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Katharina Drüppel wurde 1974 in Heilbronn geboren und studierte Biologie. Neben ihrer Leidenschaft für alles, was den menschlichen Körper betrifft, verbringt sie ihre Zeit mit Schreiben, Lesen und Nähen. Sie ist glücklich verheiratet und Mutter von drei Kindern.

Heike Heinlein wurde 1961 in Erlangen geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik absolvierte sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin, was sie nie bereut hat. Neben dem Lesen widmet sie sich neuerdings auch dem Schreiben von Frankenkrimis. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Walter Bibikow

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susanne Bartel

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-515-2

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Für unsere Familien

Freitag, 09:00 Uhr

Clemens Sartorius, Erster Kriminalhauptkommissar der Dienststelle Erlangen, erreichte den Haupteingang des »Büchernests«, einer kleinen Buchhandlung am Bohlenplatz in der Oberen Karlstraße. Fast eine halbe Stunde hatte er bis hierher benötigt! Der hochgewachsene Mann öffnete die Knöpfe seines anthrazitfarbenen Wollmantels italienischer Machart und lockerte den farblich passenden Kaschmirschal. Er liebte die lässige Eleganz, die dieser ausstrahlte. Wieder einmal war er dankbar, dass seine Herkunft ihm zu diesem, selbst für einen Hauptkommissar nicht üblichen Luxus verhalf. Aufgewachsen in einer Diplomatenfamilie, die zudem über mehrere Generationen hinweg durch diverse Erbschaften ein Vermögen angehäuft hatte, fühlte er sich im wahrsten Sinne des Wortes privilegiert.

Momentan allerdings verfluchte Clemens Erlangen mit seiner Verkehrspolitik der Einbahnstraßen, die es nahezu unmöglich machten, sich in der Innenstadt zu orientieren, geschweige denn einen Parkplatz zu finden. Normalerweise. Immerhin hatte er im Rahmen dieses Einsatzes einfach einen akquirieren können. Glücklicherweise einen, in den sein mitternachtsblauer Tesla, Model S, wie abgemessen hineinpasste. Schon sein halbes Leben lang hatte Clemens von diesem Sportwagen in Form einer Limousine geträumt, ein E-Auto der Spitzenklasse mit einer Reichweite von über fünfhundert Kilometern. Schnellladefunktion inklusive. Dazu eine Beschleunigung, von der manch anderer Wagen nur träumen konnte!

Vorsichtig schnippte Clemens eine Staubfluse von seinem dunkelgrauen Anzug, der unter dem Wollmantel hervorspitzte. Sein erster Blick galt der Umgebung. Der Bohlenplatz lag am Rande von Erlangens Innenstadt. Unter der Woche wurde er vor- und nachmittags weitestgehend von Müttern bevölkert, deren Kinder sich auf dem Spielplatz austobten. Währenddessen kauften sie sich in der nahe gelegenen Bäckerei einen Coffee to go samt obligatorischer Brezel für ihren Nachwuchs. Aber auch Studenten tummelten sich häufig bis in die späte Nacht auf den Rasenflächen – sehr zum Leidwesen vieler Anwohner. Sie beschwerten sich sowohl über Lärm als auch über den Geruch von Gegrilltem und herumliegenden Abfall. Der Schlossgarten wurde um zweiundzwanzig Uhr geschlossen, daher trafen sich die Studenten hier. Sie genossen auf dem Platz vor allem die lauen Sommerabende – mit Bier, Wein und Musik. Dazu war es jetzt allerdings schon zu kalt. Der letzte Sturm hatte mit großem Erfolg fast sämtliche Blätter von den Bäumen geweht. Von Studenten weit und breit keine Spur. Kein Wunder bei neun Grad Außentemperatur und Nieselregen! Der Herbst hatte Erlangen fest im Griff.

Clemens drehte sich um, um das »Büchernest« besser in Augenschein zu nehmen. Das rot-weiße Absperrband flatterte sacht im Wind. Ein kleiner Laden. Allerdings mit einer schönen großen, halbrunden Fensterfront, durch die viel Licht ins Innere fiel. Die Auslage war dekoriert mit fränkischen Krimis und Postern, auf welchen Fingerabdrücke und dunkle Schatten, die um obskure Ecken huschten, zu erkennen waren. Dazu ein paar Handschellen und eine Spielzeugpistole. Clemens verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. Klar, die Romane, die hier gleich stapelweise aufeinanderlagen, waren von Georg Neuner. An der Seite noch der Hinweis in Plakatform, dass der berühmte fränkische Krimiautor am gestrigen Donnerstagabend um neunzehn Uhr im »Büchernest« aus seinem neuen Roman »Tod im Hühnerstall« lesen würde. Tja, »Tod im Hühnerstall« war zu »Tod in der Buchhandlung« geworden. Welch Ironie – ein Krimiautor war seiner eigenen Passion erlegen.

Nichtsdestotrotz sollte er jetzt wohl dem Tatort einen Besuch abstatten. Die Kollegen vom Erkennungsdienst waren bereits vor Ort und wuselten in weißen Ganzkörperanzügen durch den Laden, emsig darauf bedacht, auch nicht die winzigste Kleinigkeit zu übersehen. Clemens begrüßte die Beamten, die vor der Absperrung Wache schoben und die wenigen Schaulustigen vertrieben, die sich bei diesem nasskalten Wetter vor die Tür getraut hatten. Einer hob kurz das Band an, damit der Kommissar darunter hindurchschlüpfen konnte. Durch das Schaufenster erkannte Clemens den Leiter des Erkennungsdienstes, Max Gimmler, der ihn bereits im Visier hatte. Er deutete ihm an, dass er seitlich zum Nebeneingang kommen sollte, der in das Hinterzimmer der Buchhandlung führte. Clemens stolperte fast über den Toten, der direkt hinter der Tür lag. Ein massiger, großer Mann, die blonden Haare seitlich gescheitelt. Das also war Georg Neuner, der ach so berühmte Krimiautor. Na ja, er war es gewesen. Der Schriftsteller war mit einem braunen Trachtenjanker bekleidet, zumindest glaubte Clemens, einen solchen zu erkennen. Dazu trug er ein dunkelblaues, mit Blut getränktes Hemd, teuer wirkende Jeans und dunkelbraune Lederslipper. Ebenfalls nicht billig. Musste gut verdient haben mit seinen Büchern, dachte Clemens. Und dennoch lag er jetzt da, gefällt wie ein Baum und mit einem Messer im Bauch. Immerhin: Die Suche nach der Tatwaffe erübrigte sich.

Er sah sich um. Keine Tasche, keine weitere Jacke. Nichts. Hatte er nichts weiter dabeigehabt, oder hatte die Spusi bereits alles asserviert? Er würde sich später in Ruhe die Fotos vom Tatort ansehen.

»Der Herr Kommissar, na, des ging aber schnell heut!«, begrüßte ihn Gimmler.

Clemens zog es vor, den ironischen Unterton zu ignorieren.

»Ham S’ wieder amol Brobleme ghabt, mit Ihrem Schliddn an Barkblatz zu krieng?« Gimmler grinste.

