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LUDWIG
CARDANO

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TEIL III
Verschwunden in der Zeit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Johann Auer

Coverfoto: © Shutterstock, Andrea Crisante

ISBN Printausgabe: 978-3-99200-238-2

ISBN e-book (gesamt): 978-3-99200-239-9

ISBN e-book (Teil I): 978-3-99200-243-6

ISBN e-book (Teil II): 978-3-99200-244-3

ISBN e-book (Teil III): 978-3-99200-245-0

Inhalt

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

9

Unmittelbar nach Michaels Besuch sah es so aus, als ob Don Rodrigo Aguirre y Girón die Polizei anrufen würde, aber Dr. Mathiasek gelang es, ihm dieses Vorhaben auszureden. Das dauerte eine Stunde, in der der deutsche Ingenieur dem Spanier ununterbrochen zuredete wie dem sprichwörtlichen kranken Ross. Die Polizei, führte Mathiasek aus, würde die selbstgebastelte Mine entdecken, mit ihren Sprengstoffhunden auch das Semtex oder was es war – dann würde etwas in die Presse durchsickern, erst in die bunten Organe, dann in die seriösen – warum? Weil das hier eben so zu sein pflegt! Rodrigo kannte die Gepflogenheiten in seiner Heimat, nicht die in Mitteleuropa, wo es eine yellow press, wie er sie gewohnt war, gar nicht gab. Das wusste er nicht, aber Mathiasek wusste, dass er es nicht wusste. Die Presse, setzte er fort, würde recht bald mit dem Thema Terrorismus daherkommen, rechtsradikalem natürlich, darauf seien sie besonders scharf, das könnte sich señor Aguirre doch sicher vorstellen, diese deutschen Schreiberlinge seien doch alle Kommunisten. Die Politik würde sich dem Meinungsdruck beugen und eine riesige Untersuchungsmaschinerie in Szene setzen. Das Objekt würden sie zwar nicht finden (zu voreingenommen, einfacher: zu blöd) – aber jede seriöse Erforschung des Phänomens für alle Zukunft verhindern. Der Name Aguirre y Girón würde natürlich mit großer Regelmäßigkeit in den Medien auftauchen. Und alles Mögliche wieder ausgegraben, das man mit hohen Kosten in den Orkus des Vergessens gestoßen hatte. Besonders diese Waffengeschäfte. Eine Firma Rodrigos stellte Munition her, die in Konfliktzonen aufgetaucht war, wo sie nicht hätte auftauchen sollen. Das galt auch für andere Firmen, aber Aguirre würde man einen Strick daraus drehen – ob er, Rodrigo, wisse, dass man hierzulande für das Zeigen des saludo fascista mit fünf Jahren Gefängnis bestraft wird? Fünf Jahre Minimum! Nein, das hatte señor Aguirre nicht gewusst. Und es gebe wegen dieser Dinge einen Geschworenenprozess wie bei einem Kapitalverbrechen. Dann schwieg Dr. Mathiasek und ließ das Erzählte wirken. Er musste nicht lang warten.

„Bien“, murmelte Rodrigo, „parece que usted tiene razón, doctor.“ Weiter sagte er nichts, legte sich nur aufs Kanapee im Wohnzimmer und starrte an die Decke. Mathiasek seufzte. Sehr leise. Er hatte das Übel abgewendet, fürs Erste. Aber eben nur fürs Erste. Mathiasek rannte aus dem Haus, lief die Auffahrt hinunter auf den schmalen Weg, wandte sich nach rechts zum Seehaus des Schriftstellers und sah Michael und Odabella auf der Terrasse sitzen. Er winkte, sie winkten zurück, Odabella einladend; er solle heraufkommen.

„Möchten Sie?“, fragte sie, „wir trinken grad Kaffee.“

„Nein, danke … ein Wasser, bitte, wenn es möglich wäre … es geht um diese Sache mit der Mine …“

„Das ist doch Sache der Polizei!“ Michael war lauter geworden als beabsichtigt.

„Señor Aguirre geht nicht zur Polizei!“, rief Dr. Mathiasek, Odabella wunderte sich, warum beide Männer laut wurden. Wie bei einem Streit. Aber worüber sollten sie streiten? Dieser Mathiasek sah elend aus. Den Satz, dass der Spanier nicht zur Polizei gehe, schien er nicht weiter erläutern zu wollen. Michael fragte auch nicht nach. Sie ging das Glas Wasser holen.

