Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © Jasmina007 – istockphoto.com

Illustrationen: Lola Siegmund

Coachingfotos: Udo Bojahr

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-904-3

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-917-3 (EPUB), 978-3-95571-919-7 (PDF),  978-3-95571-918-0 (MOBI).

Danksagung

Wir bedanken uns bei den vielen Menschen, die uns bei diesem Buchprojekt so engagiert unterstützt haben:

1. Einführung: Coaching für Kinder und Jugendliche – „Coaching Young“

Von klein auf erleben Kinder täglich viele Herausforderungen: mit Eltern, Geschwistern, Freunden, mit immer wieder neuen Umgebungen, mit Spielzeug, Sprache, vielen Körper- und Sinneserlebnissen wie Sport und Musik. Die Herausforderungen beleben die Neugier, die Freude an der eigenen Performance, das Lernvermögen und die Entwicklung der sozialen Intelligenz. Schnell gehören Sätze wie „Kann ich schon!“ oder gar „Kann ich allein!“ zur Grundausstattung des ersten Wortschatzes. Kinder lieben Selbstwirksamkeit und sind immer wieder stolz auf ihre Entwicklungsfortschritte und neuen Verhaltensmöglichkeiten.

Wenn ein Verhalten Spaß macht und sich subjektiv gut anfühlt, beschreibt man dies mit dem schönen deutschen Wort „Tatenlust“. Das meint die gelungene Kombination aus Leistung, Gesundheit und Freude. Ebenso anschaulich wird oft beschrieben, ein Mensch sei „unternehmungslustig“. Wir bringen hier den Begriff „Enjoyness“ ins Spiel – das zeugt von wesentlich mehr Aktivität als das entspannende Wort „Wellness“. „To enjoy“ ist auf Englisch ein Verb, also ein „Tu-Wort“: „Enjoy yourself“ enthält sinngemäß nicht nur die Aussage „Freue dich!“, sondern auch die ermunternde Aufforderung „Mach was draus!“.

In der Grundschule beginnt für die meisten Kinder ein Feedbacksystem mit Leistungsbewertungen, manchmal auf Kosten besagter Enjoyness. Denn bereits bei noch harmlosen Beurteilungen wie „befriedigend“ steht bei einigen Familien schon im zweiten oder dritten Schuljahr die Befürchtung im Raum, dass das Kind keine Empfehlung zur „höheren Schule“ erhalten könnte. Spätestens jetzt fangen die Kinder an, sich mit den Leistungen anderer zu vergleichen. Oft haben sie schon damit im Familienleben – beispielsweise im Vergleich mit Geschwistern – begonnen. Das kann bei einigen schnell oder schleichend die Tatenlust mindern, von der die meisten Kinder am Lebensstart noch so beflügelt sind. Entweder fühlen sie sich ungenügend oder sie erfahren bei guten Leistungen Missgunst durch die anderen. Denn parallel zur Potenzialentfaltung gibt es die ersten sozialen Feedback-Erlebnisse mit der Peergroup: Erfahrungen in der Gruppe der Gleichaltrigen können das Seelenleben von Kindern – vor allem von Jugendlichen – ebenso nachhaltig beeinflussen wie die vielfältigen Prägungen durch das Familienleben.

Seit vielen Jahren sammeln wir Coaching-Erfahrungen sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern und wir können resümieren, dass sich das Seelenleben von Kindern und Erwachsenen in vielen Punkten sehr ähnelt. Diese Aussage mag den Leser überraschen: „Warum schreiben die Autoren denn ein Buch über Kinder-Coaching, wenn sie dieser Auffassung sind?“, könnte man fragen. Die Antwort ist: Selbstverständlich verläuft die Durchführung von Kinder-Coachings in vielen Punkten deutlich anders als beim Erwachsenen-Coaching – eben altersgerecht. Da gibt es einiges zu beachten, wie beispielsweise die Entwicklung des Gehirns in verschiedenen Altersstufen.

Aber die Gefühle von Kindern sind oft vergleichbar mit jenen der Erwachsenen. Kinder freuen sich über Erfolge, legen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild und ihr Image, und vor allem brauchen sie die Wärme und Nähe ihrer Familie und ihrer Freunde. Entsprechend leiden sie auch unter Zurückweisung und Ausgrenzung, sie spüren immer die emotionale Atmosphäre im Raum, sie zweifeln an sich, wenn sie ihre Ziele nicht erreichen, sie sind oft eingeschüchtert von Gewalt und Repressalien, und sie sind unglücklich über Ungerechtigkeiten und über die Nichteinhaltung von Versprechungen.

Es gibt aber auch einen bedeutenden Unterschied: Anders als Erwachsene können Kinder sich nicht immer aus der Erfahrung heraus mit der Hoffnung trösten, dass „bald alles wieder gut“ wird oder geändert werden kann – junge Menschen leben intensiv im Hier und Jetzt, sie können sich noch nicht so nachhaltig mit der Vorfreude auf die Zukunft stabilisieren. Außerdem verfügen unmündige junge Menschen real über wenig Entscheidungsfreiheit für die eigene Lebensgestaltung, sie können sich nicht scheiden lassen, kündigen oder umziehen, wie sie es wollen. Der Begriff „Coaching Young“ bringt zum Ausdruck, dass die in diesem Buch geschilderten Verfahren jeweils altersgerecht und für die jeweiligen Wahrnehmungsfilter und Verhaltensmöglichkeiten der Entwicklungsphasen entwickelt und umgesetzt wurden – und werden.

Das Buch ist kein Werk über allgemeine Entwicklungspsychologie, sondern konzentriert sich vor allem auf beachtenswerte Erkenntnisse der Gehirnforschung zu den Themen Emotionen, Lernen und Chancen für das Ausleben der individuellen Potenziale von jungen Menschen. Hierzu stellen wir eine Reihe von Coaching-Möglichkeiten sowohl für Einzelsessions als auch für eine ressourcenaktivierende Kommunikation in Gruppen – sei es im Klassenzimmer oder in der Familie – vor.

