Am 30. Juli 1977 wurde Jürgen Ponto, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in seinem Haus in Oberursel ermordet. Die Todesschützen waren die RAF-Mitglieder Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Zugang zum Haus der Pontos hatte ihnen Susanne Albrecht verschafft, die Tochter von Jürgen Pontos Freund, dem Hamburger Seerechtsanwalt Hans-Christian Albrecht. Ihre Schwester Julia, damals 13 Jahre alt, war die Patentochter von Jürgen Ponto. Patenonkel seiner Tochter Corinna, damals 20, war wiederum Hans-Christian Albrecht.
Nach der Tat war das Band zwischen den Familien zerschnitten. 30 Jahre später nimmt Julia Albrecht Kontakt auf zu Corinna Ponto. Ein Briefwechsel entspinnt sich. Die beiden Frauen treffen sich ein paarmal. Sie entscheiden sich, zusammen ein Buch zu schreiben.
Julia Albrecht
Wie eine Stimme aus einer anderen Welt drangen ihre Worte zu mir. Auch wenn sie nicht an mich gerichtet waren. Doch ich hörte es so. Es waren Sätze von Corinna Ponto über den Mord an ihrem Vater. Sie waren in dem Buch von Anne Siemens »Für die RAF war er das System, für mich der Vater« abgedruckt. Corinna Ponto macht dort, auf eine sehr vorsichtige Art zwar, aber dennoch unüberhörbar, meinen Eltern den Vorwurf, dass sie ihre Eltern nicht über die Entwicklung meiner Schwester Susanne vor deren Besuch bei Pontos am 30. Juli 1977 aufgeklärt hatten.
Corinnas Worte über den Mord an ihrem Vater trafen mich in einem Moment, in dem ich sowieso hauptsächlich mit diesem Thema befasst war. Ich hatte beschlossen, einen Dokumentarfilm über die Folgen der Tat meiner Schwester und deren Bedeutung für uns als ihre Familie zu drehen, und war seit Monaten damit beschäftigt, gemeinsam mit meiner Mutter alte Briefe, Dokumente und Fotos zu sichten und zum hundertsten Mal über die uns noch immer quälende Frage zu sprechen: Wie hatte das geschehen können? Wie konnte es sein, dass Susanne eine Familienfreundschaft und ihre Eltern ausgenutzt hatte, um ihre ideologischen Ziele für die RAF zu realisieren?
Es war für mich eine innere Notwendigkeit, Corinna zu schreiben. Ich kannte sie nicht. Und wenn ich sie vielleicht einmal als Kind gesehen hatte, so besaß ich daran keine Erinnerung mehr. Corinna war die Tochter von Jürgen Ponto. Corinna war die schmale Erscheinung neben ihrer Mutter auf dem Foto von Jürgens Beerdigung, das ich so oft betrachtet hatte. Corinna war für mich weniger eine konkrete Person als eben die Tochter des Mannes, dessen Tod meine Schwester ermöglicht und mit zu verantworten hat. Seitdem Corinnas Mutter Ignes Ponto noch im Jahr 1977 den Kontakt zu uns abgebrochen hatte, hatte es niemals wieder eine Begegnung oder Korrespondenz zwischen den Familien gegeben. Ich schrieb Corinna Ponto einen Brief, der – in Auszügen – so lautete; dabei bezog ich mich auch auf Interviews, die sie gegeben hatte:
Liebe Frau Ponto,
alles, was ich in den letzten Monaten von Ihnen gelesen habe, hat mich tief berührt. Ich wusste ja nie etwas von Ihrer Seite. Mir war noch nicht einmal klar, wie wenige Jahre wir altersmäßig auseinander sind. 1977 war auch für mich der Einbruch in meinem Leben. Nicht nur wegen des unglaublichen Schreckens, den das Verbrechen an Ihrem Vater auch für mich bedeutete. Sondern auch wegen der schieren Unmöglichkeit, verstehen zu können, dass meine Schwester das möglich gemacht hatte. Ihr Vater war mein Patenonkel und hatte insofern für mich eine große Bedeutung. (…) Ihren Vorwurf an meine Eltern, sie hätten doch auf keinen