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Originalcopyright © 2019 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Ina Krabbe

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-015-4

Alle Rechte vorbehalten.

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1. Kapitel

Malu sah auf die Vogeluhr über ihrer Tür. Kurz vor drei. Zehn Minuten hatte sie noch, dann würde ein lautes Papa­gei­enkreischen von der Uhr ertönen und gleich darauf ihre Mutter hereinkommen und wieder irgendetwas von ihr wollen: aufräumen, wegräumen, hintragen, wegbringen, auf­­­­­hängen! Es gab jede Menge zu tun. In zwei Wochen war die Eröffnung des Reithotels am Funkelsee und Rebekka (wie sie ihre Mutter insgeheim nur noch nannte) wurde mit jedem Tag nervöser und damit (leider) auch nerviger. Dabei war heute Samstag, der erste Tag von eigentlich herr­­lichen sechs Wochen Sommerferien. Eigentlich! Ihre eige­­nen würden wohl eher anstrengend werden und hauptsäch­lich aus Arbeit im Hotel bestehen. Nicht mal einen Ausflug auf ihre geliebte Pferdeinsel konnte sie unternehmen, denn die kom­plette Insel war den Sommer über an so eine exzentrische Tante vermietet, die dort ihre wertvolle Araberherde vor der Welt verstecken wollte. Die Pferde hatte sie in Jorda­­nien bei einem berühmten Gestüt gekauft und von da waren sie direkt zum Funkelsee gebracht worden, erst mit dem Schiff und dann in Transportern. Hier sollten sie von zwei Männern bewacht bis Oktober bleiben. Die Tiere mussten absolute Ruhe haben, das hatte Rebekka mehrfach betont und ihre Tochter dabei eindringlich angesehen. (Ja, ja, schon kapiert, kein Ausflug auf die Insel!) Sie hatte sich natürlich sofort angeboten, die Versorgung der Männer zu übernehmen, aber darum wollte sich die Besitzerin der Pferde höchstpersönlich kümmern. Das Boots­haus mit Pferde­­­floß und Ruderboot war verschlossen, damit niemand in Versuchung geriet.

Als die kostbaren Pferde vor ein paar Tagen gebracht worden waren, war sie noch in der Schule gewesen, nicht mal ein winziges Schweifhaar hatte sie zu Gesicht bekommen. Aber es sollten noch mehr Pferde kommen, vielleicht hatte sie dann die Chance, einen Blick auf die edlen Tiere zu werfen.

Seufzend sah Malu aus dem Fenster, dorthin, wo eigentlich ihre eigenen Pferde gemütlich grasen sollten. Aber leider war die große Wiese mit dem Offenstall wie leer ge­­fegt. Noch so ein Punkt auf ihrer Läuft-gerade-nicht-so-Liste: Das Hotelteam (also Rebekka und Großtante Gesine, seit Kurzem Besitzerin von Schloss Funkelfeld) hatte beschlossen, dass die Weide am Schlossplatz zukünftig für Gastpferde zur Verfügung stehen sollte. Was für eine Ge­­mein­­heit! Dabei gab es für Malu nichts Schöneres, als morgens nach dem Aufstehen einen Blick auf ihre kleine Herde zu werfen. Das Glücksgefühl, das sie durchströmte, wenn sie Papilopulus, Schneechen, die Isländer Ping und Pong, Zimt und Vanille und Alibaba mit ihrem Fohlen Lapislazuli gemächlich über die Wiese zockeln sah – das war einfach unbeschreiblich. Und jetzt: gähnende Leere! Und Hitze. (Ok, dafür konnte Rebekka ausnahmsweise nichts.)

Sie konnte ihre Läuft-gerade-nicht-so-Liste auch noch damit fortsetzen, dass Jaron, der immer dieses angenehme Kribbeln in ihr auslöste, für ein halbes Jahr in Amerika zum Schüleraustausch war, und Bjarne, ein alter Schulfreund von Edgar, den sie im Frühjahr kennengelernt hatte, nun leider doch nicht in den Sommerferien zu ihnen kommen konnte.

Malu wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und zog das Rollo hinunter, damit die Mittagshitze draußen blieb. Seit Tagen hielt sich dieses heiße Wetter schon, dabei war es erst Anfang Juni. Und sie hatte noch Glück, ihr Zimmer lag im ersten Stock. Ihr Halbbruder Edgar wohnte direkt unterm Dach, da war es zur Zeit kaum auszuhalten. Aber wahrscheinlich würde ihre Mutter dort sowieso demnächst eine Sauna für die Hotelgäste einrichten und Edgar konnte gucken, wo er blieb, dachte Malu bissig.

