Dies ist die Geschichte des Dichters Friedrich Hölderlin, die Geschichte eines Einzelgängers, der keinen Halt im Leben fand, obwohl er hingebungsvoll liebte und geliebt wurde. Als Dichter, Übersetzer, Philosoph, Hauslehrer und Revolutionär lebte er in zerreißenden Spannungen, unter denen er schließlich zusammenbrach. Seelisch tief verwundet, verbrachte er die zweite Hälfte seines Lebens im Tübinger Turm. Erst das 20. Jahrhundert entdeckte seine tatsächliche Bedeutung, manche verklärten ihn sogar zu einem Mythos. Und so folgt Rüdiger Safranski auch den Spuren, die Hölderlin in der Nachwelt hinterlassen hat.

 

 

 

Rüdiger Safranski

 

HÖLDERLIN

 

Komm! ins Offene, Freund!

 

Biographie

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

INHALT

 

Vorwort

 

Erstes Kapitel

Herkommen. Ehrbarkeit. Hölderlin hält auf sich. Die Väter sterben, die Mutter bleibt. Götter der Kindheit. Mutterbeziehung. Köstlin. Wunderkind Schelling.

 

Zweites Kapitel

Denkendorf. Klösterliches. Brief an Köstlin. Pietistische Seelenprüfung. Selbstbehauptung einer Seele gegen das »Weltliche«. Angst vor Selbstverlust. Das liberale Maulbronn. Erste Liebesgeschichte. Pindars Flug und Klopstocks Größe. Als Dichter zur Welt kommen.

 

Drittes Kapitel

Tübinger Stift. Lust zu lernen. Hölderlin studiert Kant und Spinoza. Die Vernunft und die Gründe des Herzens. Religion der Liebe. Der Freundesbund und das »Reich Gottes«. Hegel. Schelling. Revolutionärer Enthusiasmus im Stift. Der »Genius der Kühnheit«.

 

Viertes Kapitel

Philosophische Thronerhebung der schöpferischen Einbildungskraft. Selbstermächtigung. Der Dichterbund. Magenau. Neuffer. Stäudlin. Frühe Hymnen, allzu erhaben. Literatur und Leben. Hölderlin kein Romantiker. Die Gräkomanie, Schillers »Die Götter Griechenlands« und Hölderlins Antike. Wiederkehr der Götter? »Hyperions« Beginn.

 

Fünftes Kapitel

Die Zeit im Stift geht zu Ende. Politische Unruhen. Renz. Besser ein Hofmeister als ein Prediger. Charlotte von Kalb. Hölderlin bei Schiller in Ludwigsburg. Elise Lebret. Abschied und Aufbruch nach Waltershausen.

 

Sechstes Kapitel

Waltershausen. Aus der Ferne die Freundschaften erneuern. Liebesgeschichten ohne Belang. Marianne Kirms. »Hyperion«. Das erste Fragment. Griechenland hat Konjunktur und die Romanform. Hölderlin sucht den Erfolg beim Publikum. Vorrede zu »Hyperion«. Exzentrizität und Sündenfall. Suche nach dem erfüllten Sein. Ekstatische Augenblicke, doch nicht von Dauer.

 

Siebtes Kapitel

Schiller veröffentlicht das »Hyperion«-Fragment. Schwierigkeiten mit dem Zögling. Das Onanie-Problem. Trennung vom Hause Kalb. Jena. Schillers »liebster Schwabe«. Misslungene Begegnung mit Goethe. Fichtes »Ich« und Hölderlins Suche nach dem Sein. »Urtheil und Seyn«. Umarbeitungen des »Hyperion« unter philosophischem Einfluss.

 

Achtes Kapitel

Plötzliche Abreise aus Jena. Schillers Nähe gesucht und geflohen. In die Philosophie verstrickt. Quälende Widersprüche. Philosophie der Freiheit und der junge Schelling. Philosophie oder Poesie. »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Die Stiftung einer neuen Mythologie und die Schönheit.

 

Neuntes Kapitel

»An die Natur« – von Schiller abgelehnt. Die Liebesgeschichte mit Susette beginnt. Idylle von Bad Driburg. Der Erotiker Wilhelm Heinse als Aufsichtsperson. »Ardinghello und die glückseligen Inseln«. Französischer Vormarsch. Politische Enttäuschung und Hoffnung auf die deutsche Kulturnation. Selbstbehauptungsträume. »Die Eichbäume« – von Schiller angenommen.

 

Zehntes Kapitel

»Hyperion« – die endgültige Fassung. Was dazugekommen ist. Der politische Kampf, die Enttäuschung. Alabanda und Sinclair. Diotima und Susette. Neues Selbstbewusstsein. Die Schimpfrede gegen die Deutschen. Das Göttliche. Hölderlins Verzückungsspitzen. »Hyperion« als Roman über die Geburt eines Dichters. Goethe und Schiller beraten sich über Hölderlin. Krise im Hause Gontard. Hölderlins Abgang.