Wir und viele andere Coaches haben vielfach die Erfahrung gemacht, dass Kinder sehr gut auf Coaching-Interventionen reagieren, die ihnen helfen, die täglichen Herausforderungen des Lebens zu meistern. Kinder und Jugendliche setzen viele Mentalübungen und Emotionsmanagement-Methoden meist schneller, kreativer und nachhaltiger um als Erwachsene. Unsere Betonung liegt hier auf „Coaching-Methoden“, welche Kinder in den Bereichen Lernen, Selbstbewusstsein und Kommunikations-Fitness unterstützen – die also die tägliche Lebensqualität bereichern, vor allem die psychischen Kraftquellen von Kindern und Jugendlichen ansprechen und den Leistungskontext von jungen Menschen mit Enjoyness aufladen.

Die hier geschilderten Verfahren sind keine Kinder-Psychotherapie oder beispielsweise auch keine Legasthenie-Therapie und sollen diese aus klinischer oder kognitiver Sicht notwendigen Behandlungen auch nicht ersetzen. Als Ergänzung zu laufenden Therapien haben sich die im Buch geschilderten Coaching-Verfahren allerdings in vielen Fällen als sinnvoll erwiesen.

Unser Buch ist vor allem für Erwachsene geschrieben, die mit Kindern ressourcevoll arbeiten möchten: Coaches, Therapeuten, Lehrer und Eltern. Einige der beschriebenen Interventionen sind nur für die fachkundige Anwendung durch einen Coach gedacht, der oder die in der wingwave-Methode ausgebildet ist, andere wiederum eignen sich auch als Selbstcoaching-Verfahren, die von Kindern und Erwachsenen im täglichen Umfeld gestaltet werden können. Auf die jeweils gewinnbringende Umsetzung in der Praxis wird immer hingewiesen. Das Buch richtet sich zusätzlich auch an Erwachsene, die keine Coach-Ausbildung haben. Für diese Leser ist es bestimmt interessant, anhand der vielen Beispiele zu erfahren, welches Potential „Coaching Young“ für die mentale Gesundheit, für das Leistungsvermögen und für die positive Lebensqualität von jungen Menschen bietet.

Eines der von uns am häufigsten eingesetzten Verfahren bei Kindern und Jugendlichen ist die Methode wingwave-Coaching. Wir freuen uns sehr darüber, dass der Psychologe (M.Sc.) und Sportpsychologe (M.Sc.) Frank Weiland an der Deutschen Sporthochschule Köln im Jahr 2018 im Rahmen seiner Doktorarbeit ein Forschungsprojekt zum Thema „Leistungsentwicklung mit wingwave-Coaching“ bei Schülern mit interessanten und positiven Ergebnissen durchgeführt hat. Die 38 Schülerinnen und Schüler in der Forschungsgruppe waren zwischen elf und zwölf Jahre alt. Sie wurden jeweils mit drei Stunden wingwave gecoacht. Leiterin des Projekts war die Junior-Professorin Dr. Stefanie Klatt (geb. Hüttermann). Stefanie Klatt (geb. Hüttermann) und Frank Weiland beschreiben als Co-Autoren in diesem Buch in einem eigenen Abschnitt das Forschungsdesign und die Ergebnisse der wingwave-Studie zum Thema „Schüler- und Kinder-Coaching“.

Da uns hier gerade die aktuellen Forschungsergebnisse vorliegen, umfasst das Thema „Schüler-Coaching“ auch einen größeren Teil des Buchs. Darüber hinaus gehen wir im letzten Buchabschnitt auf alle Altersgruppen ein, für die „Coaching Young“ hilfreich ist: auf Babys, Kleinkinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr. Apropos 18. Lebensjahr: Die Methode wingwave-Coaching wird dieses Jahr (2019) ebenfalls volljährig, 2001 gab es die erste Coach-Ausbildung, ein guter Zeitpunkt, um sich dem Thema „Coaching Young“ zu widmen.

Wir betrachten bei „Coaching Young“ auch außerschulische Themen, wie etwa das Familienleben, Erlebnisse in der Peergroup, die Performance bei Hobbys und sportlichem Engagement, auch das allgemeine Selbstwertgefühl. Begleitet werden die Themen bei jüngeren Kindern von unserem neuen Nachwuchs, den Mini-Coaches „Wing“ und „Wave“, die in den Coachings mit unseren kleineren Klienten immer mal wieder in „Kindersprache“ kommunizieren. Die Figuren stehen auch für das wingwave-Motto: „minimale Intervention – große Wirkung“. Dies bezieht sich auf die Metapher vom Flügelschlag des Schmetterlings, der das ganze Klima ändern kann, wenn er am haargenau richtigen Punkt schwingt. Später stellen wir „Wing“ und „Wave“ noch genauer vor.

Abbildung 1: Mini-Coaches „Wing“ und „Wave“.

Der Einfachheit halber reden wir im Buch immer von „Coaching Young“, wenn wir meinen: „Coaching für Kinder und Jugendliche“. Es handelt sich bei „Coaching Young“ immer um Coaching-Formate,

Ein Kapitel widmet sich dann noch dem erwachsenen Coaching-Klienten: die Arbeit mit dem „Inneren Kind“ – auch hier sprechen wir von „Coaching Young“, da die Maßnahmen für dieses Thema auf die „kleinen“, sehr emotionalen Persönlichkeitsteile ausgerichtet sind.

Wir wünschen unseren Lesern, die sicherlich allesamt innerlich jung sind, viel Spaß und interessante Erlebnisse beim Lesen!