Fall meine Schwester zu Ihnen lassen dürfen, kann ich gut verstehen, und ich habe viele Jahre ähnlich gedacht. Meine Eltern hatten vor der Ermordung Ihres Vaters den Eindruck, dass Susanne wieder auf dem richtigen Weg, zurück in die Bürgerlichkeit, sei. Sie haben, so sagt meine Mutter, gerade weil Susanne die Nähe zu Ihren Eltern suchte, geglaubt, sie hätte sich gefangen. (…) Meine Eltern wussten, dass meine Schwester sehr aktiv im sehr linken Milieu war, und haben sich darüber sehr gesorgt. Aber es gab, soweit ich weiß, keine Hinweise darauf, dass Susanne etwas mit [dem RAF-Überfall von 1975 auf die Deutsche Botschaft in] Stockholm zu tun gehabt hätte, und ich bin mir sicher, dass meine Eltern Entsprechendes nicht angenommen haben. Es gab allerdings die Festnahme an der niederländischen Grenze. Ich weiß nicht genau, wie meine Eltern das gewertet haben. Ich habe aber den Eindruck, dass meine Eltern – das ist übrigens für mich selbst schwer verständlich – diese Festnahme oder auch Susannes Beteiligung an einer der ersten Hausbesetzungen in Hamburg nicht in einem Zusammenhang gesehen haben, der sie über die schon vorhandene Sorge hinaus aufmerksam und kritisch gemacht hätte. Vielleicht im Gegenteil: Sie wollten ihr vertrauen. Sie wollten auch darauf vertrauen, dass sich alles wieder einrenken würde. Aber das ist zum Teil Spekulation.
Es ist nicht mein Anliegen zu versuchen, etwas zurechtzurücken oder zu verteidigen. Die schreckliche Tat meiner Schwester ist mir zutiefst fremd. Der Verrat an Ihrer Familie wiegt für mich unendlich schwer, und er ist für mich so unbegreiflich, so unvorstellbar wie kaum etwas Anderes auf der Welt.
Mit freundlichen Grüßen,
Julia Albrecht
Ich war aufgeregt, nachdem ich den Brief an die Adresse der Jürgen Ponto-Stiftung abgeschickt hatte. Aber ich hatte keine Vorstellung, was sich daraus ergeben könnte. Ich fühlte eine Art Scham in mir aufsteigen. Wieso hatte es so viele Jahre gebraucht, bis ich an Corinna gedacht hatte? Wieso hatte ich seit der Tat, also seit dreißig Jahren, immer nur an unsere Geschichte und unser Leid gedacht, mich aber noch nicht einmal gefragt, wie es der Familie Ponto danach ergangen war? Die Familie Ponto, den Mord an Jürgen, hatte ich durch die Brille der Schwester einer Mittäterin gesehen. Nicht aber aus der Sicht der Opfer. Einerseits ist es vielleicht ganz normal, dass man in einer solchen Situation nur das eigene Unglück sieht und alles andere ausblendet. Andererseits scheint es mir menschlich völlig inakzeptabel, dass sich unsere Familie, nachdem Ignes Ponto im Herbst 1977 meinem Vater geschrieben hatte, dass sie keinen Kontakt mehr wolle, weil ein gemeinsames Trauern um ihren toten Mann und seine verschwundene Tochter unmöglich sei, nie wieder um Pontos bemüht hatte.
Besonders bitter schien mir, dass mein Vater – der ebenso der Patenonkel von Corinna war wie Jürgen meiner – nie mehr einen Brief an Corinna geschrieben hatte. Oder hatte er? In seinem Nachlass befinden sich Briefe aus allen Lebensphasen. Auch ein »Brief« an seinen toten Freund Jürgen aus dem Jahre 1992 ist dabei. Hier schreibt mein Vater: »Viel zu selten und viel zu oberflächlich habe ich Deiner und Deiner Familie in all diesen Jahren gedacht. Ich hatte wohl nicht die Kraft oder den Mut dazu …«
Es ist merkwürdig, wie sehr Erwachsene dazu neigen, Kinder zu übergehen. Und gleichzeitig weiß ich inzwischen, wie schwer es ist, das richtige Maß zu finden, was Geschichten angeht, die man seinen Kindern erzählt.