 

 

Elftes Kapitel

Mit Sinclair nach Rastatt. Neue Freunde. Revolutionäre Erwartungen. »Empedokles«. Alles auf eine Karte setzen, politisch und persönlich. Vereinigungsmystik und Politik. Die dramatische Form geht verloren, der politische Anlass auch. Das Eigene im »Empedokles«. Zeitschriftenprojekt – gescheitert. Der heimliche Briefwechsel mit Susette. Aussichtslosigkeit.

 

Zwölftes Kapitel

Hölderlin bleibt im Verborgenen. Sein Dichten aber öffnet sich gewaltig. Der begnadete Sommer 1800 in Stuttgart bei Landauer. Komm! ins Offene, Freund! Die großen Hymnen und Elegien. »Der Gang aufs Land«. »Menons Klagen um Diotima«. »Der Archipelagus«. »Brod und Wein«.

 

Dreizehntes Kapitel

Die Wonnen der Gewöhnlichkeit. »Abendphantasie«. Hauptwil. Vaterländisches. Der revolutionsfromme Hölderlin. Der Friede von Lunéville. Zeitenwende, Eschatologisches. »Friedensfeier«. Die Geburt eines Gedichtes aus einem anderen. »Wie wenn am Feiertage …« und »Hälfte des Lebens«. Heimkunft. Hilferuf an Schiller. »Sie können mich nicht brauchen.«

 

Vierzehntes Kapitel

Die Winterreise nach Bordeaux. Der Zauber des Ortes. Rätselhafte Abreise. Spekulationen. Unter den Schlägen des Apoll. Susettes Tod. Ankunft in Stuttgart und Nürtingen, verwirrt, verwahrlost. Raserei. Gegen die Mutter. Mit Sinclair nach Regensburg. Die »Patmos«-Hymne. »Andenken«.

 

Fünfzehntes Kapitel

Querfeldein nach Murrhardt, zu Schelling. Hölderlins Sophokles-Übersetzungen. Das Fremde wird fremder. Umsiedlung nach Homburg. Verhängnisvolle Tafelrunden in Stuttgart. Die Denunziation Blankensteins. Sinclairs Verhaftung. Hochverratsprozess. Hölderlin im Fadenkreuz. »Ich will kein Jacobiner seyn!« Hölderlin zerstört das Klavier. Abtransport.

 

Sechzehntes Kapitel

In Autenrieths Psychiatrie. Beim Schreinermeister Zimmer. Im Turm, Zimmer mit Aussicht. Lebbarkeit. Immer noch ein schöner Mann. Briefe an die Mutter. Am Klavier, singen. Gedichte aus dem Stegreif. Wie verrückt? Die Hauptquellen: Varnhagen von Ense, Wilhelm Waiblinger und Christoph Schwab. Wenn die Phantasie sich auf Kosten des Verstandes bereichert. Hölderlins sanfter Tod.

 

Siebzehntes Kapitel

Romantiker entdecken Hölderlin. Bettine und Achim von Arnim. Brentano, Görres. Die treuen Schwaben, das Junge Deutschland. Die ersten Ausgaben. Der junge Nietzsche liest Hölderlin. Hellingrath und Stefan George entdecken Hölderlin. Der Durchbruch. Der Missbrauch. Heidegger liest Hölderlin. Nach 1945: Unendlicher Deutung voll!

 

Literatur

Zeittafel

Register

 

 

VORWORT

 

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen, heißt es in Hölderlins »Brod und Wein«, der schönsten und gewaltigsten Elegie in deutscher Sprache.

Eine Annäherung an Hölderlin wird wohl kaum gelingen, wenn man unempfindlich bleibt für göttliches Feuer, wie immer man sich seine Bedeutung zurechtlegen mag.

Was also ist das für ein Feuer, das in Leben und Poesie Hölderlins brennt? Das ist die Frage, der dieses Buch nachgeht.

Wenn Hölderlin später auf sein Leben zurückblickte, kam es ihm so vor, als hätte er schon immer gedichtet. Das poetische Wort war ihm wie Luft zum Atmen. In der Poesie war er ganz für sich und zugleich verbunden mit einem Ganzen, in imaginärer Gemeinschaft. Noch einmal »Brod und Wein«: Vater Aether! so riefs und flog von Zunge zu Zunge / Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein; / Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden, / Wirds ein Jubel …

Poesie war für Hölderlin Lebensmittel, im höchsten Sinne und in Einsamkeit und Verbundenheit. Die Mutter konnte das nicht begreifen, sie wollte ihn zum Pfarrer machen. Und der junge Hölderlin ging zunächst brav den dorthin führenden Weg, in Württemberg waren das die Stationen: Klosterschule Denkendorf, dann Maulbronn und schließlich das Tübinger »Stift«.

Dort begeisterte sich der Poet, als der er sich immer schon fühlte, auch für die Philosophie, von der damals eine erregende Aufbruchsstimmung ausging. Hegel, Schelling und Hölderlin bildeten zusammen im »Stift« einen Freundschaftsbund, den sie ihre »unsichtbare Kirche« nannten. Das war keine unbedeutende Episode in der Geschichte der Erfindung des Deutschen Idealismus.

