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Karl Plepelits

Die Liebe, das Verhängnis und der Tod

Eine schauerliche Geschichte





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

1

Montag, 28. August 2017, halb elf Uhr Abend. Mekka.

Er hebt er die Hand, um seine Leute auf sich aufmerksam zu machen, tritt mit ihnen ins Freie. Und erschrickt. Eine riesige Menschenmenge treibt dichtgedrängt an ihnen vorbei in Richtung Heilige Moschee: weißgewandete Männer, schwarzgewandete Frauen, Junge und Alte, Rüstige und Gebrechliche, sogar solche, die in Rollstühlen geschoben werden. Offenbar hat man denen allen erzählt, die Nacht sei die beste Zeit, den Tawaf zu verrichten, die rituelle Umrundung der Kaaba, jenes berühmten quaderförmigen Gebäudes im Innenhof der Heiligen Moschee. Wie muss es da erst tagsüber zugehen?

Er zögert. Dann fordert er seine Leute mit lauter Stimme auf, in seiner Nähe zu bleiben und sich am besten aneinander festzuhalten, damit niemand verloren geht, ergreift selbst die Hand einer alten Dame, nimmt all seinen Mut zusammen und stürzt sich mit fast der gleichen Überwindung in den Menschenstrom, wie man sich in einen reißenden und überdies eiskalten Gebirgsfluss stürzen würde. Nicht, dass es jetzt, mitten in der Nacht, in Mekka eiskalt wäre. Im Gegenteil, nach der klimatisierten Kühle des Hotels empfindet er die nächtliche Hitze heraußen als geradezu unerträglich. Ihm bricht sogleich der Schweiß aus allen Poren.

Nun gut, es sind zum Glück nur wenige Schritte bis zum nächsten Tor, das in den Innenhof der Heiligen Moschee führt. Aber am Tor, da staut es sich erst recht. Denn im Innenhof ist der Menschenstrom noch um vieles dichter, gedrängter, reißender. Und sofort fühlt er sich und fühlen sich seine Leute eingepfercht und geschoben und mitgerissen. In diesem unübersehbaren Strom von schwitzenden Leibern dahinzutreiben ist faszinierend und fühlt sich zugleich bedrohlich an, zumal in der trügerischen Beleuchtung des Flutlichts. Er hört das Atmen der anderen und hört sein eigenes Atmen. Er riecht den Schweiß der anderen und schmeckt seinen eigenen Schweiß, der ihm über die Lippen rinnt. Er spürt seinen Herzschlag und will nicht wahrhaben, dass dieser immer rasender wird. Im Bauch schleicht sich die Übelkeit an. In den Gelenken macht sich Schwäche und unmenschliche Erschöpfung breit, zumal so unmittelbar nach der sechsunddreißigstündigen Anreise.

Nein, nein, sagt er sich in einem fort, ich muss doch meinen Mann stellen! Ich habe hier eine große Verantwortung! Ich darf jetzt nicht schlappmachen!

Und ja, er reißt sich zusammen und bemüht sich krampfhaft, sich vom religiösen Enthusiasmus seiner Leute anstecken zu lassen.

Aber halt, jede Umrundung der Kaaba muss damit beginnen, dass man den berühmten Schwarzen Stein küsst! Der ist doch in der südöstlichen Ecke in die Mauer der Kaaba eingelassen. Verdammt, wie soll er nur bei diesem fürchterlichen Gedränge diesem Schwarzen Stein näher kommen können?

Blitzartig wird ihm klar: Wenn ich nicht aktiv werde, werden wir abgedrängt, ohne den Stein küssen zu können. Zum Kuckuck, ich muss endlich aktiv werden und anfangen, unsere Richtung selber zu bestimmen.

Er gibt sich einen Ruck und wirft sich kurz entschlossen in die Schlacht, beginnt in die ersehnte Richtung zu drücken und zu drängen. Und erntet damit gar manchen erbosten Blick und erbosten Kommentar in den unterschiedlichsten Sprachen, aber zugleich die dankbare Anerkennung seiner eigenen Leute. Sie eifern ihm darin sofort nach und stehen ihm inmitten des Schlachtgetümmels begeistert zur Seite. Nur, ist diese Methode, die sogenannte Ellbogentechnik, auch erfolgreich? O ja, und wie. Die Ecke mit dem Schwarzen Stein rückt tatsächlich immer näher. Sie ist bereits zum Greifen nah.

In diesem Augenblick entsteht unmittelbar vor ihm ein plötzlicher Aufruhr. Ein alter Mann erbricht sich auf den weißen Marmorboden. Augenblicklich weitet sich der Aufruhr aus, verdoppelt sich, verdreifacht sich. Die alte Dame an seiner Hand wird ohnmächtig, sinkt zu Boden. Er selbst droht ohnmächtig zu werden.