Corinnas Antwort kam prompt:
Liebe Julia Albrecht,
dass Sie mich in Ihrem Brief mit »Sie« anreden, ist sehr feinfühlig – also werde ich auch so antworten. (…) Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Wir sollten uns sehen – immer wieder habe ich auch an Sie und Ihre Empfindungen und Ihren Schrecken gedacht. Das geht mir auch sehr nahe. Es wird gut sein zu sprechen. Glauben Sie mir, ich habe ein sehr vielschichtiges Bild über die RAF und auch über Ihre Schwester, und ich habe immer versucht, mich so vorsichtig wie möglich zu äußern.
Vielleicht sollten wir uns auch erst einmal nur schreiben, das mag uns zunächst leichter fallen, und es wäre auch eine Erinnerung für uns.
Mit freundlichem Gruß
Corinna Ponto
Ich freute mich. Ich tanzte auf einem Bein. Ich hatte das Gefühl, dass wir den Anfang eines Fadens gesponnen hatten, der wichtig werden könnte. Dabei wusste ich nicht, was wir zu besprechen haben würden.
So wechselten wir einige Briefe. Ich wollte sie treffen. Ich wollte an irgendetwas anknüpfen. Ihr Vater war tot, meiner war bereits sehr schwach und starb im Dezember 2007, sieben Monate, bevor Corinna und ich uns zum ersten Mal trafen. Ich hoffe, er hat noch verstanden, dass Corinna und ich Kontakt zueinander aufgenommen hatten.
Das erste Treffen fand auf dem Pariser Platz in Berlin statt. Für Corinna war es wichtig gewesen, sich unter freiem Himmel zu treffen. Ich war pünktlich mit dem Fahrrad da, konnte aber zunächst nicht auf den Platz gelangen, der hochsicherheitsmäßig abgesperrt war. Ein Polizist vor dem Hotel Adlon sagte, die US-Außenministerin Condoleezza Rice sei in der Stadt und werde gleich vorfahren. Schließlich fand ich von einer anderen Seite einen Zugang zum Platz. Auf der Bank, an der wir uns verabredet hatten, saß eine große blonde Frau in Jeans und schaute auf ihr Handy. Als sie mich sah, stand sie auf, und als ich bei ihr war, nahm sie mich in die Arme.
Damit war das Eis gebrochen. Dass sie mich in die Arme nahm, fand ich unglaublich. Und extrem erleichternd. Diese Geste zeugte für mich von so viel Großzügigkeit, dass mir schon deshalb alles möglich erschien.
Später, bei einem weiteren Treffen, erzählte Corinna, sie habe in mir meinen Vater erkannt oder erspürt, und in gewissem Sinne sei diese Begegnung für sie auch die Begegnung unserer Väter gewesen. Für mich war das anders. Zum einen habe ich vielleicht keine so innige Beziehung zu meinem Vater gehabt wie Corinna zu ihrem. Zum anderen aber fühle ich mich als Angehörige einer Täterin, die der Angehörigen des Opfers begegnet. In mir sind immer auch Scham- und Schuldgefühle präsent, die mir den Umgang mit der Geschichte – und mit Corinna – erschweren.
Corinna Ponto
Wenn ich an unsere erste Begegnung denke, bleibe ich kurioserweise immer an den beiden jungen Polizeibeamten hängen, die genussvoll Apfelkerne ausspuckten. Sie saßen mit baumelnden Beinen in der Tür ihres Mannschaftswagens, zwei Meter von unserer Bank entfernt. Ihr Lächeln – sie konnten ja nicht ahnen, wem sie da die Kerne vor die Füße zielten – traf auf unser Staunen, auf die große Spannung, die wir in diesem Moment empfanden. Wir lächelten zurück, weil die Situation so »traumhaft« komisch war.
