Jonathan Lethem

Alan, der Glückspilz

Stories

Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass

Impressum

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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Lucky Alan and Other Stories«
im Verlag Doubleday, New York

© 2015 by Jonathan Lethem

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Zero Media GmbH, München

U1: © Stocksy/J. Márquez

Motiv U4 und Bezug U4 : © Finepic®, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50155-1

E-Book: ISBN 978-3-608-19195-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Desmond Brown

Alan, der Glückspilz

In den Monaten, nachdem ich bei ihm vorgesprochen hatte, begegnete ich dem legendären Theaterregisseur Sigismund Blondy im Kino, in beinahe leeren Donnerstagsmatineen, wo mittelmäßige Filme ihre Erstaufführung erlebten – Kaltes Land, Die Hochzeits-Chrasher – in den verfallenden Sälen der Upper East Side, wo wir beide lebten: dem Crown, dem Clearview, dem Gemini; große Räume, in asymetrische Hälften gehackt oder durch den Balkon sogar gevierteilt. Blondy sah sich jeden Nachmittag einen Film an, so sagte er, und konnte zu jedem Titel, der einem nur einfiel, eine peinlich genaue Bewertung abgeben – meist vernichtender Natur, obgleich ich mich seiner feierlich-anerkennenden Worte zu A Sound of Thunder entsinne, einem Zeitreise-Film mit Ben Kingsley, dessen Spiel ihm gefallen hatte. Ich sah Blondy, wenn das Licht wieder anging – allein, den roten Schal und fahl-eleganten Mantel über den Sitz neben sich ausgebreitet, die langen Beine über Kreuz – unverhohlen erfreut, mir bereits zuwinkend, wenn er mich zuerst gesichtet hatte. Blondy trug Graubraun und Pastelltöne, Cordhosen oder Pluderhosen wie ein Tänzer; im Winter hatte er Löcher in den Strickhandschuhen, im Sommer trug er einen billigen Panamahut. Er ragte hoch auf, bewegte sich geschmeidig und plötzlich und verschwand für gewöhnlich, bestand das Risiko, dass man ihn jemandem vorstellen könnte. Bald fing ich an, nach Blondy Ausschau zu halten, wann immer ich ein Kino betrat, egal ob allein oder nicht. Häufig entdeckte ich ihn. Nebeneinander saßen wir nie.

Falls sein Dasein als Multiplex-Stammgast nicht so recht zu Blondys Ruf als verehrtem Maestro einer speziellen Form des Miniatur-Theaters passte (namentlich Krapps letztes Tonband, aufgeführt im Fahrstuhl eines Bürogebäudes aus der Vorkriegszeit, der während der Vorstellung auf- und abfuhr, mit Blondy selbst als Krapp, für ein zusammengepferchtes Publikum von jeweils fünf oder sechs), spielte das keine Rolle, da dieser Ruf kaum in Blüte stand. Ich hatte bei ihm vorgesprochen – mich eigentlich eher bloß mit ihm unterhalten – für eine Rolle in einer Repertoire-Produktion einiger der One Thousand Avant-Garde Plays von Kenneth Koch. Dianne West saß mit uns im Hinterzimmer des italienischen Restaurants in SoHo, wo der Koch-Zyklus aufgeführt werden sollte und wo dieses evaluative Tête-à-Tête stattfand. Nüchtern verfolgte sie unser Gespräch, ihre nicht weiter kommentierte Anwesenheit war symptomatisch für Blondys Zelig-artige Infiltration der kulturellen Stadtlandschaft. Nur Wochen später erfuhr ich, dass Blondy sich mit dem Eigentümer des Restaurants überworfen und damit das Vorhaben auf Grund gesetzt hatte. Ich hatte gewartet, monatelang, war davon ausgegangen, dass das Projekt wiederbelebt werden würde. Irgendwann hatte ich dann angenommen, ersetzt worden zu sein und mit einem halben Auge die Times im Blick behalten und auf eine Ankündigung gewartet. Aber der Koch war nirgends aufgetaucht und auch nichts anderes. Womöglich war Blondys Lauf zu Ende. Vielleicht hing er aber auch nur vorübergehend in der Luft, vollständig in seinen Grübeleien verloren. Und dann, in den darauffolgenden Monaten, war er nach und nach zu meinem Kino-Doppelgänger geworden.