»Ach was, Ihnen dürfte doch bekannt sein, wie das läuft. Der Ermittler erfährt zuletzt von dem Verbrechen. Also, bringen Sie mich auf den neuesten Stand!«

»Was soll ich dazu sagn? Dumm gloffen, wie immer, da brauchn S’ sich net aufregn. Der Chef ist immer der Droddl.«

Clemens betrachtete den Leiter des Erkennungsdienstes wie ein Fragezeichen. Er war des Fränkischen kaum bis gar nicht mächtig.

Gimmler erkannte das Dilemma und fuhr in halbwegs verständlichem Hochdeutsch fort: »Wir sind vor einer halben Stunde eingetroffen. Sie sehen ja, um den Toten haben wir uns noch gar net großartig bemüht, sondern erst amol die Lage sondiert. Ich wollte etz damit beginnen, Sie wissen ja, ihn ausziehen, Spuren sichern, auf den Rechtsmediziner warten. Es wird wohl a weng dauern, bis ich Ihnen was Näheres sagen kann. Eines kann ich allerdings schon mit Sicherheit feststellen: Der Täter und auch das Opfer sind net gewaltsam hier eingedrungen. Die Tür sowie deren Rahmen wurden genauso wenig wie die Fenster mechanisch beschädigt. Entweder besaß der Täter oder das Opfer einen Schlüssel, oder jemand hat zumindest einem der beiden geöffnet. Kann auch sein, dass die Tür aus Versehen oder absichtlich offen gelassen worden ist. Interessant ist auch noch, dass auf dem Tisch dahinten zwei Pizzen und eine Flasche Prosecco stehen. Wir haben bereits die Fingerabdrücke genommen und ein paar Haare sichergestellt, aber in einer Buchhandlung gehen jeden Tag so viele Leute ein und aus, dass das wohl die bekannte Suche nach der Nadel im Heuhaufen wird, wenn Sie mich fragen«, sagte Gimmler und seufzte.

Clemens nickte und betrachtete erneut den Tatort, beide Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. Er spitzte die Lippen, kräuselte die Stirn zu Falten: »Handy?«

»Bisher net gefunden.«

»Kein Handy?«

»Immer noch net.«

»Seltsam.«

»Das kann man etz sehen, wie man will. Vielleicht hat er keines gehabt.«

»Autoschlüssel oder so was in der Art?«

»Jupp! Außerdem hatte er eine Brieftasche dabei, in der wir Papiere für einen Audi Q5 entdeckt haben, den wir allerdings noch net finden konnten. Scheint net hier um die Ecke zu stehen, das hätten wir gesehen.«

»Vermutlich. Befand sich noch irgendwas anderes in seinen Taschen?«

»Taschentücher, eines davon benutzt, und ein Beleg von gestern Abend vom ›Storchenbräu‹, wo er offensichtlich eine Runde nach der Lesung geschmissen und drei Bratwörschd mit Kraut gegessen hat. Außerdem ein Parkticket von letzter Woche aus Forchheim, ein paar Autogrammkarten und zwei Flyer mit seinen aktuellen Leseterminen. Das war alles.«

Clemens nickte in Gedanken versunken und ging, während Gimmler nur den Kopf schüttelte und sich wieder an die Arbeit machte, zurück auf die Straße.

Wo blieb eigentlich der Rechtsmediziner Professor Konrad Mengler? Was konnte an einem Freitagvormittag denn wichtiger sein als ihre Leiche? Als hätte er es gehört, brauste in diesem Moment Mengler an Clemens vorbei und bremste kurz darauf mit quietschenden Reifen. Was für ein dämlicher Lackaffe, dachte sich Clemens noch, bevor der werte Herr Professor seinem Porsche entstieg. Parkte einfach mitten auf der Straße, ging’s noch?

»Also, Herr Mengler, so funktioniert das nicht! Sie können nicht in der zweiten Reihe stehen bleiben und damit den ganzen Verkehr blockieren.« Clemens’ graublaue Augen blitzten.

»Jetzt haben Sie sich mal nicht so! Ich hatte es eben eilig. Will einer von euch Jungspunden vielleicht meinen Wagen parken?« Professor Mengler wedelte verführerisch vor den jungen Beamten mit seinem Funkschlüssel.

Als einer ihn sofort begierig ergriff und zu dem schneeweißen 911er Coupé eilte, sah Clemens ihm entgeistert hinterher. Klar, er konnte verstehen, dass dieses Auto manch einem die Freudentränen in die Augen trieb, aber doch nicht an einem frischen Tatort!

»Kommen Sie, Herr Kommissar, oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen?«

Clemens hasste diesen selbstverliebten Kerl aus ganzem Herzen, folgte ihm aber trotzdem seufzend zurück zum Nebeneingang.

»Ahh!«, ertönte sofort ein Freudenschrei Menglers. »Da komme ich ja gerade richtig! Frisch gehäutet sozusagen. Dann lassen Sie mich mal ran, Herr Gimmler.«

Clemens runzelte missbilligend die Stirn. Frisch gehäutet? Bloß weil Gimmler den Toten inzwischen seiner Kleider entledigt hatte, immer darauf bedacht, sowohl die Position des Messers als auch den Schnittkanal nicht zu verändern? Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich unterhalb der Einstichstelle des Messers, vermutlich eines Fleischmessers, ein weiterer Stichkanal befand. Zumindest vermutete er, dass es einer war. Sauberer Wundrand, keine Schürfungen. Könnte passen. Dieser Stich ging Richtung Bauchraum. War wahrscheinlich vor dem Stich in die Brust ausgeführt worden. Hatte der erste nicht den gewünschten Effekt gehabt? Und hatte Georg Neuner da noch gelebt? Sich gewehrt? Weshalb ein zweiter Stich nötig gewesen war? Um ihm den Rest zu geben? Und warum hatte der Täter das Messer zurückgelassen?

Clemens beobachtete, wie Gimmler alles sorgfältig dokumentierte und die Leiche fotografierte, den Winkel ausmaß, mit welchem das Messer in der Brust steckte. Danach entfernte er vorsichtig die Tatwaffe aus dem Brustkorb und zeigte sie Professor Mengler, der sich inzwischen ebenfalls eine dieser zauberhaften Wurstpellen übergezogen und sich mit Latexhandschuhen bewaffnet hatte. Ebenso wie Clemens vermutete der Professor, dass der andere Stichkanal durch dasselbe Messer hervorgerufen worden war, drehte anschließend den leblosen Körper auf die Seite, maß die Rektaltemperatur und untersuchte sowohl die Lage der Totenflecken als auch, ob diese sich wegdrücken ließen. Die Totenstarre war schon weitgehend fortgeschritten, das konnte selbst Clemens an der Art und Weise erkennen, wie sich der Körper des Toten bewegen ließ.

