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Gehirnforschung und Justiz

Wie arbeitet das Gehirn beim Verhandeln und Entscheiden in Gerichtsverhandlungen?

 

Autor: Jeanette Goslar

 

Verlag: FQL Publishing, München

Buch: ISBN 978-3-947104-34-5

eBook: ISBN 978-3-947104-35-2

 

Buchreihe: GEHIRN-WISSEN KOMPAKT

 

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I M P R E S S U M

Gehirnforschung und Justiz

Wie arbeitet das Gehirn beim Verhandeln und Entscheiden in Gerichtsverhandlungen?

Autor: Jeanette Goslar

© 2019 Jeanette Goslar/FQL Publishing, München

Alle Rechte vorbehalten.

Autor: Jeanette Goslar

FQL Publishing, info@FQL-Publishing.com

ISBN: 978-3-947104-35-2

Autor

Jeanette Goslar

Jeanette Goslar ist Volljuristin, Diplom- Kriminologin, systemische Therapeutin (SG) und hat einen Master of cognitive Neuroscience (AON) erworben.

Sie war 20 Jahre als Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, tätig. Als Dozentin, Trainerin und Coach unterstützt sie Führungskräfte in der Wirtschaft sowie Juristen darin, neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.

Objektiv, sachlich und unparteiisch zu verhandeln und zu urteilen – das ist der Anspruch der Justiz. Doch entspricht dies der Arbeitsweise unseres Gehirns? Die vorliegende Arbeit stellt die Funktionsweise des Gehirns anhand von praktischen Beispielen aus Gerichtsverhandlungen dar sowie die Auswirkungen der Persönlichkeit auf gerichtliche Verhandlungen und Urteilsprozesse.

Über dieses Buch

Dieses Buch untersucht die Frage, welche Faktoren Gerichtsverhandlungen beeinflussen.

Es wird thematisiert, welchen Anteil die Persönlichkeit der Verfahrensbeteiligten an dem Verlauf der Verhandlung und an der Urteilsentscheidung hat, daneben wird die Entwicklung der Persönlichkeit im Gehirn behandelt.

Es wird dargestellt, wie die Informationswahrnehmung und -verarbeitung im Gehirn funktioniert und wie Entscheidungen bzw. Entscheidungsprozesse entstehen. Die Arbeit setzt sich sowohl mit den Fehlerquellen als auch mit den Möglichkeiten der Einflussnahme auf die im Gehirn ablaufenden Prozesse auseinander. Die im Gehirn ablaufenden Prozesse der Informationsverarbeitung werden skizziert.

Das Buch beschäftigt sich des Weiteren mit den Auswirkungen dieser Prozesse auf Gerichtsverfahren.

Als Abschluss wird diskutiert, wie die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis genutzt werden können, um die Qualität von Gerichtsverfahren zu verbessern.

Jeanette Goslar

im März 2019

Abb.: 1: Die Erkenntnisse der Gehirnforschung finden Eingang in die Gerichtssäle

Vorwort

Liebe Leser,

Hans Christian von Baeyer erzählt in seinem Buch "Das Atom in der Falle" (1993) folgende Episode:

Einmal kündigte der Physiker Leo Szilard seinem Freund Hans Bethe an, er wolle eventuell ein Tagebuch führen: "Ich habe nicht vor, etwas zu veröffentlichen. Ich möchte die Tatsachen nur festhalten, damit Gott Bescheid weiß." Daraufhin fragte Bethe: "Glauben Sie nicht, dass Gott die Tatsachen schon kennt?" - "Ja", erwiderte Szilard, "die Tatsachen kennt er. Aber diese Version der Tatsachen kennt er noch nicht."

Wenn man Gerichtsverhandlungen verfolgt, dann hat man häufig das Gefühl, dass jeder Verfahrensbeteiligte seine eigene Version der Geschehnisse hat und diese sind nicht immer untereinander kompatibel. Das Ergebnis der Geschehnisse ist meist bekannt, allerdings lässt sich auch darüber trefflich streiten, aber es gibt verschiedene Version wie dieses Ergebnis zu Stande gekommen ist. Dies liegt an unserer unterschiedlichen Wahrnehmung der Informationen über den Sachverhalt und an der Interpretation durch unser Gehirn.

