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Thomas Thiemeyer

Magma

Roman

Über dieses Buch

Es beginnt mit einem Ticken. Irgendwo in den Tiefen des Pazifiks fängt es an, dann weitet es sich aus, über den gesamten Erdball. Noch ahnt niemand, was es bewirkt, und das ist gut so. Wüssten sie es, sie würden schreien vor Angst.

Ein verschwundener Forscher, mysteriöse Kugeln aus Stein, ein Zeichen am Himmel – die Seismologin Ella Jordan steht vor einem Rätsel. Als sie sich zum tiefsten Punkt der Erde hinunterwagt, begleitet von einem Mann, der keine Vergangenheit zu haben scheint, beginnen die Ereignisse einen schrecklichen Sinn zu ergeben …

Für Max und Leon,
deren Abenteuer gerade erst begonnen hat …

Wahrlich, zuerst entstanden das Chaos und später die Erde. Breitgebrüstet, ein Sitz von ewiger Dauer für alle Götter, die des Olymps beschneite Gipfel bewohnen. Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel. Gaea, die Erde, erzeugte zuerst Uranos, den sternigen Himmel gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhülle, unverrückbar für immer als Sitz der ewigen Götter. Sie zeugte auch hohe Gebirge, der Göttinnen holde Behausung, und Nymphen, die da die Schluchten und Klüfte der Berge bewohnen. Auch das verödete Meer, die brausende Brandung gebar sie ohne beglückende Liebe. Aber dann später himmelbefruchtet gebar sie Okeanos' wirbelnde Tiefe, Koios und Kreios dazu und Iapetos und Hyperion, Theia sodann und Rheia und Themis, ferner Mnemosyne und Phoibe, die goldbekränzte, sowie auch die liebliche Tethys.

Als der jüngste nach ihnen entstand der verschlagene Kronos, dieses schrecklichste Kind. Er hasste den blühenden Vater. Auch die Kyklopen gebar sie, Brontes und Steropes und den finstergewaltigen Arges. Diese dann gaben dem Zeus den Donner und schufen die Blitze. Zwar in allem glichen sie sonst den ewigen Göttern, doch inmitten der Stirn lag ihnen ein einziges Auge und so hatte man ihnen den Namen Kyklopen gegeben. In ihren Werken aber lag Stärke, Gewalt und Erfindung.

Aber noch andere waren von Himmel und Erde entsprossen: drei ganz riesige Söhne, gewaltig, unnennbaren Namens: Kottos, Briareos auch und Gyges, Kinder voll Hochmut. Hundert Arme streckten aus ihren Schultern sich vorwärts, klotzig und ungefüg, und fünfzig Köpfe entsprossen jedem aus seinen Schultern auf starken, gedrungenen Gliedern. Grausig waren Kraft und Wucht, sie glichen gewaltigen Riesen.

Denn von allen, die so aus Gaea und Uranos stammten, waren die schrecklichsten sie – verhasst dem eigenen Vater gleich von Anfang. Sobald von ihnen einer geboren, barg Uranos sie alle tief im Tartaros, dem Schoße der Erde, und ließ sie nicht zum Lichte gelangen, sich freuend der eigenen Untat.

Aber es stöhnte im Innern die riesige Erde. Grambedrückt sann sie auf böse, listige Rache. Und sie formte sogleich ein graues Eisengebilde, eine gewaltige Sichel aus Adamas, dem Unbezwinglichen.

Ihre Kinder befreiend gab sie ihnen diese Waffe – auf dass sie damit den Vater bekämpfen mögen.

Hesiod: Theogonie

700 v. Chr.

Inhalt

Teil 1 Auftakt

Kapitel 1

Teil 2 Das Erwachen

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 3 Die Narbe

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 4 Der Pfad

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil 5 Das Leuchten

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Teil 6 Ausklang

Kapitel 55

Danksagung

Über den Autor

Teil 1

Auftakt

1

19. Mai 1954

Südtiroler Alpen

Der Nebel begann ihn einzukreisen.

Weiße Schwaden stiegen aus dem Boden, sammelten sich zwischen den Steinen und begannen, wie die Seelen verstorbener Bergwanderer über das zerfurchte Felsplateau zu ziehen. Spärliche Blätter von Trollblumen und Himmelsherold, die hier oben auf zweitausendfünfhundert Metern, zwischen Ritzen und Spalten gezwängt, die langen Winter überlebten, waren mit einer glitzernden Schicht Feuchtigkeit überhaucht. Kaum ein Wanderer, der sich hierher verirrte, war sich bewusst, dass diese von Wind und Wasser zerfressene Karstlandschaft aus einer Unzahl von Korallenbänken bestand, stumme Zeugen, dass diese Gegend vor zweihundert Millionen Jahren einmal der Boden eines Meeres gewesen war. Das fünfzig Quadratkilometer große Chaos aus Gräben, Spalten, Buckeln und Dolinen war ein Labyrinth, der steingewordene Wellenschlag eines urzeitlichen Meeres, aus dem selbst ein erfahrener und trainierter Bergwanderer bei schlechter Sicht nur mit Mühe herausfand.

Professor Francesco Mondari von der paläontologischen Fakultät der Universität Bologna war weder trainiert noch sportlich. Zwar war er schlank und hochgewachsen, doch seine Vorliebe für kostspielige Zigarren hatte ihn mit den Jahren kurzatmig werden lassen. Das lockere Leben, das er sich in letzter Zeit gegönnt hatte, begann Spuren zu hinterlassen, wie ihm der morgendliche Blick in den Spiegel und die sinkende Zahl kontaktfreudiger Studentinnen deutlich vor Augen führte. Aber das würde bald ein Ende haben. Er hatte sich geschworen, dass ab dem nächsten Monat, wenn er seinen Vierzigsten feierte, mit der Qualmerei Schluss sein würde. Dann würden wieder gesunde Ernährung, frühes Zubettgehen und vor allem Sport auf dem Programm stehen.

Mondari schob die Gedanken an seine Zukunft beiseite und blickte sorgenvoll über den Rand seiner Brille. Der Nebel wurde immer dichter. Nicht genug damit, dass er die Orientierung verloren hatte, jetzt machte ihm auch noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung.