„Was hat er vor?“, fragte Michael nach einer Weile.

„Ich habe keine Ahnung …“

„Glaub ich Ihnen nicht. Wenn Sie gesagt hätten: Weiß ich nicht – gut, hätt’ ich geglaubt. Aber Sie haben sehr wohl eine Ahnung, verehrter Doktor, und deswegen sind Sie überhaupt hier!“ Der Deutsche seufzte und trank das Wasser, das ihm Odabella reichte, in einem Zug aus.

„Ich kann“, sagte er dann mit leiser Stimme, „nicht darüber reden. Und damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich weiß auch nichts darüber. Offiziell …“

„Worüber?“, wollte Odabella wissen. Dieses männerbündlerische Heimlichgetue ging ihr auf die Nerven.

„Was Don Rodrigo alles anstellt, wenn etwas nicht so geht, wie es sich Seine Gnaden eingebildet haben“, erklärte Michael. „Er selber macht natürlich gar nichts. Er reist ab. Dafür kommt dann jemand – anderer. Hab ich recht?“

„Man sagt ja, die Schriftsteller brauchen Fantasie. Aber auch Einblick in die Wirklichkeit, sonst wird das nichts mit dem Schreiben. Sie haben tiefen Einblick in die Wirklichkeit, Herr Manolis, das muss ich Ihnen zugestehen. Ich bin voller Bewunderung …“

„Was soll denn das heißen?“ Odabella wurde ärgerlich. „Redet ihr in Codes? Agentenscheiß?“

„Ja und ja“, antwortete Michael. „Codes und Agentenscheiß. Das erlaubt dem Dr. Mathiasek, etwas mitzuteilen, ohne was zu sagen.“ Er blickte den anderen an, der schaute weg. „Es kommt jemand und … bereinigt die Sache.“

„Wer kommt?“

„Jemand“, sagte Dr. Mathiasek.

„Aus Spanien?“ Mathiasek zuckte die Achseln. Odabella begann zu begreifen. „Das ist mir alles ebenso neu wie unangenehm, Herr Doktor, ich frage mich nur, was Sie jetzt von uns wollen?“

„Don Rodrigo wäre unter Umständen bereit, nicht abzureisen, wenn die Gefahr zuverlässig beseitigt wird“, beeilte sich Mathiasek zu versichern.

„Und da kommen Sie zu uns?“, fragte Michael. „Beseitigung der Gefahr? Was soll das überhaupt heißen – wollen Sie Malcolm Graham eliminieren?“

„Don Rodrigo würde es reichen, wenn man die Mine …“

„Und das sollen wir bewerkstelligen?“, rief Odabella. Dieser deutsche Ingenieur oder was er war, ging ihr auf die Nerven. Mathiasek antwortete nicht. Er sah bekümmert aus. Wie jemand, fuhr es Michael durch den Kopf, der einen Plan B hatte, falls Plan A nicht funktioniert, was er ja für gewöhnlich niemals tut, aber nun feststellen muss, dass sich Plan B mit seinem Kollegen A solidarisch erklärt und auch nicht klappt. Mathiasek tat ihm leid.

„Ich warte“, sagte Odabella.

„Ja, Schatz“, sagte Michael, „aber lassen wir dem Doktor doch ein bisschen Zeit. Sicher hat er sich was überlegt …“

„Vielleicht, wenn Sie – ich meine Sie beide, natürlich Sie beide – also, wenn Sie mit der Baronin reden könnten …“

„Ha!“, machte Odabella, was Mathiasek irritierte, Michael aber auch. „Der Don“, beeilte sich der Doktor fortzusetzen, „kann ja mit seiner Frau nicht sprechen, wie Sie vielleicht mitbekommen …“

„… mit seiner Exfrau“, unterbrach ihn Michael.

„Nein, mit seiner Frau, der Baronin, geborene Coltrano. Die beiden haben ein ganz schlechtes …“

Divorciado. Hat er mir jedenfalls erzählt“, sagte Michael.