Konrad Mengler wandte sich zu Clemens um: »Zwei Wunden, wahrscheinlich von ein und derselben Waffe. Glatter, sauberer Wundrand, kein Probestich erkennbar. Kann er sich unmöglich selbst zugefügt haben, vor allem nicht zweimal und in diesem Winkel. Soweit ich sehen kann, gibt es allerdings auch keine Abwehrverletzungen. Der Angriff erfolgte vermutlich hier, die Lage der Totenflecken deutet darauf hin. Außerdem zeigt das Blut rund um das Opfer, dass keine nachträgliche Bewegung stattgefunden hat. Totenflecken sind schwer wegdrückbar, die Totenstarre kaum zu brechen und gut ausgeprägt. Rektaltemperatur liegt bei vierundzwanzig Komma vier Grad Celsius, das spricht dafür, dass das Opfer gegen zweiundzwanzig Uhr gestern Abend plus/minus zwei Stunden gestorben ist. Aber alles nur unter Vorbehalt, den Rest kann ich erst durch eine Obduktion klären.« Er erhob sich stöhnend, stützte sich auf einem Oberschenkel ab.

»Sie werden doch nicht etwa schwächeln, Herr Professor?«, grinste Clemens den etwa gleichaltrigen Rechtsmediziner an. »Sie sind eben auch nicht mehr der Jüngste, was?« Wobei er sich selbst mit seinen zweiundvierzig Jahren noch lange nicht zum alten Eisen zählte.

»Ach was«, winkte der Arzt ab. »Hab gestern einfach nur zu viel Tennis gespielt, ein richtig heißes Match, klasse Doppel, und wir haben sogar gewonnen, Felix und ich. Fünf Sätze über drei Stunden, aber es hat sich gelohnt. Die anderen können sich heute wahrscheinlich nicht mal mehr bewegen.«

Tennis! Wer spielte heutzutage denn noch Tennis? Clemens lächelte verhalten und gratulierte Mengler zu seinem ach so fulminanten Sieg. Sollte der sich ruhig freuen, wenn das sein Ego beflügelte. Aber wehe, die Ergebnisse lägen nicht spätestens morgen früh vor! Dann würde er ihm schon klarmachen, was wichtiger war als Tennis.

Während der Tote in den Leichenwagen verfrachtet wurde, angelte sich der Kommissar einen der Beamten. »Was wissen wir über Georg Neuner? Irgendwelche Verwandte, Angehörige?«

»Der Herr Neuner wohnt in Langensendelbach, ist auch dort geboren, aufgewachsen, hat quasi das Kaff nie verlassen. Er ist verheiratet, die Frau heißt, warten Sie amol …« Der Polizist kramte sein Smartphone hervor und tippte eilig darauf herum, bevor er mit einem triumphierenden Lächeln fortfuhr: »Ah, da haben wir’s ja, die Frau heißt Anke. Die beiden haben einen Sohn, Bastian.«

Clemens nickte zufrieden. »Wo ist eigentlich die Zeugin? Diese Buchhändlerin, Felicitas Reichelsdörfer? Und hat jemand bereits ihre Fingerabdrücke zwecks Abgleich genommen?«

Der Beamte bejahte die Frage bezüglich der Fingerabdrücke und erklärte dem Kommissar den Weg. Kurz darauf öffnete sich der Durchgang in einen Innenhof, grob gepflastert und mit alten Rosenbüschen bepflanzt. Die letzten zwei Blüten trotzten der Kälte und rahmten rosafarben die Haustür ein. Nett. Etwas bieder, aber nett.

In einer Ecke stand eine schon ziemlich verwitterte Holzgarnitur. Dort entfernte gerade ein Rettungssanitäter die Blutdruckmanschette vom Arm einer Mittdreißigerin. Als der Mann den Kommissar erblickte, hob er kurz den Daumen und verließ den Hinterhof. Clemens wertete sein Verhalten als Zeichen, dass die Frau stabil genug für ein Gespräch war.

Die Buchhändlerin erhob sich von einem der wacklig wirkenden Klappstühle. Ihr rotes Haar war notdürftig mit einem bunten Tuch zusammengebunden. Mehrere Strähnen hatten sich erfolgreich ihre Freiheit zurückerkämpft. Ihre Kleidung unterstützte den papageienähnlichen Eindruck.

Spontan hatte Clemens seine alte Biolehrerin vor Augen, immer in Birkenstocks und legerer Baumwollkleidung, naturgefärbt, handgesponnen und fair trade. Gut, so alt war Frau Reichelsdörfer nicht, aber der Schnitt ihrer Kleidung wirkte etwas ökomäßig, was im Moment wohl modern war. Die Farben dagegen waren eher unökologisch, knalliges Rot kontrastierte mit Türkis und Hellgrün. Eine Farbexplosion, die im Gegensatz zu ihrem bleichen Gesicht stand. Das Make-up trug nicht viel dazu bei, ihre Augenringe zu verbergen, die Frau wirkte fast so weiß wie die Wand hinter ihr. Der Lippenstift war akkurat aufgetragen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie geweint hatte. Verwischte schwarze Schlieren zogen sich über ihre Wangen. Trotz ihres desolaten Erscheinungsbilds blitzten ihn ihre Augen an.

»Sind Sie der leitende Kommissar?«, fragte sie ihn, während sie mit kraftlosen Schritten auf ihn zukam. Ihre Stimme klang brüchig, mit einem Hauch von Heiserkeit. Irgendwie niedlich.

»Frau Reichelsdörfer?«, erkundigte er sich, statt eine Antwort zu geben.

Sie nickte irritiert, als hätte er sie aus dem Konzept gebracht.

»Sie haben den Toten gefunden?«

Sie nickte wieder.

»Können Sie bitte noch einmal rekapitulieren, was sich gestern Abend hier zugetragen und welche Rolle Herr Neuner dabei gespielt hat?«

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hielt kurz inne, bevor sie loslegte: »Der Schorsch hat gestern bei mir in der Buchhandlung aus seinem neuen Roman gelesen, aus ›Tod im Hühnerstall‹, vielleicht kennen Sie ihn ja, ein überaus erfolgreicher regionaler Krimi, hat schon einige Preise abgeräumt. Sogar in der ›Süddeutschen‹ wurde er besprochen. Nach der Lesung, die so eineinhalb Stunden ging, haben wir, also, mein Mitarbeiter und ich, zusammen mit ein paar helfenden Gästen noch kurz die Stühle aufgeräumt und sind dann mit dem Schorsch ins ›Storchenbräu‹ rüber, was essen und was trinken. Der Schorsch hat uns allen ein Storchenbier spendiert, weil er das so liebt, ist aber nach seinen Bratwürsten gleich gegangen. Er hat seiner Frau eine SMS geschrieben und dann gemeint, sein Kind sei krank, er wolle die beiden nicht länger allein lassen. Wir sind dann noch ein wenig gesessen, haben einiges getrunken, tja …«

Täuschte er sich, oder überzog plötzlich eine zarte Röte ihre Wangen?