Da erblickt er inmitten der Pilgermassen seinen (angeblichen) Onkel Sulejman. Dieser steht plötzlich vor ihm, macht ein grimmiges Gesicht und richtet seine Pistole auf ihn. Voller Entsetzen schreit er auf, versucht zu fliehen. Aber es gelingt ihm nicht. Denn auf der anderen Seite erblickt er Pater Vladislav und Schwester Bernarda. Beide blicken ähnlich grimmig drein und bedrohen ihn mit einem Messer. Von neuem schreit er auf, versucht in eine andere Richtung zu fliehen, nur um zu erkennen, dass sein Freund Sejfulah, einen dicken Ast in der Hand, vor ihm steht und sich anschickt, diesen auf seinen Kopf krachen zu lassen. Und während er auch vor diesem zu flüchten versucht, sieht er sich zu seinem grenzenlosen Entsetzen umringt von all denen, die er auf dem Gewissen hat. Und zu denen gehören, wie er zu seiner Bestürzung erkennen muss, sogar seine geliebte Schwester Fatima und seine heißgeliebte Freundin Lale.

Wie auf Kommando stürzen sie sich allesamt, aus Leibeskräften brüllend, auf ihn, werfen ihn zu Boden, bearbeiten ihn mit einem dicken Ast, rammen ihm ein Messer in den Bauch, jagen ihm eine Kugel in die Brust und trampeln auf ihm herum, so wie eine wildgewordene Kuhherde auf einer Almweide manchmal Menschen niedertrampelt, wenn diese einen Hund bei sich haben. Das Gebrüll seiner Opfer übertönt seine Schmerzensschreie. Er bekommt keine Luft mehr. Er glaubt zu ersticken. Er sieht nichts mehr, denn die Augäpfel sind bereits zerquetscht. Die Knochen brechen und geben ein grausiges Geräusch von sich. Die Gedärme treten aus, und das aus vielen Wunden strömende Blut vermischt sich mit dem Erbrochenen des alten Mannes.

Da vernimmt er mit einem Mal Trompetenstöße, so gewaltig, dass sie nicht nur seine eigenen Schreie, sondern sogar das Gebrüll der ihn Zerfleischenden übertönen. Hoch vom Himmel her schwebt inmitten eines überirdischen Lichtkreises ein riesenhafter Engel mit vier Flügeln auf ihn herab, prachtvoll gekleidet in das leuchtende Grün des Propheten Mohammed, eine goldene Trompete an seinen Lippen. Der Todesengel Israfil.

„Nein! Nein! Nein!“, schreit er verzweifelt auf. Aber Israfil beachtet seine Schreie nicht. Er schwebt auf ihn herab, kommt immer näher. Immer lauter werden die Trompetenstöße und sind schließlich so gewaltig, dass ihm im buchstäblichen Sinne Hören und Sehen vergeht.

Unterdessen ist die zum Schwarzen Stein drängende Menschenlawine natürlich genau so wenig zum Stehen gekommen, wie eine zu Tal donnernde Schneelawine auf einem Steilhang zum Stehen kommen kann. Es gibt kein Halten mehr. Die nachrückenden Massen rempeln ihre Mitpilger an, stoßen sie nieder, trampeln die am Boden Liegenden zu Tode, kommen selbst zu Sturz und werden selbst zu Tode getrampelt. Und wieder einmal gehen aus Mekka Meldungen über eine Massenpanik mit Hunderten von Toten in alle Welt.

Unter den zu Tode Getrampelten ist auch der Wiener Reiseleiter Resul Ibrahimović. Und wenn es stimmt, was die Imame so predigen, muss er, da auf der Hadsch verstorben, nicht bis zum Jüngsten Gericht warten, sondern kommt als Märtyrer sofort ins Paradies, wo unaussprechliche Freuden seiner harren. Und Onkel Sulejman und all die anderen, die ihm durch seine Schuld in die Ewigkeit vorausgegangen sind, haben endlich die Genugtuung, sich für ihren Tod gerächt zu haben.

 

2

Montag, 25. Mai 1992. Kozarac, eine kleine Stadt in Bosnien-Herzegowina.

In der Wohnküche seines Elternhauses zittert ein Dreizehnjähriger namens Resul Ibrahimović elendiglich an allen Gliedern. Er zittert vor Angst um sein Leben und um das Leben seiner süßen achtjährigen Schwester Fatima. Verzweifelt kauert er über ihr und hält ihr krampfhaft mit der Hand den Mund zu.

Die beiden haben sich in einem Wandschrank versteckt. Die Schranktür steht halb offen. Das ist einerseits gefährlich, weil man leicht hineinsehen könnte. Andererseits ist das vielleicht ihre Rettung. Denn die halboffene Wandschranktür lässt kaum vermuten, dass sich darin jemand verborgen hält.

Faktum ist: Die zwei Kinder bleiben unentdeckt. Die Eindringlinge sind ja auch voll und ganz mit der auf dem Fußboden liegenden Mutter beschäftigt. Und das ist für diese Kerle bestimmt bei weitem lohnender, noch dazu, wo sie eine außergewöhnlich schöne Frau ist. Und ihr Körper ist offenbar so reizvoll, und ihre Schreie sind für Sadisten wie sie so anregend („antörnend“), dass sie sich mit einem einzigen Mal natürlich nicht begnügen können.