Sie klappte ihren Laptop auf und klickte sich zur Inter­net­­seite von Wir für 4 Hufe – einer Hilfsorganisation für Pferde. Dort öffnete sie den Chat, um kurz nachzusehen, ob jemand online war, den sie kannte. Vor zwei Mo­­na­­ten hatte ihre Cousine Lenka ihr von der Seite er­­zählt. (Erstaunlicherweise, seit wann war Lenka so eine große Tierfreundin?!) Auf der Internetseite gab es Infos zu Pferden und Hilfsprojekten, die sich um gequälte und alte Tiere kümmerten. Und in Forum und Chatroom waren viele unterwegs, die genauso dachten wie Malu. Hier konnte sie sich mit Gleichgesinnten austauschen und fühlte sich verstanden. Und gerade jetzt war ihr oft danach zumute, da hier ja zur Zeit alle nur noch diese blöde Hoteleröffnung im Kopf hatten.

Malu wollte gerade den Laptop herunterfahren, da blinkte CharlyBee online grün auf. Sie grinste und loggte sich schnell im Chatroom unter ihrem Benutzernamen Lapislopulus ein.

CharlyBee:

Hi, traurige Nachricht: Schaff es leider nicht zum Camp.

Lapislopulus:

Kein Problem, ich darf eh nicht.

CharlyBee:

Warum???

Lapislopulus:

Arbeiten und arbeiten und ... ah ja, ich muss arbeiten.

CharlyBee:

Ist ja Sklaverei!!!!

Lapislopulus:

Du sagst es!!!!! Was ist denn mit dir?

CharlyBee:

Meine Eltern haben andere Pläne, aber ich bearbeite sie noch mal. Was macht dein Fohlen?

Die Zimmertür wurde aufgerissen und ihr Bruder Edgar steckte den Kopf herein. »Kommst du mit rüber zu den Pfer­­­den?«

»Noch nie was von Anklopfen gehört?!«, fauchte Malu.

Schnell tippte sie noch: Erzähl ich dir später, Störfaktor im Zimmer und klappte dann schnell den Bildschirm herunter.

»Ich wusste ja nicht, dass du hier geheimnisvollen Tätig­keiten nachgehst. Sag nicht, dass du dich wieder in diesem Retter-Chat rumtreibst.« Edgar trat einen Schritt in ihr Zimmer und machte Anstalten den Computer zu öffnen.

»Hau ab!«, zischte Malu. »Gibt’s hier noch so was wie Privatsphäre?«

Edgar setzte sein Großer-Bruder-Gesicht auf. »Ich halte nichts davon und Rebekka übrigens auch nicht. Du weißt gar nicht, mit wem du da redest und was –«

»Hör schon auf«, unterbrach Malu ihn. »Ich weiß das alles. Wir haben ganze Abende damit verbracht, darüber zu reden. Ich sage nie meinen richtigen Namen, keine Adresse, Telefonnummer, keine Bilder. Punkt. Ich hab’s kapiert!«

»Dann ist’s ja gut.« Edgar hob beschwichtigend die Hän­­de und fuhr sich durch seine kurzen blonden Haare. »Was ist jetzt? Ich wollte mal nach Alibaba und Lapislazuli sehen.«

Sofort zuckte dieses kleine Glücksgefühl durch Malus Magen. Lapislazuli war ihr Fohlen. Edgar hatte es ihr im Frühjahr, direkt nach seiner Geburt, zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Schon bei dem Gedanken an die kleine braune Stute wurde ihr ganz warm ums Herz und jedes Mal färbte ein bisschen von dem Gefühl auf ihren Bruder ab. Auch wenn sie sich gerade noch über ihn geärgert hatte. Er hatte ihr das allerallerschönste Geschenk ihres Lebens gemacht!

»Ich muss sowieso mal bei Papi vorbei«, sagte sie und sprang auf, ohne dem Computer noch einen Blick zuzuwerfen. Papilopulus war und blieb natürlich ihr Liebling, da konnten noch so viele süße Fohlen kommen! Mit dem alten Rennpferd verband sie einfach eine tiefe Freundschaft und inzwischen auch schon so viele Erlebnisse – schöne und schreck­liche.