»Sie kennen das ja bestimmt, das Weizen im ›Storchenbräu‹ ist echt der Hammer. Ein echter Ladykiller, das schreiben die sogar auf ihrer Website. Es schmeckt einfach so gut, dass man gar nicht mitkriegt, dass es doch einige Prozent hat.« Felicitas Reichelsdörfer hielt inne, schien kurz und intensiv nachzudenken, bevor sie weitersprach: »Aber nicht, dass Sie jetzt denken, ich würde ständig … Oder immer so viel … Das war eine Ausnahme, okay?«

Clemens winkte ab. Was ging es ihn an, was diese Frau in ihrer Freizeit trieb, solange sie niemandem damit schadete? Wobei, ob das geschehen war, müsste sich in diesem speziellen Fall noch klären. Die Buchhändlerin wollte gerade fortfahren, als er ihr ins Wort fiel: »Wer ist mit ›uns allen‹ gemeint?«

»Schorschs Verleger Karl von Grieben, sein Lektor Gottfried Waldnaab, der Journalist Richard Konz von den ›Erlanger Nachrichten‹ und ich. Und am Anfang eben noch er selbst, also, der Georg.«

Clemens machte sich kurz ein paar Notizen auf seinem Handy, wohlweislich darauf bedacht, es außerhalb Felicitas Reichelsdörfers Sichtfeld zu halten, die ihre Neugierde nicht zügeln konnte.

»Und wie ging’s dann weiter mit Ihrer lustigen Truppe?«

»Wir sind so gegen zwölf nach Hause gegangen. Aber da hab ich den Schorsch noch nicht gefunden, weil ich von hier«, sie deutete auf einen kleinen Torbogen am Ende des Innenhofs, »reingekommen und gleich nach oben in meine Wohnung gegangen bin. Bier macht mich immer so müde. Erst heute früh, wie ich den Laden aufschließen wollt, hab ich ihn im Nebeneingang zum Hinterzimmer liegen sehen. Mausetot! Mit einem Messer in der Brust. Mir ist so übel geworden, ich musste mich echt zusammenreißen, um nicht neben ihn zu kotzen. Ich hab gleich bei der Polizei angerufen und mich dann hierhergehockt und gewartet. Das hab ich zwar schon den anderen Polizisten gesagt, aber die meinten, ich müsse auf den Kommissar warten. Sind das jetzt Sie, oder nicht? Mir wird nämlich allmählich kalt hier draußen.«

Clemens fühlte sich wie erschlagen. Wortwörtlich, denn Felicitas Reichelsdörfer hatte jeden ihrer Sätze mit ausdrucksstarken Gesten begleitet, sodass er einige Male versucht gewesen war, den Kopf einzuziehen, um nicht aus Versehen mit ihren Händen zu kollidieren. Meine Güte, was für ein Temperament!

»Mein Name ist Clemens Sartorius, ich bin tatsächlich der leitende Kriminalhauptkommissar. Mein Kollege hat vermutlich bereits Ihre Daten aufgenommen?«

Sie nickte.

»Gut. Erinnern Sie sich, wann genau Herr Neuner das ›Storchenbräu‹ verlassen hat? War er alleine? Ist er mit dem Auto weggefahren?«

Die Buchhändlerin sammelte sich kurz, bevor sie antwortete: »Er ging so kurz vor zehn, glaub ich, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich hab nicht auf die Uhr geguckt, konnte ja nicht ahnen, dass er kurz darauf tot in meinem Laden liegen würde. Dann wäre ich sicher aufmerksamer gewesen. Und natürlich ging er allein, schließlich wollte er ja nach Hause und nicht noch irgendwo einen heben. Abgesehen davon sind wir von hier aus zum ›Storchenbräu‹ gelaufen, da gibt’s nämlich so gut wie keine Parkplätze. Das sollten Sie als Erlanger Polizist doch wissen.«

Clemens runzelte verärgert ob ihres Tonfalls die Stirn: »Kein Grund, ausfallend zu werden, Frau Reichelsdörfer. Und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass er bereits kurz darauf tot war? Kennen Sie den Todeszeitpunkt? Und wo befindet sich dann sein Auto, wenn nicht beim ›Storchenbräu‹?«

Sichtlich genervt von seiner kühlen Art raufte sie sich die Haare. »Was weiß denn ich, wo er geparkt hatte? Vielleicht in Hinterdupfing? Wahrscheinlich irgendwo hier um die Ecke! Und was sollte diese Frage, wie ich darauf komm? Ist doch eindeutig! Wird wohl irgendwann kurz nach seinem Abgang im ›Storchenbräu‹ den Abgang gemacht haben! Muss ich Ihnen jetzt noch erklären, wie Ihre Arbeit geht?«

Was für ein Mundwerk! Clemens blickte die Frau gleichbleibend stoisch an und beschloss, sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Können Sie mir dann erklären, wie Herr Neuner in Ihre Buchhandlung gekommen ist?«

»Puh, keine Ahnung, sagen Sie’s mir.«

»Junge Dame, damit wir uns hier ganz klar verstehen: Entweder kooperieren Sie jetzt, oder ich nehme Sie mit aufs Revier, klar?«

Felicitas Reichelsdörfer sank in sich zusammen. »Okay, okay, schon gut. Ich bin einfach nur etwas genervt. Und ziemlich erschüttert. Ich hab den Schorsch gut gekannt. Und seine Familie. Sein Sohn, der Bastian, ist gerade mal sechs Jahre alt und hat jetzt keinen Papa mehr, Mensch. Das geht doch nicht! Und dann liegt der auch noch tot in meiner Buchhandlung. Bei mir! Und der Mörder läuft immer noch frei herum. Da können schon mal die Nerven mit einem durchgehen, finden Sie nicht?« Wütend funkelte sie ihn an.

»Trotzdem haben wir hier noch einiges zu klären. Da Herr Neuner, wie Sie es eben so treffend bemerkt haben, in Ihrer Buchhandlung lag: Haben Sie eine Ahnung, wie er hereingekommen ist?«

»Was?« Sie starrte Clemens entgeistert an.

»Jemand muss ihn hereingelassen haben, oder vergessen Sie öfter, die Tür abzuschließen?«

»Wie jetzt? Die Tür war unverschlossen?« Sie schwankte.

»Frau Reichelsdörfer, wollen Sie sich nicht besser setzen?« Clemens reichte ihr eine Hand und begleitete sie zu einem Klappstuhl.

Während sie sich darauf niederließ, schüttelte sie den Kopf: »Das kann nicht sein! Ich schließ immer ab! Immer! Und ich war die Letzte, als wir die Buchhandlung verließen!«

»Sind Sie die Einzige, die einen Schlüssel zu dieser Tür besitzt?«, forschte Clemens weiter.

»Nein …« Ein Zögern lag in ihrer Stimme.

»Mein Mitarbeiter, der Boschi, also, eigentlich heißt er Hieronymus Bosch, der hat ebenfalls einen. Aber der ist direkt nach der Lesung nach Hause gegangen, weil es ihm nicht gut ging. Migräne oder so. Hat er öfter.«

»Sehen Sie, und hier haben wir ein Problem, Frau Reichelsdörfer. Sie behaupten, dass Sie auf jeden Fall abgeschlossen haben und Ihr Mitarbeiter angeblich vorher nach Hause gegangen ist. Und doch muss irgendjemand Herrn Neuner die Tür geöffnet haben. Er war nicht alleine im Laden. Laut Bericht wurden zwei Pizzen und Prosecco auf dem Tisch gefunden, beides war nicht angerührt, so als hätte jemand fluchtartig den Ort verlassen. Wer also hat Georg Neuner reingelassen? Wollte er sich hier noch mit jemandem treffen, oder hat er jemanden überrascht, der nicht auf ihn gefasst war? Sie vielleicht?« Er beobachtete sie genau, jede ihrer Gesichtsregungen konnte ihm einen Hinweis auf eine eventuelle Beteiligung an dem Verbrechen liefern.