Angelockt vom Bericht eines Studenten über die hier vorhandenen Korallenbänke und deren fortschreitende Erosion, hatte er sich vorgenommen, die Semesterferien für das zu nutzen, was er einen kleinen Bildungsurlaub zu nennen pflegte. Sein Fachgebiet waren marine Ablagerungen im Alpenraum. Die hier vorhandenen Korallen hätten ihm einen ausgezeichneten Einblick in den Aufbau und die Lebensvielfalt eines längst vergangenen Ökosystems liefern sollen, doch im Moment war davon nicht viel zu erkennen. Die Sichtweite war auf unter zehn Meter herabgesunken und machte eine Orientierung unmöglich. Er öffnete die Lederschatulle, die an seinem Gürtel hing, und nahm seinen Armeekompass heraus. Ein Souvenir aus dem Ersten Weltkrieg, das sein Vater ihm nach der glücklichen Heimkehr von den Schlachtfeldern Europas vermacht hatte. Mondari öffnete das Metallgehäuse, dessen grüne Lackschicht bereits an einigen Stellen abblätterte, und blickte auf die rotweiße Magnetnadel, die unerschütterlich nach Norden wies. Der Professor hätte schwören können, dass die Richtung nicht stimmte, aber wer war er, mit dem alten Erbstück zu hadern? Seufzend schlug er den Weg ein, den die Nadel ihm wies, doch sorgenfrei war er noch lange nicht. Der Kompass konnte ihm zwar sagen, wo Norden war, aber er vermochte ihn nicht vor einem Sturz in eine der unzähligen Spalten und Abbrüche zu bewahren, mit denen die Hochebene durchzogen war. Das Plateau Altipiano Delle Pale folgte seinen eigenen Gesetzen. Eines davon lautete, es niemals bei instabiler Wetterlage zu betreten. Doch wie hätte er das ahnen können? Vor zwei Stunden, als Mondari die Hochebene erreicht hatte, hatte alles noch gut ausgesehen, und es waren keine Anzeichen eines Wetterumschwungs zu erkennen gewesen. Zwar hatte man ihn unten, in der Pension Canetti in San Martino, gewarnt, dass ein Tief heranzog, doch er wäre niemals darauf gekommen, dass das Wetter hier dermaßen schnell umschlagen könnte.

Es mochte eine Viertelstunde seit dem letzten Durchatmen vergangen sein, als er eine kleine Rast einlegte. Die Anstrengung der Wanderung in der dünnen Luft war zu viel für ihn, und er fühlte, wie ihm trotz der klammen Kälte der Schweiß ausbrach. Erneut blickte er auf den Kompass und stutzte. Jetzt wies die Nadel auf einmal in die entgegengesetzte Richtung, die Richtung aus der er gerade gekommen war. Verwirrt blieb er stehen. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seit er das letzte Mal auf die Anzeige geblickt und sich vergewissert hatte, dass er nicht vom Kurs abgewichen war. Und auf einmal sollte er einen Haken von hundertachtzig Grad geschlagen haben? Das war vollkommen ausgeschlossen, das hätte er doch gemerkt. Was ging hier vor?

Hilfe suchend blickte er sich um. Wolken und Nebel hatten ihn jetzt komplett eingehüllt. Sie waren so schnell herangefegt, dass er nicht mal mehr die Chance gehabt hatte, die nahe gelegene Rosetta-Berghütte zu erreichen. Er fühlte Panik in sich aufsteigen und tat etwas, was ihm selbst peinlich war, musste es doch wie ein Beweis eigener Schwäche erscheinen. Er hob die Hände an den Mund und rief in den Nebel hinein.

»Hallo! Ist da jemand?«

Keine Antwort.

»Kann mich jemand hören?«

Stille.

»Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich hören.«

Nichts.

»Helfen Sie mir! Ich habe mich verlaufen!«

Jetzt war es heraus. Das Eingeständnis der Ratlosigkeit hatte seinen Mund verlassen und flog hinaus in die Welt. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung und der Furcht, gehört worden zu sein, lauschte er in die weiße Nebelwand. Nichts. Mit einem Mal erinnerte er sich an die Notfallausrüstung, die er sich unten im Tal hatte aufschwatzen lassen. Eine kleine Trillerpfeife war darin. Er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und blies hinein. Einmal. Zweimal. Der schrille Klang beleidigte seine Ohren, doch er versuchte es weiter. Ohne Erfolg.

Er war allein.

Fluchend machte er auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo dem Kompass zufolge Norden sein sollte. Doch diesmal ließ er die Nadel nicht aus den Augen. Noch einmal würde er sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Er war noch nicht weit gekommen, als der Zeiger anfing, sich mal nach links, dann unvermittelt nach rechts zu drehen, ehe er eine komplette Drehung vollführte. Mondari führte den Kompass so nahe an sein Gesicht, dass seine Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Verwundert blickte er auf die Nadel. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie sich nicht festlegen zu wollen, wo Norden war. Er klopfte gegen das grün lackierte Gehäuse, doch der Tanz hörte nicht auf. Vielleicht gab es hier irgendwo etwas Metallisches oder eine Erzlagerstätte, auch wenn diese Vorstellung absurd war. Um ihn herum waren massive Kalkbänke, da war kein Metall. Vielleicht war das kleine Mistding einfach nur kaputt. Heute schien so ein Tag zu sein, an dem alles geschehen konnte, mochte es auch noch so absurd erscheinen. Er steckte den Kompass wieder ein, hockte sich auf einen nahe gelegenen Felsvorsprung und nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche. Erst mal zur Ruhe kommen, sagte er sich. Nicht wieder in Panik verfallen.

Mondari griff in seinen Rucksack und zog eine Tüte mit Rosinenkeksen heraus, die ihm die dickliche Wirtin aus der Pension mitgegeben hatte. Gedankenverloren knabberte er daran, während er sein Notizbuch zückte und es aufschlug. 18. Mai 1954, stand da zu lesen. Habe meine Vorbereitungen zum Aufstieg auf die Forcella del Mièl abgeschlossen. Werde noch etwas essen und dann früh zu Bett gehen. Habe vor, spätestens um 6:30 Uhr mit dem Aufstieg zu beginnen, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück im Tal zu sein.

Das war gestern Abend gewesen, als noch keine Zweifel an ihm nagten. Er klappte das Buch zu und steckte es wieder ein. Was sollte er jetzt tun? Theoretisch konnte sich das schlechte Wetter genauso schnell verziehen, wie es gekommen war. Theoretisch. Andererseits hatte er auch schon Geschichten gehört, in denen die Gipfel der Berge wochenlang in Wolken gehüllt waren. Sollte er es darauf ankommen lassen und abwarten? Oder sollte er versuchen, den Weg, den er heraufgekommen war, wiederzufinden? Beide Optionen behagten ihm nicht, zumal er sich offensichtlich nicht auf seinen Kompass verlassen konnte. Schließlich entschied er, seinem besorgten Geist einige Minuten Ruhe zu gönnen und erst noch eine Weile hier zu verweilen. Die Steine um ihn herum sahen vielversprechend aus, und er konnte genauso gut hier mit ihrer Bestimmung beginnen. Das lenkte ihn auch von der Vorstellung ab, was geschehen würde, wenn es zu regnen begann.

