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KATHRIN SCHWARZENBACHER

TOD AUF

BEWÄHRUNG

Falsche Diagnose und ein Sieg
über das System

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2019 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesetzt aus der Minion Pro, Proxima Nova Bold Extra Condensed, Schreibmaschinenschrift BQ

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-7110-0187-0

eISBN 978-3-7110-5261-2

Inhalt

Prolog

Der böse Wolf

Der Schwarze Freitag

Der Leidensweg beginnt

Heiler, Ärzte und andere Scharlatane

Zwischen Sein und Nicht-Sein

Lieber reich und gesund, als arm und krank

Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts

Der Anfang vom Ende

Das Ende?

Richtig oder falsch? – Alle guten Dinge sind drei!

Das Schaf im Wolfspelz

Der Prozess

Was tun, wenn …

Nachwort

Prolog

Ich bin 27. Ich sitze im Büro meines Arztes. Mein Blick schweift über die Bücher und Zeitschriften an den Wänden, eine Krankenakte liegt vor ihm aufgeschlagen auf dem Tisch. Meine Krankenakte. Der Arzt redet. Alles, was ich höre, sind einzelne Worte: Lymphom. Chemotherapie. Siebzig Prozent Heilungschance. Meint er wirklich mich? Kann das sein? Was bedeutet das für mich? Muss ich den Flug nach Australien streichen? Meine Gedanken hängen sich an Dingen auf, die ich besessen habe und nun verlieren werde. Bilder von meinen Reisen kommen mir wahllos in den Kopf, dann das Gesicht meiner Mutter, das meines Vaters und das meiner Schwester … Ich suche nach einer Antwort. Wie lange werde ich noch leben? In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dreißig Jahre alt zu werden.

Als ich die Diagnose erhielt, an einem äußerst aggressiven Krebs zu leiden, brach für mich eine Welt zusammen. Meine Welt. Nach mehreren Zyklen Chemotherapie, die ich nur mit knapper Not überlebt hatte, und nur wenige Tage vor der Hochdosistherapie stellte sich dann jedoch heraus, dass es sich von Anfang an um eine glatte Fehldiagnose gehandelt hatte. Ich war zum Opfer eines sogenannten ärztlichen Kunstfehlers geworden.

Entsetzliche Schmerzen, herbeigeführt durch die Therapie, Todesangst, existenzielle Sorgen – immer wieder stellte ich mir damals die Frage, wie es dazu hatte kommen können. Wie war es möglich, dass so etwas überhaupt hatte passieren können? Wer war schuld daran? Ich selbst, weil ich bei dem, was mir die Ärzte vorgeschlagen hatten, mitgemacht hatte? Hätte ich noch detaillierter nachfragen und lästig sein sollen? Oder waren es meine Ärzte, die den Erstbefund einfach hingenommen hatten? Ich war jedoch erst 27 Jahre alt gewesen. Wäre das nicht Grund genug gewesen, noch einmal nachzufragen? Oder lag es etwa an dem System an sich, etwa daran, dass Protokolle erfüllt werden müssen? Dass Dienstpläne eingehalten werden müssen? Dass es Kostengrenzen gibt? Dass der Einzelne nicht mehr gesehen wird, weil es schlicht keine Zeit und keine Ressourcen gibt?

Es hatte deutliche Hinweise darauf gegeben, dass ich nicht so krank sein konnte, wie in meinem Befund stand. Also beschloss ich zu kämpfen. Um mein Leben. Und gegen ein System, von dessen Dimension ich noch keine Ahnung hatte und auch nicht haben konnte. Hätte ich nicht gekämpft und mich in das verordnete Schicksal ergeben, wäre die Geschichte anders ausgegangen. Ich wäre heute mit ziemlicher Sicherheit tot. Ich nahm mein Schicksal jedoch selbst in die Hand. Der Weg zurück ins Leben war lang, steinig und voller Schmerzen. Aber ich lebe.

Als ich mich einigermaßen erholt hatte, tat sich die zweite Front auf: Ärzte, die nicht zugeben wollten, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und ihn stattdessen zu vertuschen suchten, die einander Rückdeckung gaben und mir die Verantwortung zuschanzen wollten. Anwälte, die Angst hatten, mich gegen eine mächtige Institution zu verteidigen. Ich kämpfte um Schadenersatz – und um die Wahrheit. Ich kämpfte darum, dass meine Wahrheit sich als objektive Tatsache erweisen würde.