Cora Besser-Siegmund und Lola Siegmund
Stefanie Klatt (geb. Hüttermann) und Frank Weiland

2. Warum Coaching – und keine Therapie?

Eines Tages wurden wir auf dem Weg vom Auto zu unserem Hauseingang von Oliver, einem elfjährigen Nachbarjungen, aufgehalten: „Stopp!“ rief er, breitete die Arme aus und stellte sich uns in den Weg. „Wusstet ihr schon, dass ich in Chemie eine Eins habe?“ Die „1“ ist im deutschen Schulsystem die Bestnote überhaupt. Wir freuten uns gleich mit ihm und fragten, wie er das geschafft habe. Schnell stellte sich heraus, dass er jetzt einen ganz tollen Lehrer hat, bei dem Chemie so viel Spaß machen würde. Dabei war Oliver auch in der Grundschule nie ein typischer Einsen-Schreiber gewesen. Hier zeigt sich zum Thema „Chemie“ eine doppelte Wirkung: Die emotional positiv aufgeladene Beziehung zum Lehrer setzte in Olivers Neurobiologie alle Nervenbotenstoffe frei, die das Großhirn beim optimalen Funktionieren unterstützen.

Denn das Großhirn eines Menschen ermöglicht in jedem Alter sowohl unser kognitives Leistungsvermögen als auch eine optimale Körperbeherrschung – es muss nur „eingeschaltet“ sein, vereinfacht ausgedrückt. In der englischen Sprache gibt es für den optimal „eingeschalteten“ Modus des Großhirns den Begriff „Brainwave“, das heißt so viel wie „tolle Idee“, „Geistesblitz“. Auch im Deutschen spricht man davon, dass einem Menschen ein „Licht“ aufgegangen sei oder dass er „erhellende“ Gedankengänge habe. Coaching möchte bewirken, dass Menschen jeden Alters nicht nur Fähigkeiten erlernen und trainieren, sondern dass diese inneren Möglichkeiten auch mit den optimalen mentalen „Brainwaves“ kombiniert sind. So steigt die Chance, dass die inneren Potenziale auch wirklich ausgelebt werden: Der Schüler kennt seine Vokabeln nicht nur zu Hause auswendig, sondern auch im Test, der Sportler zeigt nicht nur im Training die Höchstleistung, sondern auch in der offiziellen Meisterschaft, und gute Argumente werden redegewandt und selbstbewusst ausgetauscht, anstatt dass der Sprachfluss im entscheidenden Moment versiegt.

Abbildung 2: So wirken „erhellende“ Brainwaves.

Der tolle Lehrer von Oliver war kein Therapeut, der psychisch einschränkende Symptome behandelt. Und Oliver war kein Patient, der unter chronischen Ängsten und Depressionen leidet. Der besagte „chemischer Zauber“ entwickelte sich in einer beflügelnden emotionalen Atmosphäre, die im Alltag der Schule Olivers Leistungsvermögen wecken konnte. Die Betonung liegt auf „wecken“, denn das Chemie-Talent war schon in Oliver vorhanden, bevor er den Lehrer kennenlernte. Im Leistungssport kennt man den Begriff „Coaching“ schon seit Jahrzehnten. Auch hier versteht man unter diesem Begriff nicht nur ein reines mechanisches Üben, sondern vor allem auch eine positive Motivation für das Erreichen der gesteckten Ziele.

Coaching wird also im „normalen“ Alltagsleben eingesetzt, um Herausforderungen mit Freude, Begeisterung oder auch mit Mut und Entschlossenheit annehmen zu können. Die Interventionen für das Erreichen dieser Enjoyness erfolgen idealerweise punktgenau zum Geschehen. Soll übermorgen ein wichtiger Vortrag gehalten werden, kann schon heute oder morgen ein kleines Coaching den entscheidenden Motivationsimpuls geben, um sich beim Auftritt sicher zu fühlen. Und gelingt dann der Vortrag, stärkt der Effekt das Selbstwirksamkeitserlebnis, und der nächste Auftritt verläuft auch ohne Coaching erfolgreich. Man nennt dieses selbstwirksame Ausbreitungsphänomen positiver Erlebnisse „Generalisierung“. Es ist auch völlig o.k., wenn bei neu auftauchenden Themen wieder ein Coaching in Anspruch genommen wird: Auch Sportler und Politiker konferieren immer wieder mit ihren Coaches und Beratern, um ihre vielen Auftritte optimal vorzubereiten.

Eine Therapie kann einen spontanen und punktgenauen Support dieser Art nicht immer leisten: Es gibt häufig zu lange Wartezeiten und die Maßnahmen bestehen über mehrere Monate hinweg aus einem vielstündigem Konzept, das oft für die Probleme und Herausforderungen des Alltags eines psychisch gesunden Kindes überdimensioniert erscheint. Schon ein bis drei Stunden Coaching können laut unseren wingwave-Forschungsergebnissen Kinder von Leistungsstress, Ängsten oder Sozialstress befreien und positive Emotionen und Zuversicht ansprechen. Als Voraussetzung für diese ressourcevolle Wirkung muss das Kind keinesfalls auffällig oder krank sein, denn: „You don’t have to be sick to become better“, heißt es im Coaching: „Du musst als Voraussetzung (für ein Coaching) nicht krank sein, um besser zu werden / dich besser zu fühlen.“ Und rechtzeitiges Coaching kann auch verhindern, dass sich Stressthemen über die Zeit zu therapiebedürftigen Blockaden aufbauen.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, der dafür spricht, dass vor allem Jugendliche in Stressmomenten oder bei Herausforderungen erst einmal ein Coaching in Anspruch nehmen, anstatt sofort eine durch eine Krankenversicherung finanzierte Psychotherapie zu beginnen. Leider würdigen Privatversicherer ein Therapie-Engagement von jungen Menschen nicht als positiven Faktor für die langfristige Erhaltung der Gesundheit – obwohl Studien wie beispielsweise von der Techniker Krankenkasse zeigen, dass Psychotherapien nachhaltig die Gesundheit stabilisieren (Wittmann, 2011). Möchte sich also ein junger Mensch später einmal privat krankenversichern oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen, bekommt er meistens einen kaum bezahlbaren Risikoaufschlag aufgebrummt, weil er in der Vergangenheit einmal eine Psychotherapie gemacht hat. Hier sollten sich Eltern und auch die Jugendlichen selbst noch einmal sachkundig machen, bevor eine Psychotherapie begonnen wird. Sollten die Impulse eines Coachings keine Auflösung einer möglicherweise nur vorübergehenden Stressblockade bewirken, muss dann natürlich eine langfristige und fachgerechte Psychotherapie stattfinden.