Sobald sie endlich genug haben (oder einfach nicht mehr können) und der Letzte johlend von ihr ablässt, sind die Schreie der Frau verstummt. Und das finden diese Unholde nun auch wieder unbefriedigend. Um sie also wieder zum Schreien zu bringen, kommt einer von ihnen auf die phantastische Idee, ein Küchenmesser zu suchen und ihr damit zum Spaß die Brüste abzuschneiden. Und da die erhoffte Wirkung tatsächlich eintritt, sucht er sich ein noch lohnenderes Ziel und beginnt die ohnedies bereits blutenden Geschlechtsorgane und die ganze Region rundum in kleine Stücke zu zerschnipseln.

An diesem blutigen Spiel finden auch die anderen Gefallen. Sie machen sich mit Messern oder auch mit Gabeln, was ihnen halt gerade in die Hände fällt, über andere Körperteile der Frau her, über Ohren, Augen, Nase, Lippen, Finger, Arme, Schenkel, Füße. Von ihrem Blut besudelt und blutgierig geworden, schneiden sie ihr den Bauch auf und wühlen wie die wilden Tiere in den Eingeweiden. Und da die Frau noch immer schwache Lebenszeichen von sich gibt, schneidet ihr schließlich einer die Kehle durch, wobei unklar bleibt, ob er das aus Mitleid oder einfach im Blutrausch tut. Augenblicklich schießt ein dicker Blutstrahl hervor und trifft ihn mitten im Gesicht, sodass man glauben könnte, er hätte rote Tarnschminke aufgetragen. Er brüllt, lacht, stürzt zur Wasserleitung, wäscht sich das Blut ab.

Diese grauenhaften Vorgänge können die zwei Kinder im halboffenen Wandschrank zwar nicht sehen, müssen sie jedoch akustisch miterleben. Und sie leiden Höllenqualen, weil ihnen völlig klar ist, dass es ihrer Mutter an den Kragen geht und sie ihr nicht helfen können. Und würden sie es versuchen, erginge es ihnen unter Garantie nicht viel anders. Was mit ihrem Vater geschehen ist, wissen sie nicht, ahnen aber Schlimmes. Sie haben aus der Ferne seine Schreie gehört. Und die klangen nicht gerade wie Freudenschreie.

Unterdessen hören sie, wie diese Unmenschen, natürlich serbische Feinde, grölend wie Betrunkene, einer nach dem anderen hinausstapfen und wie sie mit ihren Maschinengewehren um sich schießen. Sie hören das Klirren von Glas, das Splittern von Holz. Entsetzt spüren sie an den Erschütterungen, wie die Geschosse rund um sie einschlagen, sie offenbar nur um Haaresbreite verfehlen.

Danach wird es ruhig. Darf Resul nun endlich Fatimas Mund freigeben, um zu verhindern, dass sie erstickt? Dürfen sie sich jetzt schon aus ihrem engen Versteck hervorwagen? Und was, wenn die Unholde unverhofft zurückkehren, etwa um weitere Verwüstungen anzurichten? Nein, noch nicht. Geduld, Geduld!

Aber he, riecht es da nicht auf einmal wie verbrannt? Nein, das ist bei Gott keine Täuschung. Bald hören es die zwei Kinder deutlich genug: ein verdächtiges, bedrohliches Prasseln wie von einem lodernden Feuer. Und dann erkennen sie im Spalt der Schranktür ein verräterisches Flackern. Um Himmels willen, das Haus steht in Flammen. Jetzt aber schnell! Nichts wie raus!

Resul stößt die Schranktür auf und sieht Flammen züngeln und Rauch aufsteigen und springt erschrocken hinaus und erblickt den blutigen, geschändeten Leichnam ihrer Mutter und erstarrt vor Entsetzen zu Eis und zwingt sich, den Blick abzuwenden und seiner Schwester herauszuhelfen, und packt ihre Hand und hält ihr neuerlich den Mund zu, als sie angesichts des grausigen Bildes, das sich ihnen bietet, zu schreien beginnen will, und zieht sie mit sich fort von diesem herzzerreißenden Anblick.

So schleichen sie auf leisen Sohlen durch das bereits mit dichtem Rauch erfüllte Vorzimmer zur sperrangelweit offen stehenden Haustür und unterdrücken mit größter Mühe den rapide zunehmenden Hustenreiz und spähen vorsichtig hinaus und sehen, dass die Unholde wie vom Erdboden verschluckt sind, und sehen, dass das Haus bereits lichterloh brennt und sie nur mit viel Glück dem rasend um sich greifenden Feuer entkommen sind. Und noch etwas sehen sie mit Entsetzen: An einem Ast des mächtigen Kastanienbaumes vor ihrem Haus hängt, ebenfalls grässlich zugerichtet, ihr Vater. Und sie sehen, dass die Straße nicht nur voller Schutt und Trümmer, sondern vor allem voller Leichen ist. Und dass auch zahlreiche andere Häuser brennen. Und dass sie, so wie es aussieht, die einzigen Überlebenden weit und breit sind.

Da nehmen sie die Beine unter die Arme und rennen um ihr Leben so wie Hasen, denen eine Meute von Hunden auf den Fersen ist. Nach einiger Zeit stoßen sie aber doch auf eine Gruppe lebender Menschen. Dass die noch leben, erkennen sie an der auffallenden Eile, mit der sie sich fortbewegen.

