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Gewidmet allen,

die mit mir angestoßen haben,

ohne Anstoß zu nehmen.

periplaneta

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Philipp Multhaupt

Philipp Multhaupt wurde 1989 in einer kleinen Detmolder Winzerei geboren und bis zur Erstarkung seiner Manneskräfte mit der Weinflasche gesäugt, aber das ist natürlich gelogen. Er hat sich prächtig entwickelt und ist heute, wie sich das für einen anständigen Schriftsteller gehört, ebenso trinkfreudig wie schreibfaul. Für dieses Buch allein hat er drei ganze Jahre gebraucht; für eine Flasche Wein braucht er höchstens zwei Stunden.

Mit Feuereifer studierte er Literatur, das war natürlich sehr dumm, und verdient sich seither sein karges Brot mit Tellerwäscherei, Gelegenheitsübersetzungen und wissenschaftlichem Lektorat. In der Zeit, die ihm für das Schriftstellerhandwerk bleibt, verfasst er sonderbare Kurzgeschichten und versponnene Romane. Für ein bislang unveröffentlichtes Romanprojekt erhielt er 2017 ein Arbeitsstipendium vom Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

Darüber hinaus tritt er für Freigetränke und bescheidene Gagen bei Lesebühnen und Poetry Slams auf. Philipp Multhaupt lebt zurzeit in Freiburg, wo es hervorragende Weine und scheußliches Bier gibt, und hat, berauscht von der badischen Rebfrucht, die Hoffnung auf ein richtiges Leben im falschen immer noch nicht ganz aufgegeben.


www.philippmulthaupt.wordpress.com

Herrn Murmelsams Trinklieder


Rauschhafte Erzählungen,

feuchtfröhliche Schnapsideen

und tragische Kneipenlegenden

nebst einiger gestammelter Dichtungen

Ins Schriftsprachliche destilliert

und stocknüchtern zu Papier gebracht

von

Philipp Multhaupt

periplaneta

PHILIPP MULTHAUPT: „Herrn Murmelsams Trinklieder“

1. Auflage, Juni 2019, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege
© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle
Cover: Nicole Altenhoff (www.nicole-altenhoff-illustration.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-138-7
epub ISBN: 978-3-95-996-139-4

Einmal war Herr Murmelsam sehr betrunken.

Da saß er in seiner Stammkneipe, drei lange Tage und Nächte, und fabulierte. Manchmal hatte er Zuhörer, manchmal saß er allein. Manchmal wurde gelacht und geklatscht, nachdem er geendet hatte, manchmal herrschte betretenes Schweigen. Manchmal schlief er kurz ein und schrak wieder hoch. Manchmal fiel er sehr elegant vom Stuhl und rappelte sich weit weniger elegant wieder auf. Manchmal war es andersherum.

Beim Bier erzählte er von seinen Jugendtagen, den glücklichen und den trüben, vom heimlichen Umtrunk und von heimlicher Liebe; von tatsächlich Erlebtem und schamlos Erlogenem. Er erfand alte Freunde ganz neu und erinnerte sich an Lehrer, an die er sich nicht erinnerte. Er schrieb Abiturklausuren auf dem Meeresgrund und sorgte sich über die verlaufende Tinte. Er flog mit elegantem Schwingenschlag vom Schuldach hinaus ins Freie, um einem Nachsitzbefehl zu entrinnen. Er schob im Taucheranzug einen Konzertflügel durch die Alpen, um seine Treue zu Lisa-Elsa Blomstedt mit den hübschen Knien zu beweisen, die damals noch Primanerin war.

Beim Wein schenkte er dunkelrote Geschichten ein, die im Glas manchmal fast schwarz erschienen. Er erzählte von Menschen, die mit dem Tod Walzer tanzten und die Feierlichkeit des Augenblicks verdarben, wenn sie ihm dabei versehentlich auf den Fuß traten und lachen mussten. Von einem großen Bildersturm auf die Traumgemälde der Armen und einem Sonnenuntergang, den alle außer Herrn Jonathan für einen Sonnenaufgang hielten. Er erzählte von Suchen und Fluchen und Suchten und Fluchten, weil sich das reimte.

