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Wilfried A. Hary (Hrsg.)

STAR GATE – das Original: Die 11. Kompilation

„Die Bände 101 bis 110 der laufenden Serie STAR GATE – das Original – zusammengefasst!“


Nähere Angaben zum Herausgeber und Hauptautor siehe Wikipedia, Suchbegriff Wilfried A. Hary: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_A._Hary


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

STAR GATE – das Original:

 

Die 11.

Kompilation

 

Wilfried A. Hary (Hrsg.)

 

Impressum:

 

Urheberrechte am Grundkonzept zu Beginn der Serie STAR GATE - das Original: Uwe Anton, Werner K. Giesa, Wilfried A. Hary, Frank Rehfeld.

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de.

ISSN 1860-1855

 

Diese Fassung basiert auf den Romanen 101 bis 110

der laufenden Serie!

 

© 2019 by HARY-PRODUCTION

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und

Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

 

Lektorat: Werner Schubert

 

Titelbild: Lothar Bauer

Logo: Gerhard Börnsen

Coverhintergrund: Anistasius

 

Achtung: „STAR GATE - das Original“ ist eine eigenständige Serie, die nachweislich Jahre vor Serien ähnlichen Namens begann, wie sie im Fernsehen laufen oder liefen oder im Kino zu sehen sind oder waren! Daher der Zusatz „das Original“!

 

Vorwort

 

Die Serie STAR GATE – das Original existiert nun schon seit 1986(!). Einige Autoren sind daran beteiligt. Viele Leser schätzten das frühere Heftformat und genießen das Taschenbuchformat, in dem die Serie inzwischen erscheint, aber es gibt nicht wenige Leser, die immer wieder auch nach einem umfangreichen Buchformat verlangen, vergleichbar etwa mit den Silberbänden der Perry-Rhodan-Serie.

Für diese haben wir nun die nächste Kompilation geschaffen, basierend auf den folgenden Bänden der laufenden Serie:

 

101 »Das Relikt« Erno Fischer (SB)

102 »Das kosmische Geheimnis« Erno Fischer (SB)

103 »Arndt Soklund« Erno Fischer (AS)

104 »Die PSI-Bombe« Erno Fischer (LB)

105 »Das Mysterium« Erno Fischer (SB)

106 »Der Sturz von Lenshee« Frederick S. List (SB)

107 »Die Waffen des Krieges« Erno Fischer (SB)

108 »Der letzte Zeuge« Erno Fischer (SB)

109 »Stumme Schreie« Wilfried A. Hary (LB)

110 »Der Seelenfresser« Frederick S. List (LB)

(In Klammern: Abkürzung des jeweiligen Coverkünstlers des Originals!)

 

Viel Freude beim Lesen dieser immerhin wieder ganze 10(!) Bände umfassenden Kompilation!

Euer Wilfried A. Hary (Hrsg.)

 

STAR GATE – das Original – 101

 

Erno Fischer

Das Relikt

Unter dem Eis wartet es seit ewiger Zeit

- auf sein Erwachen!“

 

Heiko Chan und sein Freund Don Jaime am Südpol – in illustrer Gesellschaft: PSI-Menschen, auch ein wenig abfällig Mutanten genannt. Auf der Suche nach den sagenhaften Relikten aus grauer Vorzeit, die es angeblich unter dem ewigen Eis verborgen geben soll.

Durch Liberanto, als Arndt Soklund einst Konzernchef von Bionic Inc., der hier vor vielen Jahren die Stadt Atlantis City erbauen ließ, um seine Konzernzentrale herum, finden sie einen Zugang. Doch es gibt Probleme untereinander, und dann geraten sie in ein sogenanntes PSI-Feld, das ihnen arg zu schaffen macht – außer Liberanto, der ihnen den Tipp gibt, sich nicht dagegen zu wehren.

Aber das PSI-Feld blockiert die Fähigkeiten der Mutanten, auch die der kleinen, erst vierjährigen Lisa…

 

DIE HAUPTPERSONEN:

Heiko Chan und Don Jaime López de Mendoza Tendilla y Ledesma – der Survival-Spezialist und sein Freund kommen von einem Schlamassel in den nächsten.

Lisa – Das kleine Mädchen ist erst vier Jahre alt. Aber sie ist ein sogenannter PSI-Mensch.

Liberanto – Der Exterrorist heißt in Wirklichkeit Arndt Soklund und muss sich der veränderten Situation auf der Erde anpassen – und nicht nur dieser…

Nestor Hagen – Der ehemalige Sicherheitschef von WWF befreite Liberanto aus den Kerkern von Luna, zufällig unmittelbar vor der Invasion der Kyphorer. Niemand mag ihm trauen. Zu recht?

 

1

 

Die kleine, erst vierjährige Lisa Scott schrie wie am Spieß. Sie fuchtelte verzweifelt mit ihren kleinen Ärmchen herum und wollte sich nicht mehr beruhigen. Immer wieder rief sie dabei gellend nach ihrer Mutter.

Alle wussten, dass diese längst tot war, aber Lisa hatte immer behauptet, ihre Mutter sei dennoch ständig bei ihr. Nur Liberanto schien zu begreifen, was mit der Kleinen los war. Er ging vor ihr in die Hocke und schaute sie forschend an.

Plötzlich brüllte er so laut er konnte: »Lisa!«

Die Kleine erschrak und stockte mitten in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Liberanto an.

»Bitte, Lisa, deine Mama ist doch immer noch da!«, sagte dieser jetzt sanft.

Die Kleine schrie nicht mehr, sondern starrte nur noch. Ihr kleines, blasses Gesicht lief leicht bläulich an, weil sie vergaß zu atmen. Saß der Schock so tief?