„Das sagt er so – im Ausland“, erklärte Mathiasek mit leichtem Grinsen. „Aber richtig geschieden sind sie nicht, wo denken Sie hin! Das ist im spanischen Hochadel unmöglich, die sind doch alle katholischer als der Papst. Und ich meine das nicht metaphorisch!“

„Das ist jetzt aber seltsam.“ Michael stand auf. „Denn nach den Äußerungen der Baronin nahm ich an, dass sie geschieden ist, nicht bloß getrennt lebt. Hat sie wörtlich so gesagt.“

„Sicher aus demselben Grund. Es ist peinlich, verstehen Sie? Diese Sache, sich nicht scheiden lassen zu können. Wie im Mittelalter – aber ich sehe nicht, was das mit unserem Problem zu tun hat.“

„Merkst du was?“, fragte Odabella. „Jetzt ist es schon unser Problem. Vor fünf Minuten wussten wir noch nicht, dass es ein Problem gibt, jetzt ist es unsres!“

„Verzeihen Sie, Frau Manolis, wenn ich widerspreche: Sie sind mit der Minengeschichte zu uns gekommen!“

„Ja, und wir haben Ihnen geraten, die Polizei zu rufen!“ Michael war erneut laut geworden. „Das haben Sie nicht getan! Also tragen Sie die Folgen.“

„Wer eine Straftat beobachtet oder die Vorbereitung einer solchen, und dieses Wissen verheimlicht, macht sich mitschuldig, das ist in allen Kulturstaaten Gesetz.“

Michael wurde wieder leiser. „Das gilt dann aber auch für Sie, lieber Doktor Mathiasek. Sie müssten die Sache genauso anzeigen, also …“

„… also passiert mir gar nichts, denn mein Chef hat es mir verboten. Don Rodrigo ist mein Arbeitgeber. Ich bin wirtschaftlich völlig von ihm abhängig. Das sind sehr starke mildernde Umstände. Schuld ist Don Rodrigo. Der ist dann aber tot, Opfer des Anschlags, den Sie nicht angezeigt haben, Herr Manolis. Verstehen Sie jetzt die Lage? Sie kriegen Ihr Verfahren und Ihre Verurteilung, keine Angst, nur ein Jahr oder so. Und natürlich die Geldstrafe, die Sie ruinieren wird.“ Er schwieg, blickte in die Ferne. Er sah noch bekümmerter aus als vorher. Jetzt, da er vor seinem geistigen Auge das traurige Schicksal des Autors Michael Manolis Gestalt werden ließ. „Das muss aber alles nicht so kommen“, fuhr er fort, „wenn Sie Ihren Einfluss auf die Baronin Coltrano wirken lassen, die wiederum ihrem Angestellten diese hirnrissige Idee mit der Mine ausreden kann. Don Rodrigo verlangt eine wirkliche, das heißt, bewiesene Beseitigung der Gefahr.“ Er stand auf. „Bis morgen kann ich ihn hinhalten. Danach garantiere ich für nichts mehr. – Danke für das Wasser.“ Er verließ das Haus, ehe Michael oder Odabella das Geringste gegen die vernommene Ungeheuerlichkeit vorbringen konnten.

Eine Weile herrschte Schweigen im Seehaus. Michael war erschüttert, wie immer, wenn jemandes Verhalten von seinen Erwartungen abwich, kaum etwas brachte ihn mehr aus dem Konzept. Erst danach kam die Wut.

„Was glaubt dieser kleine Wichser eigentlich, wer er ist? Ich werde …“ Da verließ ihn die Fähigkeit, zusammenhängend zu sprechen, er schnappte nach Luft.

„Reg dich nicht auf“, sagte Odabella, „das ist eben die Denke von diesen Leuten. Überleg, wo er herkommt! Ihm kommt das völlig normal vor. Egal, wie die Tatsachen aussehen, man kann es immer so drehen, dass der Einzelne schuld ist. Du gehst ins Gefängnis, weil du etwas nicht gemeldet hast!“

„Na schön“, sagte er dann, „dann meld ich es halt. Rufen wir die Polizei an.“ Odabella seufzte.

„Was hast du?“, fragte er.

„Dann wäre es aber aus“, sagte sie.

„Was meinst du?“

„Das hatten wir doch schon … die Polizei kommt, entdeckt die Mine, aus Sicherheitsgründen wird erst einmal der See gesperrt. Kein Bootfahren, Tauchen und so weiter. Die Seevilla wird durchsucht, der Bunker sowieso. Dort entdecken die Spezialisten einen Haufen Semtex, eine zweite Mine oder sonst was Illegales. Malcolm wird festgenommen, alle müssen Aussagen machen, der Seehund wird beschlagnahmt …“

„Wieso denn der Seehund?“ Michael fühlte sich unwohl.