Beim Schnaps gab er hochprozentige Phantasien zum Besten, die meist halb aus erinnerten Witzen, halb aus erinnerten Albträumen und halb aus Sorge um die Zukunft der Welt bestanden. Manche hatten sogar noch eine vierte Hälfte. Er erweckte Tote auf und ging mit ihnen Billard spielen, gründete Nationen aus einer Träne und zerstörte sie wieder durch einen einzigen Kuss. Er beschrieb den Fingerhut seiner Oma wie ein abstraktes Gemälde und erfand eine fünfte Jahreszeit zwischen Frühling und Sommer, in der alle niesen mussten, aber nicht konnten.

Und dann erzählte er noch von ganz anderen Dingen.

Aperitif

Der durstige Dichter

ich will bier trinken

ich will wein trinken

will whisky trinken

und gin trinken

alles austrinken

ich will den regen austrinken

und die flüsse

die meere

samt ihrem salz

ich will mich selbst austrinken

mich selbst bis zur neige trinken

nur ein trockener fleck

bliebe zurück

auf dem stuhl

vor meinem schreibtisch

warum ist ein rabe

wie ein schreibtisch

weil der dichter

besoffen war

ist das nicht

offensichtlich

Biergeschichten

(Erster Deckel)

Ein Platz, an dem man gut sterben kann

Letzte Nacht war ich mit einem Freund unterwegs. Wir haben erst Bier getrunken, dann haben wir noch mehr Bier getrunken und dann sind wir durch die Stadt gelaufen und haben nach einem Platz gesucht, an dem man gut sterben kann. Mein Freund wollte nämlich sterben und Freunden hilft man schließlich, wo es nottut.

Die lässt man bei sich unterkommen, wenn sie ihren Haustürschlüssel verloren haben, die tröstet man mit Wein und guten Worten, wenn sie ihre Freundin verloren haben. Und wenn sie sich nicht trösten lassen, dann hilft man ihnen eben, einen Platz zu finden, an dem man gut sterben kann.

Mein Freund hatte seine Freundin nicht verloren, er hatte nicht mal eine – und selbst wenn, er ist keiner, der sich wegen so was gleich umbringen würde. Hab ich ihn selbst gefragt.

Nee, hat er gesagt. Er war mal Werther in einem früheren Leben, aber das eine Mal hat ihm gereicht und Selbstmord aus Liebe, so was Kindisches hat er sich abgewöhnt. Aber sterben wollte er doch, ihm war eben danach, einfach so. Er hat sich so groß und erhaben und neugierig gefühlt.

„Wie würdest du denn am liebsten?“, hab ich gefragt.

„In einer Schlacht“, hat er gesagt, „bei Morgengrauen, durch das Schwert eines persischen Großwesirs.“

Er hat so ein bisschen was von einem Dichter, mein Freund, der sagt manchmal so verrücktes Zeug – und nicht nur, wenn er betrunken ist. Aber natürlich war er betrunken. Wir waren beide betrunken und die Welt war warm und weit und zum Heulen komisch.

„Vergiss es“, hab ich gesagt.

„Warum?“, hat er gefragt. „Gibt doch genug Kriege.“

„Ja“, hab ich gesagt, „aber die kämpfen sie anderswo.“

„Die kämpfen sie überallwo“, hat er widersprochen.

„Stimmt“, hab ich gesagt und das letzte Bier aus der Manteltasche geholt und mit den Zähnen aufgemacht, weil es passt nicht, das letzte Bier mit dem Flaschenöffner aufzumachen, so was hat keinen Stil.

Ich hab’s ihm gegeben, damit er den ersten Schluck kriegt, und er hat den ersten Schluck genommen und mir die Flasche zurückgegeben. Und wir sind weitergelaufen durch die dunklen Straßen und die Bierflasche ist hin- und hergewandert zwischen uns und wir haben in die Fenster geschaut, in denen noch Licht brannte, und geguckt, was die Leute so machen. Die meisten waren alleine; wenn man zu zweit ist, dann macht man das Licht aus und zieht die Vorhänge zu, aber wenn man allein ist, dann ist es egal. Eine Frau hat Spaghetti gekocht und zu einer Musik getanzt, die man durchs geschlossene Fenster nicht hören konnte, oder vielleicht gab es gar keine Musik. Ein junger Mann hat eine Flasche Wein aufgemacht und sie lange angestarrt, als wäre da ein Etikett hinter dem Etikett, das er versucht hat zu lesen, oder als gäbe es einen anderen Weg, durch das dunkle Flaschenglas hindurchzuschauen, als die Flasche auszutrinken. Im Haus nebenan saß einer im Sessel, aber der Sessel stand mit dem Rücken zum Fenster und wir konnten nicht sehen, wer drinsaß. Nur den Fernseher konnten wir sehen, und das flimmernde blaue Licht. Im Fernsehen lief der letzte Mensch auf Erden durch die leeren Straßen seiner Welt, durch die Nacht und durch den Regen, und blies in sein Saxophon. Ich kannte den Film.