Wenn es 1796 in dem legendären Dokument des gemeinschaftlichen Philosophierens der Freunde – später das »älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« genannt – kühn und jugendlich beschwingt heißt: »wir müssen eine neue Mythologie haben«, dann war das ein Versprechen, das jeder der Freunde auf seine Weise erfüllen wird; doch es war Hölderlin, dem es nicht genügte, über die Mythologie zu philosophieren. Er setzte sein Leben daran, sie poetisch zu schaffen. Dazu aber musste er sich von der Philosophie befreien, die ihn zunächst doch so befeuert hatte. Als Poet ging er über sie hinaus. In den besten Momenten der Inspiration konnte er schreiben: Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Der Freundschaftsbund mit Hegel und Schelling löste sich auf. Doch Hölderlin blieb nicht allein. Dieser außerordentlich schöne junge Mann war immer von Menschen umgeben, die seine Nähe suchten. Frauen verliebten sich in ihn und Männer. Die Höhepunkte waren die Liebesgeschichte mit Susette Gontard in Frankfurt und die Freundschaft mit Isaak von Sinclair.

Susette und Hölderlin fanden sich, konnten aber nicht beieinanderbleiben. Eine tragische Geschichte, verklärt im Bilde Diotimas im »Hyperion«, Hölderlins einzigem Roman. Sinclair, auch er im »Hyperion« gespiegelt, zog Hölderlin, den begeisterten Republikaner, in seine revolutionären Umtriebe. So geriet auch Hölderlin ins Fadenkreuz staatlicher Ermittlungen. Das hat gewiss seinen geistigen Zusammenbruch am Ende beschleunigt.

Hölderlin, auf der Flucht vor dem Pfarramt, suchte sein Auskommen als Hofmeister und musste immer wieder um finanzielle Unterstützung betteln bei der Mutter, die sein nicht unbeträchtliches, vom Vater geerbtes Vermögen verwaltete. Hätte sie den Sohn ausgezahlt, so wäre Hölderlins Leben sicherlich anders verlaufen. Die innerliche Unabhängigkeit muss ohnehin erkämpft werden, doch mehr äußere Unabhängigkeit hätte ihm manche Demütigung erspart.

Hölderlin blieb als Dichter zeitlebens ein Geheimtipp. Schiller versuchte ihn zu fördern. Goethe war gönnerhaft, mehr nicht. Bevor Hölderlin Anfang 1802 nach Bordeaux ging, schrieb er einem Freund: sie können mich nicht brauchen.

Nach der geheimnisumwitterten Rückkehr aus Bordeaux ein halbes Jahr später verschwand Hölderlin allmählich in sich selbst. Doch es gelangen ihm noch geniale Verse, bis er dann im Herbst 1806 von Homburg nach Tübingen in die Psychiatrie geschafft wurde. Ein Jahr später nahm ihn in Tübingen der Schreinermeister Zimmer in seinem Hause auf, wo er die zweite Hälfte seines Lebens, sechsunddreißig Jahre lang, im Turmzimmer verbrachte, mit einem wunderbaren Blick auf den Neckar, dem er in früheren Tagen ein Gedicht gewidmet hatte.

In den ersten Jahren gab es Anfälle von Raserei, dann wurde er friedlich, war wach, nicht stumpf, redete unablässig mit sich selbst, war auch ansprechbar, wenn es sich um Menschen handelte, bei denen er unbefangene Zuneigung spürte. Seinen Stolz bewahrte er sich. Hölderlin wusste sehr wohl, dass er Hölderlin war, auch wenn er sich bisweilen anders nannte. Manchmal aber war er auch traurig. Dann dichtete er, am Pulte stehend und mit der linken Hand das Metrum klopfend: Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen, / Die Jugendstunden sind, wie lang! Wie lang! Verflossen, / April und Mai und Julius sind ferne, / Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

So lebte er hin, bis 1843.

Seinen großen Durchbruch erlebte er nicht mehr. Der setzte erst um 1900 ein. Seitdem ist Hölderlin im kulturellen Gedächtnis unvergessen. Aber eben als »Klassiker« oder als fast schon mythische Figur. Sehr fern jedenfalls.

Deshalb sei, mit aller Behutsamkeit, diese Annäherung versucht. Komm! ins Offene, Freund!

 

 

ERSTES KAPITEL

 

Herkommen. Ehrbarkeit. Hölderlin hält auf sich. Die Väter sterben, die Mutter bleibt. Götter der Kindheit. Mutterbeziehung. Köstlin. Wunderkind Schelling.

 

 

Friedrich Hölderlin, am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren, wuchs auf im Milieu der schwäbischen »Ehrbarkeit«. So nannte sich selbstbewusst die Elite des höheren Mittelstandes, bestehend hauptsächlich aus Beamten des Staates und der evangelischen Landeskirche. Frommer Lebenswandel, wenigstens äußerlich, war hier Pflicht, man achtete untereinander streng darauf. Hier rekrutierte die Kirche ihren Nachwuchs, beaufsichtigt und finanziell gefördert vom Landesherrn. Man blieb gesellschaftlich unter sich, heiratete auch untereinander. So kam es zu weitverzweigten Verwandtschaftsbeziehungen im Milieu, und so konnte man auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken. Die Hölderlins gehörten zu dieser »Ehrbarkeit«, sogar auf besondere Weise. Denn Hölderlins Mutter, eine Pfarrerstochter aus dem Zabergäu, stammte ab von der sogenannten »schwäbischen Geistesmutter« Regina Bardili (1599–1669). Über sie war Friedrich Hölderlin weitläufig verwandt mit Schelling, Hegel, Uhland und Karl Friedrich Reinhard, auch ein ehemaliger Stiftler, der es im revolutionären Frankreich bis zum französischen Außenminister brachte.