Er schob sich noch einen Keks in den Mund, dann verschloss er den Vorratsbeutel und griff nach seinem Geologenhammer. Vorn spitz und hinten flach zulaufend und mit einem gummierten Eisenstiel versehen, gehörte er zum unabdingbaren Rüstzeug eines jeden Geologen. Genauso wie die Härteskala, ein Sortiment Steinmeißel, eine Messtisch-Karte und das Feldbuch, in dem jeder Fund gewissenhaft verzeichnet wurde. Wenn man dann noch den Proviant mit einberechnete, den man für einen Tag benötigte, kam man auf ein Gewicht von gut und gern sechs Kilogramm, etwaige Gesteinsproben nicht mit eingerechnet. Kein Klacks, wenn man den ganzen Tag unterwegs war.

Er begann seine Untersuchung an dem rundlichen Steinsockel, auf dem er gesessen hatte. Einige gezielte Hiebe, und schon hatte er einen schönen Brocken abgeschlagen. Mit kundigem Auge untersuchte er die weißliche Bruchstelle. Eindeutig eine Riff-Fazies. Ammoniten, Krebse, Seelilien, Reste von Goniatiten. Dazwischen schön ausgebildete Kalzitkristalle, eingebettet in ein Gemisch aus verfestigten Muschelschalen und Korallenstämmen. Späte Trias oder beginnender Jura. Genauer konnte er das jetzt noch nicht sagen. Nicht, ohne geeignete Leitfossilien zu finden. Erst ein Blick durch das Mikroskop seines Kollegen Professor Minghella, eines der angesehensten Mikropaläontologen Italiens, würde eine genauere Datierung ermöglichen. Die Einschlüsse waren kaum deformiert, was darauf hindeutete, dass dieses Plateau en Bloc gehoben wurde und somit die Gebirgsfaltungsphase relativ unbeschadet überstanden hatte. Mondari nickte grimmig. Der Tipp seines Studenten war gut gewesen, der Junge würde einen lobenden Eintrag ins Seminarbuch erhalten. Er zerlegte den Brocken mit zielsicheren Schlägen in fünf handliche Stücke, steckte die zwei schönsten ein und ließ den Rest fallen. Dann widmete er sich wieder dem Sockel. An der Stelle, an der er den Brocken abgeschlagen hatte, schimmerte ein andersfarbiger Untergrund hervor. An sich war das nichts Ungewöhnliches. Korallen hatte die Angewohnheit, ihre Kalkpaläste auf den verlassenen Stätten älterer Korallen zu bauen, die sich in Farbnuancen durchaus unterscheiden konnten. Schicht für Schicht wuchsen die Siedlungen so in die Höhe, teilweise bis zu einem halben Meter pro Jahr. Auch heute noch gab es aktive Korallenbänke, wie zum Beispiel das Große Barrier-Riff vor Australien. Aber verglichen mit den Baumeistern der Trias waren diese Korallen blutige Anfänger.

Er befeuchtete seinen Daumen und rieb über den freigelegten Untergrund. Seltsam, dass er so viel dunkler war als die darüber liegende Schicht. Gewiss, ein Wechsel in der Meeresströmung hätte eine neue Sorte von Nährstoffen und Mineralien heranschwemmen können, die sich auf die Färbung der Korallen ausgewirkt haben könnte. Doch Meeresströmungen änderten sich nicht so schnell. Die Farbveränderung hätte schleichend vonstatten gehen müssen. Hier aber war ein klarer Schnitt zu erkennen. Zwischen den beiden Schichten mochten hundert, maximal fünfhundert Jahre liegen, ein Wimpernschlag in der geologischen Zeitrechnung und bei weitem nicht ausreichend für eine solch drastische Veränderung.

Mondari geriet ins Schwitzen. Er war auf etwas gestoßen – und das bereits nach so kurzer Zeit. Wunderbar! Und als sei das noch nicht genug, begann es um ihn herum zunehmend heller zu werden. Ein leichter Wind kam auf und trug die Nebelschwaden fort, an manchen Stellen schimmerte bereits der blaue Himmel durch.

Er rieb sich die Hände. Das Abenteuer konnte beginnen.

Mit neu entflammtem Eifer machte er sich daran, den seltsamen Untergrund freizuklopfen. Die beträchtliche Härte des tiefer liegenden Gesteins machte es leicht, die bröckelige Deckschicht abzulösen. Nach einer Stunde hatte er einen guten Quadratmeter geschafft. Schnaufend richtete er sich auf. Er nahm seine Brille ab, wischte sich den Schweiß aus den Augen und begutachtete sein Werk. Der Hammer zitterte in seiner Hand, teils weil er die Anstrengung schwerer Feldarbeit nicht mehr gewöhnt war, teils weil es ihm schwer fiel, seine Erregung zu unterdrücken. Er legte den Hammer beiseite und trat einige Schritte zurück. Was sich da seinem forschenden Blick präsentierte, war über alle Maßen ungewöhnlich. Es schien sich um einen Sphäroiden zu handeln, um eine Kugel, die mitten im Kalzit steckte. Legte man die Krümmung der freigelegten Fläche zugrunde und setzte sie in Relation zu dem gesamten Block, mochte ihr Durchmesser etwa zwei Meter betragen. Die Substanz, aus der sie bestand, hatte nichts mit den umliegenden Korallen gemein. Sie war aus irgendeinem grauen, metallisch glänzenden Material. Demnach konnte sie kein Produkt der Riffbildung sein. Plötzlich fiel ihm sein Kompass wieder ein. Er legte das Gerät auf die freigeklopfte Oberfläche. Die Nadel drehte sich wie verrückt im Kreis. Vielleicht bestand die Kugel wirklich aus Metall. Wie auch immer, sie war eindeutig ein Fremdkörper und gehörte nicht hierher. Nun war es nicht ungewöhnlich, dass Korallen auf ihrem Vormarsch alles überwuchsen, was sich ihnen in den Weg stellte. Dass die Kugel komplett eingeschlossen war, ließ also nur den Schluss zu, dass sie schon hier gelegen hatte, ehe das Riff gebildet wurde. Demnach musste sie zweihundert bis zweihundertfünfzig Millionen Jahre alt sein. Ungewöhnlich war aber nicht nur das hohe Alter, sondern vor allem ihre Form. Die perfekte Kugel war, ebenso wie der perfekte Kreis, ein Produkt der Mathematik, also des menschlichen Geistes. In der Natur kam sie nicht vor, sah man einmal von solch kurzlebigen Erscheinungen wie der ideal geformten Luftblase ab. Aber solche Perfektion war niemals von Dauer. Irgendwann nagte an allem der Zahn der Zeit und verformte jeden noch so symmetrischen Körper – je älter er war, desto mehr.