Liberanto sprach weiter sanft und beruhigend auf sie ein: »Du kannst sie jetzt nicht mehr spüren, wegen dem PSI-Feld, verstehst du? Es blockiert uns alle, auch dich. Du bist jetzt ein ganz normales kleines Mädchen. Deine Mama kann sich dir gegenüber nicht mehr verständlich machen. Aber das ist nicht für lange.«

»Aber – aber …«, stammelte sie. »Aber dann ist Mama ganz viel traurig!«

»Nein, Lisa, denn sie weiß ja, dass es nicht für lange ist. Nur solange der verrückte Computer das PSI-Feld aufrechterhält. Er tut das aus Sicherheitsgründen. Weil er sonst meint, Angst haben zu müssen.«

»Aber – aber, er braucht doch keine Angst zu haben vor Mama!«

»Nein, vor der nicht, aber vielleicht vor den anderen? Du sagst doch selber immer, sie seien böse. Und der verrückte Computer muss sich eben vor ihnen hüten. Wenn er erst bemerkt, was für ein liebes, kleines Mädchen du bist, dann kannst du auch wieder mit deiner Mama reden. Die freut sich bestimmt schon ganz toll darauf.«

Die Kleine nickte: »Ja, ich auch!«

»Na, siehst du, Lisa: Es gibt also keinen Grund, traurig zu sein und zu weinen. Alles wird gut. Glaube mir, denn ich kenne den Computer. Der ist zwar ein wenig verrückt, aber er ist nicht böse. Das darfst du mir glauben.«

Abermals nickte die Kleine. »Ja, ich glaube dir, seltsamer Mann!«

Liberanto richtete sich wieder auf und nickte Don Jaime aufmunternd zu. Dieser bückte sich nach Lisa und nahm sie auf den Arm, was sie gern zuließ.

Sie war die einzige ohne Schutzanzug. Das erfüllte den asiatischen Survival-Spezialisten Heiko Chan jetzt doch mit Sorge. Aber als er nach den Helmanzeigen schielte und sah, dass sowohl die Luftzusammensetzung und der Luftdruck als auch die Temperatur angenehme Werte aufwiesen, beruhigte er sich wieder. Vorher hatte Lisa sich mit ihren PSI-Kräften geschützt. Jetzt, da diese blockiert waren, hätte sie sterben müssen, wäre alles noch so gewesen wie zuvor. Das brachte ihn allerdings auf einen anderen Gedanken: Hatte sich ihre Umgebung denn nicht drastisch geändert?

Soweit die Helmscheibe es zuließ, warf er einen Blick in die Runde – und erstarrte: Sie waren überhaupt nicht mehr in diesem sich steil nach unten schlängelnden Schlauch! Das hier war ein ebenerdiger, großzügig breiter Gang. Nicht rund, sondern eckig. Die Decke war geschätzte drei Meter über dem Boden. Die Wände sahen aus wie aus Felsen gehauen.

Das war ja, als befänden sie sich plötzlich unter dem ewigen Eis der Antarktis, sogar tief im Boden darunter? Aber wie waren sie überhaupt hierher gelangt?

Es muss geschehen sein, als das PSI-Feld spürbar wurde. Es hat uns dermaßen beeinträchtigt, dass wir nichts davon bemerkt haben!, dachte Heiko erschüttert.

Liberanto hatte ihn beobachtet. Er lächelte Heiko an. »Das siehst du schon richtig: Wir sind nicht mehr auf dem Weg nach unten, sondern haben dieses Ziel bereits erreicht!«

Heiko ging nicht darauf ein. Er wandte sich halb um die eigene Achse. Hinter ihnen verlief der Gang schnurgerade. Die Wände schimmerten matt. Das Licht reichte aus, um alles gut sehen zu können. So konnte er mindestens fünfzig Meter tief in den Gang hineinschauen, dessen Wände, Boden und Decke völlig glatt verliefen.

Er wandte sich wieder nach vorn. Auch in dieser Richtung sah es so aus. Der Gang schien keinen Anfang und kein Ende zu haben.

»Wo – wo sind wir?«, erkundigte er sich brüchig.

Die anderen waren jetzt auch auf den unerwarteten Ortswechsel aufmerksam geworden. Sie schauten alarmiert umher.

»Wir sind in der Tiefe. Der verrückte Computer – ich nenne ihn so, obwohl er eigentlich mit einem Computer kaum vergleichbar ist … Nun, er hat uns zu sich geholt.«

»Und wo ist er?«

»Den Rest des Weges müssen wir wohl zu Fuß zurücklegen. Ich weiß nicht, warum er das mit uns tut. Er spricht nicht zu mir, genauso wenig wie zu euch. Etwas, das ich eigentlich so nicht erwartet habe, obwohl der Kontakt mit ihm völlig abbrach, damals, nach der Vereisung von Atlantis City.«

»Was ist damals überhaupt passiert?«, hakte Heiko nach, aber Liberanto ließ sich zu seiner Enttäuschung nicht darauf ein. Er winkte nur ab und meinte zu Heiko:

»Komm mit mir an die Spitze. Ich rate allen, den Helm ganz abzunehmen. Den braucht ihr jetzt sowieso nicht mehr. Seht Lisa, die kann sich jetzt nicht mehr schützen, aber es ist auch nicht mehr nötig.«

Heiko löste wie Liberanto selbst den Helm und ließ ihn nach hinten klappen. Der Helm faltete sich automatisch zusammen. Obwohl er vorher so stabil ausgesehen hatte wie ein altmodischer Taucherhelm, bildete er jetzt eine Art Nackenkrause. Ein wahres Wunder der Technik, aber Heiko hatte sich an so etwas längst gewöhnt.

Nur Don Jaime folgte noch seinem Beispiel. Die anderen machten keinerlei Anstalten dazu. Liberanto schien es egal zu sein, und Heiko kam nun auch seiner Bitte nach, mit ihm die Spitze zu bilden. Was hatte Liberanto vor?