Malu sprang hinter ihrem Bruder die Treppe herunter, als die Stimme ihrer Mutter sie aufhielt. »Malu, bist du das?«

»Nein, der Hausgeist«, flötete sie und versuchte schnell durch die Haustür zu entwischen.

Edgar war schon fast draußen und winkte ihr grinsend zu, als Rebekka aus der Küche kam. »Schatz, geh doch bitte mal in die Schlossküche rüber und hol mir zwei Gläser Himbeermarmelade für den Kuchen.«

Malu verzog das Gesicht. »Ich wollte jetzt eigentlich die Pferde füttern.«

Ihre Mutter stemmte die Hände in die Seiten. »Du kannst mir ruhig ein bisschen helfen! Was soll ich denn noch alles tun –«

»Vergiss es«, knurrte Malu. »Ich hol sie ja schon.«

Rebekka verschwand murrend in der Küche und Malu ging ebenso murrend durch die Haustür. Wütend stapfte sie über den Schlosshof, dass die Kiesel nur so zur Seite spritzten. Der schön renovierten Schlossfassade schenkte sie keinen Blick. Kannte sie ja schon. Seit das Baugerüst ver­­schwunden war, strahlte der Putz in Altrosa, die weißen Umrandungen der Fenster leuchteten majestätisch und das Türmchen hatte neue Stuckverzierungen erhalten. Auch die Nebengebäude hatten einen neuen Anstrich, neue Wasserleitungen und neue Heizungen bekommen. Es war eigentlich alles toll! Aber Malu vermisste das alte Schloss Funkelfeld. Ihr Schloss, ihr Zuhause! Das hier war jetzt ein schickes Hotel und in zwei Wochen würde es hier von Besuchern wimmeln. (Es gab zwar nur 10 Gästezimmer, aber trotzdem!)

Ihre Mutter war wegen der bevorstehenden Eröffnung so angespannt und nervös, dass man kein vernünftiges Wort mehr mit ihr wechseln konnte. Wütend trat Malu gegen einen dicken Kieselstein. Wie zum Beispiel die Sache mit dem Camp. CharlyBee hatte ihr im Chat von diesem Feriencamp erzählt, wo man eine Woche in einem Hilfs­­projekt für alte und misshandelte Pferde mitarbeiten konnte. Sie war sofort Feuer und Flamme gewesen. Da sie mit ihrer Mutter ja sowieso nicht in Urlaub fahren würde (wahrscheinlich NIE mehr!), hätte sie ihr doch eine Woche in dem Camp gönnen können. Nein, das geht nicht! Malu, ich brauche doch deine Hilfe. Wir haben so viel zu tun. Wie kommst du nur auf so eine Idee. Außerdem haben wir doch genug eigene Pferde hier, um die du dich kümmern musst. Und dann ging die Diskussion um den Chatroom wieder los.

Malu seufzte. Vielleicht würde es ja besser werden, wenn der Hotelbetrieb erst mal ans Laufen gekommen war. Zu­mindest würde ihre beste Freundin Lea morgen für zwei Wochen bei ihr einziehen. Das waren wenigstens erfreuliche Aussichten! Mit Lea war irgendwie alles lustiger, ihre Freundin hatte eigentlich immer gute Laune und kam auf die verrücktesten Ideen.

Sie lief die breite Treppe zum Hauptgebäude hoch und tätschelte den steinernen Löwen, die die Seiten flankierten, gewohnheitsmäßig die Köpfe. Auch sie hatten von der Renovierung profitiert und ihre Nasen, Mähnen und Ohren zurückbekommen.

Die riesige Holztür quietschte auch nicht mehr, als sie sie jetzt aufzog. Nicht mal das! Malu lief über den schwarz-weißen Schachbrettboden durch die riesige Halle zur Küche. Ein langer Holztresen säumte jetzt die rechte Seite, an dem die Gäste in Empfang genommen werden sollten. Dahinter führte ein Gang weiter zu den Haushalts- und Sozialräumen für die neuen Mitarbeiter.

Malu zog eine weiße Schiebetür zur Seite und trat in den neu gestalteten Küchenraum. Die blauweiß gemusterten Wand­­fliesen erinnerten an vergangene Zeiten, die Elek­tro­geräte und blank polierten Edelstahlflächen dagegen waren hypermodern. Rebekka liebte diesen Kontrast.