Da trafen wir uns, zwei Pole einer politischen Geschichte, die die Bundesrepublik aufs Äußerste gefordert hat und bis heute eine der größten Herausforderungen ihrer Geschichte darstellt, nach über dreißig Jahren ausgerechnet auf dem in diesem Moment am schärfsten bewachten Platz in ganz Deutschland. Hubschrauber kreisten über uns, jeder Zentimeter des Platzes war von Polizeiwagen abgesichert, und diese beiden Vertreter der neuen Generation Staatsgewalt lächelten uns frohgemut an und kauten Äpfel. Das Geräusch der aufprallenden Kerne höre ich noch heute deutlicher als den impertinenten Lärm der Hubschrauber.
Auf der Bank am Pariser Platz begann ein Dialog, in dem wir beide auf gemeinsame und unterschiedliche Fragen schauten, und wir fingen an, uns gegenseitig von einzelnen Lebensabschnitten zu berichten. Unser Gespräch bekam bald einen fließenden Rhythmus des wechselseitigen Erzählens, von Anfang an auch unterbrochen von Pausen des Respekts. Das Gespür, wann wir besser zu sprechen aufhörten, war immer präsent.
Bei unserem ersten Treffen standen Julia Tränen in den Augen. Ihre erste Frage war: »Haben Sie ein Taschentuch?«
Ich gab ihr eines mit den Worten: »Normalerweise habe ich nie eines dabei.«
Bei unserem zweiten Treffen habe ich geweint.
Wir trafen uns in dem Gedanken, diesen Dialog, einander schreibend, fortzusetzen, um unsere Erinnerungen zu stärken und festzuhalten. Das Vertrauen, uns auf einen gemeinsamen Weg zu machen, entwickelte sich gleichzeitig und spontan. Indem wir uns die Erinnerungen mitteilten, konnten wir sie teilen.
Corinna Ponto
Wir sind eine ganz normale Familie. Wir lachen viel, wir albern, wir streiten uns. Unsere Kinder wachsen heran. Doch parallel dazu wächst etwas schattenhaft Drohendes heran. Da gibt es einen spalttiefen Riss in der Familiengeschichte, der zwar kollektiv beobachtet wurde und der mit diesem Land zu tun hat, aber er wird von uns als Einzelschicksal erlebt.
Wir leben in der Gegenwart, wir lernen für die Zukunft und machen uns Gedanken um sie – in die Vergangenheit schauen wir kaum. »Das erzähle ich dir, wenn du größer bist!« Wie lange kann ich diesen Satz noch zu meinen beiden Kindern sagen?
Es gibt zwei Fluchten in der Familiengeschichte. Die Geschichte der Flucht der Familie ihrer Großmama vor dem Kriegsterror wurde ihnen schon erzählt. Zehn Tage brauchten ihre Geschwister mit dem letzten Lazarettzug aus Schlesien, unterbrochen von Bombenangriffen, bis zum Internat in Brandenburg, wo sie meine Mutter abholen wollten. Sie verpassten sich und fanden erst nach vier Wochen Bangen in Holstein wieder zusammen. Jedoch die zweite, die Flucht vor dem RAF-Terror, die kam mir noch nicht über die Lippen. Yorck und David sind jetzt vierzehn und elf Jahre alt, und noch immer empfinde ich eine Scheu, ihnen alles genau zu erzählen – aus der Sorge heraus, sie könnten sich angesichts der ins Private eingedrungenen Gewalt zu sehr fürchten.
Inzwischen, Julia, habe ich meinem älteren Sohn nach Andeutungen über das Jahr 1977 von unserer Begegnung erzählt, woraufhin er meinte, Du müsstest ja ganz alt sein. Für ihn ist es eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert. Ja, es ist eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert – aber Du bist jung, und unsere Begegnung ist jung, eine Zeitmaschine gewissermaßen.