„Mein Papa hat Saxophon gespielt“, hab ich gesagt.

Mein Freund hat aufgehorcht. „Hat er’s dir beigebracht?“

„Nee“, hab ich gesagt, „ich hab gelogen.“

„Macht nix“, hat mein Freund gesagt. „Ist ’ne schöne Lüge.“

Und wir sind weiter, raus aus dem Herzen der Stadt, durch die engen Straßen, in denen die weniger wichtigen Häuser stehen. Die Bierflasche war fast leer, als wir ins Villenviertel oben auf dem Wilhelmsbühl gekommen sind. Vor einer Fachwerkvilla mit grünen Dachziegeln und einem efeuumrankten Giebelturm sind wir stehengeblieben und haben jeder unseren letzten Schluck getrunken. Der Turm sah wie ein Kirchturm aus.

„Da wohnt bestimmt Gott“, hat mein Freund gesagt und hat die leere Flasche über die Hecke in Gottes Garten geworfen. „Da will ich sterben.“

„Du glaubst doch gar nicht an Gott“, hab ich gesagt.

„Na und?“, hat mein Freund gesagt und ist der Flasche hinterhergeklettert und ich bin ihm hinterher. Die Hecke war nicht sehr hoch, aber wir waren betrunken und sind hingefallen, und dann lagen wir nebeneinander auf dem Rasen in Gottes Garten und es hat sich ein bisschen wie Sommer angefühlt, obwohl der Boden gefroren war und die Sterne am Nachthimmel silberner als im August geleuchtet haben, und kleine milchige Rauchwolken haben wir in die Luft gekeucht.

Mein Freund hat zu den dunklen Fenstern hochgeschaut. „Gott schläft schon“, hat er gesagt.

„Ja“, hab ich gesagt.

Und dann haben wir auf einmal beide ein schlechtes Gewissen gekriegt. Wir haben die Bierflasche wieder vom Rasen aufgesammelt, die Hecke ein bisschen gradegestrichen und sind gegangen. Wir haben das Villenviertel hinter uns gelassen und sind weitergezogen zum Stadtrand. Der Himmel über uns war ganz rosa, aber es war trotzdem dunkel, wie das in Winternächten so ist. Dann haben wir ein Haltestellenhäuschen gesehen, eins von diesen alten aus Holz, in denen es immer nach überreifen Äpfeln und Grundschulklassenzimmern riecht, und auf der Holzbank saß ein Mädchen neben einer an die Wand gelehnten Gitarre. Die Gitarre war zerbrochen, das Mädchen hatte eine Platzwunde an der Stirn, sein Haar war blutverkrustet.

„Neben ihr“, hat mein Freund gesagt und dezent mit dem Finger in ihre Richtung gedeutet. „Neben ihr will ich sterben.“

Sterben hat er gesagt, als wäre er eigentlich auf der Suche nach einem anderen Wort, aber das richtige fiel ihm nicht ein.

Und wir haben uns zu ihr an die Haltestelle gesetzt. Das Mädchen hat uns einen Seitenblick zugeworfen und wir ihm und dann haben wir da ganz still gesessen und gewartet.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, hat mein Freund schließlich gefragt.

„Ja“, hat das Mädchen gesagt.

„Was ist passiert?“

„Ich komme aus der Schlacht.“

„Gegen den persischen Großwesir?“

„Gegen den.“

„Habt ihr gewonnen?“

„Die kämpfen alle noch da draußen“, hat sie gesagt und mit dem Finger dezent die Straße rauf gedeutet, in die Dunkelheit. „Aber ich hab mich besiegt gefühlt, da bin ich gegangen. Mein letzter Bus fährt gleich. Und ich geb morgen früh Gitarrenunterricht.“

„Deine Gitarre ist kaputt“, hat mein Freund gesagt.