Aber die Buchhändlerin ging sofort los wie eine Rakete: »Verdächtigen Sie mich etwa? Glauben Sie im Ernst, ich hätte etwas mit Schorschs Tod zu tun? Ihn am Ende sogar ermordet? In meinem Laden? Um mich selbst so schnell wie möglich zu ruinieren und jeden Verdacht sofort auf mich zu lenken? So blöd kann doch kein Mörder sein! Oder halten Sie mich etwa für bescheuert?«

Clemens seufzte und schüttelte angestrengt den Kopf. Nein, er hielt sie definitiv nicht für bescheuert. Allenfalls für anstrengend. Sehr anstrengend. Er atmete tief aus. »Frau Reichelsdörfer, Sie bleiben jetzt bitte bis auf Weiteres in der Stadt und halten sich zu unserer Verfügung. Das mit den Schlüsseln werde ich überprüfen. Ihr Laden wird fürs Erste geschlossen bleiben müssen. Wann Sie wieder öffnen können, werden Ihnen dann meine Kollegen mitteilen. Für heute sind wir fertig.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging. Von dieser impertinenten Person würde er sich nicht zum Affen machen lassen. Die würde ihn schon noch kennenlernen. Einen Sartorius forderte man nicht ungestraft heraus!

Freitag, 10:30 Uhr

Der Druck in Felis Magen gewann an Intensität, verlagerte sich auf ihren Rücken und breitete sich langsam in Richtung Kopf aus. Außerdem zitterte sie am ganzen Körper. Unmöglich konnte sie länger zu Hause bleiben, sie musste raus.

Sie trat auf die Straße und warf einen Blick durch das Schaufenster in ihr geliebtes »Büchernest«. Noch immer wuselten die Männer vom Erkennungsdienst mit ihren weißen Anzügen im Laden herum wie Fremdkörper. Der Anblick vom toten Schorsch, wie er mit einem Messer im Bauch in seiner Blutlache lag, würde sie für den Rest ihres Lebens terrorisieren.

Dabei war das »Büchernest« stets ein Ort gewesen, an dem sie sich so wohlfühlte wie in ihrem Wohnzimmer einen Stock höher.

Jetzt war er entweiht.

Sie hatte das Geschäft vor fünf Jahren von ihrer Tante Angelika geerbt, die an Krebs gestorben war. Damals hatte Feli noch in einer großen Buchhandlung in der Stadt gearbeitet. Der Tod ihrer Lieblingstante war ihr nahegegangen, aber mit dem »Büchernest« hatte sich für sie ein Traum erfüllt.

Wie ferngesteuert lief sie die Marquardsenstraße Richtung Bismarckstraße entlang. Sie musste zu Boschi. Der lag bestimmt noch mit seinen Kopfschmerzen im Bett, wie er es schon gestern angekündigt hatte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen.

Er war schon seit der fünften Klasse ihr bester Freund, und genauso lange stand er unerschütterlich an ihrer Seite – so wie sie an seiner. Gemeinsam hatten sie die Höhen und Tiefen des Lebens gemeistert, auch wenn er zwischendurch ein paar Jahre in Berlin gelebt hatte, um Modedesigner zu werden. Das Band zwischen ihnen war dadurch nur stärker geworden. Und als Boschi wie ein geprügelter Hund zurückgekommen war, weil er seinen Traum nicht verwirklichen hatte können, war sie es gewesen, die ihn wieder aufrichtete und ihm einen Job in ihrer Buchhandlung gab. Dort hatte er sich schnell unentbehrlich gemacht. Nicht nur, dass er Felis EDV auf den neuesten Stand brachte, er kreierte auch mit Feuereifer den Bereich »Beauty and Style« und etablierte sich in Windeseile als Experte. Die weibliche Kundschaft lernte schnell, seine Buchempfehlungen zu schätzen, und nicht nur das. Boschi war nie um persönliche Stylingtipps verlegen und stets up to date, was die neuesten Modetrends anging. Mit der Zeit besuchten ihn Kundinnen nicht nur, um Bücher zu kaufen, sondern auch, um seine Meinung zu neu erworbenen Outfits zu hören. Als Krönung seiner Passion hatte er eine Nähmaschine im Hinterzimmer des »Büchernests« aufgestellt und fertigte dort für ausgesuchte Kundinnen selbst entworfene Unikate an. Steuerfrei, versteht sich.

Inzwischen hatte Feli die Kreuzung Marquardsen-/Bismarckstraße erreicht und huschte zwischen fahrenden Autos hindurch auf die andere Seite zu dem Mehrfamilienhaus, in dem ihr Freund wohnte. Sie klingelte Sturm.

Nichts!

Das durfte jetzt nicht wahr sein. Verflixt. Wo steckte der denn? Genehmigte der sich vielleicht einen Kaffee im »Brazil« nebenan? Eigentlich eher unwahrscheinlich. Panik stieg in ihr auf. Was, wenn er wirklich nicht da war? Sie benötigte jetzt seinen Beistand. Entschlossen malträtierte sie die Klingel mit der Aufschrift »Bosch« weiter, bis es endlich summte und die Haustür aufsprang.

Boschi empfing sie im stilvollen silberfarbenen Morgenmantel mit dunkelrotem Rautenmuster, einem Geschenk seines Lebensgefährten Dimitri. Das war an diesem Morgen aber auch das einzig Stilvolle an ihm. Er blickte sie aus verquollenen Augen an, mit einer Gesichtsfarbe, die der vom toten Schorsch ähnelte. Seine sonst perfekt sitzende Frisur war eine Lockenmähne, die wild in alle Richtungen abstand.

Feli registrierte, wie verpeilt Boschi aussah, hielt sich mit dieser Feststellung aber nicht auf, sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Der Schorsch ist tot.«

»Was?« Boschi wirkte ein paar Sekunden lang wie versteinert, dann schloss er die Wohnungstür hinter ihr. Die sonst übliche Umarmung der beiden entfiel angesichts des Unfassbaren, das geschehen war.

»Wenn ich es dir doch sage«, fuhr Feli fort, marschierte ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. »Er lag heute Morgen tot im ›Büchernest‹ – mit einem Messer im Bauch.«

Boschi, der ihr gefolgt war, blieb stehen und sah sie entgeistert an: »Das ist jetzt nicht dein Ernst. Weißt du überhaupt, was du da sagst, Karotte? Das würde dann ja heißen, dass er … ermordet wurde?«

»Genau. Irgendein Irrer hat ihn heute Nacht umgebracht. Ich kann das auch noch nicht ganz fassen. So was passiert im Krimi, aber doch nicht in unserer Buchhandlung. Und dann ausgerechnet der Schorsch. Wer um alles in der Welt bringt denn jemanden wie den um?«

»Keine Ahnung!«, rief Boschi hysterisch.