Francesco Mondari musste erst mal tief durchatmen. Eine zweihundertfünfzig Millionen Jahre alte Metallkugel, das war etwas, was nicht leicht zu verdauen war. Wie um alles in der Welt konnte ein solches Objekt entstanden sein? Der Professor dachte, seinem Wesen entsprechend, zunächst an eine natürliche Ursache. Konnte es Mineralisationsprozesse geben, die solch gewaltige Geoden hervorbrachten? Wenn ja, hatte er jedenfalls noch nie davon gehört. Kugelige Mineralisation trat vor allem im hydrothermalen Bereich auf, bei der Bildung von Eisenoxidverbindungen wie Goethit oder Hämatit, was wiederum ein Hinweis auf das seltsame Verhalten seines Kompasses gegeben hätte. Knubbelige oder runde Formen waren hier keine Seltenheit, allerdings wurden diese oolithischen Objekte selten größer als zehn Zentimeter. Vielleicht hatte er soeben die größte jemals dokumentierte Hämatitknolle entdeckt …

Mondari richtete sich auf. Jetzt nur keine voreiligen Schlüsse. Er öffnete die Tasche und griff nach seiner Mohsschen Härteskala. Zwar war er kein ausgebildeter Mineraloge, aber der Umgang mit diesem archaisch anmutenden Werkzeug gehörte für einen Geologen zum Alltag. Die Härteskala bestand aus zehn Mineralien mit aufsteigendem Härtegrad, beginnend mit dem fingernagelweichen Talk und endend mit der härtesten aller Substanzen, dem Diamanten. Hämatit lag irgendwo zwischen Härte fünf und sechs, also zwischen Apatit und Feldspat. Er griff nach dem Feldspat und versuchte, damit die Kugel zu ritzen. Doch so sehr er sich auch abmühte, das Ergebnis war gleich null. Der Feldspat hinterließ einen weißen Abrieb, war also deutlich weicher. Vielleicht handelte es sich bei der Kugel um eine besonders harte Spielart des Hämatit. Mondari, der keine Lust hatte, sich langsam hochzudienen, griff nach dem Korund mit Härte neun. Damit würde es schon gehen. Hämatit war deutlich weicher, müsste sich demnach also ritzen lassen. Er setzte das rotschwarze Mineral an, drückte und zog einen Strich. Eine weißliche Spur bildete sich, doch wiederum schien sie nicht von der Kugel zu stammen. Mondari befeuchtete seine Finger, rieb über die betreffende Stelle und warf einen Blick durch seine Lupe.

Nichts.

Nicht der geringste Kratzer.

Der Professor lehnte sich nachdenklich zurück. Was er da gefunden hatte, war kein Hämatit, so viel war klar. Aber was war es? Mit zittrigen Fingern legte er den Korund zurück an seinen Platz und griff nach dem Säckchen aus Stoff, das in einem besonderen Fach der Schachtel lag. Er öffnete es und entnahm ihm einen Metallstift, in den ein Diamantsplitter gefasst war. Er hatte ihn noch niemals zuvor gebraucht, da sich im Alltag eines Geologen nichts mit der Härte eines Diamanten messen konnte. Der Edelstein funkelte in der Sonne. Vorsichtig setzte Mondari ihn auf die Oberfläche der Kugel. Diamant bestand aus reinem Kohlenstoff, der tief im Inneren der Erde unter so unglaublichen Druck geraten war, dass sich seine kristalline Struktur verändert hatte. Diamanten waren zwar hart, gleichzeitig aber auch spröde. Beim Herunterfallen konnte er leicht zerbrechen. Mondari hatte für seine Härteskala eine beträchtliche Summe ausgegeben, und das aus reiner Eitelkeit. Um einen echten Diamanten in der Sammlung zu haben, war er bereit gewesen, fast den doppelten Preis zu zahlen. Eine Investition, die, so hatte er gehofft, bei der weiblichen Studentenschaft Eindruck schinden würde. Dass er den Diamanten tatsächlich einmal brauchen würde, hätte er sich indes nie träumen lassen.

Die glasklare Spitze kratzte mit einem hässlichen Geräusch über die Oberfläche der Kugel. Mondari blickte durch die Lupe. Kein Abrieb, kein Kratzer, keine Spur einer gewaltsamen Einwirkung. Wie es schien, waren sich die beiden Materialien ebenbürtig. Der Professor erhöhte den Druck. Das Kratzen wurde lauter, doch immer noch schien es keinen Sieger geben zu wollen. Es fühlte sich wie David im Kampf gegen Goliath. Schweißtropfen rannen ihm die Stirn herab und sammelten sich an der Nasenspitze. Mit einer ungehaltenen Bewegung wischte er sie weg. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Was hatte er da nur entdeckt? Noch einmal erhöhte er den Druck. Irgendwann würde diese verdammte Kugel nachgeben müssen.

Seine Hand begann bereits zu schmerzen, doch er wollte nicht klein beigeben und presste noch einmal mit aller Kraft. Auf einmal gab es einen Knall.

Ungläubig sah Mondari erst auf den Stift, dann auf die feinen glitzernden Krümel. Die Spitze war zerplatzt. Der Diamant war zerbröselt, verpulvert, weg. Ein Häufchen Staub war alles, was von seinem wertvollen Besitz übrig geblieben war. Er warf einen Blick durch seine Lupe und suchte nach einer Kratzspur. Vergeblich. Die Oberfläche der Kugel präsentierte sich in makelloser Unversehrtheit.

Francesco Mondari fühlte Wut in sich aufsteigen. Er verspürte einen völlig irrationalen Hass gegen dieses urzeitliche Objekt, das sich allen seinen Bemühungen widersetzte.

Mit zitternder Hand griff er nach Hammer und Meißel. Er platzierte den Stahlstift in eine der unzähligen Kerben, mit denen die Kugel überzogen war, hob den Hammer und ließ ihn mit aller Kraft niedersausen. Funken sprühten. Das Eisen federte zurück. Die Luft war erfüllt vom durchdringenden Singen des Metalls. Wieder schlug er zu. Noch mal. Und noch mal. Der Stiel des Hammers summte in seiner Hand, und noch immer war auf der Oberfläche der Kugel keine Veränderung zu sehen. Er wurde allmählich ungehalten. Ihm war warm, und die Sonne stach ihm ins Genick. Noch einmal schlug er zu, und plötzlich – er glaubte seinen Augen nicht zu trauen – zeichnete sich ein Riss auf der Oberfläche der Kugel ab.

Ha! Mondari triumphierte. Nichts konnte sich auf Dauer seiner Hartnäckigkeit widersetzen. Endlich hatte er diesem verdammten Metall Schaden zugefügt. Noch einmal schlug er zu. Ein langer, hauchdünner Spalt entstand, der sich immer weiter fortzupflanzen schien. Das Material gab ein scharfes, aber sehr befriedigendes Knacken von sich.