Offiziell besiegelt wurde das Ritual, als er mich zum ersten Mal nach dem Film auf ein Glas Rotwein einlud, so als ginge es an diesem Nachmittag ohnehin eigentlich just darum. Zur Schlummerstunde saßen wir in irgendeiner Weinbar an der Madison oder Second Avenue, unvermeidbarerweise neben jenen, die auf ihre Verabredungen zum Abendessen warteten, jenen, die selbst mir das Gefühl gaben, alt zu sein. Ob Blondy sich je alt fühlte, konnte ich nicht abschätzen. Seine Pomphaftigkeit, die Kehrtwende-Anekdoten, seine Verachtung gegenüber naheliegenden Meinungen, legte dies nicht nahe, sondern führte bloß dazu, ihm höchste Bewunderung zu zollen. Was ich tat. Blondy glich einem Schlittschuhläufer, der seinen eigenen Fluss hinaufglitt, ein gefrorenes Band, auf das der Rest von uns womöglich einen Blick erhaschte, von der Eisbahn aus, wo wir zu blecherner Musik im Kreis fuhren. Als wir zum ersten Mal gemeinsam aus dem Kino kamen, noch bevor wir ein Glas geleert hatten, erzählte ich ihm, ich hätte mit der Schauspielerei aufgehört. Blondys vertrauliches Lächeln schien, auf nicht unsympathische Weise, sagen zu wollen, dass das sicher das Beste war. Wir sprachen selten über den Film, den wir gerade gesehen hatten; stattdessen diskutierten wir große Kunstwerke – die Rothko-Retrospektive, Fassbinders Berlin Alexanderplatz, Durells Alexandria-Quartett, was auch immer Gegenstand seiner derzeitigen Obsession war. Nachdem ich nach zwei oder drei Gläsern auf leeren Magen beduselt war – Blondy ließ sich nie eine Wirkung anmerken –, verabschiedeten wir uns auf dem Gehsteig.

Als mir irgendwann auffiel, dass ich Sigismund Blondy eine Weile nicht mehr gesehen hatte, hätte ich nicht sagen können, wie lange das nun her war. Vier Monate? Acht? Mir schien, als wäre er im Löchrige-Handschuhe-und-roter-Schal-Modus gewesen, als wir zum letzten Mal aus einem Kino hinaus- und in eine Bar hineingehuscht waren, was aber nicht sonderlich bei der Eingrenzung half. Auch jetzt bewegten wir uns erneut auf Schal-Wetter zu. Vielleicht hatte Blondy den Sommer irgendwo anders verbracht – Provincetown? – und sich entschieden, nicht zurückzukehren, und eine ortsansässige Gruppe engagiert, um in einer Hafenarbeiterkneipe oder im Foyer einer Kegelbahn Theaterstücke zu inszenieren. Sig Blondy, der große Fisch in einem kleinen Teich? Mir war kein vollkommenerer New Yorker bekannt, weshalb ich anfing, mir Sorgen zu machen.

Unsere beiden gemeinsamen Bekannten konnten unmöglich wissen, dass der Regisseur und ich gemeinsam Nachmittage verbrachten, aber als ich sie anrief – der erste hatte Blondys Nummer nicht und der zweite eine, die er für »die alte Nummer« hielt, doch dann fand er eine weitere, die er zu probieren empfahl –, war keiner auch nur interessiert genug, um nachzufragen, warum ich ihn überhaupt aufstöbern wollte. Vielleicht erinnerte man sich in letzter Zeit weniger gut an Blondy, als ich vermutet hatte. Blondy, höchstwahrscheinlich Anfang sechzig, war mir immer beängstigend vital erschienen, aber in dem Alter konnte es auch plötzlich bergab gehen. War ich, ohne es zu merken, auf irgendein stilles Abkommen gestoßen, geschlossen zwischen den stolzen Junggesellen Manhattans, sich gegenseitig Rückendeckung zu geben? In meiner rasch erblühenden Phantasie wurde aus Blondy ein armer Tropf, aus mir selbst ein Retter in der Not. Ich wählte die Nummer. Blondys Anrufbeantworter sprang gleich beim ersten Klingeln an. Ich hatte mir schon gedacht, dass er eher alte Schule war und erstmal horchte, wer überhaupt anrief.