Sind es Serben?, fragen sie sich im Stillen. Ist es jetzt endgültig um uns geschehen?

Aber nein, sie sind ja unbewaffnet wie wir selber. Rennen sie etwa auch um ihr Leben?

So ist es. Die anderen rennen auch um ihr Leben.

Und da folgen ihnen Resul und Fatima und fühlen sich in der Menge sogleich irgendwie geborgen.

So erreichen die Flüchtlinge das nahe Kozara-Gebirge. Und dessen Wälder gewähren ihnen Schutz, zwar nicht vor einem gelegentlichen Regenguss, aber, so hoffen sie, wenigstens vor dem Blutrausch der serbischen Feinde.

Unter den Erwachsenen herrscht ein geradezu biblisches Heulen und Zähneknirschen. „Die wollen uns alle ausrotten“, sagen sie voller Erbitterung zueinander. „Sie nennen uns verächtlich Balije, ungebildete und dreckige Muslime, und verkünden, ihre serbische Heimat muss von diesem Dreck gereinigt werden.“

Resul und Fatima sagen nichts. Sie weinen nicht einmal. Genauer, sie weinen tränenlos. In dem Grauen, das sie durchlebt haben, scheint die Quelle ihrer Tränen versiegt zu sein. Im Übrigen können sie vom Gebirge aus beobachten, wie die ganze Stadt zuerst ein Raub der Flammen wird und wie dann riesige Maschinen anrücken, um die Ruinen niederzuwalzen.

Worauf soll man also jetzt noch warten? Etwa bis sie alle verhungert sind? (Wenigstens verdursten würden sie nicht. Hier gibt es gute Quellen.) Oder bis ein serbisches Mordkommando sie hier im Wald aufspürt? Nein, natürlich nicht. Nur, wohin?

In dieser Frage herrscht keine Einigkeit. Bald beginnen sich einzelne Gruppen abzusondern und in die verschiedensten Richtungen loszuziehen, nur in Richtung Kozarac nicht. Resul und Fatima schließen sich Gospodin Halilović, Herrn Halilović, an. Er ist ein guter Bekannter ihrer Eltern und war häufig Gast in ihrem Haus. Etwas an ihm hat Resul allerdings immer schon ein wenig gestört und ihn regelrecht eifersüchtig auf seine kleine Schwester werden lassen: Gospodin Halilović bedachte Fatima bei jeder Gelegenheit mit deutlich freundlicherem Lächeln und mit freundlicheren Worten als ihn selbst. Klar, sie ist ja auch bedeutend hübscher. Nur, ist das ein Grund, ihn so zu kränken? Einmal beklagte er sich über diese Ungerechtigkeit bei seiner Mutter. Sie tröstete ihn mit den Worten, Fatima sei eben kleiner als er und außerdem ein Mädchen. Er sei doch schon so groß und müsste eigentlich dafür Verständnis haben. Sie rügte ihn sogar ein kleines bisschen, weil er auf seine Schwester neidisch sei, und er solle sich lieber als Kavalier erweisen. Diese Worte nahm er sich damals zu Herzen. Und seither findet er Gospodin Halilović ganz in Ordnung.

Und wirklich nimmt sich dieser jetzt in ihrem Waldversteck liebevoll beider Kinder an und teilt sein kärgliches Essen, das er retten konnte, mit ihnen und fordert sie auf, ihn Onkel Sulejman zu nennen. Er betet auch mit ihnen, nicht gerade fünfmal am Tag, wie es sich für einen gläubigen Muslim gehört, aber doch gelegentlich, und zeigt ihnen, wie sie die Gebetsrichtung nach Mekka bestimmen können. Vor allem aber versucht er sie über ihren schmerzlichen Verlust zu trösten, natürlich ganz und gar vergeblich. Denn unterdessen fließen die Tränen umso reichlicher, und des Nachts plagen sie schlimme Alpträume. Aber nett finden es die Kinder trotzdem von ihm. Und als es nun abmarschieren heißt, versteht es sich irgendwie von selbst, dass sie sich ihm anschließen.

 

3

Das Kozara-Gebirge ist ein schmales, unbewohntes Mittelgebirge, bis zu fast tausend Metern hoch, das sich von Südosten nach Nordwesten hinzieht und danach in weitere Mittelgebirge übergeht. Onkel Sulejman fand es am sinnvollsten, sich entlang dem Hauptkamm nach Nordwesten durchzuschlagen. Und er wusste auch, wohin. Die Richtung Nordwesten, erklärte er den Kindern, führe nämlich geradewegs nach Europa.