Dieses Buch vermittelt Ihnen die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Einflussfaktoren in Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen. Wie funktioniert unsere Wahrnehmung, die Informationsverarbeitung und welchen Einfluss hat die Persönlichkeit der Verfahrensbeteiligten auf die Verhandlung und die Urteilsfindung.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.

Jeanette Goslar

Danksagung

Ich möchte allen danken, die mir bei diesem Projekt geholfen haben.

Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth für die Inspiration zu diesem Buch.

Besonders danke ich dem Gründer der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement Torsten Seelbach, für seine Unterstützung.

Desweitern danke ich den Dozenten des Masterstudienganges der AON für die hervorragende Wissensvermittlung:

Prof. Dr. Ursula Diecke

Prof. Dr. John Dylan Haynes

Prof. Dr. Christian Büchel

Prof. Dr. Thomas F. Münte

Prof. Dr. Martin Meyer

Prof. Dr. Wolfgang Walkowiak

Prof. Dr. Tobias Esch

Mein Dank gilt auch für die Anregungen und das Engagement meiner Verleger Gabriele und Stephan Ehlers.

Und zu guter Letzt möchte ich meinen Eltern Sigrid und Dieter Goslar danken, die mich immer auf meinem Weg unterstützt haben.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Das Gericht und die Gehirnforschung segeln auf getrennten Booten

2. Persönlichkeit und Gericht

2.1 Einleitung: „Ich bin ein Rechtspflegeorgan“ oder die Kunst des Ignorierens

2.2 Was ist Persönlichkeit?

2.2.1 Das individuelle Netzwerk der Persönlichkeit

2.2.2 Das Gehirn und die Persönlichkeit

2.3. Das Vier-Ebenen-Modell von Roth und Cierpka

2.3.1 Die untere limbische Ebene

2.3.2 Die mittlere limbische Ebene

2.3.3 Die obere limbische Ebene

2.3.4 Die kognitive Ebene

2.4 Die sechs neuralen Grundsysteme

2.4.1 Das Stressverarbeitungssystem

2.4.2 Das interne Beruhigungssystem

2.4.3 Das interne Bewertungssystem

2.4.4 Das Impulshemmungssystem

2.4.5 Das Bindungs- und Empathiesystem

2.4.6 Der Realitätssinn und die Risikowahrnehmung

2.5 Persönlichkeitsanalysen

2.5.1 Die Big Five

2.5.2 Die neuronale Persönlichkeitsanalyse

2.5.3 Persönlichkeitsanalyse nach Graves

2.6 Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der gerichtlichen Praxis

2.6.1 Verhandlungsführung und Persönlichkeit

2.6.2 Gesetzestexte & Persönlichkeit: Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs

2.6.3 Entscheidungen und Persönlichkeit

3. Wahrnehmung und Persönlichkeit

3.1 Einleitung

3.2 Wahrnehmung

3.2.1 Selektive Wahrnehmung

3.2.2 Konstruktive Wahrnehmung

3.2.3 Subjektive Wahrnehmung

4 Informationsverarbeitung

4.1 Betrachtung des Phänomens der „Informationsselektion“

4.2 Betrachtung des Prozesses der Informationsanalyse

4.3 Betrachtung des Konzepts kognitiver Ankereffekte

5 Einflussmöglichkeiten

5.1. Die Macht der Manipulation

5.1.1 Priming

5.1.2 Suggestionsfragen

5.1.3 Positives Hypothesentesten

5.1.4 Sprache

5.1.5 Der Halo-Effekt

5.2 Die Macht der Lüge: Die Glaubhaftmachung

5.3 Die Macht der sozialen Ebene

5.3.1 „Bitten“ bindet

5.3.2 Mere-Exposure-Effekt

5.3.3 Stereotypen und Feindbilder

5.3.4 Die Relevanz des ersten Eindrucks

5.3.5 Gewöhnungsprozesse

5.3.6 Die Allgegenwärtigkeit von Emotionen im Gerichtsverfahren

5.3.7 Small Talk als Entscheidungskriterium

5.4 Die Macht der Vorstellung

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis, Bildnachweise

8 Abbildungsverzeichnis

9 Fußnotenverzeichnis

1 Einleitung - Das Gericht und die Gehirnforschung segeln auf getrennten Booten

Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand. (Sprichwort)

Abb.: 2: La Verita Gian Lorenzo Bernini

 

Welchen Zweck erfüllen Gerichtverfahren?