»Grahame«, sagte er und unterbrach meine Nachricht. Sein Tonfall war generös, so als gratuliere er mir zu meinem Namen.

Ich hatte um Worte gerungen, um meine Besorgnis bündig zum Ausdruck zu bringen, versuchte nun aber, in die Defensive gedrängt, einen Witz zusammenzustoppeln. Sein Vergnügen, den Hörer mitten in meinem Gestammel abgehoben zu haben, hatte etwas von seiner Freude über unsere früheren, doppelbödigen Begegnungen in Kino-Foyers, bevor wir begonnen hatten, miteinander etwas trinken zu gehen. Was ich nun sagte, war: »Gehen Sie überhaupt nicht mehr ins Kino, oder ist Ihnen der Seniorenrabatt peinlich?«

»Oh, und ob ich gehe. Jeden Nachmittag. Bloß nicht mehr im alten Gähn-tri-Viertel.«

»Sie fehlen mir«, platzte ich heraus.

Er sei nach Downtown gezogen, erklärte er, in die Minetta Street. Versteckspiel vor aller Augen, so nannte er es. In der Vergangenheit hatte er immer wieder von seiner innigen Zuneigung zu dem Block an der Seventy-eighth Street gesprochen, wo er jahrzehntelang in einer Schnäppchenwohnung mit stabiler Miete die Stellung gehalten hatte, von seinem anhaltenden Entzücken über die Völker der Hundeausführer und Kindermädchen, mit denen er dort Kontakt gehabt habe, und einmal die Upper East Side als »die letzte Bastion des wahren Manhattan« bezeichnet. Aber ich bekam keine Gelegenheit, mich zu erkundigen, warum er ihr den Rücken gekehrt hatte. »Ich habe ein paar Fragen an Sie«, sagte er. »Wann könnten Sie hier sein?«

»Fragen?«

»Besser als das, einen questionnaire. Sie werden schon sehen.«

»Sie möchten, dass ich in die Minetta Street komme? Heute?«

»Nun, das Film Forum bringt heute Mizoguchi – Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond. Schon mal gesehen?« Etwas in seinem Drangsalieren und Bezirzen erinnerte an den Regisseur in ihm, und in meiner Natur lag es, nehme ich an, dirigiert zu werden.

Ich war von Ugetsu überrascht. Als wir den Film nach der Vierzehn-Uhr-fünfzehn-Matinee diskutierten, während wir auf der Sixth Avenue nach einem Restaurant mit passender Bar Ausschau hielten, sagte Blondy, er habe jahrelang das Gefühl gehabt, dass zwei Szenen gegen Ende des Films von der idealen Reihenfolge abwichen – der einzige Fehler, wie er stets gedacht hatte, in einem perfekten Kunstwerk –, aber heute, im Film Forum sitzend und darauf wartend, den Fehler zu sehen, dessen er sich einst so sicher gewesen sei, habe er ihn nicht entdecken können. »Das Lächerliche ist, dass ich all die Jahre herumgerannt bin in der festen Annahme, ich wüsste es besser als Mizoguchi! So als hätte ich mich selbst gegen die Perfektion des Films verteidigen müssen.« Ich war tief beeindruckt, so wie ich es womöglich auch sein sollte, von der Gewissenhaftigkeit, mit der er sich den Dingen widmete, die ihm wichtig waren. Gleichzeitig war ich wahrscheinlich von dem Wandel innerhalb unserer Freundschaft beeindruckt. Wir hatten uns einen Film angesehen, der Blondy wichtig war, keinen Trash, und zum ersten Mal im Saal nebeneinander gesessen, so dass ich Blondys schwachen, aber unverkennbaren Geruch nach Hund wahrnehmen konnte. Ich hatte das Gefühl, irgendwie in Blondys Drehbuch geraten und nun gleichzeitig der Hauptdarsteller wie auch der einzige Zuschauer in dieser infinitesimalsten seiner Produktionen zu sein.