„Na und?“, hat das Mädchen gesagt und trotzig in die Ferne gestarrt. Von weitem war Schlachtgetümmel zu hören oder vielleicht waren es betrunkene Jugendliche. Wir waren auch mal Jugendliche, irgendwann.

Nach einer Weile ist der Bus gekommen und sie ist aufgestanden, hat die Gitarre in die Hand genommen und ihren Fahrschein aus der Tasche geholt. Wir sind noch einen Moment unschlüssig auf der Bank sitzengeblieben und ich hab die Straße raufgeschaut, in die Dunkelheit, und meinen Freund angeguckt, aber er hat den Kopf geschüttelt. Dann sind wir in den Bus gestiegen und ins Herz der Stadt zurückgefahren, vorbei an dem Haus, in dem Gott wohnt, vorbei an den Fenstern der weniger wichtigen Häuser, und irgendwo auf dem Weg ist das Mädchen mit der Gitarre ausgestiegen und in der Nacht verschwunden. Wie wir nach Hause gekommen sind, weiß ich nicht mehr, und auch nicht, wer die Schlacht gewonnen hat.

Aber ich denke, das waren wohl wir.

Einmal im Leben

Einmal im Leben“, hatte Dorftrunkenbold Wehrmut gesagt und den Zeigefinger in die Tischplatte gebohrt, „einmal im Leben musst du die Brauerei, aus der dein Lieblingsbier kommt, von innen gesehen haben.“

Aus einem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, hatte das Studienrat Entenbein zutiefst beeindruckt. Der Studienrat mochte Wehrmut, weil der Dorftrunkenbold beim Trinken nur sprach, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte, und trotz seines nicht unerheblichen Konsums niemals kotzte. Das, fand der Studienrat, zeugte von Selbstdisziplin und höflicher Zurückhaltung, zwei in der Person eines Trunkenbolds eher selten zusammenlaufende Eigenschaften. Manchmal gab er Wehrmut das letzte Bier aus.

„Das ist das letzte Bier“, sagte er dann und schaute Wehrmut fest in die Augen und Wehrmut schaute mit klarem Blick zurück, nickte, trank das letzte Bier und danach nichts mehr. Dann gaben sie sich die Hand, eine zivilisierte Formalität, auf der der Studienrat bestand, und gingen getrennte Wege, bis der Zufall sie wieder in der Schwarzen Milchkanne zusammenführte, der kleinen Dorfkneipe, in der es das beste Bier der Welt gab.

Studienrat Entenbein trank nicht viel. Er führte ein geregeltes Leben, das ihm dafür keinen Platz ließ. Seinen Schülern brachte er den Satz des Pythagoras bei, wie man mit Brüchen rechnet und wie man herausfindet, dass x gleich unendlich ist. Der Satz des Pythagoras war wichtig, x zu kennen war wichtig und in den seltensten Fällen war x ein Glas Bier.

Geheiratet hatte er nie. Kinder hatte er keine. Sonntagnachmittags saß er am Schreibtisch und korrigierte Rechenarbeiten. Manchmal fühlte er sich so geborgen dabei, dass er über den Heften einschlief. Dann schlief er, bis er am Abend hochschrak, sich seltsam rastlos fühlte, unter die angebrochene Arbeit eine gnädige Drei minus setzte und in die Schwarze Milchkanne ging, um sich ausnahmsweise ein kleines Bier zu genehmigen.

Wenn er die Kneipe betrat, war Wehrmut schon da. Der Studienrat pflegte ihn mit knapper Herzlichkeit zu grüßen, setzte sich dann dazu, bestellte und hörte dem Dorftrunkenbold beim Muscheltauchen zu. So nannte er es, wenn Wehrmut von Zeit zu Zeit aus den Tiefen seines Rausches auftauchte und dabei unerwartete Einsichten oder interessante Betrachtungen vom Boden seines Bierglases mit an die Oberfläche brachte.