Unsere Gesellschaft hat sich auf Regeln des Zusammenlebens verständigt. Bei Regelverletzungen oder unterschiedlichen Auffassungen über die Regeln zwischen den Mitgliedern soll ein unabhängiges Gericht entscheiden. Dieses Urteil ist bindend und soll den Rechtsfrieden wiederherstellen. Das „Faustrecht“ ist seit Langem abgeschafft.

Wie macht das Gericht das?

Zunächst wird ein Sachverhalt/Tatbestand eruiert: so ist es gewesen, das sind die Fakten. Diese werden dann unter eine Rechtsnorm (Paragraphen) subsumiert.

Dann stellen sich einige Fragen:

Im Strafrecht wird zudem gefragt:

Das Gericht legt den Sachverhalt aufgrund seiner Überzeugung fest, und diese Überzeugung bildet die Grundlage des Urteils. Über den Sachverhalt lässt sich trefflich streiten, und die sogenannten Beweismittel führen häufig nicht zu einem einheitlichen Ergebnis. Bei den Rechtsfolgen gibt das Gesetz oft nur den Rahmen vor, der ausgefüllt werden muss, was unter Umständen zu differierenden Ergebnissen führen kann, je nachdem, wer derjenige ist, der den Rahmen seinen Ansichten entsprechend ausfüllt.

Die Menschen erwarten von gerichtlichen Entscheidungen Gerechtigkeit, und da beginnt das Dilemma: Der Begriff „Gerechtigkeit“ wurde von dem römischen Juristen Ulipan (170-228 n. Chr.) definiert: „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“. Jeder Mensch versteht aber etwas anderes unter dem Begriff Gerechtigkeit. Die Auslegung erfolgt auf Grundlage der individuellen Persönlichkeit, der emotionalen Konditionierung und der egoistischen Motive sowie der Sozialisierung.

Der Verstand kann eine Sache als gerecht beurteilen, aber es fühlt sich trotzdem ungerecht an. Was ich allgemein als „gerecht“ ansehe, muss nicht identisch mit dem sein, was ich als Betroffener eines Ereignisses als gerecht empfinde. Ich kann aus dem Elternhaus ein bestimmtes Rechtsempfinden mitbekommen haben, werde aber mit anderen Ansichten in meiner Sozialisation konfrontiert. Es stellt sich die Frage, wie sich dies auf meine Persönlichkeit auswirkt. (Ein eindrückliches Beispiel sind die Geschwister Scholl: Die Werte, die ihnen im Elternhaus vermittelt worden waren, standen im absoluten Widerspruch zu den in der Schule und in der damaligen Jugendkultur herrschenden Werten. Trotzdem waren sie bereit, die elterlichen Werte sogar mit ihrem Leben zu verteidigen.)

Wie sollen Gerichte also gerecht entscheiden, wenn jeder ein individuelles Rechtsempfinden hat?

Nach dem Vorverfahren, bei dem Parteien, Verteidiger und Staatsanwälte versuchen, ihre Sichtweise taktisch geschickt in Schriftsätzen zu platzieren, kommt es zur Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf die Argumente der Verfahrensbeteiligten angehört werden. Hier wird im Rahmen der Regeln des Gesetzes bewertet und ein Urteil gefällt. Dieses wird durch viele Faktoren beeinflusst und manipuliert. Es muss zudem angenommen werden, dass das Gericht bereits durch die ihm vorliegenden Informationen zum Verfahren beeinflusst werden kann. So beschreibt der Begriff „Vorurteil“ recht treffend die Tatsache, dass ich mir schon im Vorfeld ein Urteil gebildet habe.

Im Rahmen dieses Buches werden zentrale Faktoren der Beeinflussung und der Entscheidung in Gerichtsverfahren thematisiert. Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass die Arbeit der Justiz aus neuropsychiatrischer und -psychologischer Sicht noch sehr wenig erforscht ist.

Diese Arbeit orientiert sich daher am subjektiv Erlebten der Verfasserin und ihren Erfahrungen im Rahmen ihrer zwanzigjährigen Tätigkeit als Rechtsanwältin.