Als wir es uns mit zwei Gläsern Syrah bequem gemacht hatten, zog Blondy eine Reihe zerknitterte Fotokopien aus der Tasche. »Gut. Hier sind also die Fragen, die ich Ihnen stellen wollte«, sagte er, so als habe er von vornherein auf meinen Anruf gewartet.

»Okay.«

»Sie stammen aus dem Fragebogen von Max Frisch. Bereit?«

»Sicher.«

»Wir werden nicht den ganzen Fragebogen durchgehen. Ich werde nur einzelne Fragen herauspicken.«

»Gut, in Ordnung.«

»›Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?‹«

»Wie bitte?«

»So lautet die erste Frage«. Er verfiel wieder in provozierend-theatralisches Gemurmel. »›Sind Sie sicher, dass …‹«

Ich gab mein Bestes bei der Antwort, erklärte Blondy, ich glaubte, jedem solle am Fortbestand der Art gelegen sein, aber er unterbrach mich. »Nein, Sie«, sagte er. »Was denken Sie?«

»Ja, ich wäre traurig, wenn es keine Menschen gäbe.«

Er sprang vor zur nächsten Frage. »›Wem wären Sie lieber nie begegnet?‹«

Mein einziger Zusammenstoß mit Harold Pinter war ausgesprochen enttäuschend gewesen. Ich fing an, davon zu erzählen. Blondy unterbrach mich erneut.

»›Möchten Sie das absolute Gedächtnis?‹ Beantworten Sie nur die Fragen, die Sie interessieren, Grahame. ›Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen gegen den Widerspruch der Mehrheit?‹«

»Okay, Sigismund, worum geht es hier?«

»›Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?‹«

»Allzu sehr, fürchte ich.«

»›Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?‹«

Seine Stimme war derart hinreißend, dass ich vermutete, wir seien beide hingerissen. Er hätte genauso gut darum bitten können, mir Gedichte vorlesen zu dürfen, obwohl ich davon überzeugt war, dass er meine Antworten hören wollte. »Was ist mit Ihnen, Sig? Beantworten Sie diese Frage.«

Er nickte, hob sein Glas. »Und ich hasse mich dafür.«

Wieder fragte ich mich, ob ich gerade das Geräusch einer zuschnappenden Falle gehört hatte. Hatte ich den mir zugedachten Text gesprochen? Kamen wir womöglich zum Punkt?

»Wem?«

»Alan Zwelish«, sagte Blondy.

Sigismund Blondy hatte Alan Zwelish bereits seit einigen Jahren gekannt, so wie man sich als Nachbar in Manhattan eben kannte, wiederholt während flüchtiger Momente das einnehmende Gesicht erspähte, wenn der eine oder der andere von der Straße ausscherte und, schräg gegenüber, im Eingang seines jeweiligen Gebäudes verschwand, oder im Vorraum mit den Geldautomaten der Chase-Filiale an der Seventy-ninth oder in dem koreanischen Spätkiosk, wo man sich, im Fall von Zwelish, eine Schachtel Zigaretten oder, im Fall von Blondy, eine Flasche Ingwerbier oder ein Päckchen Wasabi-Erdnüsse kaufte. Oder, wohl am aufwühlendsten, weit entfernt von dem Block, in dem sie beide wohnten, an einem heißen Samstagmittag an nebeneinanderliegenden Bücherständen am Union Square, wo sie der Eigentümlichkeit, einander derart weit draußen entdeckt zu haben, mit einem kurzen Nicken Tribut zollten. Bei diesem Nicken hätte man es belassen können. Aber Blondy spielte nicht nach den Manhattaner Nachbarschaftsregeln. Er war provokant, redselig, gierig. Er sammele Lebensgeschichten, wie er mir einmal prahlerisch erzählte, etwa im Geschwader der Hundeausführer des Blocks, die auf dem Weg zum Park wie Maibäume in den Hundeleinen hingen, verwirrt davon, angesprochen zu werden, wo doch so ziemlich jeder die Straßenseite wechselte, um einem Pulk frenetischer Terrier auszuweichen. Er gurrte so lange Babys in Kinderwagen an, bis einsame tibetanische Kindermädchen, die Unsichtbaren von Manhattan, ihm praktisch ohnmächtig in die Arme sanken. Blondy tat sich auch an Kellnerinnen gütlich; ich hatte ihn dabei beobachtet.