„Weil er das Werkzeug zur Tatbegehung war … oder gewesen wäre … was weiß denn ich! – Ich will damit sagen, es gibt ein Riesenbohei mit Medien und allem Drum und Dran. Don Rodrigo wird nach Spanien retirieren. – Niemand taucht, niemand lüftet das Geheimnis der Plattformen. Niemand erfährt, wie das alles zusammenhängt. Oder, was sonst noch in diesem See verborgen ist. Dein Buch hätte keinen Schluss.“

Ah ja, das Buch. Über die Dame vom See. Das konnte er dann vergessen. Ja, die großen Magazine hätten ihre Titelgeschichten, da war es egal, wenn das Ende in der Luft hängt. Ist ja aktuell, Journalismus. Geradezu bezeichnend für die Zeitungschreiberei, dass es kein Ende gibt. Nur immer neue Fortsetzungen. Für einen Roman braucht es aber einen Bogen …

„Was machen wir also? Abwarten – bis jemand kommt? Und der Schotte abgemurkst wird?“

„Nein, wir reden mit der Baronin ein deutliches Wort. Ruf sie an. Soll sich herbemühen, und ihr Galan auch!“ So geschah es. Michael rief Elena an und bat sie, mit Malcolm unverzüglich im Seehaus vorbeizuschauen. Es gehe um Abwehr drohender Gefahr, die keinen Aufschub dulde. Zehn Minuten später stand die Baronin auf der Schwelle. Malcolm war nicht mitgekommen. Das Gespräch verlief kühl. Michael schilderte seine Beobachtungen auf der Insel und seine Begegnung mit Don Rodrigo und Dr. Mathiasek, sowie dessen Drohungen. Es liege nun an ihr, Malcolm zu überreden, seine geplante Sprengaktion zu unterlassen. Elena schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Ach, wissen Sie, Michael, Rodrigo droht gern und jagt den Leuten einen Schrecken ein.“ Sie räusperte sich und fuhr fort. „In Wahrheit ist er ein Feigling. Und diese Angeberei mit seinen Bekannten von der spanischen Legion! Ein paar Zausel im Pensionsalter. Von denen wird sich keiner bereitfinden, hierherzufahren und für Rodrigo die Schmutzarbeit zu machen. Oder auch nur irgendeine Arbeit, verstehen Sie? – Das sind diese Träume von vergangener Größe, die Falange, der Caudillo. Romantik im Grunde.“

„Das mag ja alles sein, Baronin“, sagte er, „Sie kennen ihn besser als wir, uns interessiert das aber nicht. Sondern nur eins: Was hat Malcolm mit der Seemine vor?“

„Ich weiß von keiner Mine! Ich verstehe bis jetzt nur, dass Sie ohne mein Wissen auf der Insel herumschnüffeln und mein Vertrauen …“ Weiter kam sie nicht. Odabella war hinter sie getreten, schlang ihr den rechten Arm um den Hals und drückte sie nach vorn auf die Tischplatte. Dann sprach sie ihr ins Ohr. Mit leiser, ein wenig klagender Stimme.

„Hören Sie zu, Baronin. Ich will Ihnen jetzt einmal erklären, was Ihr Problem ist. Ihr Problem ist, dass Sie uns für blöd halten. Das ist unerfreulich.“ Mit diesen Worten verstärkte sie den Druck ihrer Oberarme, Elena stöhnte auf, sie wollte sich befreien, konnte aber nicht. Michael erinnerte sich an die Handballvergangenheit seiner Frau. (Landesliga.)