Mondari richtete sich auf. Er streckte die Arme und dehnte die verkrampften Muskeln. Alles tat ihm weh. Den heutigen Abend würde er in der Sauna verbringen und sich danach massieren lassen. Doch bis dahin lagen noch einige Stunden harter Arbeit vor ihm. Jetzt brauchte er erst einmal eine Pause, ehe er sich daran machte, den Spalt zu vergrößern. Zwar brannte er darauf zu sehen, wie sich das Innere der Kugel präsentierte, doch er wusste, dass man nicht voreilig sein durfte. Ungeduld würde zu Fehlern führen, und Fehler konnte er sich nicht leisten. Erst mal mussten seine bisherigen Bemühungen notiert werden. Kein Detail durfte fehlen, wenn er später seinen Bericht verfassen würde. Also zückte er seinen Bleistift und begann, seine bisherigen Erlebnisse zu notieren. Einige Zeichnungen der Landschaft, der geologischen Schichtung und der Struktur der Korallen vervollständigten das Bild.

Etwa zehn Minuten später klappte er sein Notizbuch zu, ließ ein Gummiband um den abgewetzten Einband schnappen und wandte sich wieder seinem Studienobjekt zu. Der Riss hatte sich entlang eines Meridians fortgesetzt und war etwa fünfzig Zentimeter lang. Wenn er Glück hatte, würde er ihn mit dem Meißel vergrößern können. Die Substanz schien außerordentlich spröde zu sein. Spröder und härter als selbst Diamant es war. Vielleicht war er hier einer neuartigen chemischen Verbindung auf die Spur gekommen, einem neuartigen Mineral. Möglicherweise würde er ihm einen Namen geben dürfen. Er würde es Adamas nennen, das Unbezwingliche – nach dem grauen Metall aus der griechischen Mythologie. Die Entdeckung einer solchen Substanz würde ihm einen Platz in den Annalen des Faches sichern. Sein Name würde in Lehrbüchern auftauchen und ihn weit über Italien hinaus bekannt machen. Welch ein schöner Traum. Mondari war allerdings Realist genug, um zu wissen, dass es weitaus wahrscheinlicher war, dass er irgendeiner bekannten Verbindung auf der Spur war. Einer Verbindung, die sich durch besondere geothermische Prozesse verhärtet hatte. Vielleicht war auch einfach nur sein Diamant schadhaft gewesen. Die einfachsten Erklärungen waren häufig die zutreffenden. Er war sich selbst gegenüber ehrlich genug, um zu wissen, dass die Chancen, heutzutage noch etwas wirklich Neues zu entdecken, gleich null waren. Nun gut, doch von dieser Aussicht wollte er sich nicht abschrecken lassen, immerhin war der Sphäroid allein schon eine bemerkenswerte Entdeckung.

Er zog seine Arbeitshandschuhe an, setzte erneut den Meißel auf und schlug zu, so hart er konnte. Das Metall schrie förmlich auf. Noch ein Schlag und er spürte, wie der Meißel um einige Millimeter in den Spalt eindrang. Jetzt begann die Sache interessant zu werden. Er war sich sicher, dass er nur noch wenige Schläge von einer Erklärung entfernt war. Wieder ließ er seinen Hammer niedersausen. Plötzlich bemerkte er eine Veränderung. Etwas Seltsames geschah. Die Luft war von einem Geräusch erfüllt, als ob sie von einem großen Gegenstand zerteilt würde – als ob irgendetwas Gewaltiges durch die Atmosphäre pfiff. Mondari duckte sich instinktiv und blickte angsterfüllt in alle Richtungen. Er konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Das Hochplateau präsentierte sich friedlich im Licht der Morgensonne. Irgendwo krächzte eine Dohle. Trotzdem, das Geräusch war immer noch da. Jetzt klang es allerdings eher wie ein Schnaufen, wie das Keuchen einer riesigen Kreatur. Gleichzeitig begann ein merkwürdiger Geruch aus dem Boden zu steigen. Es roch nach verbranntem Stein, nach einer alles versengenden Hitze. Beunruhigt ließ Mondari die Hand, in der er den Hammer hielt, sinken und stand auf. Mit unsicherem Blick trat er einen Schritt zurück, die Augen immer noch auf die seltsame Kugel geheftet. Er wusste nicht warum, aber er war sich sicher, dass die verstörenden Geräusche und Gerüche von ihr ausgingen. Während er seine schweißnassen Hände an der Hose abwischte, bemerkte er, dass die Kugel ihre Farbe zu verändern begann. Sie wurde an manchen Stellen erst silbern, dann weiß. Und dann begann sie zu glühen.

Mit einer Mischung aus Furcht und Verwunderung beobachtete Francesco Mondari, dass sich das Glühen entlang dünner Linien zeigte, Linien, die ganz eindeutig die Merkmale von Schriftzeichen trugen.

Er wich noch weiter zurück.

Das Äußere der Kugel veränderte sich jetzt dramatisch. Immer mehr wurde sie von einem Muster geheimnisvoller Zeichen überzogen. Und als sei das noch nicht genug, begann der Riss, den er dem Stein zugefügt hatte, ebenfalls zu leuchten. Einer blutenden Wunde gleich teilte sich der Stein über eine Länge von einem Meter. Tief in seinem Inneren vernahm Mondari ein Bersten und Knacken – als stünde das Objekt unter ungeheurem Druck und drohte jeden Moment zu platzen.

Von panischem Schrecken erfüllt, verspürte Professor Mondari nur noch einen Wunsch: Er wollte so schnell wie möglich Distanz zwischen sich und dieses rätselhafte Gebilde bringen. Stolpernd und strauchelnd lief er in die Richtung, aus der er gekommen war. Seine Tasche, die Härteskala sowie sein über alles geliebtes Tagebuch vergaß er dabei völlig. Selbst den Kompass, das Andenken an seinen verstorbenen Vater, ließ er achtlos zurück. Nur weg, und zwar so schnell wie möglich. Er rannte, doch die vielen Buckel und Spalten behinderten sein Fortkommen. Sie schienen ihn festzuhalten, als wollten sie verhindern, dass er entkam. Er stolperte, stieß sich die Knie blutig, raffte sich wieder auf und torkelte unter Schmerzen weiter.

Als das Plateau um ihn herum von einem gleißenden Lichtstrahl erhellt wurde, hatte er noch keine zehn Meter zwischen sich und die Kugel gebracht. Eine sengende Hitze ließ die Luft erglühen, brannte ihm die Kleidung vom Körper und fraß sich durch seine obersten Hautschichten. Seine Haare wurden von einem Gluthauch erfasst und in einer Wolke aus Asche davongeweht.

Ein letzter animalischer Schrei entrang sich seiner Kehle.

Francesco Mondari starb einen schnellen Tod. Als das gleißende Licht seinen Körper zu einer Wolke aus organischer Materie verdampfte, blieb nur ein weißer Staubschleier zurück, der in den blauen Himmel geweht und vom auffrischenden Nordostwind davongetragen wurde.