„Wieso?“, sagte Resul verwirrt. „Liegt denn unser Bosnien nicht auch in Europa?“

„Ja, natürlich liegt Bosnien auch in Europa. Aber so sagt man halt, wenn man nach Österreich will oder nach Deutschland oder in die Schweiz, weißt du. Dort wären wir erstens sicher, und zweitens könnte ich dort viel Geld verdienen und für euch sorgen.“

Und auch das fanden die Kinder wahnsinnig nett, zumal er jetzt schon wie ein liebevoller Vater für ihr leibliches Wohl sorgte. Er hatte nämlich eine schwarze Pistole, eine halbautomatische Glock, komplett mit Schalldämpfer, eingesteckt, zeigte ihnen auch, wie man damit umgeht, und erlegte damit bei Gelegenheit einen Hasen oder einen Fasan und briet das Fleisch über einem rasch entfachten Feuer. Natürlich sollte die Waffe in der Hauptsache zum Schutz vor den serbischen Feinden dienen. Aber nebenbei diente sie als Mittel zur Nahrungsbeschaffung und zugleich als Lernbehelf. Und was Letzteres betrifft, so konnte sich Onkel Sulejman nicht genugtun, Resul zu loben. Er nannte ihn ein Wunderkind, ein Naturtalent im Schießen, wie er es noch nie erlebt habe.

Unterdessen hatten sie das nordwestliche Ende des Kozara-Gebirges längst erreicht und waren mit aller gebotenen Vorsicht ins enge Tal des Flusses Una abgestiegen. Ungehindert, ungefährdet überquerten sie diesen Fluss auf der nächstgelegenen Brücke, und am anderen Ufer befanden sie sich bereits auf kroatischem Territorium. Zwar wütete die Kriegsfurie auch in Kroatien. Trotzdem würde, so hofften sie, die Gefahr von nun an deutlich geringer sein. Aber sie mieden weiterhin nach Möglichkeit bewohntes Gebiet und bewegten sich vorzugsweise über die Berge.

Nur, so nett Onkel Sulejman auch war, Resul gab es jedes Mal einen Stich ins Herz, und er fühlte sich regelrecht diskriminiert, wenn er mit ansehen musste, wie seine Schwester noch immer ungeniert bevorzugt und überhaupt deutlich freundlicher behandelt wurde. Diese Ungleichbehandlung schmerzte ihn über alle Maßen. Er empfand sie mehr denn je als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Und jetzt, wo Vater und Mutter tot waren und Onkel Sulejman als einzige erwachsene Bezugsperson fungierte, wurde sie, diese Ungerechtigkeit, zu seiner Erbitterung statt geringer immer größer. Manchmal hatte Resul sogar den Eindruck, als sei seine Gegenwart unerwünscht, als wäre Onkel Sulejman lieber mit Fatima allein.

Aber warum nur, fragte er sich in wachsender Verzweiflung immer wieder. Warum behandelt er mich so ungerecht? Ich verstehe das nicht.

Erst da glaubte er dieses Rätsel zu verstehen, als er eines Tages von einem Weg, den angeblich auch der Kaiser zu Fuß zurücklegt, zurückkehrte und sah, wie Onkel Sulejman seine Schwester streichelte, nicht etwa über die Haare oder die Schulter, sondern über die entblößten Schenkel. Und da ahnte er die Antwort auf seine stumme Frage und glaubte zu wissen, wie der Hase läuft.

Mit Fatima muss ich wohl ein ernstes Wörtchen reden, dachte er voller Empörung. Nur, wann? Oder wo? Wann lässt Onkel Sulejman mein Schwesterlein einmal aus den Augen? Wann gibt es einmal eine Gelegenheit, mit ihr unter vier Augen zu reden? Denn so viel verstand Resul bereits, dass Fatimas Keuschheit bedroht war und dass er als ihr älterer Bruder verpflichtet war, diese zu bewahren, mit welchen Mitteln auch immer. Allah (Ehre sei ihm) weiß, was wir tun. Und er will, dass alle, die die Ehre der Jungfrauen schänden, gesteinigt werden. Resul hat im Religionsunterricht gut aufgepasst.

In dieser Nacht erwachte er durch unerklärliche Geräusche aus tiefem Schlaf, dem Schlaf der Erschöpfung. Mühsam richtete er sich auf, blickte umher und sah in dem durch das Geäst der Bäume gefilterten Mondlicht deutlich genug, wie sich Onkel Sulejman, trotz der nächtlichen Kühle halb entkleidet, über Fatima beugte. Was er mit ihr machte, konnte er zwar nicht erkennen. Aber dass ihre Beine entblößt und obendrein gespreizt waren, erkannte er deutlich genug und wusste sofort: Hoppla, ihre Keuschheit ist bedroht. Ihre Ehre ist in höchster Gefahr. Noch etwas erkannte er deutlich genug: Onkel Sulejmans Jacke. Sie lag in Griffweite neben ihm (Resul). Und er wusste genau, was sich in ihr verbarg: Onkel Sulejmans halbautomatische Glock.

Gleich einem Roboter griff er nach der Jacke, fischte die Glock heraus, lud sie durch. Durch das dabei entstehende Geräusch schien Onkel Sulejman auf ihn aufmerksam zu werden. Er wandte sich von Fatima ab, blickte zurück, richtete sich auf, sprang auf, flink wie ein Raubtier, wollte Resul die Waffe offensichtlich entreißen. Im selben Augenblick drückte dieser ab, eine Stichflamme loderte auf, sein Trommelfell wäre um ein Haar geplatzt. Onkel Sulejman erstarrte in seiner Bewegung, stand ein kleines Weilchen wie der Steinerne Gast in Mozarts Don Giovanni schweigend da, ging langsam, quasi in Zeitlupe, in die Knie, brach zuletzt nieder und blieb stumm und regungslos liegen.