In diesen Kreisen förderte man sich gegenseitig, achtete streng auf die Reputation, gab sich zumeist fromm, tüchtig, selbstbewusst und stolz auf die eigene Moral, mit der man sich absetzte von der beargwöhnten Sittenlosigkeit am Fürstenhof.

Der Vater Heinrich Friedrich war, wie schon der Großvater, Klosterhofmeister. Er verwaltete die Güter des säkularisierten Regiswindis-Klosters in Lauffen. Ein angesehener, einträglicher Posten. Schon der Großvater hatte es in seinem Amt zu einigem Vermögen gebracht, das Heinrich Friedrich, ein geschäftstüchtiger Jurist, zu mehren verstand. Doch viel Zeit hatte er nicht dafür, denn schon 1772, nur zwei Jahre nach Friedrich Hölderlins Geburt, starb dieser heitere, gesellige, den weltlichen Freuden zugewandte und bis dahin offenbar kerngesunde Mann ganz unerwartet an einem Schlaganfall.

Eine wirkliche Erinnerung an diesen frühen Verlust hatte Friedrich wohl nicht, auch wenn er im Knabenalter die Beerdigungsszene melodramatisch heraufbeschwört: Der Leichenreihen wandelte still hinan, Und Fakelnschimmer schien’ auf des Theuren Sarg, … Als ich ein schwacher stammelnder Knabe noch, O Vater! lieber Seeliger! dich verlohr.

Die junge Mutter blieb alleine zurück mit drei Kindern, Friedrich, einer einjährigen Schwester, die bald darauf starb, und der kurz nach dem Tod des Vaters geborenen Schwester Maria Eleonora Henrike, genannt Rike.

Die »schöne Witwe«, wie man die Mutter nannte, blieb nicht lange allein. Ein Freund des verstorbenen Vaters, Johann Christoph Gok, warb um sie. Er war Sohn eines einfachen Schulmeisters, zählte also noch nicht zur »Ehrbarkeit«, doch als tüchtiger Amtsschreiber in Lauffen war er auf gutem Weg dorthin. Gok war, wie auch zuvor Hölderlins Vater, eng befreundet mit dem einflussreichen Oberamtmann Bilfinger. Als der nach Nürtingen versetzt wurde, zog Gok nach und begründete dort mit Bilfingers Unterstützung eine Weinhandlung. Zwischen ihm und der »schönen Witwe« spann sich bald eine Beziehung an. Gok war wohl kein berechnender Mensch, er galt als aufrichtig und uneigennützig, und doch wird ihn die Aussicht auf eine sehr gute Partie beflügelt haben, denn die junge Witwe war eine vermögende Frau.

Der Oberamtmann Bilfinger, Taufpate der Hölderlin-Kinder, riet zur Heirat, und die Mutter selbst war nicht abgeneigt. Sie sei, schreibt Hölderlins Halbbruder Karl rückblickend, bewogen worden, »durch die Sorge für die Erziehung ihrer Kinder u. für die Verwaltung ihres Vermögens … einem bewährten Freunde ihres frühverstorbenen Gatten, dem Kammer Rathe Gock, welcher kurz … vorher nach Nürtingen gezogen war, ihre Hand zu geben«. (Zit. n. Wittkop, 5)

»Kammerrat« war Gok allerdings vor der Heirat noch nicht. Den Titel kaufte ihm die angetraute Witwe. Sie investierte überhaupt einiges Geld in ihren zweiten Mann. Noch vor der Hochzeit erwarb sie ein größeres Anwesen in Nürtingen, den sogenannten »Schweizerhof« mit den dazugehörenden Ländereien. Der Weinkeller wurde reichlich mit Vorräten gefüllt, was sich allerdings als Verlustgeschäft erweisen sollte. Gok kannte sich im Weinhandel noch nicht gut aus; doch so war er eben, unbekümmert, tatendurstig und voller Selbstvertrauen. Der in großen Mengen gelagerte saure Wein verkaufte sich schlecht, was Johanna noch in ihrem späteren Testament tadelnd vermerkte, wie sie überhaupt ihrem zweiten Ehemann vorwarf, dass er zu großspurig mit dem Gelde wirtschaftete, das ihm nicht gehörte.

Mit Bilfingers Unterstützung und gesichert durch Johannas Vermögen, bemühte sich Gok erfolgreich um das Amt des Bürgermeisters von Nürtingen. 1776 wurde er gewählt. Selbstverständlich gab es Neider seines allzu schnellen Aufstiegs in die »Ehrbarkeit«, doch sonst amtete er zur allgemeinen Zufriedenheit. Johanna konnte stolz auf ihn sein. Rang und Ansehen zählten bei ihr viel, und diesen Ehrgeiz gab sie auch an den Sohn weiter, der stolz darauf war, zur »Ehrbarkeit« zu gehören. In der Tübinger Stifts-Zeit schlug er einmal einem sozial unter ihm stehenden Hilfslehrer den Hut vom Kopf, weil der sich geweigert hatte, ihn zuerst zu ziehen, wie es seine standesgemäße Pflicht gewesen wäre. Friedrich Hölderlin hielt sehr auf sich.