Teil 2

Das Erwachen

2

Fünfzig Jahre später …

Es schneite schon wieder. Obwohl gestern offiziell Frühlingsanfang war, lag die gesamte Eifel unter einer dicken Schneeschicht begraben. Das weiß gestrichene Metallgerüst, auf dem das zweitgrößte schwenkbare Radioteleskop der Welt ruhte, verschmolz mit den umliegenden Hügeln zu einem Durcheinander aus blinden Schnittkanten und grauen Flächen. Ein gewaltiges stählernes Ohr, das den Gesängen der Sterne lauschte. Mit ihren einhundert Metern Durchmesser war die Empfangsschüssel von Effelsberg, die von sechzehn starken Elektromotoren über einen Schienenkreis bewegt wurde, momentan auf den Himmelszenit ausgerichtet.

Marten Enders, der diensthabende Leiter des Teleskops, rieb sich den Schlaf der letzten Nacht aus den Augen. Er starrte auf die Ziffern der großen Digitaluhr. Fünf vor acht. Gerade noch genug Zeit für einen Kaffee und einen Keks, ehe der nächste Schwenk ausgeführt werden musste. Während er seine Tasse füllte, starrte er missmutig in den grauen Himmel. An den Klimaprognosen war doch etwas dran. Über die Jahre gesehen wurde es immer kälter. Vielleicht steuerte die Erde wirklich auf eine neue Eiszeit zu. Vielleicht war der Golfstrom bereits versiegt, und die Menschen hatten bisher nur noch nichts davon erfahren, weil ihre Regierungen nicht wussten, wie sie eine solche Hiobsbotschaft angemessen verkaufen sollten.

Er nippte gedankenverloren an dem lauwarmen Getränk, als ein Piepsen ertönte.

»Marten?« Die Stimme gehörte Jan Zietlow, seiner Assistentin, die eigentlich Janette hieß, diesen Namen aber aus tiefstem Herzen verabscheute.

»Hm?«

»Es ist Zeit.«

Er blickte auf die Uhr. Sie hatte Recht. Er hämmerte mit seinem Handballen auf den großen roten Knopf. Ein Klingeln erklang über die Außenlautsprecher, und die orangefarbenen Warnleuchten auf dem Gelände fingen an zu blinken. Wenige Augenblicke später setzte sich das gewaltige, dreitausendzweihundert Tonnen schwere Monstrum aus Metall in Bewegung. Zuerst um die vertikale, danach um die horizontale Achse schwenkte der riesige Schirm, wie eine überdimensionale Satellitenschüssel, auf der Suche nach elektromagnetischen Strahlen. Die Servomotoren heulten auf, während sich die Stahlrohrkonstruktion rumpelnd über die Schienen bewegte.

»Was liegt denn heute Morgen an«, sagte Enders und gähnte, während er dem spektakulären Anblick den Rücken kehrte. Die Tasse war leer, und er schickte sich an, sie erneut zu füllen.

»Hast du denn den Plan nicht gelesen?«, fragte Jan mit einem halb tadelnden, halb belustigten Augenaufschlag.

»Morgenmuffel wie ich überlassen die Feinarbeit grundsätzlich ihren unersetzlichen und unterbezahlten Assistentinnen«, lächelte er. »Das erlaubt es uns, die Aufmerksamkeit den höheren Weihen der Astronomie zu widmen.«

Jan warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Was du nicht sagst. Wie zum Beispiel der Führung der Franzosen, die hier in etwa …«, sie warf einen Blick auf die Uhr, »… vierzig Minuten eintrudeln werden? Oder hast du die etwa vergessen?«

»Elsässer, nicht Franzosen«, sagte Enders und hob mahnend den Zeigefinger, »… feiner Unterschied. Die Gruppe aus Strasbourg.« Er legte eine besondere Betonung auf das ou. Der Kaffee tat seine Wirkung. Seine Stimmung begann sich zu bessern. »Wie könnte ich die vergessen haben. Eigentlich ist das ja gar nicht mein Job, denen hier alles zu zeigen, aber ich bin es ja gewohnt, an Wochenenden, an denen der FC spielt, mit einem schlanken Mitarbeiterstab auszukommen. Ich hatte gestern so viel um die Ohren, dass ich nicht mal das Ergebnis mitbekommen habe.«

»Zwei zu Null für Bremen«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Enders strich sich über die Augen und seufzte. »War ja nicht anders zu erwarten. Aber reden wir von Wichtigerem. Was wollten die noch mal? Ach ja, eine geführte Radioabtastung des Orion. Nachdem Orionis Alpha in letzter Zeit etwas herumgezickt hat, scheint er wieder ins öffentliche Interesse gerückt zu sein.« Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, begann über den grau-grünen Teppich zu wandern und dabei zu dozieren. »Orion, der große Jäger, dessen Ursprung auf das sumerisch-babylonische Gilgamesch-Epos zurückgeht. So richtig populär wurde der Kerl aber erst in der griechischen Mythologie. Dort war er der Sohn des Meeresgottes Poseidon. Er war so schön, dass selbst die Jagdgöttin Artemis seinetwegen ihr Keuschheitsgelübde brechen wollte. Doch auch in anderen Kulturen war dieses Sternbild bekannt. Die Ägypter sahen in seiner Anordnung den Todesgott Osiris, Herrscher über die Unterwelt. Die Germanen dachten bei seinem Anblick an einen Hakenpflug, die Südseeinsulaner an ein Kriegsboot, usw.«

»Und woran denkst du bei seinem Anblick?« Jans Augen hatten wieder diesen Glanz, den er in letzter Zeit öfter bemerkt hatte.

Er lächelte. »Vor allem an eine dichte Konzentration von Sternen und interstellarem Gas. An manchen Stellen ist es so dicht, dass es aufgrund seiner Schwerkraft zusammenstürzt und neue Sterne entstehen lässt, sozusagen eine Sternenwiege. Außerdem sind da noch die Sonnen Orionis Alpha und Beta, auch bekannt unter den Sternnamen Beteigeuze und Rigel. Der eine ein roter, der andere ein blauer Überriese, zwei Giganten, von denen wir in naher Zukunft noch etliche interessante Erkenntnisse erwarten dürfen.