Jahrelang war es eine Art tragischer »Unfall«, bei dem der Großvater ums Leben kam, dann trat allmählich der Begriff »Terroristen« auf die Geschichtenbühne – aber den ganzen Ablauf, Terrorgeschichte im Wohnzimmer, von Anfang an chronologisch bis zum heutigen Tag erzählen? Wie?
Soll ich aus dem von Deiner Schwester unterzeichneten »Bekennerbrief« zitieren: die Typen, die Kriege in der Dritten Welt entfesseln und Völker ausrotten? Der verschmitzt lächelnde Großvater im Bilderrahmen soll Völker ausgerottet haben? Die Augen der Kinder würden sich ungläubig weiten.
Soll ich den flammenden Nachruf von Gräfin Dönhoff vorlesen, soll ich andere niveauvolle Artikel aus dem Herbst 1977 zitieren oder soll ich nur meine eigenen Worte nehmen – ich hätte sie schon, aber ich mag sie nicht aussprechen, will aus irgendeinem Grund die Kinder nicht mit meinen Gefühlen beeinflussen. Also, was tue ich? Ich lasse den Raum der Vergangenheit verschlossen.
Julia, wie merkwürdig – sollten wir uns nun wirklich trauen, diesen Raum gemeinsam zu betreten?
Vielleicht können wir – jenseits der endlosen Regalmeter von RAF-Deutungen – bisher Unausgesprochenes und nicht Dargestelltes aufzeigen? Das ruft neben der Sorge um den schweren Weg, den wir damit zu gehen haben, auch eine bewegte Neugier in mir hervor. Den vor allem mit der Geschichte der Täter verbundenen Deutungsanspruch zu hinterfragen, der jahrzehntelang die RAF-Rezeption geprägt hat, mag nebenbei geschehen, sollte aber nicht das Hauptmotiv sein. Mir geht es vor allem darum, andere Mosaiksteine in das existierende Bild einzufügen. Für uns wird es wahrscheinlich nicht möglich sein, eine umfassende Spurensuche zu unternehmen – wir werden jedoch sicherlich manches schildern, das bisher übersehen und noch nicht dargestellt wurde.
Gewiss können wir beide auch in die »Innenräume« gehen – den Innenraum der Tat und die Innenräume unserer Erinnerungen und Gefühle. Unsere Geschichte ist nur eine Miniatur in dem ganzen »RAF-Komplex«, aber sie kann dazu beitragen, den Opfern nicht nur das Gesicht, sondern auch ihre eigene Geschichte wiederzugeben.
Kollektives Leid kann zu kollektivem Empfinden führen. Die Zeit der RAF gehört zwar zum kollektiven Gedächtnis des Landes, aber es gab kein gemeinschaftliches Leid, und mitnichten gibt es ein kollektives Empfinden. Das Drama interessierte und es wurde auch gern verwertet, politisch, kulturell, medial, aber der leidvolle Abgrund dahinter wurde nicht gesehen.
Corinna Ponto
Ich war nicht dabei.
Es war ein Samstagnachmittag. Ein mild beleuchteter Hochsommertag. Die gepackten Koffer für eine lang geplante Südamerikareise standen in der Garderobe. Mein Vater hatte als Kind sechs Jahre in Ecuador verbracht. Die ganze Familie, und das war schon selten geworden, wollte eine Reise zu seinen Kindheitswurzeln unternehmen und die weitläufige Verwandtschaft einer dort lebenden Cousine besuchen.
Die türhohen Fensterläden zur Terrasse waren, bis auf einen kleinen Spalt vor den Wohnzimmerfenstern und vor der hintersten Tür im Esszimmer, die weit offen stand, schon geschlossen. Der Lichtstrahl, der durch diesen Spalt fiel und die Dunkelheit des Raumes durchteilte, sollte meiner Mutter – im Schatten hinter diesem »Lichtvorhang« vor den Angreifern verborgen – eine Viertelstunde später das Leben retten.