In dem weitläufigen, zugleich städtisch und landwirtschaftlich geprägten Anwesen des »Schweizerhofes« erlebte Friedrich eine Kindheit, an die er sich später gerne erinnert, ein Ort der Knabenfreude, der Stunden des Spiels und des Ruhelächelns. Rückblickend stellte er sich, etwa in dem Vers-Entwurf des »Hyperion«, als verträumten Knaben dar, der von seinen Spielgefährten immer wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt werden muss:

 

Oft sah und hört’ ich freilich nur zur Hälfte,

Und sollt’ ich rechtwärts gehn, so gieng ich links,

Und sollt ich eilig einen Becher bringen,

So bracht’ ich einen Korb, und hatt’ ich auch

Das richtige gehört, so waren, ehe noch

Gethan war, was ich sollte, meine Völker

Vor mich getreten, mich zum Rath, und Feinde,

Zu wiederholter Schlacht mich aufzufordern,

Und über dieser größern Sorg’ entfiel mir dann

Die kleinre, …

 

Diß kostete mich tausend kleine Leiden.

Verzeihlich war es immer, wenn mich oft

Die Klügeren mit herzlichem Gelächter

Aus meiner seeligen Ekstase schrökten, …

(MA I, 521; Vs. 218227, 233236)

 

Die Gärten der Kindheit um den »Schweizerhof« herum waren für Hölderlin im Rückblick der Ort der ersten Bekanntschaft mit dem Göttlichen:

 

Da ich ein Knabe war,

Rettet’ ein Gott mich oft

Vom Geschrei und der Ruthe der Menschen,

Da spielt’ ich sicher und gut

Mit den Blumen des Hains,

Und die Lüftchen des Himmels

Spielten mit mir

 

O all ihr treuen

Freundlichen Götter!

Daß ihr wüßtet,

Wie euch meine Seele geliebt!

 

Zwar damals rieff ich noch nicht

Euch mit Nahmen, auch ihr

Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen

Als kennten sie sich.

 

Doch kannt’ ich euch besser,

Als ich je die Menschen gekannt,

Ich verstand die Stille des Aethers

Der Menschen Worte verstand ich nie.

 

Mich erzog der Wohllaut

Des säuselnden Hains

Und lieben lernt’ ich

Unter den Blumen.

 

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

(MA I, 167f.; Vs. 17, 1632)

 

Die Worte der Menschen um ihn herum, so erinnerte er sich, empfand er immer schon als zu laut in der Stille des Aethers. Ob er aber schon damals den Äther, also die Luft und Atmosphäre, als eine Art göttliche Naturmacht wirklich erlebt hat oder ob es sich hier zwanzig Jahre später um eine Rückprojektion handelt, lässt sich nicht entscheiden. Jedenfalls spielte der moralische Gott des pietistischen Milieus, in dem er aufwuchs, in den verklärenden Kindheitserinnerungen nur eine geringe Rolle. Er sieht sich vielmehr liebevoll behütet von den zahllosen, noch namenlosen Göttern, die eher aus der griechisch-antiken denn aus christlicher Sphäre zu stammen scheinen.

Nürtingen liegt in einer anmutigen sanften Landschaft am Fuße der Schwäbischen Alb, umgeben von fruchtbarem Ackerland, dazwischen Obst- und Blumengärten, an den Neckarauen die Uferweiden mit Pappelalleen; im weiteren Umkreis Wiesenhügel, von denen da und dort Kapellen herabschauen.

Nürtingen hatte Stadtrecht seit dem 14. Jahrhundert. Man war stolz darauf und auf die städtischen Einrichtungen, eine Lateinschule, ein Krankenhaus, landständische Ämter, ein stattlicher Markt und mehrere Kirchen. Doch in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1750 hatte ein Großfeuer gewütet, das 133 Gebäude in Schutt und Asche legte. Betroffen war der ganze mittelalterliche Stadtkern. Die Stadt war zügig wiederaufgebaut worden, Hölderlins Nürtingen war also eine weitgehend neu gebaute Stadt. Die Brandkatastrophe ließ den pietistischen Geist, der hier auch zuvor schon lebendig war, aufs Neue mächtig aufflammen. Noch bis in die achtziger Jahre hinein, Hölderlins Schulzeit, waren von den Kanzeln Mahnungen zu hören wie diese: »Was mag wohl Ursach dieses erbärmlichen Straf-Gerichts Gottes gewesen seyn? Gewis, keine andere als diese, weil deine Bürger und Einwohner der Stimme Gottes nicht gehorchet …« (Zit. n. Wittkop, 4) Das geistliche Stadtregiment war damals streng und duldete nur ungern die traditionellen Volksfeste, etwa die »Nürtinger Maitage«, zu denen aus der ganzen Umgebung die Leute strömten. Es gab Musik und Tanz und Theater. Besonders für die Kinder und Jugendlichen ein freudiger Höhepunkt des Jahres. Doch man bemühte sich, das Vergnügen nicht ins Kraut schießen zu lassen. So ließ man die Komödie mit einem Gottesdienst beginnen, was einen zeitgenössischen Beobachter zu der spöttischen Bemerkung veranlasste: »Das Komische des Ganzen kontrastirte sehr mit dem feyerlichen Anfang einer Betstunde …« (Zit. n. Wittkop, 15) In Nürtingen war man fromm, nach außen wenigstens.