Auch hier stieß ich an die Grenzen jenes Systems. Hatte mein Kampf ums Überleben ein Jahr gedauert, dauerte der vor Gericht um Wiedergutmachung rund doppelt so lange. Auch dieser kostete mich Kraft und Nerven. Und was konnte ich erwarten? Nicht mehr als ein Trostpflaster.

Ich bin keine Heldin – und kein Einzelfall. Was mir passiert ist, kann jedem passieren. Vielen wird geholfen. Vieles fällt jedoch auch unter den Tisch. Warum also dieses Buch? Ich will aufzeigen, dass jeder die Möglichkeit hat zu handeln, auch dann, wenn die Emotionen den Blick auf die Realität zu verstellen drohen. Auch dann, wenn man wie ich zum ersten Mal mit Dingen zu tun hat, die einem völlig neu sind, mit Begriffen, die man bis dato nicht verstanden hat, und mit Institutionen und Organisationen, die man nur vom Hörensagen gekannt hat. Meine Geschichte erzählt von Situationen und Augenblicken, wie sie vielen Menschen widerfahren werden. Sie soll zeigen, dass ein Schicksal nie verordnet werden kann. Sie soll zeigen, dass man den Mut finden kann, die richtigen Maßnahmen zu setzen, um die beste Lebensgeschichte für sich selbst zu schreiben.

Der böse Wolf

Ich bin eine Wanderin zwischen den Welten. Ich habe das Reisen zu meinem Beruf gemacht. Schon in sehr jungen Jahren habe ich meine Leidenschaft für die Fremde – und für das Fliegen entdeckt, und so habe ich mit neunzehn Jahren meine Laufbahn als Flugbegleiterin bei einer erfolgreich etablierten österreichischen Airline begonnen und bin später zur Purserin auf einem Privatjet aufgestiegen. China, Japan, Russland, Sibirien, Kasachstan, Usbekistan, Irak, Nigeria, Kongo, USA … Überall dort war ich zu Hause.

»Es ist das Unerwartete, das betört.« So beschreibt Ilija Trojanow Momente, die einem in Erinnerung bleiben, Momente, in denen ein Zauber spürbar wird, den keine Planung vorsieht. Ich habe sie auf meinen zahllosen Reisen erlebt. Ich habe sie als Freiheit erlebt – als eine Freiheit, die alles bisher Bekannte aus den Angeln hebt und umwirft, was man bislang für gegeben genommen hat, als eine Freiheit, die man in Allinclusive-Hotelanlagen niemals finden kann und die in engen Zeitplänen zwischen Job, Studium, Partnerschaft und Haushalt keinen Platz hat. Jene Freiheit kann jedoch auch eine Herausforderung sein, weil sie von uns Wachsamkeit abverlangt. Um sich in der Fremde zurechtzufinden, muss man flexibel sein, man muss der oft harschen Wirklichkeit, die über einen hereinbricht, trotzen können. Ich habe meine Reisen stets als sehr anregend empfunden. Sie haben mich zum Nachdenken über dies und das – über Gott und die Welt – gebracht. Sie haben mein Leben reich gemacht, sie haben es mit Träumen beschenkt.

Zwei Jahre lang war ich etwa bei einer britischen Privatjetfirma namens Vista Jet tätig. Sie hat ihren Sitz in Farnborough. Siebzehn Tage im Monat flog ich für Vista Jet etwa quer durch Nigeria. Ich hatte zumeist vier Flüge pro Tag mit hochrangigen Mitgliedern der nigerianischen Regierung zu bestreiten. Nigeria ist alles andere als ein klassisches Reiseland. Es ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und zeichnet sich durch seine große kulturelle Vielfalt aus: Nicht weniger als 514 verschiedene Sprachen werden hier gesprochen, sämtliche westafrikanischen Religionen werden hier praktiziert. Die Vielfalt fasziniert, sie ist jedoch auch die Ursache für die hohe Kriminalität und die ethischen, religiösen und politischen Unruhen, die das Land regelmäßig erschüttern. Dazu kommt die permanente Gefahr von Seuchen, die Nigeria nicht nur für Ausländer aus dem Westen zu einem gefährlichen Terrain macht. Sich außerhalb der Hotelanlagen zu bewegen, ist nicht ratsam. Es wird davon abgeraten. Man geht dort nicht einfach mal spazieren, um sich die Füße zu vertreten, weil man Gefahr läuft, für ein Stück Brot getötet zu werden.