Heiko brauchte die Frage nicht laut zu stellen. Liberanto erklärte es ihm auch so. Dabei hörten alle anderen über die Außenmikrophone ihrer Spezialanzüge mit: »Wir gehen diesen Weg weiter. Damals habe ich mehrere Kilometer zurücklegen müssen, um mein Ziel zu erreichen. Der Tunnel, den ich benutzt habe, sah anders aus als dieser hier. Anscheinend gibt es mehrere, vielleicht ein regelrechtes Labyrinth.«

»Und wie willst du den richtigen Weg finden?«, erkundigte sich Heiko. Er wies nach vorn. »Ich meine, solange es keine Abzweigung gibt, ist alles klar, aber dann…?«

»Mach dir keine Sorgen, Heiko: Ich konzentriere mich auf den Weg – und du bitte auf alles andere. Ich wäre dir dankbar dafür.«

Heiko Chan verkniff sich die Frage: »Wieso ausgerechnet ich?« Eigentlich konnte er es sich denken: Liberanto traute niemandem, aber allen anderen wohl noch weniger als ihm. Vielleicht noch Don Jaime, aber der war ja mit Lisa beschäftigt, und das war auch durchaus nötig.

 

2


Es gab sogar jede Menge Abzweigungen, die sie hinter sich bringen mussten. Die abzweigenden Gänge sahen nicht anders aus als der Gang, den sie entlangschritten, und das PSI-Feld war nach wie vor allgegenwärtig.

Auch die anderen hatten unterdessen ihre Helme abgenommen. Sie blieben stumm, außer der blonden Survival-Spezialistin Nadine Prehti und Nestor Hagen, die sich immer wieder leise miteinander stritten, ohne dass Heiko Chan verstand, worum es eigentlich ging. Konnten sie das nicht unterlassen?

Heiko Chan fand inzwischen: Liberanto benahm sich irgendwie seltsam, eigentlich schon seit das PSI-Feld aufgetreten war, doch jetzt noch verstärkt. Er wirkte meistens geistesabwesend und nicht recht bei der Sache. Wenn er sprach, dann entweder zu Heiko Chan oder zu Nadine Prehti und Nestor Hagen gewandt. Letzteren zeigte er seinen Hass immer offener, indem er ihnen als ehemalige Repräsentanten der von ihm gehassten Konzerne einiges an den Kopf warf. Anscheinend hatte er bessere Ohren als Heiko Chan und wusste genau, worüber die beiden miteinander stritten. Es ging wohl um ihrer beider Rollen in den konkurrierenden Konzernen WWF und Flibo. Hagen verwandelte sich dabei mehr und mehr zu einer Art tickender Zeitbombe, auch noch durch Liberanto angeheizt. Er beherrschte sich zwar meisterlich, aber irgendwann würde seine Beherrschung nicht mehr reichen.

Heiko versuchte, sich nicht ständig vorzustellen, was dann geschah. Zumal er das alles als höchst unnötig erachtete. Aber er schritt nicht ein, sondern ließ alles laufen. Konnte es sein, dass Liberanto mit seinem eigentlich absurden Vorgehen gegen die beiden eine bestimmte Absicht verfolgte? Hing es gar damit zusammen, dass sie hier so lange unterwegs waren? Denn auch das ergab für Heiko nicht den geringsten Sinn: Der verrückte Computer, wie Liberanto ihn nannte, hatte sie über mehrere Kilometer aus dem schlauchartigen Gang durch das Eis in dieses Labyrinth hier unten teleportiert, wie auch immer, aber wieso nicht gleich zu sich? Wieso mussten sie noch so lange laufen?

Heiko Chan kam einfach nicht hinter den Sinn des Ganzen. Das war wohl der eigentliche Grund, wieso er sich noch aus allem heraushielt und abwartete.

Eine weitere halbe Stunde waren sie jetzt unterwegs. Heiko hatte schon den Verdacht, dass Liberanto sie womöglich sogar bewusst im Kreis führte. Was sollte das? Fand er den Eingang zum eigentlichen Zentrum des Labyrinths nicht mehr? Oder hatte es andere Gründe, die sie noch nicht ahnten?

Immer wieder warf Liberanto ihm jetzt scheue Blicke zu, als ob er die Gedanken Heikos lesen würde. Aber es geschah wohl eher, weil er Heiko noch immer nicht völlig traute. Immerhin hatte der asiatische Survival-Spezialist dem verhassten Konzern Mechanics angehört, an den er einst als Arndt Soklund sein gesamtes Konzernerbe verloren hatte.

Grit und Britt Londesdale beachtete er überhaupt nicht, als wären sie gar nicht vorhanden. Dafür gab es keinen Grund, aber die beiden jungen Frauen taten auch nichts, um diesen Zustand zu ändern. Sie verhielten sich nach wie vor neutral. Was vor allem Grit sehr schwerzufallen schien, wenn Heiko das richtig beurteilte. Die Neutralität ihrer Zwillingsschwester war jedenfalls überzeugender dargestellt. Heiko kannte beide ja überhaupt nicht, war also auf Vermutungen angewiesen.

Karl Berens, den Heiko insgeheim den »Gestaltwandler« nannte, weil er in einem gewissen Rahmen beinahe jede beliebige Persönlichkeit simulieren konnte, hielt sich aus allem heraus. Das tat er anscheinend am liebsten. Wäre er nicht mit dabei gewesen, hätte es keinen Unterschied gemacht.

Don Jaime kümmerte sich die ganze Zeit rührend um die kleine Lisa, die ihn anscheinend gern als Vaterersatz akzeptierte. Inzwischen hatte sie sich ganz und gar beruhigt. Sie schaute sich nur immer wieder mit großen, staunenden Kinderaugen um, als könne sie nicht wirklich begreifen, was um sie überhaupt geschah.

Heiko überlegte im Stillen, wie es wohl für die Mutanten sein mochte, auf einmal vollkommen auf ihre PSI-Fähigkeiten verzichten zu müssen. Sie zeigten jedenfalls überhaupt keine Reaktion darauf. Konnte es sogar sein, dass sie erleichtert darüber waren? War für sie ihre Extrabegabung eher ein Fluch denn ein Segen?