„Einmal im Leben“, hatte Wehrmut gesagt, „einmal im Leben musst du die Brauerei, aus der dein Lieblingsbier kommt, von innen gesehen haben.“ Und der Studienrat bekam diesen Satz nicht mehr aus dem Kopf.

So beginnt jede Suche: Mit einem Satz, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Die Brauerei, aus der das beste Bier der Welt kam, hatte er nie gesehen.

„Haben Sie?“, fragte er, als Wehrmut etwa zwei Wochen später seinen Ausspruch wiederholte. Wehrmut schüttelte den Kopf.

Wollen Sie?“, fragte er bei erneuter Gelegenheit, als wieder zwei Wochen verstrichen waren. Wehrmut nickte beinahe feierlich.

Sollen wir?“, wagte sich der Studienrat schließlich zu erkundigen, als er das nächste Mal in die Milchkanne einkehrte. Das war mindestens vier Wochen später, denn manche Fragen brauchen mehr Zeit als andere. Manche Antworten auch. Wehrmut reagierte nicht sofort. Erst als das Thema nach weiteren vier Wochen wieder auf den Tisch kam, nickte er mit derselben langsamen Feierlichkeit.

Inzwischen hatte Studienrat Entenbein bereits Nachforschungen über den Standort der Brauerei betrieben, aber die mathematische Ungenauigkeit der Ergebnisse verwirrte ihn.

„Den Fluss entlang, um die Biegung und dann immer dem Geruch nach“, hatte der Wirt der Milchkanne gesagt.

„Haben Sie die Adresse?“, hatte der Studienrat gefragt.

„Gibt keine Adresse“, hatte der Wirt gesagt. „Aber ’ne Karte kann ich Ihnen malen.“ Er malte sie auf einen Bierdeckel und schob ihn über die Theke. „Ein großes X markiert die Stelle“, sagte er.

Der Studienrat bedankte sich und steckte den Bierdeckel ein.

In den Herbstferien brachen sie auf. Sie trafen sich im Morgengrauen des ersten Ferientages auf dem leeren Pausenhof der Dorfschule. Der Studienrat kam zuerst. Seine Aktentasche in der Hand wartete er in der klaren Oktoberkälte und kam sich so fehl am Platz vor, wie sich ein Studienrat, der am ersten Ferientag auf dem Pausenhof steht, unweigerlich vorkommen muss.

Aber dann erschien Wehrmut mit einem großen Wanderrucksack auf dem Rücken und wirkte, noch vom Kneipengeruch der Schwarzen Milchkanne umgeben, in der frischen Morgenluft kein bisschen weniger fehl am Platz. Als Studienrat Entenbein den Rucksack sah, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab, und da wurde ihm leicht.

Sie gingen den Fluss entlang, aber es dauerte, bis sie zur Biegung kamen. Bis dahin durchquerten sie rote und gelbe Wälder, sie kehrten in die Wirtshäuser kleiner Dörfer ein. Wen sie trafen, fragten sie nach der Brauerei. Niemand war dort gewesen, aber alle kannten sie. Ein zahnloser Alter lobte die Genauigkeit der auf dem Bierdeckel skizzierten Karte. Sie gaben ihm einen Wacholderschnaps aus und zogen weiter. Manchmal vertrieben sie sich die Zeit damit, das seltsame Treibgut, das der Fluss an ihnen vorbeitrug, mit den Augen zu verfolgen; aufgeweichte Flugschriften, Herbstblätter, die geformt waren wie Kontinente, ein Puppenkopf. Bis es verschwunden war, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Am vorletzten Ferientag erreichten sie die Biegung und dann folgten sie dem Geruch und erreichten das X und das X war die Brauerei.

Sie standen lange in enttäuschungsfürchtiger Distanz und beobachteten den Rauch, der den Schonsteinen entströmte, wie sie auf dem Weg das Treibgut beobachtet hatten, das den Fluss entlanggekommen war.

Schließlich näherten sie sich dem Tor, das von einem Soldaten in grüner Uniform bewacht wurde. Der Soldat sah ihnen misstrauisch entgegen und richtete sein Bajonett auf sie. „Was wollt ihr?“, fragte er. Man roch, dass er sich unlängst ein Schlückchen genehmigt hatte.