Die Coaching-Devise lautet: minimaler Coaching-Einsatz mit maximalem Nutzen für die Coaching-Kunden, vor allem für Kinder und Jugendliche, damit sie schnell wieder im normalen Alltag aufblühen und mit Freude und Enjoyness teilhaben und gestalten können. Gelingt dieser Einsatz der kleinen Mittel mit guter Wirkung, sprechen wir vom „Schmetterlings-Effekt“: Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann auf dem nächsten Kontinent das Wetter ändern. Und so bewirkt schon der scheinbar kleine Impuls eines neuen tollen Lehrers wie in Olivers Beispiel den von uns sogenannten wingwave-Effekt: ein optimales emotionales Klima für das Ausleben der inneren Möglichkeiten und Fähigkeiten dieses Jungen. Von diesem Effekt können alle Kinder profitieren: Und wenn nicht „zufällig“ der motivierende neue Lehrer vor Ort ist, kann auch ein kindgerechtes Coaching den Schmetterlings-Effekt gezielt herbeizaubern.

2.1 Coaching-Themen für „Coaching Young“

Dies sind die häufigsten Themen, mit denen Kinder und Jugendliche in die Coaching-Praxis kommen

Bei allen Themen empfehlen wir mit den in diesem Buch vorgestellten Methoden den Einsatz von drei bis fünf Coaching-Sitzungen (sie variieren pro Coach zwischen 50 und 60 Minuten Dauer). Bei der dritten Sitzung wird besprochen, ob und wie das Coaching schon geholfen hat. Damit ist nicht gemeint: „Alles ist perfekt!“ Aber auch Kinder können schon sehr gut wahrnehmen und sagen, dass sie sich besser, wohler, mutiger, zuversichtlicher fühlen. In diesem Fall werden bei Bedarf auch noch weitere Sitzungen vereinbart. Sollte sich allerdings nach drei bis fünf Sitzungen überhaupt gar nichts in Richtung Zielerreichung getan haben, ist ein Coaching nicht mehr angeraten, das gilt auch für Erwachsene. Dann empfehlen wir den Einstieg in eine länger andauernde und begleitende Psychotherapie.

Auf der Homepage http://www.wingwave.com findet man eine Reihe von Forschungsergebnissen über den Einsatz dieser Coaching-Methode bei verschiedensten Themen, wie sie auch in der Aufzählung oben genannt werden. Weiterhin berichten wir in diesem Buch über Forschungsergebnisse aus dem Schüler-Coaching. Wichtig ist zu wissen, dass bei allen hier erwähnten wingwave-Forschungsprojekten durchschnittlich eine bis drei Coaching-Sitzungen stattgefunden haben. Wir können also sagen: „Laut Forschung reichen oft zwischen eine und drei Sitzungen aus, um ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen.“ Die Nachhaltigkeit positiver Effekte mit wingwave-Coaching bei psychisch gesunden Probanden konnte nach fünf, sechs und neun Monaten festgestellt werden. Ist nach so vielen Monaten ein gutes Ergebnis noch stabil, kann man davon ausgehen, dass der Coaching-Klient dann auch weiterhin auf diesem wünschenswerten Stand bleibt oder dass sich die durch das Coaching neu gewonnenen Potenziale kontinuierlich weiter ausbauen.

3. Eine Gebrauchsanweisung fürs Gehirn – auch für die Kleinsten

Es gibt viele Bücher und Wissenschaftssendungen, die sich dem Thema „Gehirnforschung und Kinder“ widmen, aber nur wenige davon richten sich direkt an Kinder und Jugendliche. Dazu zählen Titel wie Gehirnforschung für Kinder mit dem bekannten Gehirnforscher Gerald Hüther als Co-Autor oder das wirklich toll gemachte Buch Der Räuber Thalamus, in dem es um „Brainstorys zur Lernbiologie“ geht (Buchner, 1998, 4. Auflage 2008). Vor allem empfehlen wir immer den genialen Disney-Film Alles steht Kopf, in dem der Zuschauer nicht nur die Hauptdarsteller einer Familie sieht, sondern auch die inneren Persönlichkeitsteile, wie sie „hinter der Stirn“ im inneren Erleben der Personen Diskussionen ausführen. Dann unternehmen diese kleinen Figuren auch noch eine Reise durch das Gehirn eines Mädchens, bei dem gerade die Pubertät beginnt. Der Film ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch wissenschaftlich präzise recherchiert. Es entsteht eine wirklichkeitsnahe Idee vom „Universum im Kopf“. Wir selbst haben in unserem Coaching-Zimmer die Figuren aus dem Film aufgestellt und kommen darüber mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch.

Denn wir halten es für sehr hilfreich, Kinder schon möglichst früh eine „Gebrauchsanweisung für das Gehirn“ zu geben. Mit kindgerechten Worten kann man das Thema schon Fünfjährigen erklären: „Wieso kann der Kopf dem Fuß sagen, was er tun soll?“, oder: „Warum können meine Hände Kuchen backen?“ Das sind für viele Kinder sehr interessante Themen, die man spielerisch immer wieder einfließen lassen kann. Kinder wissen schon sehr früh – beispielsweise von vielen Kinderliedern –, was die Beine machen oder wozu die Ohren da sind. Aber es gibt vergleichsweise wenige Beschreibungen oder gar Kinderlieder für die Funktion des Kopfes oder für das, was sich „zwischen den Ohren“ abspielt.