Er wagte es nicht, diesbezüglich Fragen zu stellen, und schielte wieder nach Lisa. Eigentlich konnte man nur ihr eine Beeinträchtigung ansehen. Sie war ein besonders fähiger Mutant und hatte trotz ihrer Kindlichkeit bereits gelernt, mit ihren Kräften umzugehen. Vor allem eben, weil sie glaubte, ihre verstorbene Mutter sei ständig bei ihr. Wann immer sie etwas nicht begriff, sprang sozusagen der Geist ihrer Mutter ein. Das fehlte ihr jetzt deutlich.

In der Zwischenzeit war Heiko tatsächlich zu einer Art Führer geworden. Schuld daran war die besondere Bevorzugung durch Liberanto, der sich selber nunmehr als eine Art Berater zu fühlen schien.

Liberanto selbst wurde jetzt immer öfter so geistesabwesend, dass sein Blick leer wurde und er langsamer ging. Manchmal drohte er zusammenzubrechen, doch dann klärte sein Blick sich wieder, und er tat ganz so, als sei nichts geschehen.

Heiko wusste, dass niemand etwas unternehmen konnte, falls Liberanto wirklich einmal zusammenbrach. Auch die Mutanten nicht. Wie denn auch? Zumal sie sich seltsam scheu Liberanto gegenüber benahmen. Auch das eigentlich kein Wunder, seit das PSI-Feld sie beeinträchtigte, das an Intensität weder verlor noch zunahm.

Heiko sah deutlich: Keinem war Liberanto noch geheuer.

Der Weg wurde plötzlich unterbrochen. Der unterirdische Gang war hier teilweise verschüttet. Bislang war das Gangsystem mehr oder weniger unbeschädigt erschienen. Doch hier stapelte sich der Schutt bis fast zur Decke.

»Ich schlage vor, wir kehren um«, murmelte Liberanto tonlos. »Ich muss einen Umweg suchen.«

Heiko zuckte die Achseln und setzte sich wieder wortlos an die Spitze. Sie gingen den Weg zurück, bis sie zu einer Kreuzung kamen.

Anscheinend führt er uns doch nicht im Kreis, überlegte Heiko. Aber dann ist das Bunkersystem groß genug, um die gesamte ehemalige Bevölkerung von Atlantis City und vielleicht sogar noch mehr Menschen aufzunehmen.

Obwohl es keinerlei Räume zu geben schien, sondern nur diese schier endlosen und verschachtelten Gänge. Ein Labyrinth, in dem jeder Ortsunkundige sehr bald die Orientierung verlor.

Ohne Liberanto würden sie den Ausgang nicht mehr finden. Davon war Heiko überzeugt. Hatte Liberanto sie deshalb so lange herumgeführt, damit er für sie noch unentbehrlicher wurde?

Heiko schnappte einen Blick von Liberanto auf. Der Exterrorist lächelte seltsam. Heiko zuckte unwillkürlich zusammen. Er lauschte wieder in sich hinein. Nein, mittels dieses PSI-Feldes würde man seine Gedanken nicht anzapfen können. Es war ein eher passives Feld, wie es schien – und hatte Liberanto nicht behauptet, die Gedanken von normalen Menschen wären sowieso nicht so ohne Weiteres von Mutanten zu lesen? Gab es eine Art natürlicher Abschirmung, die nur die Lesbarkeit von ganz besonders intensiven Gedanken ermöglichte?

Dieser Blick und das Lächeln von Liberanto waren reiner Zufall. Liberanto kannte seine Gedanken nicht. Er erahnte sie höchstens!

Heiko Chan blieb plötzlich stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sie hatten sich nach links gewandt. Ein stummer Wink Liberantos hatte für diese Richtungsänderung genügt.

Die anderen blieben ebenfalls stehen. Es tat den Füßen gut, einmal nicht mehr laufen zu müssen. Doch das war nicht der Grund für den Stopp.

Zu ihren Füßen rumorte es. Aus dem Boden drangen dumpfe, unheimliche Laute. Es hörte sich an, als wären titanenhafte Maschinen dort unten, im Schoß der Erde, angelaufen. Das Grollen drang bis zu ihnen herauf.

Heiko spürte eine leichte Gänsehaut auf dem Rücken.

Auf einmal fühlte er sich in dem Labyrinth, das ihm als ein weitverzweigtes Bunkersystem erschien, wie in einer Mausefalle. Unentrinnbar eingesperrt. Über sich Tausende von Tonnen Erde, Gestein und noch viel mehr Eis. Unter sich die Relikte aus grauer Vorzeit, die auf gespenstische Weise wieder zu arbeiten begannen.

Er schluckte schwer und sah nach den anderen. Ihre Gesichter erschienen unnatürlich bleich. Auch das Gesicht von Liberanto. Er grinste allerdings. Es wirkte auf Heiko hämisch wie das Grinsen eines Teufels, der seine Opfer endgültig in der Falle wusste und sie nur noch eine Weile quälen wollte, ehe sie der Verdammnis anheimfielen.

Hagen brüllte auf. Er zog seinen Strahler so schnell, dass man die Bewegung nicht mit den Augen verfolgen konnte. Zwar war der von den Kyphorern gestohlene Strahler nicht schussbereit gewesen, aber Hagen brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um ihn zu entsichern.

Der sonnenheiße Strahl war scharf gebündelt und nicht dicker als eine Kugelschreibermine. Dafür war seine Wirkung am Auftreffpunkt umso verheerender.

Der Felsen zerplatzte donnernd. Die Trümmer fetzten nach allen Seiten und sirrten den Menschen um die Ohren. Alle warfen sich zu Boden. Nur Hagen und Liberanto blieben stehen.

Liberanto lachte gehässig. »Reichlich nervös, wie mir scheint, was? Seit wann schießt du auf harmlose Schatten?«

»Da war …«, hub Hagen zu seiner Verteidigung an.