Feli musterte ihren Freund. Die Nachricht vom Mord am Krimi-Schorsch hatte ihm mindestens genauso den Boden unter den Füßen weggezogen wie ihr. Oder hatte es ihn sogar noch schlimmer getroffen? Trotz ihrer eigenen desolaten Verfassung bemerkte sie die Panik in seinem Blick.

»Hat die Polizei schon eine heiße Spur?«, fragte Boschi. »Ich meine, was, wenn der Mörder gerade einen Lauf hat und plant, noch mehr Leute umzubringen?«

»Jetzt hör aber auf, Boschi.« Feli schloss die Augen für ein paar Sekunden. »Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und dürfen nicht hysterisch werden, verstehst du?«

»Das sagt sich so einfach. Vielleicht hast du ja Nerven aus Stahl, ich jedenfalls nicht«, erwiderte er und tigerte an der Fensterfront auf und ab. »Und überhaupt, war die Polizei denn schon da?«

»Natürlich«, antwortete Feli und berichtete von der Staatsmacht, die am frühen Morgen ins »Büchernest« eingefallen war. Als sie schilderte, wie der Kommissar sie in die Mangel genommen hatte, verlor Boschi endgültig die Contenance.

»Karotte, warte mal. Ich glaub, mein Blutdruck schießt gerade mal wieder durch die Decke.« Er ließ sich auf die Couch fallen und legte sich mit fahrigen Bewegungen sein Blutdruckmessgerät an, das griffbereit auf dem Wohnzimmertisch gelegen hatte.

Feli wusste, dass sie ihn jetzt auf gar keinen Fall ansprechen durfte.

Hoch konzentriert, als würde er auf das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experimentes warten, starrte Boschi auf die digitale Anzeige des Gerätes.

»Da, schau dir das an!«, rief er plötzlich, und seine Stimme überschlug sich dabei. »Hundertfünfzig zu neunzig. Ich stehe kurz vor einem Kollaps.«

»Boschi, jetzt beruhige dich doch mal. Du lebst und bist gesund.«

»Fragt sich nur, wie lange noch! Karotte, kannst du mir einen Beruhigungstee kochen? Du weißt schon, den aus Passionsblumenkraut. Der ist gut für die Nerven.«

Feli verdrehte die Augen Richtung Himmel. Ihr war klar gewesen, dass die Sache an Boschi nicht spurlos vorbeigehen würde, aber dass sie ihn dermaßen aus der Bahn warf, damit hatte sie nicht gerechnet.

Andererseits war er Hypochonder. Ständig bildete er sich irgendwelche Krankheiten ein und pflegte seine nicht vorhandenen Wehwehchen mit Hingabe. Na gut, vielleicht war sein Blutdruck gerade wirklich etwas hoch, Feli kannte sich mit den Werten nicht so aus, aber ernsthafte Sorgen machte sie sich deswegen nicht.

In der Küche kochte sie den Tee, während ihr Blick auf diverse Schachteln mit homöopathischen Globuli und Tinkturen fiel, die Boschi für den medizinischen Ernstfall immer parat hatte. Dabei war er eigentlich bei bester Gesundheit. Ab und zu litt er unter einer Erkältung und je nach Gemütslage an Migräne, aber das war es dann auch schon. Seinem Mitbewohner und Lebensgefährten Dimitri, einem vielversprechenden Künstler, ging Boschis Verhalten manchmal ganz schön auf die Nerven, obwohl die beiden schon vier Jahre zusammen waren.

Wo steckte der eigentlich? War Dimitri mal wieder im europäischen Ausland unterwegs? Da sein großer Durchbruch leider auf sich warten ließ, gab er regelmäßig auf diversen Urlaubsinseln Zeichenkurse für Touristen.

»Ist Dimitri nicht da?«, rief sie Richtung Wohnzimmer.

»Macht einen Workshop auf Ibiza«, hörte sie eine gepresste Stimme aus dem Wohnzimmer.

Aha. Dann war Boschi mal wieder allein zu Hause, was ihm ohnehin nicht so gut bekam. Wenn Dimitri da war, war er viel ausgeglichener.

»Und was ist mit Tobias?«, stellte er die Gegenfrage.

Tobias war Felis Langzeitfreund und lebte seit ein paar Jahren in Berlin, wo er eine steile Karriere als Architekt hinlegte. Leider sahen sie sich deshalb kaum noch, was die Beziehung vor ernste Herausforderungen stellte.

»Kommt heute«, antwortete sie, während sie zwei Tassen Tee zurück ins Wohnzimmer balancierte. Dort bot sich ihr ein origineller Anblick: Boschi saß im Schneidersitz auf dem Sofa, beide Hände mit den Innenflächen nach oben gedreht auf den Knien, und versuchte, sich durch kurzes Ein- und langes Ausatmen zu beruhigen.

»Hier, dein Tee«, sagte sie und reichte ihm eine Tasse.

Eine Weile nippten beide schweigend.

»Ich fasse es immer noch nicht. Wer macht denn so was? Den Schorsch umbringen?«, nahm sie schließlich das Gespräch wieder auf.

»Vielleicht ein anderer Autor, der neidisch auf seinen Erfolg war?«, sinnierte Boschi, inzwischen tatsächlich etwas ruhiger.

»Aber deswegen bringt man doch niemanden um. Auch wenn Autoren sich untereinander bestimmt nicht unbedingt grün sind, obwohl sie vordergründig immer superfreundlich tun. Nein, sein Tod muss einen anderen Grund als Eifersucht haben. Und dann auch noch so brutal. Mit einem Messer.« Feli schüttelte den Kopf und stellte ihre Tasse ab.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was du meinst, Karotte. Der Schorsch stand so was von fest im Leben, hatte Geld, Erfolg und mit der Anke eine attraktive Frau. Dazu noch den Jungen. Bei dem hat einfach alles gepasst. Ich bleib bei Eifersucht als Motiv.«

»Vielleicht hat die Anke einen Liebhaber, der den Schorsch aus dem Weg geschafft hat, um freie Bahn zu haben?«, mutmaßte Feli.

»Dass du immer gleich an so was denken musst, Karotte. Ich bin mir sicher, die beiden haben eine vorbildliche Ehe geführt.« Er wedelte ihre Theorie wie eine lästige Fliege weg.

»Sonst bist du doch auch nicht so prüde und vermutest immer und überall irgendwelche Liebschaften. Wieso soll ausgerechnet die Anke keinen Liebhaber haben? Sie sieht gut aus und ist noch dazu viel jünger, als der Schorsch es war. So abwegig ist das jetzt wirklich nicht«, verteidigte sich Feli.