S. hatte spät am Vorabend angerufen und wollte dringend vorbeikommen, der Besuch wurde dann aber auf den Nachmittag des folgenden Tages gelegt. S. verspätete sich eine halbe Stunde. Meine Eltern, denen die Zeit bis zur Abreise knapp wurde, tranken auf der Terrasse schon einmal Tee. Meine Mutter hatte ihrer Schwester Renate noch einen Anruf versprochen und begann ein Telefonat, das eine Art dritter Zeugenschaft begründete; es wurde mehrfach unterbrochen, lief aber auf einer Parallelspur des Dramas immer weiter, sodass ich später einmal auf den absurden Gedanken kam: Man könnte das Geschehen theatralisch formuliert auch Das Telefongespräch nennen.
Zunächst sprach mein Vater mit seiner Schwägerin. Sie plauderten, da die Reise in die Vergangenheit führen sollte, von alten Zeiten. Dann klingelte es an der Haustür.
Herr M., der Firmenfahrer meines Vaters, sagte, Susanne Albrecht sei da »mit zwei weiteren Herrschaften«. So redete er normalerweise nicht.
Auch meines Vaters Gegenfrage: »Wie schauen die denn aus?«, war sehr ungewöhnlich.
Die Antwort von Herrn M.: »Ganz manierlich.«
Nahmen da Sekunden-Intuitionen etwas vorweg?
Herr M. war nur wegen der bevorstehenden Abreise im Haus – er lebte nicht bei uns –, in einer Stunde sollte die Abfahrt sein. Mein Vater wollte das Telefongespräch noch beenden und bat Herrn M., die drei Besucher zunächst in sein Arbeitszimmer zu führen. Beim Übergeben des Telefonhörers an meine Mutter legte er aus Versehen auf.
Meine Mutter wählte neu und erzählte meiner Tante gerade, dass S. eingetroffen sei, als die drei Besucher plötzlich vor ihr auf der Terrasse standen: ein bleicher junger Mann, eine ebenfalls unbekannte Frau und S. mit einem fast schon verwelkten Heckenrosenstrauß in der Hand – alle drei sportlich elegant zurechtgemacht.
Meine Mutter bat meinen Vater daraufhin, das Telefongespräch ins Wohnzimmer umzustellen, damit sie es fortsetzen konnte – er solle erst auflegen, wenn er ihre Stimme am anderen Apparat gehört habe. Ihr schoss noch der Gedanke durch den Kopf: Die drei müssen wohl Sorgen haben, die sie mit ihm besprechen wollen. Sie setzte das Gespräch mit meiner Tante nach dem vergewissernden »Gut, ich leg nun auf« meines Vaters und dem Verbindungsknarren in der Leitung im Wohnzimmer fort.
Und genau in den nun folgenden dramatischen Minuten verwoben sich zwei deutsche Geschichtsachsen schicksalhaft. Renate von Moltke ist eine Schwägerin von Helmuth James von Moltke. Als Widerstandskämpfer war er von Hitlers Naziterroristen im Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden. Nach 32 Jahren erlebte meine Tante nun als stumme Zeugin, wie wieder ein Schwager von anderen Terroristen hingerichtet wurde. Hitlers Kinder hat die englische Publizistin Jillian Becker die RAF-Terroristen genannt – in diesem Moment, durch diese Telefonader, waren beide deutsche Terrorphasen miteinander verflochten.
Wenn ich auf diesen Moment schauen soll, wende ich immer noch innerlich den Kopf ab, daher soll meine Mutter hier selbst zu Wort kommen, denn sie ist Zeugin der Tat:
Im Haus ist es dunkel. Nur ein Strahl Tageslicht flutet durch die Tür, durch die alle eben auf die Terrasse getreten sind, in den Essraum. Ich eile ins angrenzende Wohnzimmer, um Jürgen nicht lang auf meine Stimme warten zu lassen, und setze das Gespräch mit meiner Schwester fort. Während sie spricht, höre ich Jürgen, ins Esszimmer kommend, laut sagen: »Da wollen wir mal eine Vase holen.«
Kurz darauf: »Sie sind wohl wahnsinnig geworden!«
Ich sitze hinter einem kleinen Kaminvorsprung und beuge mich erschrocken vor und schaue in die Richtung seiner Stimme. Erstarrt sehe ich den bleichen Mann und Jürgen, vom Außenlicht nur schwach beleuchtet, vor dem Esstisch stehen. Beide halten einen Arm hochgestreckt, wo die Arme zusammenkommen, ragt eine Pistole. Jürgen hat die Pistole in Selbstverteidigung dem Mann entwinden wollen. Ihr Lauf zeigt nicht mehr auf ihn, als sich ein Schuss löst. Später rekonstruierte man, dass der erste Schuss in das Fenster einschlug.