Dem Steinernen Gast glich nun auch Resul. Ebenso Fatima. Doch dann sprang sie auf, rannte auf ihn zu, warf ihre Arme um seinen Hals und brach in die bittersten Tränen aus. Und die waren fast noch bitterer als ihre Tränen um Mutter und Vater.

Heult sie, weil er sie ihres Liebhabers und Verführers beraubt hat?

Aber nein.

„Danke, lieber Bruder“, stieß sie mit Mühe hervor, „dass du mich gerettet hast. Du glaubst ja gar nicht ...“

Und damit verstummte sie und gab sich vollends ihrem Schluchzen hin. Aber dies, so wusste jetzt Resul, waren nicht so sehr Tränen des Zorns oder der Trauer um ihren Onkel Sulejman als vielmehr Tränen der Erleichterung.

„Nur, was jetzt?“, stammelte sie, sobald ihr Tränenfluss versiegt war.

„Nichts wie weg hier“, erwiderte Resul, ohne zu stammeln. „Was sonst? Und jetzt zieh dich endlich an!“

Er überzeugte sich, dass Onkel Sulejman tot war, verstaute die hiermit konfiszierte Glock in seiner eigenen Jackentasche, nahm Fatima bei der Hand. Und mit einem letzten scheuen Blick auf dessen für immer stumm und ungefährlich gewordene Gestalt machten sie sich durch die Dunkelheit davon wie Hänsel und Gretel und hofften, sich nicht wie diese im Wald zu verlaufen. Denn es war so finster und auch so bitter kalt. Und obwohl beide erschöpft und mit ihren Nerven total am Ende waren, ruhten sie nicht eher, als bis der Morgen graute.

Da erst warfen sie sich zu Boden und schliefen den Schlaf des Gerechten. Nur, erholsam war er nicht, und das gilt vor allem für Resuls Schlaf. Denn mit Peitschen und glühenden Zangen folterten ihn jetzt Onkel Sulejmans Rachegeister, und der Rachen der Hölle tat sich unter ihm auf, und die Flammen des ewigen Feuers leckten an seinen Fußsohlen, und satanischer Gestank stieg zu ihm empor und benahm ihm fast den Atem, und Onkel Sulejman selbst sprang flink wie ein Raubtier auf, und seine Augen funkelten ihn gefährlich an. Mit grimmigem Gesicht zückte er eine riesige Pistole und richtete sie gegen ihn und lud sie durch und drückte ab, und eine Stichflamme loderte auf, und das Projektil traf Resul mitten in die Brust, und er schrie vor Schmerzen auf und erwachte, total zerschlagen und mit schwerem Kopf, und wunderte sich, dass er überhaupt noch lebte. Und war schwer erleichtert, als ihm bewusst wurde, dass das alles bloß ein Traum gewesen war, wenn auch ein fürchterlicher Alptraum. Aber er war hungrig wie ein KZ-Insasse.

Ja, der Hunger war bei beiden groß. Und ihre Taschen waren leer (abgesehen von Onkel Sulejmans konfiszierter Glock). Den Beutel mit dessen kümmerlichen Essensvorräten hatten sie in der Aufregung und der Eile ihrer Flucht liegen gelassen. Also hatten sie die Wahl: Verhungern oder um Essen betteln. Denn die Pistole wagte Resul nicht mehr zu berühren. Natürlich entschieden sie sich fürs Betteln und hofften, irgendwann ein abgelegenes Gehöft zu finden.

Unterwegs hatte Resul die Idee, sich stumm zu stellen, um nicht zu viel erklären zu müssen und sich dadurch unabsichtlich zu verraten. Fatima solle erklären, er habe zuschauen müssen, wie Vater und Mutter grausam misshandelt und dann ermordet wurden, und habe durch diesen Schock seine Sprache verloren.

 

4

Dieser Plan funktionierte besser als erhofft. Resul und Fatima begannen vom Gebirge abzusteigen. Und noch weit oberhalb der Talsohle stießen sie auf ein einsam gelegenes Gehöft. Während sie sich mit rasch aufgelesenen Stöcken den wilden Hund vom Leibe hielten, kam die Bäuerin mit argwöhnischer Miene auf sie zugestapft, befahl dem Hund, sich zu beruhigen, und fragte nach ihrem Begehr. Fatima sagte ihr Sprüchlein auf, so gut sie’s konnte, und garnierte es mit heißen Tränen. Und das waren keineswegs Krokodilstränen.

Daraufhin blickte die Bäuerin die beiden schon etwas freundlicher an, schien in Anbetracht ihres reichlich verwahrlosten Aussehens mit ihnen sogar Mitleid zu haben. Sie führte sie ins Haus, gab ihnen zu essen und zu trinken und bot ihnen schließlich an, sie könnten in der Scheune übernachten und morgen früh mit ihr zum freitägigen Wochenmarkt in die Stadt Karlovac mitfahren, falls sie ihr helfen, die Obst- und Gemüsekisten auf den Traktoranhänger zu heben und dort zu verstauen. Ihr Mann und beide Söhne seien eingezogen worden, um gegen die Serben zu kämpfen, und sie sei jetzt ganz allein und wisse nicht, wie sie den ganzen Laden schmeißen solle.