„Ich sage Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben“, setzte Odabella in heiterem Ton fort. „Sie rufen jetzt Ihren Galan an und richten ihm aus, er möge den Seehund zum Auslaufen klar machen. Dann fahren wir alle drei auf Ihre schöne Insel und beenden das Theater.“ Sie riss die Baronin hoch und ließ sie los. Michael sagte: „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es weitergeht. Darf ich?“ Odabella nickte. „Sie müssen ihn natürlich nicht anrufen, den guten Malcolm“, fuhr er fort. Das liegt ganz bei Ihnen. In dem Fall rufen wir ihn an und klären ihn auf – über Ihre wahren familiären Verhältnisse bezüglich Don Rodrigo, Doña Coltrano de Aguirre, so sagt man das doch, oder? Sie waren nie geschieden, Elena, Rodrigo ist Ihr Ehemann! Malcolm wird das interessieren.“

Elenas Reaktion überraschte die beiden. Sie sagte nur: „Ich hätte Ihnen nie vertrauen dürfen. Schade.“

„Wir sehen uns dazu gezwungen“, antwortete er förmlich, „da Mister Graham Handlungen plant, die den Landfrieden bedrohen.“ Elena wählte auf dem Mobiltelefon. „Hör zu, du bist gesehen worden – mit dieser Mine … ja, ja, das weiß ich. Wir kommen jetzt rüber … der Schriftsteller und seine Frau … ja, okay.“ Sie stand auf. „Können wir?“ Man machte sich auf den Weg zur Landestelle, gesprochen wurde nichts. Gesprochen wurde auch nichts auf dem Solarboot; gesprochen wurde erst auf der Insel, wo Malcolm am Steg auf sie wartete. Er beklagte sich bei jeder Person, die ihn ansah, worauf diese Person den Blick abwandte. Alles sei nur ein Missverständnis, beteuerte er, wie man überhaupt auf die Idee kommen könne, ihm einen Anschlag zu unterstellen. Ja, diese Mine habe er im Becken unter dem Seehund entdeckt – und den Baron gefragt, was er damit machen solle …

„Du hast was?“, unterbrach ihn Michael.

„Ich hab gefragt, Elena war ja nicht da.“

„Und was hat er gesagt?“

„Blast it. Sprengen. Unter Wasser, of course. A world war two relic in the lake, you see? Corroded – it could explode …“ Michael war sprachlos. Das klang alles, nun ja … glaubhaft war das nicht. Eine Mine in dem See zu sprengen, wo man ein geheimnisvolles Artefakt zu finden hofft.

„Hat er auch gesagt, wo Sie das machen sollen?“, fragte Odabella.

„Of course. Near the shelter, thirty meters off land.“

„Also an einem bestimmten Punkt …“ Von dem man wusste, dachte Michael, dass dort am Grund nichts Wertvolles lag. Die Anweisung des alten Coltrano entsprach genau dem, was man von ihm erwarten konnte. Hau das Ding in den See und jag es hoch! Fort mit Schaden! Dazu passte auch das Anbringen einer Zündmasse. Michael war überzeugt, dass der Baron Malcolms Schilderung der Ereignisse bestätigen würde. Na gut, die Sache mit der Mine so zu bereinigen, entsprach nicht den Vorschriften, sicher nicht. Man durfte nicht einfach militärische Überreste in Eigenregie zur Explosion bringen, schon gar nicht in einem See, das verletzte zwei Dutzend Paragrafen. Mindestens. Andererseits: Verglichen mit einem Mordversuch war es Pipifax.

Er schaute auf Elena. Sie schien sich zu amüsieren. Odabella dagegen starrte finster ins Leere.

„Hören Sie zu“, sagte Michael mit aller Entschiedenheit, die er eben noch aufbringen konnte, „hier wird nichts gesprengt, verstehen Sie? Sowas machen wir hier nicht. Ich kann Sie nicht abhalten, zu tun, was Sie lustig sind, aber ich kann die Polizei verständigen. Nicht die Dorfpolizisten, sondern die richtige, ich hab da ein paar Verbindungen. Die kommen dann und nehmen den Bunker, das U-Boot und die Villa auseinander. An Ihrer Stelle, Baronin, Mister Graham, würde ich das vermeiden.“ Elena seufzte affektiert, Malcolm schien beeindruckt. In seinem englisch-deutschen Mischhirn drängten sich wahrscheinlich archetypische Bilder hunnischer Brutalität in den Vordergrund; schwarze Uniformen, blitzblanke Stiefel, die einem armen Ausländer die Nieren zertreten. Zur Abwehr musste er die Sache natürlich ins Lächerliche ziehen, salutierte also und bellte „Jawoll, Sturmbannführer!“ Michael unterdrückte ein Grinsen. „Wir machen es so“, setzte er fort, „Sie, Malcolm, und ich fahren mit der Mine raus und versenken sie. Natürlich muss vorher die Zündmasse entfernt werden. Das Semtex verbrennen wir …“