Sekunden danach lebt er nicht mehr, denn die andereFrau kommt durch die Terrassentür hereingestürmt, hereingestürzt und feuert viele Male. Ich kann Jürgen nicht mehr sehen – er muss zurückgetreten sein –, das Zimmer ist voller Pulverdampf. Es ist alles unheimlich leise und geht rasend schnell. Doch wie bei einer Unfallerinnerung sind diese Bilder zeitlupenlangsam in mir. Jürgen stürzt getroffen wenige Meter vor mir zu Boden. Die Mörder rasen, angeführt von Susanne, aus dem Zimmer.
Den Hörer habe ich unbewusst aufgelegt – ich wähle den Notruf, schreie nach Polizei, Rettungswagen, stürme zu Jürgen, kann nicht fassen, nicht begreifen, was ich sehe. Der Fahrer sieht es mit einem Aufschrei, wir betten Jürgen auf Kissen – er lebt noch, aber er bewegt sich nicht mehr, liegt in einer Lache von Blut auf dem Angesicht.
Ein Opfer der »Kriegführenden« mitten im Frieden.
Eine Hinrichtung nennen sie es. Den sie kamen zu entführen, haben sie hingerichtet, in Sekunden – einen freundschaftlich gewogenen Gastgeber in seinem gastfreien Hause.
Sieben lange Minuten hocke ich neben ihm. Ein Hubschrauber landet auf der Wiese vor dem Haus, zwei Sanitäter eilen ins Zimmer. Wortlos öffne ich die große Mitteltür, aus der sie ihn hinaustragen.
Ich werde zu Stein, als er seinen tosenden Flug in den Tod antritt.
Da ist es wieder, dieser lähmende Schlag – wie schon einmal. [Meine Mutter verlor als Kind im Alter von 14 Jahren ihre Eltern bei einem Bombenangriff auf einen Luftschutzkeller in Berlin.]
Es ist, als ende alles Leben, alles Lebendige in mir.
Ich fühle, dass er sterben wird – sterben aus der Stille eines sonnengetränkten Nachmittags des Friedens.
Dann beginnt das Haus nicht mehr mein Haus zu sein. Kriminalbeamte, Polizei und ihre Signale, Anrufe … wie es den Kindern sagen – was als Nächstes tun? Ich möchte für ihn beten – der Pfarrer sitzt fünf Minuten später neben meinem Bett, aber ich bin ein Stein, und das Steinerne des Schocks weicht nicht mehr von mir.
Ich umarme meine Kinder als Stein, meine Freunde, die Familie – die vielen, vielen Menschen.
Ich kann keine Totenwache halten wie damals – ich muss mich entscheiden, planen, ich habe Verantwortung für das Weitere, für die vielen Verzweifelten um mich herum.
Ich bin ein Stein und ohne Tränen.
Liebe Corinna,
der Bericht Deiner Mutter treibt mir die Tränen in die Augen. Es ist unvorstellbar, dass Deine arme Mutter den Mord mit ansehen musste. Es ist unvorstellbar, wie sie das psychisch überstanden hat. Dieses Maß an Gewalt macht mir furchtbare Angst, und Deine Mutter scheint es – nicht als Stein, wenn ich Deine Worte über sie richtig deute – überlebt zu haben. Dabei scheint es mir fast unmöglich, solch ein Ereignis zu verkraften.
Deine Julia