In diesem bürgerlich-braven Nürtingen spielte sich Hölderlins gut behütete Kindheit ab. Man ließ den begabten Knaben gewähren, und der Stiefvater war gut zu ihm. An ihn denkt Hölderlin später mit Wehmut zurück und nennt ihn eine immerheitere Seele. (MA II, 775)

Den Tod des ersten Vaters hatte er nicht wirklich erlebt, der des zweiten aber war ihm sehr nahe gegangen. Es geschah im März 1779, da war Hölderlin neun Jahre alt. Der Bürgermeister Johann Christoph Gok hatte sich bei einer Überschwemmung, wo er überall helfend zur Stelle war, so verausgabt, dass er wenige Wochen später an den Folgen einer starken Erkältung starb. Die Erinnerung an diesen Tod blieb schmerzlich. Ein Gedicht des Sechzehnjährigen, »Die Meinige«, ist ihm gewidmet:

 

Ach als einst in unsre stille Hütte

Furchtbarer! herab dein Todesengel kam,

Und den jammernden, den flehenden aus ihrer Mitte

Ewigteurer Vater! dich uns nahm;

Als am schröklich stillen Sterbebette

Meine Mutter sinnlos in dem Staube lag 

Wehe! noch erblik ich sie, die Jammerstätte,

Ewig schwebt vor mir der schwarze Sterbetag 

(MA I, 22; Vs. 2532)

 

In einem Brief vom 18. Juni 1799 an die Mutter führte Hölderlin seinen Hang zur Trauer auf diesen Todesfall zurück. Damals sei seine Seele, schrieb er, zum ersten Mal auf jenen Ernste gestimmt worden, der ihn seitdem niemals ganz verlassen habe. (MA II, 775)

Nach dem Tod des geliebten Stiefvaters war Friedrich nun gänzlich auf seine Mutter angewiesen. Seine Beziehung zu ihr war merkwürdig und lässt viele Fragen offen. Innig und liebevoll blieb der Ton der Briefe bis etwa 1802, also bis zum ersten Zusammenbruch. Als die Mutter wieder einmal über die räumliche Entfernung des Sohnes klagte, schrieb er ihr: der fromme Geist, der zwischen Sohn und Mutter waltet, stirbt zwischen Ihnen und mir nicht aus. (18. Juni 1799; MA II, 774)

Ein frommer Geist verband die beiden, wenngleich Hölderlins Frömmigkeit zu diesem Zeitpunkt (1799) eine andere war als die der Mutter. Die war strenggläubig, orthodox, von pietistischer Innerlichkeit. Hölderlin respektierte die Frömmigkeit der Mutter, aber verbarg vor ihr seine ganz persönliche andere Frömmigkeit, die über das Christliche hinausging. Doch gab es hier immerhin eine Möglichkeit zur Verständigung. Die aber gab es nicht bei dem, was für Hölderlin zur Mitte seines Daseins wurde, beim – Dichten. Die Mutter hat es hartnäckig ignoriert und missbilligt, wenn es ihn von den Studien- und Berufspflichten abzubringen drohte. Die Dichter gehörten für sie ganz einfach nicht zu der »Ehrbarkeit«. Ein einziges Mal nur hat sie sich nach Hölderlins literarischen Erzeugnissen erkundigt und den Sohn ausdrücklich gebeten, ihr etwas zu schicken. Als Hölderlin diesem Wunsche nachkam und ihr das Gedicht »An die Parzen« schickte, in dem das Motiv der Todesbereitschaft nach gelungenem Werk anklingt – Doch ist mir einst das Heil’ge, das am / Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen, / … / Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! (MA I, 188) –, da schickt er sogleich einen Brief hinterher, der ihre Ängste zerstreuen soll: Überhaupt, liebste Mutter! muß ich Sie bitten, nicht alles für strengen Ernst zu nehmen, was Sie von mir lesen. (8. Juli 1799; MA II, 789) Die Mutter hatte keinen Zugang zur Poesie und verstand auch nicht die poetische Leidenschaft ihres Sohnes. Später war sie davon überzeugt, dass letztlich die Poesie ihren Sohn zugrunde gerichtet habe. Hölderlin sollte Pfarrer werden, das war ihr Wunsch, und in diese Richtung drängte sie den Sohn. Frau und Kinder, ein Pfarrhaus mit einem Platz auch für sie im Alter, so wollte sie es haben, und dafür hielt sie das ererbte Geld zusammen.