Dem allen schenkte Malu keinerlei Beachtung, sie ging schnurstracks zur Speisekammer, die sich im hinteren Teil an die Küche anschloss. In mehreren Reihen stan­­den dort stählerne Regale, in denen alles Mögliche la­gerte, was man in einer Küche so gebrauchen konnte: Kon­ser­ven­­dosen, Mehlpackungen, Kekse, Kaffee- und Tee­dosen, Reis, Nudeln, Gewürze, aber auch Schüsseln und Töpfe in allen Größen und Formen. Vor dem Regal mit den Mar­me­ladengläsern stutzte Malu. Was war das? Vor ihren Füßen lag eine mit Glassplittern verzierte rotgelbe Pampe. Ein Stück weiter waren Tüten mit Mehl und Zucker umgerissen und hatten die grauen Fliesen weiß gepudert. So eine Sauerei! Was war hier passiert? Malu seufzte erneut. Das würde die Laune ihrer Mutter nicht verbessern, so viel war klar. Sie entschied sich, lieber Gesine Bescheid zu sagen, ihre Großtante war bei solchen Sachen wesentlich entspannter. Aber die war gerade zum Einkaufen in der Stadt und stand in der Umkleidekabine, als Malu sie erreichte. Und leider hatte sie nicht vor, in Unterwäsche zur Schlossküche zu eilen. Also blieb Malu nichts anderes übrig, als doch ihre Mutter über das Chaos zu informieren.

Keine Minute später stürmte Rebekka an Malu vorbei, die auf der Edelstahlarbeitsplatte saß und die Beine baumeln ließ.

»Auch das noch! ... Das darf nicht wahr sein!«, murmelte sie.

»Was meinst du?«, fragte Malu und sprang von der Arbeits­fläche.

»Ratten!«, flüsterte ihre Mutter. »Was soll das sonst sein.« Sie drehte sich um und fuhr sich durch ihre ohnehin schon abstehenden braunen Locken. »Wir haben Ratten im Schloss! Wenn das bekannt wird, dann können wir die ganze Eröffnung vergessen!«

Malu betrachtete die Abstellkammer mit leichtem Ekel. Da würde sie erst mal keinen Schritt mehr reinsetzen!

»Das muss Kalle sich gleich angucken.« Mit einem Ruck zog Rebekka die Tür zur Speisekammer zu.

Kalle war die neue Geheimwaffe von Schloss Funkelfeld. Malu grinste. Er war als einziger Bauarbeiter noch vor Ort, um die letzten Kleinigkeiten der Renovierung zu erledigen. Aber nicht nur das, Kalle half immer, wo er konnte. Er hatte einfach das Herz auf dem rechten Fleck, wie Gesine sagte. Und da die Hoteleröffnung immer näher rückte und es ständig neue Dinge gab, die unbedingt noch getan werden mussten, hatte Kalle eine kleine Wohnung über dem Pferdestall bezogen. Immer wenn Not am Mann war, wurde er gerufen. So wie jetzt.

Malu sah ihrer Mutter hinterher, die sich die Haare raufend aus der Küche verschwand. Warum nur musste sie gerade an ein zerrupftes Huhn denken?

Sie beschloss, dass das Rattenproblem bei Kalle gut aufgehoben war, und verschwand in Richtung Pferdewiese.

Kaum hatte Malu den Weg durch den alten Schlosspark eingeschlagen (wenigstens der war verwildert wie eh und je!), ging es ihr schlagartig besser. Mit schnellen Schritten umrundete sie das Schloss, zwängte sich an einem alten Holunderbusch vorbei und kletterte über den Holzzaun, der die hintere Pferdewiese umschloss. Es gab natürlich noch einen besser begehbaren Weg zur Weide, über den Schlossplatz und rechts am Gebäude vorbei, aber Malu nahm lieber die Abkürzung.

Als sie auf der Wiese stand, hielt sie kurz inne. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an diesem Bild: Schneechen, Alibaba und Lapislazuli grasten gemütlich auf der gegenüberliegenden Seite. Mit etwas Abstand folgten die Ponys Zimt und Vanille, die in ihrem Pferdeleben schon viel durchgemacht hatten. Aber seit letztem Herbst hatten sie hier ihr Zuhause und jetzt ging es ihnen richtig gut.