Abbildung 3: Das Gehirn. Es wiegt nur drei Pfund: Zu wenig Kinder und Jugendliche wissen frühzeitig, wie dieses wichtige Organ funktioniert.

Wir haben neulich mit Abiturienten gearbeitet, die auf die Frage „Wie viele Gehirnzellen hat der Mensch?“ ratlos kuckten. Schließlich meinte einer: „4000?“ Tatsächlich gehen die Gehirnforscher heute davon aus, dass das menschliche Gehirn aus mindestens 120 Milliarden Gehirnzellen besteht. Eine neunjährige Schülerin hörte sich unsere Informationen über die Kapazitäten des Gehirns äußerst interessiert an und fragte dann: „Dann ist das Gehirn sogar wichtiger als das Herz?“ Wenn man bedenkt, was für eine zentral wichtige Rolle das Organ Gehirn bei Heranwachsenden für die Themen Verhalten, Potenzialentfaltung, Sozialkompetenz, Lernen und Selbstwahrnehmung spielt, wissen Kinder und Jugendliche einfach zu wenig über dessen Funktionsweise. Daher fehlt ihnen auch eine „Gebrauchsanweisung für das Gehirn“. Dieses Basiswissen kann aber zur wichtigen Voraussetzung für ein gelungenes Coaching und vor allem für die Organisation von persönlichen Lernerfolgen sein. Im Coaching und in der Psychotherapie spricht man von „Psycho-Edukation“, wenn Coach oder Therapeut einen Klienten zunächst mit wissenswerten Daten zu anstehenden Themen versorgt, beispielsweise:

Eigentlich sind alle Kinder und Jugendlichen erstaunt, wenn wir ihnen auf die letzte Frage hin erklären, dass viele Menschen ihr Gehirn mit einer ungünstigen Wortwahl in eine ungewünscht Richtung programmieren. Wenn man beispielsweise sagt: „Denke jetzt nicht an ein Krokodil!“ – was passiert dann? „Ich denke dann erst recht ein Krokodil!“, ist immer die Antwort.

Abbildung 4: „Denke nicht an ein Krokodil!“

Unser Gehirn ist nicht in der Lage, ein „Nein“ oder ein „Nicht“ so zu verarbeiten, wie wir es wünschen. Man denkt erst recht an die Sachen, die nicht passieren sollen. Viele Eltern sagen beispielsweise zu ihren Kindern „Stolper nicht!“ und sind ganz erstaunt, wenn das Kind trotz dieser Warnung hinfällt. Das ist das Ergebnis einer sehr ungeschickten Gehirnbenutzung. Das Gehirn registriert das Wort „stolpern“ und ermittelt innerhalb von Millisekunden, dass Stolpern die Geschichte ist, wo der Fuß über den Boden schleifen muss, damit er an etwas hängen bleibt, vielleicht an einem Stein. Da wäre es sinnvoller, gleich zu sagen: „Schön die Balance halten!“, denn der Begriff „Balance“ löst sofort eine gute Körperbeherrschung aus.

Die hier genannten Themen sind nur eine kleine Auswahl Wir nennen diesen Part auch „Wissens-Coaching“. Wissens-Coaching ist beim Coaching von Kindern und Jugendlichen ein besonders wichtiger Teil im Coaching-Prozess. Es hilft ihnen enorm dabei, sich selbst und die Mitmenschen besser zu verstehen. Das stärkt das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit.

3.1 Das Gehirn: Eine fantastische Welt „zwischen den Ohren“

Hier kommen zunächst die wichtigsten „Daten“ zum Gehirn:

3.2 Kinder, Jugendliche und Erwachsene: Unterschiede zwischen den Gehirnen

Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen den Gehirnen von jungen und erwachsenen Menschen, das wird besonders interessant im Hörbuch Wie Erwachsene denken mit dem Gehirnforscher Manfred Spitzer als Co-Autor beschrieben (Spitzer & Herschkowitz, Wie Erwachsene denken, Hörbuch, 2018). Bis zum Alter von 20 Jahren bilden sich durch Erlebnis- und Lern-Inputs immer wieder neue Verbindungen zwischen den Gehirnzellen, das Gehirn ist offen für Anregungen und Neuigkeiten. Das Wachstum der Nervenenden der Gehirnzellen sprießt und gedeiht. Nach dem 20. Lebensjahr beginnt ein neuer Prozess: Das Gehirn beginnt mit der Sicherung der bisher erworbenen Verbindungen und Matrizen. Um die Nervenäste der Gehirnzellen herum bilden sich sogenannte Myelin-Schichten – das kann man sich wie die Kunststoff-Ummantelung bei elektrischen Kabeln vorstellen.

Die Myelin-Schichten werden immer dicker und können die durchrauschenden Nervensignale über weite Entfernungen hin optimal isolieren und beschleunigen. Im Erwachsenengehirn sausen deshalb diese Impulse bis zu 100 Mal schneller zwischen entfernt liegenden Regionen hin und her. So werden die bis dahin gemachten Erfahrungen zu rasanten und komfortablen „Neuro-Autobahnen“ vernetzt. Deshalb können Erwachsene oft wesentlich schneller komplexe Zusammenhänge denken als Kinder oder Jugendliche. Das ist ein großer Vorteil. Es gibt aber auch einen Nachteil: Erwachsene werden langsamer im Umsetzen neuer Erlebnisse. Die dicken Myelinschichten führen wortwörtlich zum berühmten „Dickkopf“, der nicht mehr so gut mit Veränderungen umgehen kann wie das Gehirn von jungen Menschen.