Trotz der Spannungen und Gegensätze blieb Hölderlin der Mutter lange Zeit tief verbunden, anhänglich und abhängig zugleich. Es fiel ihm schwer, sich selbst zu achten, wenn er sich nicht von der mütterlichen Achtung beschirmt wusste. Dann fürchtete er zu verwildern: Darf ichs Ihnen einmal sagen? wenn ich oft in meinem Sinn verwildert war, und ohne Ruhe mich umhertrieb unter den Menschen, so wars nur darum, weil ich meinte, daß Sie keine Freude an mir hätten. (11. Dezember 1798; MA II, 720)

Hölderlin hat fleißig an seine Mutter geschrieben. Der größte Teil seiner Briefe ist an sie gerichtet. Diese Briefe sind herzlich, doch immer auch respektvoll, manchmal auf ängstliche Weise förmlich und verkrampft; auch Taktik ist im Spiel. Er möchte sie nicht beunruhigen, er verharmlost manches, verschweigt vieles. Von seinen Liebesgeschichten schreibt er nichts, doch ständig beteuert er, wie sehr er sie liebe. Er scheut den Konflikt mit ihr. Allerdings wehrt er sich, wenn sie ihm, der selbst seinen Hang zur Traurigkeit bekennt, mit ihrer Traurigkeit ein schlechtes Gewissen macht oder ihn sonst wie unter Druck setzt. Er weiß zwar, dass die Mutter manches zu leiden gehabt hatte – zwei Ehemänner und drei Kinder waren ihr gestorben –, und doch kam es vor, dass der Neunzehnjährige sie ein wenig altklug ermahnte, es sei ihre Christenpflicht, sich nicht der allzugroßen Traurigkeit zu ergeben, und er empfiehlt ihr, sich des schönen Frülings zu erfreuen. (April/Mai 1789; MA II, 450) So wehrte er sich gegen sie und die Bedrückung, die von ihr ausging. Ein anderes Mal schrieb er: Sie sollten nur nicht in einen geheimen Bund sich mit dem Schmerz einlassen, und nicht zu generos ihn in sich walten lassen. (10. Juli 1797; MA II, 660)

Doch wie seltsam, die Mutter, die unablässig über das Leben ihres Sohnes gewacht hatte, wird sich daraus nach dem Zusammenbruch fast vollständig zurückziehen. Wahrscheinlich hat sie zwischen 1807 und ihrem Tod 1828 den Sohn im Tübinger Turm niemals besucht. In den ersten Jahren dort überkamen Hölderlin Anfälle von Raserei, wenn ihn jemand auch nur von ferne an Familie und Verwandtschaft erinnerte.

Hölderlin hatte in seiner Hofmeister-Zeit die Mutter immer wieder um Geld anbetteln müssen. Eigentlich aber war es sein eigenes Geld, worum er bat. Beim Tode des Stiefvaters Gok wurde das Erbe aus der ersten Ehe zwischen ihr und den Kindern aus dieser Ehe, also Rike und Friedrich, geteilt. Der Halbbruder Karl geht zunächst leer aus, denn in der zweiten Ehe hatte es keinen Zugewinn gegeben, und Gok selbst hatte kein Vermögen in die Ehe eingebracht. Diese Konstellation wird Hölderlins Verhältnis zu seinem Halbbruder beeinträchtigen, weil der nicht studieren durfte, sondern sich mit einer Ausbildung zum Amtsschreiber begnügen musste. Karl haderte mit seinem Schicksal und musste sich von Friedrich in zahlreichen pädagogisch gemeinten Briefen trösten lassen. Friedrich wollte den sechs Jahre jüngeren Karl an der Welt seines Geistes Anteil nehmen lassen, und Karl wird ihm dankbar dafür sein, doch auch begreifen, dass es besser ist, sich für seine eigene Welt zu entscheiden. Er vollzog diese Wendung mit allem Ernst. Tüchtig wie er war, machte er in seinem Beruf Karriere und brachte es bis zum Domänenrat für die Weingüter um Stuttgart. Eine angesehene Stellung. Er galt als der beste Kenner des württembergischen Weines, verfasste auch ein Buch darüber. 1831 wurde er in den Adel erhoben. Es war Karl Gok, der in den zwanziger Jahren eine Sammlung der Gedichte Hölderlins anregte, die dann Uhland besorgte. Als der Band im Juni 1826 erschien, sandte Karl Gok ihn an den Bruder mit den Worten: So sind nun die Früchte Deiner trefflichen Dichtung der Welt erhalten, und Dein Angedenken wird in diesen von jedem tief fühlenden gebildeten Menschen stets verehrt werden. (25.7.1826; MA II, 960) Eine direkte Antwort Hölderlins ist nicht überliefert. Doch als ein Besucher einmal bemerkte, die Gedichte seien gut redigiert, äußerte Hölderlin verärgert, er brauche diese Hilfe nicht, er selbst könne wohl am besten die eignen Werke redigieren.

Nach dem Tode der Mutter 1828 kam es zu einem Erbschaftsstreit, weil Rike darauf drängte, den Anteil Friedrichs zu schmälern, mit der Begründung, dass der langjährige Versorgungsaufwand den Vermögensanteil des Bruders fast aufgebraucht hätte. Das zuständige Gericht folgte dem Antrag allerdings nicht und verwies auf eine Verfügung der Mutter, der zufolge dem Sohn, »wenn er im Gehorsam bleibt«, nichts von den Ausgaben abgezogen werden sollte.