Unsere Hotels in Abuja und Lagos waren daher auch mit Stacheldraht eingezäunt, zudem gab es unzählige Wachen, die ein Auge darauf hatten, dass niemand Fremder in die Hotelanlagen eindrang. Auch der Transport vom und zum Flughafen war stets organisiert und unser SUV streng bewacht. Immer wieder fand ich mich dort trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in heiklen Situationen wieder. Einmal etwa zwangen Soldaten unseren Fahrer, aus dem Auto auszusteigen, sie schlugen ihn nieder und rasten dann mit quietschenden Reifen wieder davon. Gewalt, die jeder Ursache entbehrt und die sich gegen sozial schwächere Menschen richtet, steht dort an der Tagesordnung. Die nigerianische Elite weiß, dass ihr Verhalten, sei es auch noch so kriminell, nicht geahndet wird. Sie kann sich so gut wie alles erlauben. Sie steht über dem Recht.

Dort, wo die Not groß ist, ist jedoch auch der Lebenswille am stärksten ausgeprägt. Überall auf der Welt gilt es, das Beste aus den Umständen zu machen. Auch diese Erfahrung durfte ich auf meinen zahllosen Reisen machen. Ich habe in den Slums rund um Abuja heitere und offenherzige Menschen kennengelernt und bin dort, wo die Armut am größten ist, stets mit der herzlichsten Gastfreundschaft empfangen worden. Auch habe ich dort Feste mitgefeiert, die mir unvergesslich bleiben werden, etwa in einem Vorort von Lagos. Eingeladen dazu hatte mich mein Kollege Joshua, ein Handling Agent vom Flughafen. Schon von ferne hörten wir Musik. Als wir dann Joshuas Haus betraten, sahen wir, dass die vermeintliche Band lediglich aus zwei Mädchen bestand, die einer verbeulten Trompete und einer alten Gitarre die wunderbarsten Klänge entlockten. Sie strahlten eine unbefangene Fröhlichkeit aus, die hier in unseren Breitengraden ihresgleichen sucht. Auf dem Fest selbst, das dort regelmäßig an jedem Ersten des Monats stattfindet – eine schöne Tradition eigentlich –, führten Gruppen aus den umliegenden Dörfern ihre Tänze auf. Trommelrhythmen, bunte Masken und Kostüme, die Beweglichkeit und Anmut der Tänzer – all das hinterließ einen tiefen Eindruck in mir.

In mancher Hinsicht sind diese Menschen reicher als wir. Sie haben gelernt, im Moment zu leben. Carpe diem! heißt es bei Horaz. Lebe im Jetzt! Heute ist heute, und wenn es heute etwas zu feiern gibt, dann soll man eben feiern. Wer weiß schon, was der nächste Tag bringt. Wie oft habe ich mir das in den schweren Zeiten, die ich dann durchleben musste, in Erinnerung gerufen.

Vor allem in den ganz armen Ländern ist es die unüberbrückbare Kluft zwischen Arm und Reich, die mir oft zu denken gab. Wie oft war ich von der rauen Wirklichkeit durch die Fassade des Hotels abgeschirmt. Drinnen tummelten sich hochkarätige Gäste aus aller Herren Länder, gut gekleidet in maßgeschneiderten Anzügen, in Seidenkleidern, und bis zur Unkenntlichkeit verschönert, genossen sie die Vorzüge ihres privilegierten Touristendaseins, während draußen das Chaos tobte. Überschwemmungen etwa, wie ich sie auf einem meiner Flüge nach Chabarowsk, einer russischen Stadt am Amur nahe der Grenze zu China, erleben musste. Schon während des Fluges hatte ich via CNN davon erfahren, was ich dann vor Ort sah, überstieg mein Fassungsvermögen: zehn Kilometer lange Schutzwälle, die zu bersten drohten, Tausende Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser hatten verlassen müssen. Sie waren ob der drohenden Gefahr evakuiert worden. Seuchen, Hunger und Unruhen – nichts von dem war mehr ausgeschlossen. Wir hingegen waren abgeschottet in unserem Hotel, in dem es so luxuriös zuging wie eh und je, ganz so, als gehörte es in eine andere Welt.