Kinder und Jugendliche hingegen sind noch nicht so beständig und verlässlich im Denken und Verhalten und wirken deshalb immer wieder sprunghaft. Aber sie sind offen für viele neue Informationen, weshalb die Zeit zwischen der Geburt und dem 20. Lebensjahr optimale neuronale Zeitfenster für die individuelle Potenzialentfaltung bietet. Aus diesem Grund kann man jungen Menschen nur wünschen, dass sie so lange wie möglich zur Schule gehen und Ausbildungen machen können – ganz unabhängig vom persönlichen Zensurenspiegel. Alle Lernimpulse in diesen wertvollen Jahren sind eine gute Investition in eine erfolgreiche Zukunft mit vielen Optionen für die immer wieder wechselnden Herausforderungen des Lebens.

3.3 Wie in einem Garten: „Synapsen züchten“

Alle Kinder und Jugendlichen sind fasziniert und positiv überrascht, wenn wir ihnen im Coaching über diese astronomischen Kapazitäten des Gehirns erzählen: „Ist das wirklich alles in meinem Kopf?“, ist eine typische Frage, oder: „Passt das denn alles rein?“ Auf jeden Fall wecken wir so Interesse und Neugier für die inneren Möglichkeiten, das ist schon mal ein großer Pluspunkt, um die positive Motivation der jungen Klienten für das Coaching zu aktivieren. Dann zeigen wir gern die Medizin-Grafik aus dem Buch-Klassiker Denken, Lernen, Vergessen – Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? von Frederic Vester (Vester, 1998).

Abbildung 5: Grafisch nachempfunden: Schnitt durch eine Partie der menschlichen Großhirnrinde zum Zeitpunkt der Geburt (links), daneben im Alter von drei Monaten, von 15 Monaten und von drei Jahren. Man erkennt deutlich, dass sich die entscheidenden Veränderungen im Gehirn innerhalb der ersten drei Monate abspielen – nach Conel (Conel, 1939) und Vester (Vester, 1998).

Es ist für die Lernmotivation eine große Hilfe, wenn sich die Kinder bildlich vorstellen, was beim Üben im Kopf passiert. Viele Kinder und auch Erwachsene erleben die Situation des „Nicht-Könnens“ vorübergehend als unangenehm. Dazu zeigen wir einen einfachen Test. „Falte einfach einmal die Hände!“ Das kann jeder. Dann bitten wir den Coachee, kurz zu schauen, welcher Daumen oben liegt. Dann kommt die Anweisung: „Nun falte die Hände andersherum – so, dass nun der andere Daumen oben liegt.“ Die meisten Menschen müssen ein bisschen überlegen, bevor sie diese Aufforderung umsetzen können. Nun kommt die Frage: „Wie fühlt sich das an?“ Meistens erhalten wir Antworten wie „seltsam“, „komisch“, einmal sagte eine Schülern sogar: „Eklig!“

Dann erklären wir: „Das fühlt sich derzeit nur so ungewohnt an, weil es für dieses Händefalten im Moment noch nicht genug Synapsen in Deinem Kopf gibt, die auf automatische und natürlich Weise dafür sorgen, dass diese Handverbindung als richtig und angenehm empfunden wird.

Ebenso wenig kann sich Neues, das wir erlernen, sofort vertraut und „automatisch“ anfühlen. Das ist eben die Natur des Neuen: Wir haben es noch nie oder selten gemacht. Wir vermitteln im Coaching also nicht immer gleich die These „Lernen macht Spaß“, denn vorübergehend kann es jeden Menschen auch mal frustrieren, dass trotz aller Mühe beispielsweise beim Jonglieren zunächst die Bälle immer herunterfallen. Oder man scheut vor dem Gefühl zurück, etwas zu machen, was sich ungewohnt oder gar seltsam und anders als sonst anfühlt. Wir erklären den Kindern und Jugendlichen, dass sie beim wiederholten Üben zunächst vielleicht keine Fortschritte im Verhalten bemerken, aber dass sie beim Üben sehr wohl „Synapsen züchten“. Dazu zeigen wir ihnen die bildliche Darstellung von sich verknüpfenden Gehirnzellen. Jeder noch so kleine Übungseinsatz reizt das Gehirn dazu an, Nervenenden der Gehirnzellen aufeinander zuwachsen zu lassen, die sich dann später treffen und vernetzen. Von dem Moment an, wo die Verknüpfung stabil hergestellt ist, fällt das Gelernte leicht – sei es das Einmaleins, ein Gedicht, der aufrechte Gang oder ein Salto mortale. Nun ist das Gelernte – im wahrsten Sinne des Wortes – in Fleisch und Blut übergegangen.

Bei diesen anschaulichen Schilderungen entwickeln Kinder eine Idee vom Sinn des Übens, die sie auch mit anderen gut funktionierenden Prozessen vergleichen können, vor allem mit Bildern zum Thema Wachstum. Denn sie verstehen schon früh, dass Pflanzen aus der Erde oder Äpfel an den Bäumen wachsen, dass Kinder zunächst Babys sind und dann größer werden. Der siebenjährige Lukas, der zum Mathe-Coaching bei uns war, fand die Vorstellung ganz toll, dass er beim Üben „Synapsen züchtet“. Das erzählte er auch seiner Oma, die zu Besuch kam. Sie kam in sein Zimmer, sah ihn am Schreibtisch sitzen und fragte: „Na, Lukas, musst du heute noch viel Schularbeiten machen?“ „Nein Oma, ich züchte nur noch ein paar Synapsen und dann bin ich fertig!“, war die Antwort.

Abbildung 6: Synapsen züchten.