„Ach, müssen wir nicht den … wie heißt das … Entminungsdienst anrufen?“, fragte Elena. Sie lächelte dabei. Odabella hatte aber keinen Humor. „Können wir natürlich, das geht aber nur über offizielle Stellen. Dann kommt der Gewässerschutz, die Polizei natürlich, der Staatsanwalt und was weiß ich noch alles. Und das Fernsehen. Wollen Sie das?“

„Jetzt seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt, ich wollte nur …“

„Sie müssten sich eigentlich darüber im Klaren sein“, unterbrach Michael, „warum wir so handeln, wie ich es vorschlage, und nicht einfach die Behörde verständigen. Weil wir Ihnen Schwierigkeiten vom Hals halten wollen, die sich zweifellos ergeben würden. Sie hätten eine Menge sozusagen offizielle Probleme und einen Haufen inoffizielle mit den Medien. Sie hätten hier keine ruhige Minute mehr. Mit Rücksicht auf Ihren Herrn Vater wäre das nicht zu empfehlen. Einfacher, wir bereinigen alles auf dem kurzen Dienstweg.“ Zu Malcolm sagte er: „Vamos“, und schlug die Richtung zum Bunker ein. Malcolm folgte, Elena wollte noch etwas sagen, unterließ es aber und ging mit gemächlichen Schritten hinterher. Odabella bildete den Schluss.

Im Bunker wurde nichts mehr gesprochen. Malcolm holte die Mine per Flaschenzug aus dem Becken, entfernte die Bastelei, die er als Zünder vorgesehen hatte, und kratzte das Semtex aus der Bohrung des Originalzünders. Der Sprengstoff wurde hinter dem Bunker angesteckt, er brannte wie Pappe, etwas träge, bis auf den letzten Rest ab. Dann ließen sie die Mine wieder ins Wasser, stiegen in den Seehund, packten die Kugel mit den Greifarmen und verschwanden durch das Tor des Bunkers auf den See. Michael hatte sich die tiefste Stelle gemerkt, dort entließen sie die Mine. Da der Minenstuhl mit Auftriebskörpern fehlte, sank sie auf den Grund. Dort würde sie im sauerstoffarmen Bodenwasser für Jahrhunderte ruhen, dachte Michael.

10

Malcolm Graham befand sich in einer Art innerer Starre. Das war der Schock, aber da kam er erst nach einiger Zeit drauf. Es war seine Art, auf die Ereignisse zu reagieren. Er bewegte sich wie unter Wasser, das heißt, er hatte das Gefühl, sich so zu bewegen, langsam, träge. Von außen sah man nichts. Alle waren sehr verständnisvoll. Also Elena und der alte Coltrano. Der wollte nicht mit ihm über die Angelegenheit sprechen, „das gibt ihm die Chance“, hatte Elena erklärt, „deine Verfehlung nicht zur Kenntnis zu nehmen, verstehst du?“ Nein, tat er nicht, to be honest. „Wenn er nichts davon weiß, kann er sich nicht darüber aufregen, und es gibt keine Konsequenzen. Er mag dich wirklich, weißt du, genau wie ich …“ Dabei umarmte sie ihn.

Das nächste Essen mit dem Baron fand schon am selben Abend in der üblichen Atmosphäre leichter Konversation statt, die Sache wurde nicht erwähnt; Malcolm kannte das von der mütterlichen Verwandtschaft, eine Aura leichter Langweile beim Essen und danach. Alles Kontroverse wurde verschwiegen. Dieser Schriftsteller war nicht zur Polizei gegangen, das Schwein Rodrigo auch nicht, jedenfalls sah es nicht danach aus. Also klopfte auch kein Kommissar oder Inspector oder wie immer die hier hießen, ans Tor des Inselhauses, und niemand begehrte, vom Herrn Baron zu erfahren, ob er tatsächlich angeordnet habe, die deutsche Versuchsmine im Schwarzsee zur Explosion zu bringen. Das wäre ausgesprochen peinlich gewesen.

Nach dem Essen legte sich der Baron hin, Elena und Malcolm machten einen Spaziergang in den Inselwald. Da wich seine Erstarrung, machte aber leichtem Entsetzen Platz. Was taten sie hier eigentlich? Spazierengehen wie ein Paar aus einem Jane Austen Roman.

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