»Von mir aus, aber kannst du mir dann mal erklären, wie dieser ominöse Liebhaber Schrägstrich Mörder oder gar der Schorsch selbst an den Schlüssel fürs ›Büchernest‹ gekommen sein soll? Du hast ja gesagt, es gibt keine Einbruchspuren.«

»Kann ich nicht«, musste Feli zugeben. »Und das ist noch nicht einmal alles.«

»Was denn noch?«

»Auf dem Schreibtisch lagen zwei Pizzen, neben ihnen stand eine Flasche Prosecco. Mir ist das gar nicht aufgefallen in der Aufregung, als ich den Schorsch fand, aber der Kommissar hat es erwähnt.«

Boschi rutschte unruhig hin und her, seine Augenlider flatterten. »Das versteh ich jetzt überhaupt nicht.«

Feli beugte sich nach vorn, ihre Gesichtszüge spannten sich an. »Ich schon. Da wollten es sich zwei gemütlich machen. In meiner Buchhandlung! Ich fasse es nicht.« Sie ließ sich gegen die Lehne der Couch zurückfallen und richtete ihren Blick an die Decke. »Weißt du was?«, sagte sie, als sie sich wieder aufsetzte. »Vielleicht hat der Schorsch die beiden Besucher ja überrascht und musste deshalb sterben?«

Boschi blies Luft durch die Nase. »Jetzt spiel hier mal nicht die Detektivin, Karotte. Das sind alles nur Vermutungen. Außerdem würden wir damit immer noch nicht wissen, wie dieses ominöse Pärchen ins ›Büchernest‹ gekommen ist. Ohne Einbruchspuren zu hinterlassen.«

Das stimmte. Felis Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren. Das war die One-Million-Dollar-Frage. Wer verflixt noch mal hatte außer ihr und Boschi einen Schlüssel zum »Büchernest«? Natürlich war da noch Wolfgang, der Fahrer vom Grossisten, der jeden Morgen gegen sechs Uhr die Wannen mit den bestellten Büchern im Laden abstellte. Auch er besaß einen Schlüssel, aber nur für den Haupteingang. Weshalb hätte der den Schorsch im Hinterzimmer ermorden sollen? Nein, aus ihrer Sicht schied der als Täter aus. Da kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke. »Sag mal, Boschi, wo ist eigentlich dein Schlüssel?«

»Was ist denn das jetzt für eine komische Frage, Karotte?« Wieder rutschte er unruhig auf seinem Platz hin und her, sodass sein Tee über den Tassenrand schwappte. »Jetzt schau dir die Katastrophe an. Ausgerechnet auf den Morgenmantel vom Dimitri.« Er schoss hoch und lief in die Küche. Gleich darauf hörte Feli das Wasser laufen und ihren Freund vor sich hin grummeln.

»Sieh halt mal nach, ob dein Schlüssel für die Buchhandlung noch da ist, Boschi!«, rief sie. Warum machte er nur so ein Theater wegen des blöden Morgenmantels, wo doch ihre Welt aus den Fugen war?

Er erschien in der Tür – der kleine Teefleck war zu einem großen Wasserfleck mutiert – und warf Feli einen wütenden Blick zu. Dann verschwand er im Flur, kehrte aber sogleich wieder mit einer säuerlichen Miene zurück.

»Hier, bitte sehr. Mein Schlüsselbund mit«, er machte eine Pause, in der er einen einzelnen Schlüssel nach oben hielt, »dem Schlüssel vom ›Büchernest‹.«

»Schön«, sagte Feli.

»Schön«, äffte Boschi sie nach. »Ist das alles, was du dazu sagst?« Demonstrativ legte er seinen Schlüsselbund auf den Wohnzimmertisch und schaute seine Freundin beleidigt an. »Ich bin echt enttäuscht von dir, Karotte. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich den Schorsch … Also, wirklich!«

»Nein, du Idiot, das habe ich auch keine Sekunde lang geglaubt. Aber es hätte doch sein können, dass jemand dir den Schlüssel geklaut hat. Also, ähm … genau genommen dieses ominöse Pärchen oder der Mörder. Verstehst du, was ich meine?«

Boschi schaute Feli erstaunt an. »Du hast ja eine kriminalistische Ader! So kenne ich dich gar nicht. Respekt.«

»Danke.«

»Es könnte aber auch sein, dass dir«, sie zögerte, »oder mir jemand den Schlüssel entwendet und dann heimlich ein Duplikat davon hat machen lassen. Dann hat er das Original wieder am ursprünglichen Schlüsselbund, also an deinem«, sie zögerte wieder, »oder meinem befestigt. In dem Fall hätten wir nichts davon gemerkt, aber derjenige besäße jetzt einen Schlüssel.«

Boschi saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa und wippte mit dem oberen Bein auf und ab. »Falsch«, sagte er.

»Wie, falsch?«

»Diese Person besitzt jetzt einen Schlüssel, nicht besäße. Vorausgesetzt, du liegst mit deiner Vermutung richtig. Was ich aber nicht glaube. Ich habe meinen Schlüssel immer in meiner Jackentasche, und die hängt während der Arbeitszeit hinten im Büro. Da kommt keiner ran. Ansonsten habe ich ihn bei mir, oder er hängt zu Hause am Schlüsselbord.«

»Und ich bewahre meinen in der Schreibtischschublade vom Büro auf, was niemand außer dir weiß. Nach Feierabend liegt er auf dem Sideboard im Flur meiner Wohnung.«

»Siehst du. Also kann uns keiner unsere Schlüssel geklaut haben.«

»Das Ganze ist ein großes Rätsel«, sinnierte sie.

Wieder schwiegen beide eine Weile. Felis Blick heftete sich an ein Bild an der Wand. Es zeigte dicke rote Linien, die sich wellenförmig vom Außenrand nach innen zogen und dabei immer dünner wurden, bis sie schließlich als fadenfeiner Strich endeten. Eines von Dimitris Werken. Sie hatte es stets gemocht, aber heute erinnerte sie das Rot an die Blutlache, in der Schorsch gelegen hatte. Eine Woge der Übelkeit schwappte in ihrem Magen, und sie ließ eine Hand über ihren Bauch kreisen. Plötzlich musste sie an den Polizisten denken, der sie vernommen hatte.

»Dieser eingebildete Pinkel von Kommissar«, sagte sie, »das ist ein scharfer Hund. Santorin oder so ähnlich heißt der. Der wollte genau wissen, wer gestern Abend im ›Storchenbräu‹ dabei war. Ich hab dem das natürlich gesagt und dabei irgendwie auch dich erwähnt. Bestimmt wird der bald hier auftauchen und dich genauso in die Mangel nehmen wie mich.«

Boschi erstarrte.

»Ist alles in Ordnung?«

»Jaja. Alles gut. Mach dir um mich mal keine Sorgen, Karotte«, sagte er mit sich überschlagender Stimme.

Feli sah ihn verwundert an. Der war ja total neben der Spur. Als er sich von ihr weg zum Fenster hin drehte und sein Kinn in die Hände legte, bemerkte sie, dass seine Schultern zitterten.