»… nichts!« unterbrach Liberanto ihn. »Absolut nichts, du hirnloses Soldatenmonster. Siehst aus wie der Held aus den Visio-Programmen. Dein Blaster sitzt reichlich locker, Sicherheitschef. Fürchtest du dich vor dem Satan, dass er deine verfluchte Seele holt?«

Hagen brüllte abermals. Doch diesmal hatte er ein echtes Ziel für seinen Strahler: Liberanto! Sein Daumen lag auf dem Auslöser. Die Abstrahlmündung zeigte auf den Exterroristen.

Doch als der sonnenhelle Strahl ins Ziel rasen wollte, stand Liberanto nicht mehr an seinem Platz. Er hatte etwa zwei Meter von Hagen entfernt gestanden. Hagen hatte ihn völlig unterschätzt. Das rächte sich nun. Ehe er seinen Strahler herumreißen konnte, traf Liberantos Fußspitze das Handgelenk des Hünen.

Der Schuss ging in die Decke und brannte ein Loch hinein. Ein Funkenregen ging auf die beiden nieder, gefolgt von einem glühendheißen Steinschlag.

Sie kümmerten sich nicht darum.

Hagens Strahler beschrieb einen hohen Bogen und flog davon. Der ehemalige Sicherheitschef von WWF hatte keine Zeit, sich um den Schmerz in seinem Handgelenk zu kümmern. Liberanto wirbelte behände heran. Der Schutzanzug schien ihn in keiner Weise zu behindern. Er lag am Ende des Bewegungsablaufs fast waagerecht in der Luft. Ein Absatz der Sicherheitsschuhe zielte genau nach dem Kehlkopf des Gardisten. Wenn er traf, war Hagen erledigt. Der zweite Absatz sollte im Magen landen.

Ein vergleichsweise harmloses Ziel.

Nestor Hagen vollführte eine halbe Drehbewegung wie ein Stierkämpfer in der Arena. Liberanto zischte an ihm vorbei und krümmte sich gleichzeitig zusammen, weil er den Schlag des Survival-Spezialisten erwartete.

Doch der Schlag erfolgte gar nicht. Hagen hatte etwas anderes im Sinn. Er packte mit der rechten Hand zu und erwischte den Haarschopf des Kleineren.

Diesmal schrie der Exterrorist wie am Spieß. Doch Hagen hatte sein Handgelenk überschätzt. Der Schmerz machte ihm zu schaffen.

Nur einen Moment lang hing Liberanto scheinbar hilflos in seinem Griff, dann trat der drahtige Exterrorist mit aller Kraft zu.

Hagen ließ los und wollte dem Tritt ausweichen.

Das gelang ihm nur zum Teil. Der harte Stiefel seines Gegners landete an seiner Hüfte.

Hagen prallte zurück und kippte nach hinten um. Doch der Sturz war nur eine Finte.

Liberanto machte keine Abwehrbewegung. Hagen drehte sich im Fallen, um im Liegestütz zu landen. Gleichzeitig nahm er mit den Beinen Liberanto in die Zange. Der Exterrorist wusste kaum, wie ihm geschah, da landete Hagen am Boden, ohne seinen Gegner aus der Fußangel zu lassen, federte wieder empor und wirbelte halb um die eigene Achse. Das genügte. Liberanto flog durch die Luft und krachte ebenfalls zu Boden.

Hagen zog die Knie zur Brust und machte die »Kippe«. Mit artistischer Behändigkeit kam er auf die Beine. Der schwere Schutzanzug war für ihn kein Problem.

Und es gab keine Atempause für ihn. Mit den Füßen voran und einem grausamen Lächeln um die Lippen stürzte er sich auf Liberanto. Dabei berechnete er dessen Ausweichbewegung im Voraus und traf ihn gezielt im Unterleib.

Heiko, der das sah, drehte sich schier der Magen um. Der Kampf der beiden wurde mit einer solchen Brutalität und Gnadenlosigkeit geführt, als ginge es tatsächlich um Leben und Tod. Der Hass war beiderseitig.

Liberanto wurde zwar getroffen, doch die Wirkung war nicht ganz im Sinne Hagens. Seine Füße trafen auf eisenharte Muskeln. Liberantos Hände umklammerten im nächsten Augenblick Hagens Gelenkfesseln. Liberanto bäumte sich auf.

Hagen wurde emporgeschleudert wie von einem Trampolinfell. Sein Körper blieb dabei gestreckt und wirkte gespannt wie eine Stahlfeder. Er wirbelte rückwärts durch die Luft und landete nach dem Salto auf den Füßen.

Er konzentrierte sich voll und ganz auf seinen ungeahnt harten Gegner. Deshalb kam das Eingreifen Nadine Prehtis für ihn völlig überraschend. Sie als ehemalige Survival-Spezialistin von Flibo konnte sich dieses Eingreifen durchaus leisten.

Sie stand auf einmal hinter Hagen und nahm ihn in den doppelten Nelson. In einer Reflexbewegung wollte Hagen aus dem Griff tauchen, doch er reagierte eine Zehntelsekunde zu spät. Der Griff war bereits geschlossen. Wenn er sich jetzt zu befreien versuchte – beispielsweise mit einer schnellen Rolle vorwärts –, konnte er sich das Genick brechen.

Liberanto sprang auf die Beine und wollte auf Hagen eindringen. Schaumflocken flogen von seinem strichdünnen Mund. Die Augen waren geweitet und blutunterlaufen. Das Gesicht war eine Grimasse grenzenlosen, tödlichen Hasses.

Karl Berens und Heiko Chan griffen gleichzeitig nach Liberanto. Dieser wollte sich gewaltsam losreißen. Er sah nur noch Hagen und wollte den ehemaligen Sicherheitschef vernichten.