Auf der Wiese dahinter galoppierte Flash ausgelassen am Zaun entlang. Es sah aus, als ob er vor den Stuten ein bisschen angeben wollte. Als Hengst musste er getrennt von den anderen Pferden stehen und nachts brachte Edgar ihn in den Stall. Seit dem Frühjahr war er jetzt auf Schloss Funkelfeld und war lange nicht mehr so misstrauisch und unberechenbar wie am Anfang. Ihr Bruder gab sich wirklich alle Mühe mit ihm, aber es war immer noch nicht daran zu denken, dass er ihn reiten konnte.

Von den gelben Isländern Ping und Pong konnte Malu nur die Hinterteile sehen, die aus dem Stall ragten. Wahrscheinlich machten sie sich gerade über irgendeine Leckerei her. Papilopulus stand davor mit hängendem Kopf und döste vor sich hin.

Malu pfiff leise, als sie zum neuen Offenstall herüberging. Sofort zuckten Papilopulus’ Ohren und er hob erwartungsvoll den Kopf. So stand er da, bis Malu neben ihn trat. Sanft strich sie ihm über den knochigen Nasenrücken und kramte ein Leckerchen aus der Tasche. »Du faule Socke«, murmelte sie liebevoll. »Du kannst mir ruhig mal ein paar Schritte entgegengehen.«

Der dunkelbraune Wallach schnaubte und drückte seine Schnauze auf der Suche nach weiteren Delikatessen in Malus T-Shirt.

»Da kannst du lange schnuppern, die anderen sind für deine Kollegen.«

Edgar kam mit einem Strohballen im Schlepptau hinter dem Offenstall hervor. »Da bist du ja endlich, ich bin fast fertig.«

Malu verzog das Gesicht. »Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon längst hier gewesen. Du weißt doch, die Hotelchefin und die Sklaverei ...«

Edgar schnitt die Schnur mit seinem Messer durch und begann das Stroh zu verteilen.

Ping und Pong standen wie festgewachsen im Stall und bewegten sich kein Stück, als Edgar versuchte sie zur Seite zu schieben. »Ihr seit echt zwei Sturköppe«, lachte er und verteilte das Stroh kurzerhand zwischen ihren Beinen.

Malu wollte ihrem Bruder gerade von den Ratten in der Speisekammer berichten, da schallten plötzlich laute Stimmen vom Schlosshof herüber. Etwas krachte. Die Pferde zuckten erschrocken zusammen und Malu konnte gerade noch zur Seite springen, als die Isländer die Flucht ergriffen und aus dem Stall galoppierten.

Edgar sprang mit einem Satz über den Zaun und rannte den Weg zum Schloss entlang. Mit wackligen Beinen folgte Malu ihm, so schnell sie konnte. Was war da los?

2. Kapitel

Gerade als Edgar das Schloss erreichte, preschte ein pechschwarzes Pferd um die Ecke. Wild bäumte es sich auf, als es Edgar plötzlich vor sich stehen sah. Malu dachte, ihr Herz würde stehen bleiben. Ihr Bruder bewegte sich kein Stück und starrte wie gebannt auf die wirbelnden Hufe. Dann jagte das Tier mit wilden Sprüngen an Edgar und Malu vorbei.

Es war das schönste Pferd, das Malu jemals gesehen hatte. Das schwarze Fell glänzte wie poliert in der Sonne und die Mähne wehte malerisch von seinem perfekt gebogenen Hals. Fast schon kitschig.

»Hast du dieses Pferd gesehen«, hauchte Edgar.

»Es wäre schwer gewesen, es nicht zu sehen«, erwiderte Malu trocken. »Alles ok bei dir?«

Ihr Bruder nickte schwach. Auch seine Beine zitterten.

Im nächsten Moment stürmte ein kleiner, hagerer Mann in hellen Jeans und schwarzem Shirt um die Ecke. Seine dunklen Augen funkelten wütend. »Mierda! Bleib stehen, du Bastard«, fluchte er keuchend. In seiner Hand hielt er ein Halfter mit einem Führstrick umklammert. »Wenn ich dich erwische ...« Was er dann machen würde, hörten Malu und Edgar nicht mehr, der Mann war schon an ihnen vorbei und rannte dem Rappen hinterher.

»Hoffentlich läuft es nicht auf die Landstraße«, sagte Malu leise. Sie musste an Flash denken. Der Vater von Edgars Pferd war auf diese Weise ums Leben gekommen. Ein LKW hatte ihn überfahren.