„Wir wünschen, die Brauerei zu besichtigen“, sagte Studienrat Entenbein.

„Befugnis?“

„Ich bin Studienrat Entenbein.“

Der Soldat neigte skeptisch den Kopf. „Das wird nicht genügen“, sagte er. „Und du da?“

„Ich bin Dorftrunkenbold Wehrmut“, sagte Wehrmut.

„Das genügt“, sagte der Soldat. „Bitte einzutreten. Aber mach keinen Lärm, du, und kotz nirgendwohin. Tu so, als wäre es Sonntag.“

Und mit Sonntagsmiene betrat Wehrmut die Brauerei.

„Er kotzt nie“, versicherte der Studienrat feierlich und wollte seinem Weggefährten durch das Tor hindurch folgen.

Aber mit angelegtem Gewehr und wehender Bierfahne hielt ihn der Wachsoldat zurück. „Du nicht“, sagte er.

Wehrmut hatte das Tor durchschritten, blieb jetzt in der dampfigen Wärme des Brauhauses stehen wie ein Geist am Eingang zur Unterwelt und drehte sich um.

„Aber“, protestierte der Studienrat, holte den Bierdeckel aus seiner Aktentasche und hielt ihn dem Soldaten hin, den Zeigefinger auf der Stelle, die die Brauerei markierte, „aber hier ist doch das X.“

Der Soldat blieb ungerührt. „Vielleicht ist es einfach nicht Ihr X“, sagte er.

Wehrmut und Entenbein sahen sich an, nickten das Unvermeidliche ab und tauschten dann über die grüne Schulter des Soldaten einen Händedruck aus.

„Das ist das letzte Mal“, sagte der Studienrat, und es musste wahr sein, denn Wehrmut nickte, wie er sonst nickte, wenn der Studienrat ihm das letzte Bier ausgab. Dann drehte er sich um und verschwand im Dampf der Brauerei.

Ins Dorf ist er nie zurückgekehrt.

Seit diesem Tag sucht Studienrat Entenbein sein X. Er sucht es im Morgenkaffee und im Nachmittagstee, in der ersten Schulstunde und in der letzten, und in allen Pausen dazwischen. Er sucht es in mathematischen und philosophischen Werken, in Atlanten und Versandkatalogen, in Gedichten und Kontaktanzeigen, hinter den Wolken, auf dem Grund des Dorfteiches und im Treibgut, das der Fluss ans Ufer trägt. Er sucht es in Herbstblättern, die wie Kontinente aussehen. Und wenn er es eines Tages findet, zeichnet er, da bin ich mir sicher, keine Karte auf einen Bierdeckel oder macht großes Getöse; er ist nicht so einer, der Studienrat Entenbein. Er schaut dann für einen Augenblick von den Rechenarbeiten auf seinem Schreibtisch auf, lächelt ganz kurz und behält es für sich.

Hinter der Kühlschranktür

Draußen ist Mai, aber es regnet und der Wind ist kalt und riecht nicht nach Grünem.

Wenn es keinen Wind gäbe und keinen Regen und keinen Schnee, würden im Winter die Bäume einstauben, sagt Birte. Dann müssten wir im Frühling mit Staubwedeln in die Zweige klettern und so lange staubwedeln, bis alles wieder gut wäre, und dann erst würden die Knospen kommen und die Blätter. Und weil wir alle zu faul dazu wären, gäbe es nie mehr Frühling. Birte hat manchmal lustige Ideen, die traurig enden.

Der Mai draußen ist gar kein richtiger Mai. Deshalb bleibe ich drinnen. Drinnen flackert die Glühbirne wie eine sterbende Sonne. In ihrem Licht erstreckt sich das ungemachte Bett als Moorlandschaft, in der an dunklen Sonntagnachmittagen verlorene Seelen umgehen. Sie bescheint den alten Eichenschrank in der Ecke, auf dem lauter kleine Schachteln stehen und der aufragt wie ein Berg mit kleinen Dörfern auf dem Gipfel, lauter kleinen Dörfern, aber er ist so hoch und so unwegsam, der Berg, dass aus den Dörfern niemand hinabsteigen kann und niemand zu ihnen hinauf. Die Sonne scheint auch auf den Kühlschrank. Hinter die Kühlschranktür scheint sie nicht.