Alan Zwelish jedenfalls, klein, muskulös, vor Argwohn funkelnde Augen, die Sakkos mit Schuppen feenbestäubt, wurde zum Faszinosum. Noch mit Bart, als er Blondy zum ersten Mal aufgefallen war, rasierte sich Zwelish im Verlaufe eines Jahres oder so, offenbarte Gesichtszüge, die jünger und grimmiger waren, als von Blondy vermutet, zudem ein knotiges Kinn und irgendwie sinnliche Lippen. Hatte ihm die prätentiöse Gesichtsbehaarung etwas Professorales verliehen, offenbarte deren Fehlen, dass er nicht älter als fünfunddreißig sein konnte. Seine Raucher-Manierismen Marke Bogart wirkten wie vor dem Spiegel einstudiert und waren, ebenso wie der abgelegte Bart, ein Versuch, die Kontrolle über den unteren Teil des Gesichts wiederzuerlangen. Blondy beobachtete, wie diese auffällige, wie ein Flitzebogen gespannte Person auf der Straße an ihm vorbeihastete, und begann mit seinen Projektionen; er konnte nicht anders: abgebrochenes Journalismusstudium, besorgte verheiratete Schwestern in New Jersey oder Connecticut (wahrscheinlich New Jersey), Gewichte, aber kein Cardio-Training, betrübliche Blinddates, Zigarrenafficionado und Hi-Fi-Fan, Essen zum Mitnehmen und Pornos en masse. Fest stand hingegen Folgendes: Zwelish gehörte sein Apartment, der Keller eines genossenschaftlichen Stadthauses, und er verdiente sein Geld als Berater für Businesssoftware – diese Fakten hatte Blondy aus Alan Zwelish herausbekommen, halb freiwillig, als er sich auf der Seventy-eighth Street das erste Mal vorgestellt hatte.

Als sie einander das nächste Mal begegneten, versuchte Zwelish in die andere Richtung zu schauen, ganz so, als habe er durch die Herausgabe dieser Informationen eine Gebühr entrichtet und könne nun wieder zum flüchtigen Bekannten werden. Aber keine Chance, nicht bei Blondy, der eines seiner In-medias-res-Manöver lancierte (ein Äquivalent, vielleicht, des Fragebogens von Max Frisch): Die Papageien seien verschwunden, hatte Zwelish davon gehört? Wie bitte? Zwelish habe noch nie den Schwarm grüner Papageien gesehen, Gerüchten zufolge über die Jahre entflogene Haustiere, die sich in bestimmten Bäumen in der York Avenue, Ecke 77th Street, versammelten, wo man Zeuge ihres tropischen Stimmengewirrs werden könne? Zwelish müsse sie unbedingt anschauen. Aber Blondy hatte sie schon seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Hatte Zwelish gerade etwas Dringendes zu erledigen, oder würde er Blondy auf einen Spaziergang begleiten, um sie zu suchen? Unglaublicherweise – oder auch nicht, angesichts Blondys Charisma – entschuldigte sich Zwelish für einen Moment, um seine Aktentasche ins Haus zu bringen und zu pinkeln, stieß dann wieder zu Blondy, und gemeinsam schlenderten sie in Richtung York Avenue. Es war ein makelloser Nachmittag, vom Fluss her kam ein wohltemperierter Wind. Die Papageien fanden sie ohne Probleme. (Ob sie überhaupt je verschwunden waren, darauf musste Zwelish sich selbst einen Reim machen.)