Ja, ich habe viel gesehen und erlebt auf meinen Reisen. Sie haben mich zu einer Weltbürgerin gemacht. Ich war in den großen Metropolen der Welt zu Hause, und ich bin in Regionen gekommen, die für die meisten anderen Menschen nur schwer, wenn überhaupt zugänglich sind. Das Mädchen in der Fremde, ja, das war ich, und ich war es gerne. Ich genoss mein Leben in vollen Zügen, bis es eine dramatische Wendung nahm …

Ich war gerade bei einer Kollegin, einer Co-Pilotin aus Stuttgart, auf ihrem Hotelzimmer. Beide warteten wir auf einen Weiterflug, also hatten wir beschlossen, an dem Abend zusammen ein Glas Wein zu trinken und uns ein wenig die Zeit zu vertreiben. Wir unterhielten uns über dies und das und lachten auch viel an diesem Abend. Wir waren mit einem Wort ausgelassen, dennoch überkam mich – fast überfallartig – eine melancholische Stimmung, gegen die ich fast nicht ankam und die ich auch nicht deuten konnte. Ich kannte diesen Zustand bereits. Immer wieder in den letzten Wochen war ich ihm regelrecht ausgeliefert gewesen. War es Angst? Seit Wochen schon verspürte ich einen Knoten in meinem Unterbauch. Besonders dann, wenn ich auf dem Rücken lag, konnte ich ihn ganz deutlich ertasten. Über Wochen hinweg hatte ich versucht, ihn aus meinen Gedanken auszublenden. Ich hatte mich in Arbeit gestürzt, Zerstreuung gesucht, jedoch keines jener Ablenkungsmanöver hatte zu kaschieren vermocht, dass er da war, dieser Knoten, den ich nicht zuordnen konnte und der nicht zu mir gehörte. Ein altertümliches Wort, das ich aus den Märchen meiner Kindheit kannte, kam mir damals immer wieder in den Sinn: Wackerstein. Waren es nicht Wackersteine, die man dort mit sich herumtrug, vorausgesetzt man war der böse Wolf? War ich dann der böse Wolf? Soweit ich mich erinnern konnte, lebte Letzterer nicht mehr allzu lange, hatte er die Wackersteine einmal in sich.

An jenem Abend gelang es mir nicht mehr, meine Angst zu unterdrücken. Ich konnte die Tatsache, dass jener Knoten in mir war, nicht mehr als etwas Harmloses abtun, als etwas Vorübergehendes, das sich über kurz oder lang von selbst wieder in Luft auflösen würde. Dazu hatte ich ihn schon zu lange. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen, und ich beschloss, mich nach meiner Rückkehr einer Untersuchung zu unterziehen. Irgendwann musste ich mich schließlich den Tatsachen stellen. Vielleicht ging ja alles gut aus, vielleicht stellte sich der Knoten ja als etwas gänzlich Harmloses heraus.

In jener Nacht in Chabarowsk stieg in mir immer wieder jenes archaische Bild vom bösen Wolf auf. Als er ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Suche nach Wasser, weil die Steine in seinem Bauch großen Durst erzeugten. Während er ging, stießen die Wackersteine in seinem Bauch aneinander. »Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum? Ich meinte, es wären sechs Geißlein, so sind es lauter Wackersteine«, so oder doch so ähnlich hieß es in dem Märchen von den Sieben Geißlein. Ich konnte mich gut identifizieren mit jenem Wolf. War er nicht auch ein ewig Fremder, der überall war und nirgends wirklich dazugehörte? Bei dem Versuch zu trinken, stürzte er dann kopfüber in den Brunnen und ertrank. Brachiale Bilder geisterten durch meinen Kopf.