In Hagens Gesicht war jetzt kein Hass mehr zu lesen, sondern Erschrecken. Vielleicht hätte er den Kampf gewonnen, obwohl seine körperliche Überlegenheit erstaunlicherweise nur hauchdünn war. Liberanto machte fehlende Kraft durch überlegene Gewandtheit wett.

Jedenfalls wäre einer der beiden nicht mit dem Leben davongekommen. Grund genug für die anderen, einzugreifen. Außer den Zwillingen, die sowieso nichts hätten ausrichten können, und Don Jaime, der Lisa auf den Armen hielt, die sich ängstlich an ihn klammerte und das Geschehen mit schreckgeweiteten Augen verfolgte.

Es dauerte Sekunden, in denen Liberanto schweigend und verbissen versuchte, weiter vorwärts zu stürmen, bis er endlich begriff, dass man ihn festhielt.

Sofort änderte er seine Taktik. Er sprang empor und schlug einen Salto rückwärts. Ehe die beiden nachfassen konnten, war er bereits außer Reichweite.

Heiko konnte sich auf seine Kampfkraft etwas einbilden. Er hatte schon ganz andere Gefahren überstanden, doch Liberanto war schwerer festzuhalten als ein nasser Aal. Heiko und Karl Berens prallten gegeneinander und kamen sich gegenseitig ins Gehege.

Im nächsten Augenblick setzte Liberanto mit einem gewaltigen Sprung über sie hinweg. Sein Ziel war wieder Nestor Hagen, der noch immer von Nadine Prehti festgehalten wurde. Hagen würde sich diesmal nicht wehren können. Er war hilflos ausgeliefert.

»Stopp!«, rief Heiko mit messerscharfer Stimme. »Liberanto, komm zu dir!«

Liberanto hatte seinen Todfeind erreicht und wollte soeben beide Fäuste in das verhasste Gesicht hämmern.

Er stockte mitten im Schlag. Seine Fäuste verfehlten das Ziel. Liberanto flog mit vollem Körpergewicht gegen Hagen und Nadine Prehti und brachte die beiden beinahe zu Fall. Nadine Prehti musste loslassen, um Hagen nicht das Genick zu brechen.

Der ehemalige Sicherheitschef brauchte sich allerdings nicht mehr zur Wehr zu setzen. Liberanto stand da mit herabhängenden Armen; noch immer waren seine Augen blutunterlaufen. Doch der Hass war aus seinem Gesicht gewichen.

Langsam wandte er sich um. Sein Blick suchte Heiko.

Da stand der asiatische Survival-Spezialist, mit leicht gespreizten Beinen. Seine Augen schienen Blitze zu schleudern und wirkten dabei kalt wie zwei Gletscherseen. Eine unbeschreibliche Mischung, die Liberanto in ihren Bann zu ziehen schien.

Derweil rannte Nestor Hagen davon. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Es sah aus, als würde er feige das Weite suchen, doch Hagen hatte etwas ganz anderes im Sinn: nämlich seinen verlorenen Strahler!

Das wurde Heiko erst bewusst, als Hagen sich danach bückte und ihn blitzschnell an sich nahm, um ihn auf Liberanto zu richten.

»Jetzt ist es genug!«, fauchte er. Er ging sofort auf ihn zu und streckte seine Rechte aus. »Ja, Hagen, es ist wirklich genug. Ihr beide habt einiges angerichtet. Wenn ich mich recht erinnere, begann es mit einem unkontrollierten Strahlschuss, oben, vor dem Eingang in die Tiefe. Besser, wenn du mir jetzt die Waffe gibst, nicht wahr?«

»Das würde dir so passen, asiatischer Hurensohn! Der kalte Krieg der Konzerne ist zum Waffenstillstand unter den Überlebenden der Invasion der Kyphorer geworden. Alles sieht danach aus, als wären wir aufeinander angewiesen, weil die Erde von dieser fremden Macht besetzt gehalten wird. Eine Täuschung, wie ich finde. Während des Waffenstillstandes hat sich die Situation nur nach außen hin geändert. Ihr bleibt Feinde. Es wird wieder deutlicher werden, wenn die Besatzer davongejagt wurden und die Konzerne wieder versuchen, sich zu etablieren. Das wird nicht ohne Blutvergießen abgehen.«

»Sehr interessant, Hagen, aber bis es so weit ist, kannst du mir trotzdem den Strahler geben«, meinte Heiko Chan ungerührt.

Hagen sprang einen Schritt zurück. »Komm mir nicht zu nahe, Hurensohn! Ich begreife, dass ihr ein Komplott gegen mich geschmiedet habt. Sogar die verfluchte Flibo-Hure Nadine Prehti gehört dazu.« Hagen spuckte zu Boden. »Sie ist die Energie eines Strahlschusses überhaupt nicht wert. Ihr verfluchten Spießgesellen dieses Terroristen, der sich hochtrabend Liberanto nennt! Natürlich werdet ihr alles tun, was er von euch verlangt. Aber meine Order lauten anders. Ich soll bei Liberanto bleiben, nicht von seiner Seite weichen. Bevor ihr mich allerdings mit Hilfe dieser Relikte aus grauer Vorzeit umbringt, werde ich euch beweisen, dass man so mit einem Sicherheitschef der WWF nicht umgehen kann. Ich gebe ab sofort hier die Befehle, niemand anderer! Und ich werde jeden töten, der sich mir widersetzt.«

»Ein Komplott gegen dich?« Heiko schüttelte über so viel Borniertheit den Kopf. Aber er war nicht lebensmüde und blieb stehen.

Liberanto lachte gellend. Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Das gab Hagen den Rest. Die Abstrahlmündung seines Strahlers zeigte auf Liberanto, als er abdrückte.

Diesmal gelang es dem ehemaligen Terroristen nicht mehr, rechtzeitig dem Schuss auszuweichen. Der dünne Energiestrahl, der wie ein Blitz aus der Waffe zuckte, traf ihn voll und hüllte ihn für einen Augenblick in ein waberndes Glutfeld.