Edgar schluckte. Sein Hals war ganz trocken. »So fängt der das Pferd nie ein. Du hast recht, er treibt es direkt auf die Straße zu.«

»Komm, wir versuchen ihm den Weg abzuschneiden.« Malu hatte den Satz noch nicht beendet, da rasten die Geschwister schon zum Stall zurück und schnappten sich die Trensen. Auf Edgars Pfiff erschien Rocko, ein gutmütiger Schimmel. Mit geschicktem Griff hatte der Junge das Pferd aufgetrenst und sprang auf seinen Rücken.

Als Malu Schneechen gerade die Trense überstreifte, galoppierte Edgar auf Rocko schon hinter dem schwarzen Pferd her.

»Angeber«, murmelte Malu und zog den Kinngurt an. »Aber wir lassen uns nicht abhängen, oder, Schneechen?«

Die Schimmelstute guckte Malu an, als wollte sie sagen, lass die Verrückten doch, wir zwei futtern erst mal gemütlich ein Häppchen Gras.

»Von wegen, los geht’s.« Malu schwang sich auf Schnee­chens Rücken und trieb die Stute zum Tor. Von den anderen war nichts mehr zu sehen, als sie den Feldweg erreichte. Edgar versuchte bestimmt die Abkürzung über die Felder zu nehmen, dann konnte er mit etwas Glück noch vor dem durchgegangenen Pferd an der Straße sein.

Malu beschloss den Weg zu nehmen, die beiden würde sie sowieso nicht mehr einholen. Sie drückte der Schimmelstute die Fersen in die Flanken und trieb sie in einen schnellen Trab. Noch immer fiel es Malu nicht leicht, ohne Sattel zu reiten. Sie bemühte sich das Gleichgewicht zu halten und presste die Oberschenkel zusammen. Nicht so fest, du musst locker bleiben, hörte sie Edgars Stimme in Gedanken. Seit knapp einem Jahr versuchte er ihr das Reiten beizubringen. Nachdem sie ihren Bruder unter sehr ungewöhnlichen (um nicht zu sagen mysteriösen!) Umständen kennengelernt hatte, hatte sich ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Sie war mit ihrer Mutter aus einer kleinen Wohnung ins Schloss zu ihrer Großtante gezogen und – sie hatte drei eigene Pferde: das alte Rennpferd Papilopulus, Schneechen, die einäugige Schimmelstute, und Lapislazuli, das hübscheste Fohlen, das die Welt je gesehen hatte.

Malu gab Schneechen das Kommando zum Galopp. So ließ es sich wesentlich leichter auf dem Pferderücken sitzen als beim harten Trab. Sie beugte sich über den Hals der Stute und genoss das Gefühl der Freiheit – es gab einfach nichts Schöneres, als im Galopp dahinzufliegen!

Doch dann wurde Malu abrupt in die Wirklichkeit zu­­rückgeholt. Ein paar hundert Meter vor ihr rannte der dun­­kelhaarige Mann, der allerdings inzwischen merklich langsamer geworden war. Der Rappe hatte anscheinend eine Pause eingelegt und stand mitten auf dem Weg. Sein Kopf ruckte immer wieder nervös nach oben.

Da ertönte plötzlich ein lautes Hupen hinter Malu. Schneechen machte vor Schreck einen Satz zur Seite und beschleunigte ihr Tempo. Malu kam auf dem glatten Pferderücken ins Rutschen, panisch klammerte sie sich an die Mähne, versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen und gleichzeitig Schneechen zum Anhalten zu bewegen. Das Hupen wurde heftiger. Motorgeräusche waren zu hören. Endlich hatte Malu die Kontrolle über Schneechen zurück, sie brachte die Stute zum Stehen und wendete das Pferd.

Ein rotes Cabrio ruckelte über den holprigen Feldweg auf sie zu. Von der Frau am Steuer war nicht viel mehr zu sehen als eine riesige Sonnenbrille und ein pinkes Kopftuch mit Blumenmuster. Wieder drückte die Fahrerin mit aller Kraft auf die Hupe. Was war denn mit der los? Die hatte ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Malu dachte nicht daran den Weg freizumachen. Mit ihrem Lärm würde die Wahnsinnige das Pferd erst recht zur Straße scheuchen.

Das Cabrio hielt einen Meter vor Schneechen, die unruhig auf der Stelle tänzelte. Die Frau zog sich mit beiden Händen an der Windschutzscheibe ein Stück nach oben. »Caramba! Du da, was fällt dir ein, mach den Weg frei«, schimpfte sie und wedelte mit der Hand, als wäre Malu eine lästige Fliege.