3.4 Was im Gehirn bei Angst passiert

Viele Lern- und Verhaltensblocken bei Kindern und Jugendlichen beruhen auf Ängsten und häufig fällt im Coaching der Begriff „Blackout“. Aber die meisten der jungen Coachees wissen nicht, wie ein Blackout entsteht. Der Neurobiologe betrachtet dieses Phänomen als eine völlig gesunde und nachvollziehbare Gehirnreaktion auf Gefahren. Entsprechend gibt es dazu auch den lesenswerten Klassiker von Gerald Hüther mit dem Titel Die Biologie der Angst (Hüther, Biologie der Angst – wie aus Stress Gefühle werden, 13. Auflage 2016).

Kinder und Jugendliche realisieren es ganz deutlich, wenn sie plötzlich nicht mehr denken oder nicht mehr den Lernstoff erinnern können. Aber niemand in diesem jungen Alter vermutet: „In meinem limbischen System, das meine Emotionen auslöst, ist gerade Alarm, und die Mandelkernchen, auch ‚Alarmglöckchen des Gehirns‘ genannt, sind hoch aktiv. Und gleichzeitig fährt mein Großhirn seine Aktivität herunter, aus diesem Grund sitze ich hier und fühle mich wie ausgeschaltet.“ Gedanken dieser Art haben nur Erwachsene, die gut über den Ablauf von Angst- und Panikattacken im Nervensystem informiert sind. Sie finden diese Zustände auch nicht gut, aber sie können einordnen, was gerade passiert.

Kinder hingegen sind häufig der Meinung, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmt: „Irgendetwas ist da bei mir kaputt“, vermutet der siebenjährige Lukas, dem beim Mathetest sofort beim Anblick der Aufgaben die Zahlen vor den Augen verschwimmen und der dann alles vergessen hat, was er tags zuvor mit den Eltern geübt hat. Die meisten betroffenen Kinder und auch Jugendlichen treffen die Schlussfolgerung, dass in ihrem Kopf irgendetwas defekt ist. Das passiert so: Der Schüler oder die Schülerin bemerken im Test ihre Blockade – nichts geht mehr. Dann schauen sie sich um und sehen, wie die Mitschüler an den anderen Tischen emsig schreiben, bei denen „funktioniert“ der Kopf. Wenn man nun aber im schlimmsten Fall mit der Selbsterkenntnis herumläuft, der eigene Kopf würde einfach nicht richtig arbeiten, sind die Chancen für eine Überwindung der Blockade schlecht. Und auch das Üben ist dann kaum eine Hilfe, wie das Beispiel von Lukas zeigt: „Das ist am nächsten Tag in der Schule sowieso alles weg“, erzählt er frustriert am Anfang eines Schüler-Coachings.

Bei Angst- und Panikthemen starten wir immer mit Psycho-Edukation und vermitteln gleich beim Start, dass das Angstprogramm als völlig gesunde Körperreaktion zu betrachten ist. Dann sind viele Kinder und Jugendliche sehr erleichtert und schöpfen die Hoffnung, dass ihr Kopf vielleicht doch noch ein bisschen brauchbar ist. Sie gewinnen den Glauben an ihre Potenziale zurück.

Alle jungen Coaching-Klienten können mit der Geschichte vom Tiger etwas anfangen. Unsere Vorfahren in der Steinzeit mussten ohne vieles Nachdenken ganz schnell weglaufen, wenn sie heil und gesund davonkommen wollten. Die mutigen Steinzeitmenschen, die tapfer stehen blieben, hatten wahrscheinlich Pech und wurden verletzt oder leider sogar gefressen. Deshalb war unsere Neurobiologie der „Meinung“, dass ein automatisches Angstprogramm mit integrierter Denkblockade eine sehr gute Sache ist.

Abbildung 7: Lieber weglaufen, anstatt tapfer stehen zu bleiben!

Tritt ein Angstmoment ein, so ändert sich unser Verhalten schlagartig. Körperliche Stresssymptome machen sich im Nervensystem breit und versuchen von hier aus, die Kontrolle über alle weiteren körperlich-seelischen Vorgänge zu übernehmen. Diese Veränderung im Organismus stellt die Energie bereit, die wir benötigen, um Gefahren zu bewältigen. Mit anderen Worten: Angst macht mobil, und zwar unabhängig davon, ob die Gefahr real ist oder nicht. Natürlich wird der Mathelehrer einen nicht fressen. Aber es kommt dem Gehirn halt so vor und es fühlt sich so an.

Noch ehe uns die Bedrohung zu Bewusstsein kommt, reagiert schon unser Gehirn. Die Pupillen weiten sich reflexartig. Die Nachricht „Gefahr“, die von den Seh- oder Hörnerven übermittelt wird, regt Teile des Gehirns (Thalamus, Großhirnrinde, Hypophyse) zu Botschaften an andere Körperteile an, wie wir es in dem wingwave-Buch Schnelle Hilfe bei Angst beschreiben:

Je nach Alter beschreiben Coachees diese Punkte mit einfachen Worten oder auch in allen Details. Auch 18-Jährige reagieren sehr interessiert auf die Erkenntnis, dass ein Panikgefühl keinesfalls ein Defizit, sondern ein besonders kluges biologisches Verhaltensmuster darstellt.

3.5 Was versteht man unter einem „Angst-Trigger“?

Hat das Gehirn eine Erfahrung erst einmal mit einer leider stabilen Angstreaktion in Verbindung gebracht, fängt es an zu generalisieren. Es sammelt alle möglichen Sinnesdaten, die mit einer angstbesetzten Erfahrung einhergegangen sind. Wir konnten feststellen, dass Kinder, die ein Problem mit dem Fach Mathematik haben – so wie Lukas –, schon beim Anblick von Karopapier gestresst reagieren – da muss noch nicht mal eine einzige Zahl draufstehen. Wir prüfen diese Reaktion mit einem einfachen Muskeltest, den wir später noch genau beschreiben. Und es gibt sogar Erwachsene, die mit einer deutlichen Stressreaktion auf Linienpapier reagieren, wenn sie die ganze Schulzeit hindurch unter großen Problemen mit dem Thema Rechtschreibung gelitten haben. Wir haben eine 30-jährige Klientin, die heute als Ingenieurin arbeitet. Sie war als Schülerin stets gut in Mathematik, hat aber immer unter einer Lese-Rechtschreibschwäche gelitten. Sie schreibt als erwachsene Frau deshalb niemals auf liniertem Papier, sondern immer auf leeren Blättern oder auf Karopapier – egal, ob sie Tagebuch, Notizen oder einen Brief verfasst.