Hatte er etwas zu verbergen? Aber das war ausgeschlossen. Sie wusste über alles Bescheid, was in Boschis Leben vor sich ging. Zwischen ihnen beiden gab es keine Geheimnisse. Hatte er vielleicht nur Panik vor dem Gespräch mit dem Kommissar, weil der eine Autorität für ihn darstellte? Auch Boschis Vater war eine Autoritätsperson, hatte einen Lehrstuhl für Kardiologie an der Uni in Erlangen inne und immer gehofft, sein Sohn würde in seine Fußstapfen treten. Und das, obwohl Boschi beim Anblick von Blut sofort in Ohnmacht fiel. Was war das nur für ein ignoranter Vater, der diese Tatsache nie akzeptiert hatte? Und mit der Homosexualität seines Sohnes stand er ebenfalls auf Kriegsfuß, genau wie seine Frau, die sich immer Enkel gewünscht hatte. Sie war Pianistin in einem Orchester gewesen, hatte ihre Karriere aber nach der Geburt ihres Sohnes aufgegeben. Neben der Musik liebte sie die Malerei, insbesondere die Werke des niederländischen Renaissancemalers Hieronymus Bosch. Ihm verdankte Boschi seinen Vornamen, den Nachnamen hatte sein Vater beigesteuert. Hieronymus Bosch, es war ein Witz. Feli erinnerte sich, wie ihr Freund in der Schule deswegen gemobbt worden war. Sie verstand nicht, wie eine Mutter ihrem Kind so eine Bürde auferlegen konnte. Aber im Gegensatz zu ihrem Mann hatte Gisela Bosch gehofft, dass ihr Sohn in die Fußstapfen seines berühmten Namensvetters treten würde. Nach dem Abitur hatte Boschi jedoch auch ihre Träume zerstört und ihr eröffnet, dass sein Herz für Mode schlage und er Designer werden wolle. Das sei doch auch Malerei – im weiteren Sinne, hatte er erfolglos argumentiert. Sein Berufswunsch katapultierte seine Mutter in eine tiefe Krise. Wochenlang hatte sie krank vor Enttäuschung im Bett gelegen.

In Felis Augen hatten Karl-Wilhelm und Gisela Bosch als Eltern auf ganzer Linie versagt. Was für ein Glück sie dagegen mit den ihren hatte! Sie war behütet in Langensendelbach aufgewachsen. Ein Einzelkind, stets geliebt und akzeptiert. Noch heute fuhr sie gerne nach Hause, ließ sich von ihrer Mutter Anneliese mit ihren Lieblingsspeisen verwöhnen und lieferte sich liebevolle, alberne Wortgefechte mit ihrem Vater Harald.

Boschi hingegen hatte den Kontakt zu seiner Familie längst abgebrochen. Sie, Feli, war der Ersatz, und das machte sie glücklich. Dass ihr Freund sie belog oder etwas vor ihr verheimlichte, hielt sie für ausgeschlossen.

»Kommst du mit in Riekes Café?«, fragte sie und strich ihm über den Rücken.

»Lieber nicht. Meine Migräne meldet sich gerade wieder«, antwortete er und legte die Finger an die Stirn.

»Kann ich dich alleine lassen?«

»Geh nur«, antwortete er.

Aber Feli hatte seinen beleidigten Unterton bemerkt. Typisch Boschi. Er litt Schmerzen, und sie ging zu ihrer Freundin. Wie konnte sie nur? Manchmal war er echt eine Diva. »Dann werd ich mal.«

»Jaja.«

»Tschüss und gute Besserung.«

Keine Antwort.

Sie verließ die Wohnung und zog die Tür ganz leise ins Schloss.

Ein Hauch von schlechtem Gewissen begleitete sie, als sie die Treppenstufen nach unten stieg.

Freitag, 10:30 Uhr

»Herr Diebold, rufen Sie bitte die Mannschaft zusammen, in zehn Minuten Dienstbesprechung bei mir im Büro!«, rauschte Clemens grußlos durch die Dienststelle. Sein Mantel fegte derart heftig um die Ecke, dass ein paar Papiere von Kriminalobermeister Diebolds Schreibtisch zu Boden segelten.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich ächzend auf seinen Stuhl fallen. Was für eine Saukälte da draußen! Auch wenn er diesen Ausdruck selbstverständlich nie in der Öffentlichkeit gebrauchen würde, gab es letzten Endes kein besseres Wort für die vorherrschenden Temperaturen. Dabei war es erst Herbst. Wie sollte das dann erst im Winter werden? Was gäbe er jetzt für einen anständigen Kaffee. Was Heißes zum Aufwärmen. Mit viel Geschmack! Er tippte die Kurzwahl für Frau Gerber, die Abteilungssekretärin: »Frau Gerber, könnten Sie mir bitte einen ordentlichen Kaffee bringen? Ich meine …«

»Den doppelten Espresso ohne alles? Schwarz wie die Seele sozusagen? Aber sicher doch, Herr Kommissar, ist schon auf dem Weg!« Es klickte im Hörer.

Monika Gerber war wirklich ein Goldstück. Nicht nur, dass sie sich nahezu alles Wichtige problemlos merkte, sie vergaß auch genauso wirkungsvoll alles, was sie nichts anging, und verschwieg, was fremde Ohren nicht hören sollten. Sie arbeitete bereits seit drei Jahren in seiner Abteilung und hatte ihn nicht ein Mal enttäuscht.

Bereits fünf Minuten später klopfte es an seiner Tür, und Frau Gerber erschien mit einem dampfenden Espresso. Auch an die vorgewärmte Tasse hatte sie gedacht. Die Sekretärin wusste einfach, was er wollte. Heiß musste er sein, der Espresso, und dafür gab es nichts Besseres, als vorher die Tasse mit kochendem Wasser anzuwärmen.

Genießerisch sog Clemens den Duft ein und nippte vorsichtig an der Flüssigkeit. »Was würde ich nur ohne Sie machen, Frau Gerber?«

»Vermutlich einen Kaffeevollautomaten kaufen, viel zu viel Geld für die falschen Bohnen ausgeben und die Bedienungsanleitung auswendig lernen«, grinste sie ihn an und drückte ihm einen Stapel Akten in die Hand. »Das sind die ersten Erkenntnisse von der Spusi, die Daten der Ehefrau sowie des Lieferanten der Buchhandlung. Dazu noch ein paar Unterlagen zur Durchsicht, da bräuchte ich noch Ihre Unterschriften. Ach ja, und die Bestellung für das Büromaterial habe ich auch beigelegt, falls Sie dem noch was hinzufügen wollen.« Schon war sie wieder verschwunden.

Clemens seufzte. Die Tasse in der linken Hand, legte er die Akten vor sich und überflog sie der Reihe nach. Wirklich neue Erkenntnisse gewann er nicht. Wie auch! Der Fall war noch nicht einmal zwei Stunden alt. Aber bei Mord zählte nun mal jede Stunde, das war Clemens bereits im Studium eingebläut worden. Er schnappte sich einen Kugelschreiber vom Schreibtisch, lehnte sich in seinen Sessel zurück und klopfte rhythmisch auf die Arbeitsplatte, während er den letzten Rest seines Espressos genussvoll in sich hineinschlürfte. Nur noch einen klitzekleinen Moment Pause, bevor die Party weiterging.

Es klopfte erneut, und dieses Mal erschienen die Gesichter von Bernd Diebold, seiner Kollegin Cora Eisenstein und zwei weiteren Beamten, Frank Wiesner und Michael Cento, in der Tür.

Clemens winkte sie zur kleinen Sitzgruppe am Fenster. Direkt daneben befand sich ein großformatiges Whiteboard, an welchem die jeweiligen Ergebnisse sowohl schriftlich festgehalten als auch festgepinnt werden konnten.