»Hier können Sie jetzt nicht lang fahren. Ein Pferd ist weggelaufen und mein Bruder und noch jemand versuchen es einzufangen«, erklärte Malu.

»Was glaubst du, warum ich hier bin?! Das ist mein Pferd. Also weg da!«

Malu stutzte. Dieses wunderschöne Pferd gehörte dieser furchtbaren Frau?! Das Leben war einfach ungerecht!

»Wenn Sie weiterfahren und nicht mit dieser Huperei aufhören, treiben Sie Ihr Pferd auf die Landstraße. Und da wird es mit ziemlicher Sicherheit überfahren. Oder wollen Sie es vielleicht loswerden?«

Das Gesicht der Frau wurde fast so pink wie ihr Kopftuch. »Du unverschämtes Kind! Geh sofort zur Seite.« Sie ließ sich zurück in den Sitz fallen und drückte aufs Gaspedal. Das Auto machte einen Satz nach vorne und Malu musste sich mit Schneechen auf dem Grasstreifen in Sicherheit bringen. Die Frau war doch total verrückt! Wenigstens hatte sie aufgehört zu hupen, während sie den Weg herunterbretterte. Aber auch das nützte nichts. Als das schwarze Pferd das Cabrio näherkommen sah, bäumte es sich auf, machte kehrt und galoppierte in wilden Sprün­gen davon.

Der fremde Mann, der das Pferd schon fast erreicht hatte, drehte sich erbost um. Aber als er das rote Cabrio entdeckte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck augenblicklich zu einer undurchdringlichen Miene. Eine Staubwolke hüllte das Auto ein, als die Frau abrupt bremste und den Mann einsteigen ließ, dann brausten sie weiter, dem Pferd hinterher.

Malu drückte Schneechen die Fersen in die Flanken und nahm die Verfolgung auf. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass Edgar schnell genug gewesen war und die Landstraße schon erreicht hatte.

Als Malu die Kurve um das Wäldchen nahm, durchströmte sie eine Welle der Erleichterung. Ihr Bruder stand mit Rocko quer auf dem Weg und hatte so den Zugang zur Landstraße blockiert. Der schwarze Ausreißer hatte in gebührendem Abstand gestoppt und lief unruhig hin und her. Auch die Frau hatte wohl langsam begriffen, dass sie sich keinen Gefallen damit tat, wenn sie ihr Pferd weiter vor sich herjagte und hatte den Motor abgestellt. Jetzt zog sie Kopftuch und Sonnenbrille ab, strich sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht und nahm dem Mann auf dem Beifahrersitz das Halfter aus der Hand.

Malu ließ Schneechen anhalten und beobachtete die Frau, während sie aus dem Auto stieg. Sie war vielleicht etwas jünger als ihre Mutter und machte einen sportlichen, aber trotzdem ziemlich eleganten Eindruck. Der karamellfarbene Hosenanzug saß wie angegossen und die goldenen Ohrringe glänzten mit den Nieten an ihren schwarzen Stiefeln um die Wette. Zielstrebig ging sie auf das nervöse Pferd zu. Ob die wirklich glaubte, dass sie das Tier so einfangen konnte?

Die Frau schien daran allerdings keinerlei Zweifel zu haben und wusste anscheinend genau, was zu tun war. Sie senkte den Kopf und redete beruhigend auf den Rappen ein, während sie sich ihm seitlich näherte. So schaffte sie es, nah genug an das Pferd heranzukommen. Sekunden später hatte sie ihm das Halfter übergestreift und klopfte dem Tier auf den Hals. Dann warf sie dem Mann im Auto einen triumphierenden Blick zu.

Malu war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Ablehnung. Für Edgar schien das keine Frage zu sein. Er trabte auf Rocko heran und seine Augen funkelten vor Begeisterung.

»Wahnsinn, wie Sie das gemacht haben. Und was für ein wunderschönes Pferd!« Er konnte seine Augen gar nicht von der schwarzen Schönheit lassen. »Gehört das Ihnen?«

»Oh ja.« Sie drehte sich zum Wagen und schnippte mit den Fingern. »Pedro, bring Dahab zurück.« Dann wandte sie sich wieder Edgar zu. »Danke, dass du ihr den Weg ver­sperrt hast. Nicht auszudenken, wenn sie auf die Straße ge­­raten wäre.«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, raste ein Lastwagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei.