Hölderlin war beim Tode der Mutter, deren Aktivvermögen auf 19.000 Gulden (mehrere Hunderttausend heutigen Geldes) angewachsen war, ein ziemlich vermögender Mann, wovon er aber wohl kaum etwas mitbekam. Er war es eigentlich schon vorher, denn bei der Erbteilung nach dem Tode des leiblichen Vaters 1774 entfielen auf den vierjährigen Friedrich einige Tausend Gulden, die von der Mutter in Pfandbriefe und Darlehen umgewandelt wurden, deren Wert im Laufe der Jahre sehr gewachsen war. Die Mutter war durchaus geschäftstüchtig, doch nicht auf eigene Bereicherung aus. Sie wollte dem Sohn und der Schwester, die zu ihrer Heirat dann ausgezahlt wurde, die Zukunft sichern. Bei Hölderlin war das indes eine Zukunft nach ihrem Wunsche: Er sollte Pfarrer werden. Deshalb verwaltete sie treuhänderisch den Vermögensanteil des Sohnes, weil sie damit Druck auf ihn ausüben und ihn in einer gewissen Abhängigkeit halten konnte. Hölderlin seinerseits aber fehlte der Mut, die freie Verfügung über seinen Vermögensanteil, der ihm zustand, einzufordern. Hätte er es getan, sein Leben wäre anders verlaufen. Er hätte vielleicht die Pfarrerausbildung früh beendet, hätte sich vielleicht auch nicht durch die oft demütigenden Hofmeisterstellen quälen müssen. Er hätte überhaupt freier aufspielen können. Es ist eine tragische Ironie in seinem Lebensschicksal, dass ihm die damals so wichtige finanzielle Unabhängigkeit erst in einem Augenblick zufiel, als er im Tübinger Turm nun wirklich nichts mehr damit anfangen konnte.

Der Schreinermeister Zimmer, Hölderlins treu sorgender Hauswirt in Tübingen, überlieferte das Gerücht, die Mutter habe bei ihrer ersten schwierig verlaufenen Schwangerschaft das Gelübde getan, dass, sollte es ein Sohn werden, er »dem Herrn zu bestimmen« sei (KA 3, 677), dass er also von Anfang an dem geistlichen Beruf geweiht gewesen sei, wogegen sich Hölderlin dann stets gesträubt habe, weil ihn die Theologie nicht anzog. Er hätte, wie Zimmer sich ausdrückt, »zuviel Naturfilosofie« gehabt.

Tatsächlich hatte es die Mutter auf die Theologie bereits abgesehen, als Hölderlin in Nürtingen in die Lateinschule gegeben wurde. Es war die Vorbereitung auf die drei Landesexamen, zuerst für die Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn, zuletzt für das Tübinger Stift. Beginnend also bei den Vierzehnjährigen, wurde in Württemberg mit staatlicher Unterstützung und durch zahlreiche Prüfungen streng kontrolliert die Begabungselite für die protestantischen Kirchenämter ausgesiebt.

Die Lateinschule genügte der Mutter nicht, sie bezahlte noch einen Zusatzunterricht durch den Diakon Nathanael Köstlin, was für den heranwachsenden Hölderlin allerdings ein Glücksfall war. Denn der Knabe hing an dem zugleich gelehrten und warmherzigen Mann, der Autorität ausübte, ohne zu bedrücken. Köstlin verbreitete, heißt es in einer zeitgenössischen Schilderung, »einen eigenen Eindruck von Reinheit des Daseyns« und ein »mildes Wohlwollen«, weshalb man ihm »Ehrfurcht« und »Liebe« entgegenbrachte. (Zit. n. Wittkop, 20) Dieser Mann war für Hölderlin auch deshalb von Bedeutung, weil er bei ihm dessen Neffen kennenlernte, das zehnjährige »Wunderkind« Schelling, das bereits mühelos Lateinisch und Griechisch lesen konnte. Schelling wird sich später noch daran erinnern, wie er von älteren Schulkameraden schikaniert wurde und der fünf Jahre ältere Hölderlin die Aufgabe übernahm, ihn zu schützen. Anders als Hölderlin brauchte Schelling Denkendorf und Maulbronn nicht zu besuchen, weil er dort nichts mehr lernen konnte. Der Vater, ein hochgebildeter Pfarrer, unterrichtete ihn einstweilen so lange, bis er die Sondererlaubnis erhielt, als Fünfzehnjähriger ins »Stift« einrücken zu dürfen. Dort traf er dann wieder auf Hölderlin, und die beiden wohnten, zusammen mit Hegel, eine Zeit lang auf derselben Stube.

Für Hölderlin war dieser Nathanael Köstlin, der Onkel Schellings, ein wichtiger Mentor der Jugendjahre. Hölderlin wird sich später immer wieder nach ihm erkundigen, und Köstlin seinerseits wird den Werdegang seines ehemaligen Zöglings mit Anteilnahme verfolgen.