Den Rückflug nach Europa am nächsten Tag erlebte ich in einer Art Trancezustand. Ich funktionierte, waren mir doch sämtliche Abläufe und auch die Wünsche unserer zumeist sehr anspruchsvollen Klientel mehr als vertraut. Wer es sich leisten konnte, für eine Flugstunde rund 13.000 Euro auszugeben, um den Vorzug zu genießen, zu neunzehnt auf einer Maschine, einem Airbus A319, die im Grunde für 145 Passagiere zugelassen war, zu fliegen, erwartete schon eine bevorzugte Behandlung, sprich eine Betreuung rund um die Uhr. Zumeist waren das irgendwelche Regierungschefs samt ihrer Entourage oder andere Celebritys. Das entsprach voll und ganz dem Geschäftsmodell von Vista Jet, das nach einem einfachen Prinzip funktioniert. Das Unternehmen betreibt Flugzeuge großer Konzerne und reicher Familien. Dazu stellt es Piloten, Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen zur Verfügung. Auch die Wartung der Flieger übernimmt Vista Jet. Benötigen die Eigentümer die Flieger nicht selbst, schweben sie also nicht gerade selbst hoch über den Wolken, werden die Flugzeuge auch an Dritte, die über eine nicht zu verachtende Summe in ihrem Portemonnaie verfügen, weitervermietet.

Uns wurden zumeist schon Tage zuvor sämtliche Vorlieben unserer Gäste, handelte es sich nun um Mahlzeiten, Getränke oder das Filmprogramm an Bord, mitgeteilt. Für sie lagen in den Regallagern des Hangars Waren im Wert von sieben Millionen Euro griffbereit. Ihr persönliches Inventar wie Geschirr, Besteck und Bettwäsche wurde nach jedem Flug aus der Maschine geräumt und lag bis zum nächsten Mal fein säuberlich in schweren Rollschränken verstaut. Wir waren also stets auf das Beste vorbereitet, und auch für die vielen Extrawünsche, die dann üblicherweise noch hinzukamen, waren wir gerüstet. Wir erfüllten auch diese, wenn sie im Bereich des Möglichen lagen. Im Grunde differierten sie nicht wesentlich von Flug zu Flug, und wir waren es gewohnt, flexibel zu agieren und auf unsere Gäste einzugehen. So schnell war ich mit einem Wort nicht aus der Ruhe zu bringen, auch dieses Mal nicht. Mein Anker war meine Routine. Ich zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht und verbarg dahinter meine Unruhe, die mich nun nicht mehr losließ, auf dem gesamten Rückflug nicht.

Zwei Wochen lang war ich rund um die Welt unterwegs gewesen, und dieses Mal fiel es mir besonders schwer, mich zu Hause wieder einzufinden. Da war zum einen der Jetlag, der mir zu schaffen machte, mehr als sonst eigentlich, und zum anderen gelang es mir nicht, zur Ruhe zu kommen. Die Angst hatte mich fest im Griff. Ich musste mit jemandem darüber sprechen, jemanden um Rat fragen. Sollte ich meiner Mutter von dem Knoten erzählen? Sie war natürlich die Erste, der ich mich liebend gerne anvertraut hätte. Jedoch würde ein solches Gespräch nicht notgedrungen eine Aktion nach sich ziehen, etwas in Gang setzen, das ich nicht mehr würde aufhalten können, einen Besuch beim Arzt etwa? War ich dazu tatsächlich bereit? In jener Nacht in Chabarowsk, in der Fremde, hatte ich den Entschluss gefasst, mich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, hier daheim, in der vertrauten Umgebung, sah das wieder anders aus. Solange ich nicht darüber sprach, es nicht aussprach, gehörte jener Knoten, jener Wackerstein, in mir noch nicht zur Gänze der Realität an. Er lag irgendwo unartikuliert im Verborgenen – und dort wollte ich ihn lassen. Solange es ging. In spätestens zwei Wochen würde ich meinen nächsten Trip nach Australien und Neuseeland antreten, vielleicht war dann ja alles wieder gut!

Unruhig verbrachte ich Nacht um Nacht, bis ich es eines Tages nicht mehr aushielt und meine Mutter um einen sogenannten Mutter-Tochter-Tag bat. Immer wenn wir einander länger nicht gesehen hatten und uns wieder einmal nach Lust und Laune austauschen wollten, hatten wir uns angewöhnt, einen solchen Tag miteinander zu verbringen. Zumeist fuhren wir dann in die nächstgelegene Stadt, bummelten dort durch die Einkaufsstraßen, shoppten ein wenig und aßen dann gemeinsam in einem netten Lokal zu Mittag.