Jan stützte lächelnd ihr Kinn auf die Hände. »Ich liebe es, wenn du deine Vorträge hältst. Da komme ich mir jedes Mal vor wie in der ersten Stunde des Seminars Allgemeine Sternenkunde bei Professor Habermann.«

»Das Seminar hat er schon gehalten, als ich noch so jung und unschuldig war wie du«, lächelte Enders. »Das muss jetzt mindestens zwanzig Jahre her sein. Ich habe es geliebt. Wie ich hörte, hält der Alte immer noch Vorlesung, obwohl er längst emeritiert ist. Und er erfreut sich angeblich immer noch großer Beliebtheit. Wahrscheinlich wird er die Studentinnen noch zum Träumen bringen, wenn ich selbst schon alt und grau bin.«

Jan lächelte schelmisch. »Ich finde, du hast gute Aussichten, in seine Fußstapfen zu treten. Deine Vorträge haben jedenfalls dieses gewisse Etwas.«

Marten zuckte die Schultern. »Für mich ist das in erster Linie leicht verdientes Geld. Brüssel zahlt gut für die paar Beobachtungsstunden. Und wir können jeden Cent brauchen.« Er streckte sich und ging auf Jan zu. »Wie du siehst …«, und damit warf er ihr einen spöttischen Blick zu, »… kenne ich den Wochenplan auswendig. Ich habe ihn gestern Abend noch einmal überflogen, während du und dieser Nichtsnutz aus der Prozessrechnergruppe euch irgendeine dämliche Hollywood-Schmonzette angesehen habt. War’s schön romantisch?«

Jan blickte ihn kühl an. »Das war keine Hollywood-Schmonzette, sondern Contact mit Jodie Foster. Wegen diesem Film habe ich überhaupt erst angefangen, Astrophysik zu studieren. Ich habe ihn mindestens schon zwanzig Mal gesehen und finde ihn immer noch gut. Absoluter Kult, wie du wüsstest, wenn du dich nur eine Spur fürs Kino interessieren würdest. Außerdem ist Daniel kein bisschen nichtsnutzig, sondern im Gegenteil sehr intelligent und amüsant.«

Das Radioteleskop hatte seinen Schwenk beendet und die Warnleuchten erloschen. Die Signalanlage gab ein erneutes Klingeln von sich, Zeichen dafür, dass die Drehung geglückt und der Bewegungsvorgang abgeschlossen war.

»Seid ihr euch näher gekommen?«, witzelte Enders, während er seine Armbanduhr nach den großen Ziffern an der Wand stellte.

»Besteht etwa Grund zur Eifersucht?«

Jan murmelte leise etwas, das wie Idiot klang und wandte sich wieder ihren Monitoren zu.

Er fragte sich, warum er seinen vorlauten Mund nicht halten konnte, spürte er doch schon seit geraumer Zeit, dass sie mehr für ihn empfand als bloße Freundschaft. So ganz unberührt ließ ihn die Geschichte nicht. Er war auch nicht mehr der Jüngste, besaß einen Lehrstuhl am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn und war überzeugter Familienvater. Dieses kleine Glück wollte er nicht dadurch aufs Spiel setzen, indem er mit einer Studentin ein Verhältnis anfing. Das Tragische war nur, dass Jan gleichermaßen klug wie hübsch war. Nein, hübsch war nicht das richtige Wort, entschied er. Sie war schön. Eine wahre Schönheit, die von tiefer innerer Ruhe erfüllt zu sein schien und von einem solchen Vertrauen in die Erfüllung des eigenen Schicksals, dass sie ihm manchmal vorkam wie ein Licht, das niemals zu verlöschen schien. Gott, wie hatte er sich früher danach gesehnt, in dem notorisch männerübersättigten Studienzweig der Astrophysik mal einer Frau über den Weg zu laufen, mochte sie auch noch so unattraktiv sein. Von einer Erscheinung wie Jan Zietlow hatte er nicht einmal zu träumen gewagt. Was ihm an ihr, abgesehen von ihrem Äußeren, am meisten gefiel, war die Unbefangenheit, mit der sie sich neuen Herausforderungen stellte. Sie verfügte über eine ganz und gar natürliche Art, mathematische Fragen anzugehen. Jan brauchte niemals über ein abstraktes Rechenproblem nachzudenken. Sie fühlte die Lösung, so wie jeder Mensch schon bei seiner Geburt spürt, wo oben und unten ist. Sie rechnete völlig intuitiv, so dass man fast auf den Gedanken hätte kommen können, dass sie über ein zusätzliches Sinnesorgan verfügte. Kein Wunder, dass sie Angebote von Forschungseinrichtungen aus aller Welt bekam. Dass sie sich für Effelsberg und Bonn, und damit für ihn entschieden hatte, war etwas, was er lange nicht verstanden hatte.

Er trank den letzten Rest Kaffee und sah dem Tanz der Schneeflocken zu. Welch eine Ironie. Endlich war er am Ziel seiner Träume angelangt, hatte seinen Beruf, oder besser gesagt seine Berufung, gefunden, endlich besaß er den Job, von dem er immer geträumt hatte, war verheiratet und hatte zwei wunderbare Kinder, da trat diese Studentin in sein Leben. Diese wundersame, begehrenswerte Erscheinung. Eine Frau, so tief und rätselhaft wie der Nachthimmel selbst. Und ausgerechnet diese Frau hatte sich, wie es schien, heftig in ihn verliebt. Wäre er nur ein paar Jahre jünger und ungebunden, es hätte das Paradies sein können.

Die Welt war einfach nicht perfekt. Perfektion gab es nur da draußen im Weltraum. Dort, wo sich aus riesigen, vielfarbigen Nebeln neue Sterne bildeten und Pulsare wie Leuchtfeuer in der Nacht glühten. Das war der Ort, an den er sich in letzter Zeit immer öfter träumte.

»Es tut mir leid, wenn ich etwas gesagt habe, das dich verletzt hat«, murmelte er. »Ich weiß auch nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Es ist alles so kompliziert.«

»Kompliziert? Wovon redest du?« Ihr Blick ruhte weiterhin auf dem Monitor.

Marten räusperte sich. Er war irritiert. Wusste sie wirklich nicht, wovon er sprach, oder tat sie nur so? Nein, entschied er, sie wusste ganz genau, was hier ablief, sie wollte ihn nur aus der Reserve locken, wollte, dass er den ersten Schritt machte. Hätte er doch nur den Mund gehalten. Doch jetzt, wo er schon mal damit angefangen hatte, machte es keinen Sinn, länger um den heißen Brei herumzureden. »Ach komm schon, Jan. Ich rede natürlich von uns. Von dir und mir. Und von unseren Gefühlen füreinander.« Großer Gott, er fing an, sich um Kopf und Kragen zu reden. Aber egal. Er hatte das Thema schon viel zu lange vor sich hergeschoben. »Ich weiß, dass du etwas für mich empfindest«, fuhr er fort, »und es ist ja nicht so, dass du mir völlig gleichgültig wärst, aber ich kann und will meine Ehe nicht aufs Spiel setzen. Gleichgültig ist vielleicht etwas hart ausgedrückt, denn ich mag dich wirklich sehr gerne. Es ist nur nicht Liebe, verstehst du? Ich grüble jetzt seit einigen Wochen und glaube, eine Lösung gefunden zu haben. Ich finde, du solltest das Angebot aus Berkeley annehmen. Die Stelle ist wirklich erstklassig. Du könntest von dort aus am Aufbau des Atacama Large Millimeter Array mitwirken und wärst von Anfang an beim bedeutendsten astronomischen Bauvorhaben des nächsten Jahrzehnts dabei. Was für eine Chance. Gut bezahlt und bei weitem interessanter als das hier«, er deutete auf den mit Computern und Monitoren vollgestopften Kontrollraum. »Etwas Vergleichbares wirst du hier in absehbarer Zeit nicht finden. Außerdem fand ich von Anfang an, dass du zu Höherem bestimmt bist. Das sage übrigens nicht nur ich, sondern auch die Kollegen am Institut.« Er lächelte traurig. »Wenn ich dir also einen Rat geben darf, dann diesen: Geh hinaus und lerne so viel du kannst, und wenn du eines Tages zurückkommst, kannst du den ganzen Laden hier übernehmen.« Er spürte, dass er feuchte Augen bekam. Himmel, jetzt wurde er auch noch sentimental. Er empfand das als umso peinlicher, da Jan noch kein einziges Wort zu seinem Vorschlag gesagt hatte. Wie versteinert saß sie auf ihrem Bürostuhl und starrte auf das TFT-Display, über das mit hoher Geschwindigkeit Zahlenkolonnen rasten. Ihre Finger huschten über die Tastatur, während sich in ihrem Gesicht ungläubiges Staunen ausbreitete.