Das versprachen sie sehr gern, Resul natürlich nur durch stummes Nicken. Und er hatte zu tun, um seine Verstellung aufrechtzuerhalten. Sie waren überglücklich, endlich wieder einmal nicht unter freiem Himmel auf nacktem Erdboden schlafen und Angst vor wilden Tieren haben zu müssen (außer eventuell vor dem bösen Hofhund). Und die Aussicht, ohne eigene Anstrengung den weiten Weg bis nach Karlovac zurücklegen zu können, empfanden sie als unfassbaren Segen.

Kaum hatten sie es sich im Heu gemütlich gemacht, fielen ihnen auch schon die Äuglein zu, ehe sie sich noch Gute Nacht wünschen konnten. Und Resul war bereits auf dem besten Weg, ins Traumland zu übersiedeln, da stand zu seinem Schrecken im Dämmerlicht des sterbenden Tages unverhofft schon wieder Onkel Sulejman vor ihnen. Er stand vor ihnen, machte ein grimmiges Gesicht, richtete schweigend den Lauf eines Schießeisens auf Resul. Dieser stieß einen langgezogenen, durchdringenden Entsetzensschrei aus. Und im nächsten Moment war Onkel Sulejman verschwunden.

Hatte sich sein Phantom, oder was immer es war, hier irgendwo versteckt? Lauerte es ihm auf, um ihn oder beide in der anbrechenden Dunkelheit zu erschießen? Resul war sich sicher, dass er noch nicht geschlafen hatte, dass diese Erscheinung somit real gewesen war.

Es dauerte geraume Zeit, bis er es wagte, aufzustehen und nachzusehen. Er suchte in der Scheune, er suchte vor der Scheune, er suchte, bis es zu finster war, um weitersuchen zu können – aber da war nichts zu finden. Nur der böse Hund kam plötzlich, aufgeregt bellend, auf ihn zugestürmt, und Resul konnte sich nur durch einen schnellen Sprung hinter das Scheunentor retten. Danach hörte er, wie die Bäuerin das blöde Vieh erneut zur Räson bringen musste. Und erst viel später, da lag Resul längst wieder im Heu und versuchte einzuschlafen, nun jedoch mit wenig Erfolg, da fiel ihm auf, dass Onkel Sulejman, falls er oder sein Phantom es wirklich gewesen war, kein derartiges Gebell provoziert hatte. Und diese mysteriöse Sache ging ihm noch lange nicht aus dem Kopf und hielt ihm den Schlaf noch lange fern.

Die Hilfe beim Verladen der Kisten am nächsten Morgen, die die zwei versprochen hatten, bedeutete für sie übrigens Schwerstarbeit, vor allem für die zarte Fatima. Vor Erschöpfung konnte sie bald nicht mehr. Resul biss die Zähne zusammen und arbeitete eben für zwei.

Unterwegs nach Karlovac wurde die Bauersfrau plötzlich neugierig und fragte Fatima, wohin sie und ihr stummer Bruder eigentlich wollten. Und als sie hörte, nach Slowenien und von dort nach Österreich, sagte sie nach einigem Überlegen, sie beliefere in Karlovac einen Transportunternehmer, der regelmäßig Obst und Gemüse nach Ljubljana transportiere. Das sei die Hauptstadt von Slowenien.

„Soll ich den fragen, ob er euch mitnimmt?“

„Ja, bitte“, rief mit größter Begeisterung Resul aus, ehe er an seinen Vorsatz denken konnte, sich stumm zu stellen.

„Oho“, sagte die Bauersfrau und schüttelte den Kopf, „du bist ja gar nicht stumm.“

„Hm“, machte Resul und wurde rot wie die Kirschen, die er mühsam aufgeladen hatte. Und obwohl er natürlich die Neugier der Bäuerin geweckt hatte, brachte er nun tatsächlich kein Wort über die Lippen. Und auch Fatima schwieg auf alle ihre Fragen.

Aber ihr Versprechen hielt sie. In Karlovac angekommen, lieferte sie bei dem von ihr erwähnten Transportunternehmer nicht nur etliche Kisten voller Obst und Gemüse ab, sondern auch die zwei Kinder, und bat ihn, sie nach Ljubljana mitzunehmen. Der wirkte zwar nicht gerade begeistert. Doch er erfüllte ihren Wunsch und hieß die beiden einsteigen.

Auch während der Fahrt erwies er sich als wortkarger und mürrischer Geselle. Offenbar kein Kinderfreund, dachte Resul bei sich. Zwar, wortkarg, das war ihm nur recht. Nur, mürrisch, das ängstigte ihn ja doch ein wenig. Und wie sich herausstellte, nicht ganz zu Unrecht. Denn sie waren erst zirka eine halbe Stunde unterwegs, da hielt der Fahrer an und sprach nun doch mit ihnen.

„Habt ihr überhaupt einen Ausweis?“, brummte er.

Resul und Fatima schüttelten den Kopf.