Es wird der Frage nachgegangen, welchen Einflüssen das Gericht bereits vor der Verhandlung ausgesetzt ist und welche Einflussmöglichkeiten für Verfahrensbeteiligte außerhalb der Verhandlung möglich sind. Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, wie die Persönlichkeit des Richters die Verhandlung und die Entscheidung beeinflussen kann. In dieser Arbeit wird der Einzelrichter als Instanz vorausgesetzt. Die Interaktionen zwischen mehreren Richtern und Schöffen sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Es wäre allerdings ein Fehlschluss, anzunehmen, dass mehrere Richter das Verfahren per se objektiver machen. Die Interaktionen der Richter untereinander potenzieren eher die Fehlerquellen, und zudem können auch noch persönliche Motive hinzukommen:

Fehlerhafte Ansichten in Bezug auf den Sachverhalt oder die Rechtsanwendung werden beispielsweise durch Schweigen bestärkt oder blindes Vertrauen in die Fähigkeiten des Berichterstatters wird zur Falle, Konkurrenzdenken, persönliche Animositäten und Hierarchien können die Rechtsfindung ebenfalls erschweren.

 

Drei Aspekte sind für gerichtliche Verfahren entscheidend:

  1. Der Sachverhalt kann sehr nach Sichtweise differieren und unterliegt Wahrnehmungskomponenten des Richters sowie der persönlichen Lebensansicht.

  2. Viele rechtliche Normen geben nur einen Rahmen vor, der ausgefüllt werden muss. Beispiele hierfür sind: die „Beweislast“ im Zivilrecht hört sich zunächst erstmal objektiv an. Wenn sie jedoch davon abhängig ist, wer den Auftrag erteilt hat, kann dies schon streitgegenständlich sein. Inwieweit macht ein Richter durch Nachfragen darauf aufmerksam, das ihm noch Informationen fehlen und er noch Beweisangebote benötigt?

  3. Welche Argumente und Beweismittel werden im Urteil wie berücksichtigt und worauf beruht die Beurteilung der Glaubwürdigkeit? Mit diesen Aspekten befasst sich die vorliegende Masterarbeit.

Zunächst gilt es, die Entstehung der Persönlichkeit aus neurowissenschaftlicher Sicht zu betrachten. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, welchen Einfluss die Persönlichkeit des Richters auf das Verfahren nimmt. Dass Wahrnehmung selektiv, konstruktiv und subjektiv ist, ist durch zahlreiche Studien belegt.

Schon Paul Watzlawick sagte, „Du weißt erst, was du gesagt hast, wenn du die Reaktion (in unserem Fall das Urteil) deines Gegenübers siehst“.

2 Persönlichkeit und Gericht

2.1 Einleitung: „Ich bin ein Rechtspflegeorgan“ oder die Kunst des Ignorierens

Die Frage der Persönlichkeit beginnt bereits bei der Verhandlungsführung: autoritär oder kooperativ – dies ist eine Frage der Persönlichkeit. Die Wahrnehmung der Beteiligten, der Beweismittel und der Argumente – was überzeugt, ist auch eine Frage der persönlichen Einstellung des Adressaten der jeweiligen Nachricht. Was bleibt im Gedächtnis hängen, was wird überhört, wie werden Fakten interpretiert, was wird verstanden und welches Ergebnis wird favorisiert?

Abb.: 3: Wir handeln im Rahmen unserer Persönlichkeit – doch hinter jeder Tür befindet sich ein anderer Kosmos!

Die Gesetze bzw. die Paragraphen geben den groben Rahmen, der Richter mit seiner Persönlichkeit füllt sie aus. Richter sollen objektiv sein, sonst führt dies zur Ablehnung wegen Befangenheit (gem. §160 II StPO oder §42 I ZPO). Die Staatsanwaltschaft ist die „objektivste Behörde“, so lernt es jeder Jurastudent. Sie soll alles Be- und Entlastende ermitteln.

Die Praxis sieht nicht selten anders aus. Jeder Entscheider nimmt für sich in Anspruch, objektiv zu sein oder sich darum ernsthaft zu bemühen. Trotzdem fallen Urteile durch Gerichte und Abschlussverfügungen der Staatsanwaltschaft häufig unterschiedlich aus.

2.2 Was ist Persönlichkeit

„Menschen zeigen in dem was sie tun, ein zeitlich überdauerndes Muster. Dies nennen wir ihre Persönlichkeit.“1

Unsere Persönlichkeit beeinflusst unsere Wahrnehmung, unser Fühlen, unser Denken und unser Handeln.

Aus Sicht der Neurowissenschaften ist die Persönlichkeit eines Menschen im Gehirn und im weiteren Sinne im peripheren Nervensystem verankert, und dieses wird mit dem Körper und seinen Funktionen ergänzt.2

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