»Jan?«

Sie zeigte keine Reaktion.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Hm? Was hast du gesagt?« Endlich war sie aus ihrer Trance erwacht. Sie rollte einen halben Meter zurück und warf ihm einen Blick zu, der ihn beunruhigte. »Entschuldige, wenn ich gerade unaufmerksam war, Marten, aber du solltest herkommen und dir das ansehen.«

»Was ist denn so wichtig, dass es nicht ein paar Minuten Zeit hat?« Ungehalten trat er hinter sie und betrachtete die Werteskalen, die wie Wassertropfen über den Bildschirm rieselten. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Bedeutung der Botschaft erfassen konnte.

»Eine Supernova? Da muss ein Fehler vorliegen, warte mal einen Moment.« Er schob sich an das Keyboard und begann, die angezeigten Messwerte mit der Systemkalibrierung zu vergleichen. Großer Gott, die Strahlungswerte waren apokalyptisch hoch. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte sich beim Datenabgleich ein Fehler eingeschlichen. Vielleicht hatten sie sich einen Wurm eingefangen, auch wenn das bei ihrem Linux-System so gut wie ausgeschlossen war. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts finden. Das System war völlig in Ordnung, genau wie die Daten, die gleich einer Sturmflut hereinbrandeten. »Welcher ist es?«, murmelte er.

»Orionis Alpha«, antwortete Jan. »Beteigeuze. Er ist nicht mehr da. Fort, verschwunden, Exitus. Ist zur Supernova geworden, während wir uns unterhalten haben.«

»Bitte sag mir, dass wir das alles aufgezeichnet haben.«

Sie nickte. »Alles. Von der ersten Sekunde an. Aber das Beste kommt noch. Ich habe eben sämtliche astronomischen Intranet-Datenbanken abgerufen und nachgesehen, ob uns jemand mit der Entdeckung zuvorgekommen ist, aber es existiert kein Eintrag. Nirgendwo. Wir sind die Ersten, die die Explosion entdeckt haben, Marten. Die Ersten

Marten Enders war völlig überwältigt. Erst jetzt, mit einiger Verzögerung, begannen die Gedankenfäden in seinem Kopf zusammenzulaufen. »Hast du Beteigeuze gesagt? Ziemlich jung für so einen unvermittelten Tod.«

»Jung ja«, entgegnete sie, als ob sie die Frage erwartet hatte, »aber deswegen noch lange nicht stabil. Die Berechnungen haben alle darauf hingedeutet, dass er in naher Zukunft explodieren wird. Die jüngsten Schwankungen in den Strahlungskurven hätten uns eigentlich warnen müssen. Aber dass es so schnell passieren würde, damit hat wohl niemand gerechnet.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir waren wohl deshalb die ersten, weil es kaum jemanden gibt, der sich im Moment für den Orion interessiert. Reines Glück. Hätten sich die Elsässer nicht angekündigt, wäre uns mit Sicherheit ein anderes Institut zuvorgekommen.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Wenn es ein Nebel wird, darf ich ihn dann nach mir benennen?«

»Nicht wenn er zu einem Neutronenstern oder einem Schwarzen Loch zusammenfällt.« Marten Enders war immer noch ganz betäubt. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, ging er zu einer der großen Panoramascheiben, durch die man das ganze Tal überblicken konnte und sah hinauf in den Himmel. An einer Stelle waren die Wolken aufgerissen und ließen das fahle Blau des frühen Morgens durchschimmern. Die Sichel des Mondes war als Silberstreifen zu sehen und daneben … ihm stockte der Atem.

Im Südwesten, in der Richtung, in die das Teleskop wies, war ein neuer Stern aufgegangen. Eine herrlich schimmernde Scheibe, die wie eine neu entflammte Fackel den jungen Tag begrüßte. Wenn er bisher noch Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Entdeckung gehegt hatte, so war sie hiermit endgültig ausgeräumt.

»Ich glaube, wir müssen den Elsässern für heute absagen«, murmelte er. »Ich will, dass das ganze Team aus den Betten springt und in spätestens einer Stunde hier ist. Duschen und Zähne putzen können sie später, Hauptsache, sie kommen. Auf uns wartet eine Menge Arbeit.«

»Wird sofort erledigt.« Dann schien ihr noch etwas einzufallen. »Und was ist jetzt mit meiner großartigen Karriere in Berkeley?«

»Berkeley? Hat jemand etwas von Berkeley gesagt?« Marten konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte seinen kleinen Vortrag also doch gehört. Er fühlte sich auf angenehme Art überrumpelt. Insgeheim war er erleichtert, dass sie bleiben wollte. Er brauchte sie jetzt. Er brauchte ihren untrüglichen Sachverstand, ihre Logik und ihre Art, die Dinge beim Schopf zu packen. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte er. »Wen rufen wir an?«

Jans Wangen glühten. »Um es mal mit den Worten von Jodie Foster zu sagen: Wir rufen alle an.«

3

Dr. Ella Jordan, frischgebackene Professorin für Seismologie an der geologischen Fakultät der Universität Washington, Geophysikerin, Spezialistin in Sachen Kontinentaldrift und Mitarbeiterin von I.R.I.S., einem weltweiten Zusammenschluss führender Erdbebenforschungszentren, bemühte sich vergeblich, der Kaffeepfütze auf der Montagsausgabe der Washington Post Einhalt zu gebieten. Sie fluchte leise, während sie mit hastigen Bewegungen ihre Unterlagen in Sicherheit brachte. Ihr neues Büro in Bell Hall, dem Sitz der Earth & Environmental SciencesAugen zu und durch