht derweil ein freundliches Gesicht für unseren rasenden Reporter.«

»Aber so was von!« James Bond stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor der Brust. »Knipsen Sie nur mein Gesicht.«

»Gerne, vor allem mit diesem martialischen Ausdruck, aber warum nur das Gesicht?«

»Soll keiner sehen, dass ich meine Gitarre nicht dabeihab.« Er strich sich über den kunstvoll arrangierten Bart. »Haben Sie was am Start, Mann?«

»Am Start?«, wiederholte Spanisch und hielt James die Cam faktisch in die Nasenlöcher.

»Er meint süße kleine Pillen«, half Colin. »Wahlweise lustiges buntes Pulver. Oder umgekehrt.«

»Kein Output ohne Input«, nickte Spanisch. »Wie wäre es mit einem Umtrunk in der Bar?«

»Sie zahlen!«, entschied James.

»Spesenkonto.« Der Reporter zuckte mit den Schultern und ging voraus.

Blondy küsste Colins Ohrläppchen und half ihm, geradeaus zu laufen. »Mein Held«, flüsterte sie.

»Aber nicht übertreiben!«, rief Lars-Peter ihnen hinterher. »Ihr habt einen Auftritt heute Abend!«

»Leck mich!«, gab James Bond zurück. »Ich brauch jetzt wat zum In-den-Kopp-Reintun.«

»Grandios! Wirklich!« Spanisch donnerte Colin die Hand auf den Rücken, als sie auf den Hockern an der Bar saßen. Die Bedienung war eine ältere Dame, die sich sichtlich Mühe gab, die komplizierten Spirituosenwünsche der Gäste zu erfüllen. Sie brauchte zwei verschiedene Brillen, um die Etiketten der Flaschen zu lesen und um einzuschenken.

»Ich schreibe eine große Reportage über die Newcomer des Sommers. Ganz Deutschland hört SchrottT!«

»Der Typ ist unser Untergang«, murmelte Tier und nippte an seiner Apfelschorle.

»Quatsch!«, versetzte James Bond. »Sie ist es!« Er zeigte auf Blondy und balancierte in der anderen Hand ein Whiskeyglas.

»Er«, widersprach der Drummer. »Tierische Instinkte.«

»Wir sind selbst der personifizierte Untergang«, posaunte Colin. »Der Untergang von Ungerechtigkeit und Leiden in der Welt.«

»Juhuu!«, rief Blondy und meinte den Weißwein, den die Bedienung ihr reichte.

»Hört, hört«, sagte Spanisch, der sich an einem Bierglas festhielt. Er hatte Hut und Mantel abgelegt, darunter waren eine Glatze und ein grauer Pullover zum Vorschein gekommen. »Und wie wollt ihr das bewerkstelligen, Jungs?«

»Wir singen«, zuckte Colin die Schultern. »Das heißt: Ich singe. Verzeihung, ich habe meine Band noch nicht vorgestellt, wie unhöflich von mir.«

»Meine Band, aha«, murmelte James. »Ganz was Neues.«

Colin stand auf und legte James die Hand auf die Schulter. »An der Gitarre, der unvergleichliche Saitenquäler, der all seine Haare einbüßte, als er die Bestie von Brüssel in der Vorhölle der Agrarsubventionen bekämpfte – James Bond!«

Blondy klatschte begeistert, und der Journalist machte mit.

Colin senkte die Stimme. »In Wirklichkeit heißt er James-Markus Günclü und kümmert sich täglich zwei Stunden um seinen Bart, der ein wirklich einmaliges Kunstwerk darstellen soll, aber ein geiler Gitarrist ist er ohne Zweifel.«

»Arschloch!«, gab James zurück.

»Und hier«, fuhr Colin fort, jetzt wieder mit Bühnenstimme, »an unserem Drumcomputer, der gnadenlose Krachmacher der Nation, brachial und auf ewig unfrisiert: Das Tiiiiier!«

Blondy johlte.

»Badadatamm ta ba-da-bumm«, trommelte Tier auf dem Tresen.

»Eigentlich heißt er Siegfried.«

»Siegfried, äh, wie weiter?«, wollte Spanisch wissen.

»Sag ich nicht«, nuschelte Tier und sah weg.

»Karpac«, half Blondy.

»Du bist hervorragend informiert«, lobte Spanisch. »Und wer bist du, wenn ich fragen darf?«

Blondy sprang auf und warf die Arme in die Luft. »Ich bin Blondy, die intime Gesellschaft der einsamen Nächte des geilsten Crap-Metal-Bandleaders der schrottigen Zwanziger, des genialen Improvisators … Colin Freeeeee!«

»Kannst du alles so gut wie das?«, grinste Colin.

»Nö«, sagte Blondy, »besser.«

»Natürlich«, grunzte James und gestikulierte unzweideutig. »Also, Chef, was ist jetzt mit dem Zeug am Start?«

»Absolut«, nickte Spanisch und zauberte ein Pillendöschen hervor.

»Der Kandidat hat hundert Punkte«, beschied James. Als er den Inhalt des Döschens erkannte, korrigierte er sich: »Was red ich: tausendfünfhundert!«

»Mädels!«, rief Lars-Peter und winkte mit mehreren Keycards, »Mittagspause bis zum Konzert!«

»Vergiss die Zimmer, wir bleiben hier«, verkündete James mit glücklichem Gesicht. »Müssen uns vorbereiten. Mental und psychisch vor allem.«

Lars-Peter ließ die Schultern sinken. »Nimm nichts Stufe drei oder höher, ja?«

»Ich bin Stufe vier«, erklärte Blondy und streckte die Brüste vor.

»Ohne jeden Zweifel«, sagte Spanisch und knipste sie.

»Heda, Bedienung! Einen Humpen Äppelwoi für unseren Manager!«

»Oh-nein-oh-nein …«, schluchzte Lars-Peter. »Ihr seid mein Un­ter­gang!«

»Nein, das ist immer noch sie

»Nein, er

»Wir!«, übertönte Colin seine Band. »Wir sind der Untergang! Wir sind SchrottT!«