»Keine Ursache. Hab ich doch gern gemacht.« Edgar sprang vom Pferd. »Ich bin übrigens Edgar von Funkelfeld.«

»Ah, der junge Schlossherr höchstpersönlich.« Die Frau lächelte und hielt ihm geziert ihre Hand entgegen. »Alba Sofia Horapez. Ich logiere für eine Woche im Reithotel. Und die Araberstute hier heißt Dahab, das bedeutet auf Arabisch Gold.«

»Ein passender Name«, säuselte Edgar.

Malu verdrehte die Augen. Sie hatte sich ganz klar dafür entschieden, die Frau nicht leiden zu können, auch wenn die sich noch so gut mit Pferden auskannte. Und wenn ihr Bruder so weitermachte, dann konnte er ihr auch gestohlen bleiben. Ich bin übrigens Edgar von Funkelfeld – Pah, offiziell hieß ihr Bruder immer noch Edgar Buchheim, denn er hatte sich gar nicht umbenannt, nachdem er he­­raus­­gefunden hatte, dass er ein echter Funkelfeld war. Noch dazu war es ihre Idee gewesen, der Stute den Weg ab­­­zu­­schneiden!

Aber jetzt wusste sie wenigstens, mit wem sie es zu tun hatte. Das war also die Besitzerin der wertvollen Araber­herde, die den Sommer auf der Pferdeinsel verbringen sollte. Wenn die Tiere nur halb so edel aussahen wie diese Dahab, war das bestimmt ein prachtvoller Anblick!

Der junge Mann hatte das Pferd übernommen und führte die Araberstute, die sich anscheinend in ihr Schicksal gefügt hatte, hinter sich her zum Schloss zurück.

Malu wendete Schneechen und trat ebenfalls den Rück­weg an. Das konnte ja heiter werden – der erste Gast im Reithotel Funkelfeld und dann gleich so eine eingebildete Tussi. (Hoffentlich war das kein Zeichen!)

Malu hatte Schneechen gerade die Trense abgenommen, als Edgar mit Rocko am Offenstall eintraf.

»Was für ein Wahnsinnspferd!« Mit einem Satz sprang er ab. »Was würde ich dafür geben, wenn ich so eins hätte.«

»Halt dir die Ohren zu, Rocko«, sagte Malu an den Schimmel gewandt.

Edgar lachte und gab Rocko einen Klaps aufs Hinterteil, als Zeichen dafür, dass er gehen konnte. »Nichts für ungut, mein Alter.«

»Wusstest du, dass heute schon jemand anreist?«, fragte Malu ihren Bruder.

Bin so happy, wenn du morgen hier bist. Alle sind dooooof!!!

Bevor sie ins Bett ging, riss Malu das Fenster weit auf. In der Nacht würde es ja hoffentlich etwas abkühlen.

Als sie schon fast eingeschlafen war, riss sie eine vertraute Musik aus ihrem Dämmerzustand. HEY GIRL, LET ME KNOW. Lea.

Malu tastete nach ihrem Handy und wischte zu den Nachrichten.

Lea:

War bis eben noch mit Mama bei Tante Gerda, du weißt ja, absolutes Handyverbot!! Hab alles gepackt. Freu mich!!! Die Ferien werden der Hammer - ich habe DIE Idee. Alles Weitere morgen. See you

Malu:

Bin super gespannt!!! Schlaf gut und bis morgen!!

Lächelnd legte Malu das Handy zurück und drehte sich zur Seite. Typisch Lea. Was mochte ihre Freundin wieder für verrückte Pläne haben? Kurz darauf war sie schon eingeschlafen.

Als Malu hochschreckte, war es draußen noch dunkel. Ihr T-Shirt klebte an der Haut. Was hatte sie geweckt? Sie lauschte. Leises Grillengezirpe drang durch das offene Fenster, aber davon war sie wohl kaum aufgewacht. Vielleicht hatte sie schlecht geträumt. Schnell zog sie sich ein trockenes T-Shirt an und legte sich wieder hin.

Es war immer noch unerträglich heiß im Zimmer. Ihre Hoffnung, dass die Luft sich in der Nacht abkühlte, hatte sich nicht erfüllt. Malu zog gerade das dünne Laken über die Schultern (ganz ohne konnte sie trotz Hitze nicht schlafen), als sie ein langgezogenes, schauderhaftes Heulen hörte. Kalt lief es ihr den Rücken herunter. Was zum Teufel war das?