Auch einzelne Wörter wie „Mathe“, „Dreisatzrechnung“ oder – im ungünstigen Fall – sogar „Schule“ können zu Stress-Triggern werden, ebenso wie bestimmte Konstellationen, über die man bewusst gar nicht nachdenkt. So kennen viele Leser vielleicht noch folgendes Mathespiel aus der Grundschule: Alle Schüler stellen sich hin, der Lehrer stellt Aufgaben im Grundrechnen und jeder Schüler, der eine Aufgabe richtig beantwortet, darf sich hinsetzen. Das ist ein tolles Gefühl für die Kinder, die schon sitzen – aber äußerst peinlich für jene, die bis zum Schluss stehen bleiben. Das jetzt aufsteigende Schamgefühl macht leider einen derartigen Stress, dass die Stehenbleiber sich immer schlechter konzentrieren und entsprechend auch weniger gut rechnen können. Das Ganze mündet in einer absoluten mentalen Sackgasse, wenn das Spiel mehrere Male wiederholt wird. Rechnen wird nie mehr das Lieblingsfach des Stehenbleibers werden, sein Großhirn schaltet sich jetzt bereits bei Spielbeginn immer aus – so wie ein Gruß aus der Steinzeit, der das Gehirn des Menschen auf das Weglaufen vor einem Tiger vorbereiten will.

Aus einem peinlichen Mathespiel in der Grundschule kann sich dann eine generelle Auftrittsangst eines Erwachsenen oder Teenagers entwickeln – selbst wenn dieser exzellente Examen oder viele gute Noten in der Tasche hat. Das Gehirn registriert beim Vortragen angesichts des Publikums einfach nur: „Alarm! Du bist der Einzige, der steht – alle anderen sitzen schon!“, und die innere Reaktion verursacht einen emotionalen Salto mortale in die Schulzeit, hin zum peinlichen Mathespiel. Der Vortragende fühlt sich schlagartig schlecht und kann nicht mehr denken – und weiß eigentlich gar nicht, warum. Denn selbst wenn die Lehrer, der Chef und auch die Zuhörer sehr nett sind, reicht dem Gehirn als Angstauslöser völlig, dass man als Einziger steht – das Gehirn besteht auf seiner Alarmreaktion.

Reaktions-Trigger dieser Art lösen nicht nur unverständliche Angstgefühle aus – sie können auch verantwortlich für spontane Trauer, Hilflosigkeits- oder Wutgefühle werden. Umgangssprachlich nennt man dies den „wunden Punkt“ eines Menschen: Auch die zarteste Sinnesberührung kann eine riesige Emotionswelle ins Rollen bringen, wenn sie den wunden Punkt trifft. wingwave-Coaching ist dafür bekannt, diese Problem-Trigger und vor allem den dahinter liegenden wunden Punkt zu finden. Dieser Punkt wird von seiner Übersensibilität befreit und dann wieder in ein stabiles und dickes Nervenkostüm verwandelt. Ab dann bleibt die Neurobiologie bei den Triggern cool – vereinfacht ausgedrückt. Wie genau das funktioniert, beschreiben wir dann im „wingwave-Kapitel“ (siehe Kapitel 4).

3.6 Magic Words oder: Die Geschichte von der „lustigen Angst“

Abbildung 8: Die lustige Angst.

Nach der Erklärung der Angstreaktion als gesundes Programm der menschlichen Biologie und der Darstellung der astronomischen Vernetzungsmöglichkeiten des menschlichen Gehirns möchten wir nun ein Interventionsbeispiel vorstellen, bei dem die vielfachen synaptischen Verknüpfungen im Coaching gezielt genutzt werden. Es geht um die Kurzzeit-Methode „Magic Words“, die sich schon seit Jahrzehnten im Kinder-Coaching bewährt hat (Besser-Siegmund, 2001). Bei diesem Coaching-Tool wird mit den sogenannten Submodalitäten eines Worts gearbeitet, um so die emotionale Schwingung von Schlüsselbegriffen ressourcevoll zu verändern. Auf diese Weise kann allein ein Wort in einen positiven Trigger verwandelt werden, der im Nervensystem gute statt stressende Gefühle auslöst. Die Sinneswahrnehmungsfilter „Sehen“, „Hören“, „Fühlen“, „Riechen“ und „Schmecken“ nennt man „Modalitäten“.

Abbildung 9: Die fünf Sinnesmodalitäten.

Unser Gehirn verarbeitet permanent hereinfließende Daten aus der Umwelt und aus dem Körpererleben. Die Nuancen innerhalb einer Sinnesmodalität heißen „Submodalitäten“, wie beispielsweise „hell“ oder „dunkel“, „laut“ oder „leise“. Submodalitäten gehen bei jedem Menschen mit Gefühlszuständen einher, bei negativen Gefühlen beispielsweise „sieht man schwarz“, oder im euphorischen Zustand malt ein Mensch sich „alles in den schönsten Farben aus“. Man kann die Submodalitäten von Wörtern bewusst verändern und so an neue, kraftspendende Gefühle anknüpfen. Beispielsweise wirkt der Name „Lord Voldemort“ gar nicht mehr als unheimlicher Trigger, wenn er mit der zwitschernden Stimme eines kleinen Piepvogels ausgesprochen wird – man muss eher ein bisschen schmunzeln.