Die Stichflamme sank zusammen.

Liberanto krümmte sich vor Lachen. Sein Sicherheitsanzug hing nur noch in Fetzen von seinem ansonsten nackten Körper.

Der zweite Schuss, der dritte, der vierte…

Liberanto lachte, während die Energien seinen Körper umtosten, alles an ihm verdampften, doch seinen nackten Körper völlig unversehrt ließen und das Gestein des Bodens zum Kochen brachten.

Die anderen flohen vor der Hitze, während Nestor Hagen das fünfte Mal schoss.

Nur Heiko blieb an seinem Platz, einigermaßen geschützt von dem Sicherheitsanzug, so dass er die ungeheure Hitze nur im Gesicht spürte. Fassungslos verfolgte er das Geschehen. Liberanto schien völlig unverletzbar.

Hagen schlug die linke Hand vor das Gesicht. Die Rechte mit dem Strahler zitterte. Seine Linke strich über das Gesicht, als wolle er es wie eine Maske herunterziehen. Das Weiße seiner Augen wurde sichtbar. Die Haut bildete tiefe Gräben. Sein Blick war starr. Die Rechte mit der Waffe zitterte stärker. Die Linke erreichte die Mundpartie. Ein dumpfer Laut entrang sich seiner Kehle.

Nestor Hagen sank auf die Knie. Die Waffe polterte zu Boden. Er schlug die Arme um sich, als friere er auf einmal. Sein Körper pendelte hin und her.

»Verdammt!«, murmelte er brüchig. »Verdammt!«

Heiko hob den Strahler sicherheitshalber schleunigst auf und wog ihn wie prüfend in der Hand.

Liberanto lachte nicht mehr. Er schritt auf nackten Sohlen über das glutflüssige Gestein. Die Hitze konnte ihm nichts anhaben.

»Wir sollten endlich weitergehen«, sagte er hart. »Wir haben genug Zeit vertrödelt. Schließlich haben wir noch Wichtigeres zu tun, nicht wahr?«

Er schritt tiefer in den Gang hinein, begleitet vom dumpfen Grollen der unterirdischen Maschinenanlage. Dabei kam er dicht an Hagen vorbei.

Der Sicherheitsmann hielt in der Bewegung inne und presste die Unterarme in seinen Bauch. Sein Gesicht sah erschreckend aus. Nestor Hagen war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Mit starrem Blick beobachtete er Liberanto. Dann schüttelte er den Kopf, dass die Haare flogen, ließ die Arme sinken und sprang auf die Beine.

Nestor Hagen stand breitbeinig und schwankend da und ließ den davongehenden Liberanto nicht aus den Augen.

»Warum?«, brüllte in diesem Moment Heiko Chan anklagend. »Liberanto, ich will es wissen: Warum hast du das getan?«

Liberanto blieb tatsächlich stehen und wandte sich langsam zu ihm um. Hagen ignorierte er einfach.

»Das fragst du noch? Ja, hast du es noch immer nicht begriffen? Dies war ein Test, nichts weiter. Ich musste testen, wie weit Nestor Hagen zu gehen bereit war. Deshalb habe ich ihn die ganze Zeit über provoziert. Nadine hat mir sogar ungewollt geholfen dabei. Nestor Hagen ist alles andere als ein stabiler Charakter. Es ist der innere Zwiespalt, der ihn so gefährlich macht. In ihm schlummern ungeheure Kapazitäten an PSI, doch sie sind versiegelt, weil sie für ihn selber zu gefährlich wären. Und das macht ihm zu schaffen.«

»Ein – ein … Test?« Heiko Chan konnte und wollte es nicht glauben.

»Ja«, bestätigte der splitternackte Liberanto ungerührt. »Nicht für euch, sondern für den verrückten Computer. Es war wichtig, ihn wissen zu lassen, vor wem er sich tatsächlich hüten muss. Sonst würde er uns vielleicht gar nicht zu sich lassen.«

»Dann erledigen wir Hagen einfach an Ort und Stelle«, schlug jetzt Nadine Prehti eiskalt vor. »Dann wäre das Problem ein für alle mal erledigt. Der Clouzot können wir ja sagen, dass uns nichts anderes übrig blieb, weil Hagen total aus dem Ruder lief. Und gelogen wäre es auch nicht.« Sie schaute sich beifallheischend um. »Na, wenn es keiner von euch erledigen will, tu ich es halt. Mir macht es nichts aus.«

»Nein!«, entschied Liberanto, und es hörte sich nicht so an, als würde er mit Gegenrede rechnen. »Heiko hat recht: Es ist genug! Ich gehe davon aus, dass nicht nur der verrückte Computer jetzt weiß, welches Risiko Hagen darstellt, sondern … er selber ebenfalls! Und das sorgt möglicherweise dafür, dass er nicht mehr länger ein Risiko sein wird.«

»Möglicherweise, möglicherweise!«, äffte die Blondine unbeeindruckt nach. »Gut, ich will dann noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber beschwere dich niemals bei mir, wenn du endlich einsehen musst, eine Fehlentscheidung getroffen zu haben.«

Heiko wunderte sich darüber, dass die Prehti so schnell die Waffen streckte. War es, weil Liberanto ein äußerst beeindruckendes Schauspiel als Unverletzbarer geboten hatte? Ja, es schien sie enorm zu beeindrucken, was Heiko jedoch von sich selber nicht behaupten konnte. Für ihn war der ganze Ablauf eher geeignet gewesen, jetzt noch misstrauischer zu sein gegenüber Liberanto…


*


Das Grollen und Rumoren unter ihren Füßen hatte zugenommen, beinahe mit jedem weiteren Schritt.