Jetzt war der kleine harte Mann geknackt. Als Sigismund Blondy ihn entdeckt hatte, hatte Zwelish eine brennende Aura der Einsamkeit umgeben, aber Blondy war in die Penumbra eingedrungen. Nun fing Zwelish Blondy auf der Straße ab, um ihm von familiären Notlagen zu berichten: dem nahezu unerträglichen Passahfest bei seiner – jawoll! – Schwester in New Jersey, den Schwierigkeiten, die verworrenen Kapitalanlagen seines Vaters zu liquidieren, über die seine hochbetagte Mutter wachte. Und, hauptsächlich, um große Töne zu spucken. Trank Blondy etwa das Dreckswasser, das aus den Hähnen der Seventy-eighth Street kam? Er müsse an seiner Spüle das und das Aufbereitungssystem installieren. Geld in einem Geldmarktfond aufzubewahren, sei praktisch dasselbe wie es wegzuwerfen; Zwelish war an ganz bestimmten dubiosen Technologie-Aktien beteiligt und hatte außerdem einen Motherwell-Druck erworben. Blondy war für ein Wochenende in ein Gästehaus in die East Hamptons eingeladen? Die Unterkunft sei die Hölle, das könne man ihm, Zwelish, glauben. Sein Kumpel aus Highschool-Zeiten führe eine Pension in den Berkshires, viel besser vom Preis-Leistungs-Verhältnis her. Blondy wohne zur Miete? Hoffnungslos! Für ihn war alles ein Konkurrenzkampf, an dem sich Blondy aber nicht beteiligen wollte und daher zu ihm sagte: »Schau, wen du hier vor dir hast, Alan. Ich bin wie die Papageien, raste bloß hier, dekoriere die Gegend. Ich möchte lieber nichts hinterlassen, außer köstlichen Erinnerungen.« Maxime des Künstlers, die Zwelish allerdings nicht ratifizieren wollte. »Sie sind ein Trottel«, sagte er. »Richtig«, pflichtete Blondy ihm bei. »Ich bin ein Trottel, stimmt genau.« Zwelish runzelte die Stirn. »Aber wissen Sie nicht, wie gefährlich es ist, ein Trottel zu sein? Für Sie und andere?« Welche anderen, dachte Blondy.

Vielleicht meinte Zwelish die Frauen. Sigismund Blondy war, wie jedes andere Exemplar der Spezies imposanter Lebemann, von Frauen umgeben, in Rollen, die ihnen selbst nicht ganz klar waren: Verflossene, Freundin, Affäre. Zwelish hatte bei dieser eleganten Herde eine gewisse Zahl an Zugängen und Abgängen verzeichnet, war schließlich in den Morgenstunden in einem griechischen Diner an der First Avenue jemandem vorgestellt worden, was auf eine Übernachtung hindeutete, bevor er sich Blondy eines Tages allein schnappte und zu ihm sagte: »Okay, Sig, wie stellen Sie es an?«

»Wie stelle ich was an?«

»Ich habe Sie in den letzten zwei Monaten mit fünf verschiedenen Frauen gesehen.«

»Bekannte, Alan, das sind meine Bekannten.«

Zwelish zertrat seine Zigarette unter dem Laufschuh, so wie er Blondys Verteidigungslinie plattmachen wollte. »Verarschen Sie mich nicht. Ich habe gesehen, wie sie sich anlehnen. Das machen Bekannte nicht.«