„Nein? Hab ich’s mir doch gedacht. Da muss ich euch aber aussteigen lassen. Jetzt kommt nämlich gleich die Grenzbrücke zu Slowenien. Und da gibt’s neuerdings eine Grenzkontrolle. Und wenn ihr keinen Ausweis bei euch habt, will ich euch auf keinen Fall im Auto haben. Am Ende kriege ich’s mit der Polizei zu tun. Und das habe ich weiß Gott nicht nötig.“

„Und was sollen wir tun?“, sagte Resul mit verzagter Stimme.

„Was weiß ich? Entweder die Grenzpolizisten mit Geld bestechen. Habt ihr welches bei euch?“

Resul schüttelte den Kopf.

„Aha. Oder halt mit euren schönen Augen. Oder an einer Stelle, wo sie euch nicht sehen können, über die Kolpa schwimmen.“

„Kolpa?“, fragt Resul verängstigt.

„Verdammt, so heißt der Fluss, der die Grenze bildet. Kupa nennen ihn die Kroaten. Ihr könnt doch schwimmen?“

„Nein.“

„Soso. Na, dann halt nicht. Vielleicht schafft ihr es, euch an den Grenzposten unbemerkt vorbei zu schwindeln. Na gut, ich warte dann auf euch ein Stück hinter der Grenzbrücke, wo sie mich nicht mehr sehen können.“

Sprach’s, sah ungerührt zu, wie die Kinder mit enttäuschten Mienen hinauskletterten, gab Gas und brauste davon, während sie wie gelähmt am Straßenrand standen und dem Wagen mit gemischten Gefühlen nachblickten. Fatima brach sogar in Tränen aus. Resul tröstete sie und sagte, Zuversicht vortäuschend: „Weine nicht, Kleine, das schaffen wir schon.“ Hierauf nahm er sie bei der Hand und begann mit ihr auf die Grenzbrücke zu zu marschieren. Übrigens stellte sich heraus, dass sie der Fahrer viel zu früh hinausgeworfen hatte. Es waren bestimmt noch mehrere Kilometer, bis eine Brücke überhaupt in Sicht kam. Davor erkannten sie einen geschlossenen Schlagbaum und eine Holzbaracke mit wehender kroatischer Fahne.

„Das ist wahrscheinlich die vermaledeite Grenzkontrolle“, erklärte Resul mit verdrießlicher Stimme.

„Vielleicht können wir uns hinten vorbei schleichen, ohne dass sie uns sehen?“, flüsterte Fatima.

Resul dachte kurz nach und sagte: „Du, das ist eine gute Idee. Ja, so wollen wir’s machen.“

Und so machten sie‘s. Und es gelang. Niemand schien sie zu sehen, jedenfalls hielt sie niemand auf. Sie betraten wieder die Fahrbahn, drehten sich um – nein, niemand blickte ihnen nach, niemand kam ihnen nach, niemand schoss ihnen nach. Erleichtert rannten sie los, glaubten sich gerettet. Doch während sie auf der langen Brücke dem slowenischen Ufer näher kamen, rutschte ihnen das Herz aufs Neue in die Hose. Denn sie erkannten, dass es auch dort einen Schlagbaum und ein Zollhäuschen gibt, diesmal mit slowenischer Fahne, und dass davor sogar ein mit Schießgewehr bewaffneter Grenzposten steht. Und der blickte ihnen anscheinend schon interessiert entgegen.

Völlig verzagt, gingen sie zögernd auf ihn zu, machten in großem Respektsabstand vor ihm halt, blickten ihn angstvoll an. Er sprach sie an, und das klang zum Glück überhaupt nicht gefährlich oder auch nur unfreundlich. Nur verstanden sie kein Wort. Er sprach offenbar Slowenisch. Da sie nicht antworteten, probierte er es mit Serbokroatisch. Und nun, in ihrer Muttersprache (Bosnisch ist nur eine Sonderform des Serbokroatischen), verstanden sie ihn bestens. Er wollte einfach ihren Ausweis sehen und wissen, woher und wohin. Aber ihre Zunge war gelähmt, sie blieben stumm, konnten nur den Kopf schütteln und blickten ihn mit großen, flehenden und zugleich so verängstigten Augen an, dass er sich schließlich ihrer erbarmte. Sie mögen halt in Gottes Namen weiterspazieren.

„Danke“, murmelten sie und rannten, grenzenlos erleichtert, los, bevor er es sich anders überlegen mochte. Zudem wollten sie den Fahrer des Lastwagens nicht allzu lange warten lassen.

Nur, mussten sie denn wieder so weit laufen, bis sie einsteigen durften? Offensichtlich ja. Sie liefen und liefen, aber kein bekanntes Fahrzeug kam in Sicht. Und nach mehreren Kilometern, unterdessen war vor ihnen das Weichbild einer kleinen Stadt aufgetaucht, stand fest: Nein, der Fahrer hatte nicht auf sie gewartet, hatte sie vergessen, war vielleicht sogar froh, sie auf diese elegante Weise losgeworden zu sein. Übrigens hielt auch kein anderes Fahrzeug an, um sie mitzunehmen.