Heiko schaute sich um und wurde unwillkürlich langsamer. Der Gang hatte sich erweitert, unmerklich zwar nur, aber ihm fiel es jetzt auf, und er konnte sich auf sein Augenmaß sicherlich verlassen. Bewegten sie sich endlich auf das Zentrum der Bunkeranlage zu? Wusste jetzt der verrückte Computer genug über seine Gäste, um es zu wagen, sie näher an sich heran zu lassen?

Dabei wunderte ihn allerdings, wieso Liberanto nicht längst die Waffen eingesammelt hatte. Das hätte doch sicherlich das Sicherheitsbedürfnis des verrückten Computers noch besser befriedigt?

Und wo war eigentlich seine eigene Waffe?

Das allerdings fiel ihm jetzt erst ein: Liberanto hatte doch eine Waffe bei sich getragen. Wieso war diese nicht detoniert, als Hagen auf ihn schoss?

Er schaute auf den Exterroristen, der jetzt vor ihm ging, und blieb noch ein Stückchen weiter zurück.

Liberanto war seit dem Beschuss splitternackt, bewegte sich aber, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Es war grotesk anzusehen, im Vergleich zu den anderen, die außer Lisa in unförmige Sicherheitsanzüge gehüllt waren. Eine Waffe konnte Heiko jedenfalls an ihm nicht mehr entdecken.

Zwar kannte er sich mit der Wirkungsweise eines kyphorischen Blasters nicht aus, aber es wunderte ihn nach wie vor, wieso bei dem Beschuss die Waffe von Liberanto nicht detoniert war. Es konnte eigentlich nur eines bedeuten: Er hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr besessen!

Plötzlich blieb Liberanto stehen und wandte sich ihm grinsend zu. Auch Heiko verhielt im Schritt. Alle anderen, die hinter ihm gingen, folgten seinem Beispiel.

Liberanto sagte: »Es ist nicht mehr weit. Und falls ihr euch immer noch wundert, wieso ich den Beschuss von Hagen überlebt habe: Ich bin schon länger tot, schon seit Jahren. Ich kann nicht mehr sterben.« Er ließ erst seine Worte wirken, ehe er fortfuhr: »Außerdem hat mir das Relikt geholfen. Der verrückte Computer, so nannte ich ihn immer, aber er ist in Wirklichkeit … das Relikt.«

»Aber heißt es nicht die Relikte aus grauer Vorzeit? Gibt es nicht mehr als nur ein Relikt?« Heiko hatte die Frage gestellt. Er legte leicht den Kopf schief und musterte den Nackten. Das Grinsen in dessen Gesicht wirkte auf ihn überheblich, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Durchaus, aber nur dieses eine Relikt ist gewissermaßen von fundamentaler Bedeutung. Ihr hört ja das Rumoren unter uns. Sagen wir mal: Das sind die anderen Relikte!«

Noch während er sprach, begann die Verwandlung: Der Sicherheitsanzug, den er vorher getragen hatte – zumindest etwas, das genauso aussah – bildete sich allmählich neu. Es dauerte nur Sekunden, dann sah er exakt so aus wie vor dem Beschuss. Er griff in eine der Außentaschen und zog den Strahler hervor, den Heiko an ihm vermisst hatte.

»He, du machst mir ja sozusagen Konkurrenz!«, ächzte Karl Berens. Anscheinend wollte er mit diesen Worten nur das Beobachtete verarbeiten.

»Es ist alles mehr oder weniger Illusion!«, erläuterte Liberanto, und das Grinsen erstarb. Er wurde ungewöhnlich ernst. »Ich wurde niemals getroffen von den tödlichen Strahlen. Aber selbst wenn ich getroffen worden wäre, hätte ich es überlebt – so, wie ihr es gesehen habt.«

»Dann ist vielleicht sogar das ganze Bunkersystem so etwas wie eine Illusion?«, stieß Heiko hervor.

»Beinahe!«, wich Liberanto aus und wandte sich einfach ab, während er den Strahler wieder wegsteckte. »Ihr solltet das Relikt niemals unterschätzen. Aber ich kann euch leider auch nicht mehr darüber sagen, weil ich selber nicht viel mehr weiß. Nicht umsonst bin ich gemeinsam mit euch hierher gekommen und nicht etwa allein. Ich hätte ja nur um Kapstadt einen Bogen machen und euch vermeiden müssen.«

Er blieb abermals stehen und wandte sich Heiko zu.

»Das weißt du, Heiko: Ich hätte schon einen Weg gefunden, hierher zu gelangen, trotz der Besatzer. Aber ich entschied mich für die Zusammenarbeit, trotz meines berechtigten Misstrauens gegenüber Hagen und vor allem natürlich gegenüber der Clouzot, dessen Auftraggeberin. Sie hat mich schon einmal hereingelegt, was mir Jahre in den Kerkern von Luna einbrachte.«

Er wandte sich diesmal endgültig ab und schritt davon.

»Dieses verdammte Ding spielt nur mit uns!«, knurrte jetzt Nestor Hagen.

Alle schauten ihn an, außer Liberanto, der ungerührt weiterging. Aber Nestor Hagen machte jetzt einen ganz normalen Eindruck, als wäre nichts geschehen. Er war anscheinend ganz einfach nur genauso irritiert wie alle anderen.

Heiko wandte sich von ihm ab und beeilte sich, zu dem Exterroristen aufzuschließen. »Wir sind also längst in der Gewalt der Anlage?«

»Ja!«, grollte Hagen hinter ihm – so dicht, dass Heiko sich wunderte: Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er ihm so rasch gefolgt war. »Wir sind alle Narren gewesen, mit diesem Typen hierher zu kommen.«

Die restliche Gruppe setzte sich in Bewegung und schloss sich ihnen an. Heiko Chan schaute über die Schulter zurück nach Hagen: Der große Mann wirkte ernst und verschlossen.

Heiko öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es aber dann doch sein und richtete sein Augenmerk nach vorn.

Er hatte das Gefühl, dass Liberanto zumindest in einem nicht gelogen hatte: Sie brauchten nicht mehr weit zu gehen.