»In meinem Alter lehnen sich Frauen aus allen möglichen Gründen bei einem an.«

»Von solchen Bekannten könnte ich auch ein paar gebrauchen.«

Blondy hatte das Gefühl, ihm sei in bemerkenswerter Weise Vertrauen geschenkt worden. Seiner eigenen Unbekümmertheit zum Trotz wäre er nie auf die Idee gekommen, einen so unansehnlichen Mann wie Zwelish einfach fragen zu können, wie er so zurechtkam. Bevor es jedoch allzu gefühlsduselig wurde zwischen ihnen, rammte Zwelish ihm ohnehin das Messer hinein. »Ich habe auch gesehen, wie Sie sogar diese ungebildeten Babysitterinnen angraben. Der ganze Block spricht darüber.«

Diese Vorstellung traf Blondy im ersten Augenblick wie ein Schlag: dass er, der sich mit seiner Panoramaeinsicht in die Seventy-eighth Street brüstete, sich selbst unter dem Mikroskop befinden könnte. Und so, indem er sich diesen Moment zu Nutze machte, verschwand Zwelish.

Es war eine verletzende Freundschaft, wenn denn überhaupt eine. Und, wie bei Blondy und mir und dem Kino, konnten zwischen den Begegnungen viele Wochen vergehen. Entsprang das nur Blondys Phantasie, oder lugte Zwelish tatsächlich durch die Lamellen vor seinem Kellerfenster, bevor er entschied, ob er an einem bestimmten Nachmittag Blondy begegnen wollte oder nicht? Wenn sie einander trafen allerdings, schien Zwelish stets irgendetwas vorsätzlich Herausforderndes parat zu haben, so als bereite er sich mit Lernkarteikarten vor. »Noch nicht ganz wach?«, wenn er Blondy nachmittags mit einem Kaffee antraf. »Überhaupt nie mehr ganz wach«, entgegnete Blondy dann, stets bereit, den abgelebten Hofnarr zu geben, den Abgehalfterten, tunlichst darum bemüht, Zwelish keinen Grund zur Aufregung zu bieten. »Brauchen Sie Arbeit, Blondy? Sie sollten eine Oper über Donald Trump schreiben. So sehen heute Helden aus!« Blondy schrieb keine Opern, aber egal. Denn nach Zwelishs Bemerkung zu Beginn verfielen sie des Öfteren wieder in ihren früheren Modus des entspannten Wortgeplänkels. Dann kam Zwelish mitunter gar aus der Deckung und beschwerte sich, ziemlich vage, über »die urbane Frau von heute«. Er touchierte das Thema bloß, und auch Blondy insistierte bei diesem wunden Punkt nicht weiter. Zwelish schien genau zu wissen, wie verletzlich Zwelish sich zeigen wollte.

»Kannst du nicht eines der Kindermädchen dazu bringen, dir die Wäsche zu machen?«, sagte Zwelish eines Tages, als er sah, wie Blondy einen weihnachtsmannartigen Sack zum chinesischen Waschsalon buckelte. Zwelish wirkte außergewöhnlich fidel, ja aufgekratzt, und rollte einen Ärmel hoch, um ein Nikotinpflaster zu präsentieren. Wieder wurden große Töne gespuckt. Er erklärte, er habe die Pflasterdosierung bereits um zwei Stufen reduziert und das, nachdem er fünfzehn Jahre lang täglich eine Schachtel gequalmt habe.

»Mir ist der Gedanke noch nie gekommen«, sagte Blondy, »aber wenn jemand gern rauchen wollen würde, allerdings Schwierigkeiten mit dem Anfangen hätte, könnte er mit so einem Pflaster doch Erfolg haben, oder?«

»Wovon reden Sie?«

»Wenn man Raucher werden wollte«, fing Blondy an, ihm den Witz auseinanderzusetzen, »könnte man doch die Dosis hochfahren statt runter.« Zwelish brachte die alberne Seite in ihm zum Vorschein; er konnte es nicht ändern. »Hätte man irgendwann die Höchstdosis erreicht, würde man sich das Pflaster abreißen und – voilà! – müsste sofort dringend eine rauchen.«

»Lecken Sie mich doch«, sagte Zwelish und ging. Seine Selbstoptimierungsmaßnahmen waren offenbar nichts, worüber man lachte.