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Der magische 8. Tag

Riskante Mission

Band 4

eISBN 978-3-96129-133-5


Edel Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com


Projektkoordination: Judith Haentjes

Text: Marliese Arold

Covergestaltung: Geviert Grafik & Typographie

unter Verwendung von Motiven von © EVA105/Shutterstock

und © iktash/Shutterstock

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin


Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Überfall im Dschungel

Olivia dreht durch

Olivia und die Kreaturen im See

Ausgeliefert!

Unerwartete Hilfe

Riskante Pläne

Ewige Finsternis

Das Geheimnis der Seewesen

Der Herr der Welt

Horatius’ Vermächtnis

Alles verändert sich …

Niemals aufgeben!

Verlorenes Spiel

Eine wichtige Mission

Überfall im Dschungel

Die Morgensonne stahl sich durch das Blattwerk der Bäume. Ringsum zwitscherten die Vögel. Weiter entfernt kreischten Affen in den Wipfeln. Mäxchen, das kleine Seidenäffchen, wäre am liebsten gleich losgestürmt, um mit seinen unbekannten Verwandten zu toben. Anouk erwischte das Tier gerade noch am Schwanz.

»Hiergeblieben, mein Lieber! Für dich ist es im Dschungel viel zu gefährlich!«

Mäxchen beschwerte sich schnatternd.

Laura öffnete die Augen. Ein Mückenstich auf der Stirn juckte unerträglich. Langsam richtete sie sich auf. Ihr Mund war trocken und fühlte sich verquollen an, ebenso wie die Augen. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück.

Sie befanden sich im Dschungel der magischen Welt des achten Tages. Olivia und sie waren durch einen Riss zwischen den Welten von der Terrasse ihres Vaters hierherkatapultiert worden – in eine Wildnis, in der gefährliche Tiere und nicht minder gefährliche Pflanzen existierten. Dort waren sie auf Magister Horatius gestoßen. Der Alte hatte sich im Dschungel verirrt und war völlig hilflos. Zum Glück hatten sie Max Schirmer getroffen, der ihnen geholfen hatte, obwohl er für die Firma TEMP arbeitete.

Laura stöhnte leise. TEMP! Die Firma war der gefährlichste Gegner der magischen Welt. Magister Horatius hatte das Geheimnis der Zeit geknackt und diese Welt geschaffen, und jetzt drohte sein Wissen in die falschen Hände zu geraten. Die Leute von TEMP hatten bereits das Schloss der Ewigkeit gestürmt … Laura presste die Hände gegen die Schläfen. Hatten sie überhaupt eine Chance gegen TEMP?

Eine Hand packte sie am Arm. Laura zuckte zusammen und blickte zur Seite. Merle kniete neben ihr.

»Max ist weg«, sagte sie knapp.

Laura runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich daran, dass ihr sein Fehlen während der Nacht ebenfalls aufgefallen war. Zunächst hatte sie gedacht, er hätte den Unterschlupf nur verlassen, weil er pinkeln musste.

»Du meinst … er ist ganz weg?«

Merle nickte. »Scheint so.« Sie streichelte nervös Brutus, ihre weiße Ratte, die auf ihrer Schulter herumkletterte.

»Vielleicht hat er sich verirrt«, murmelte Laura.

»Max? Der Fährten lesen kann? Der Einzige von uns, der weiß, wie man im Dschungel überlebt?« Merle schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«

In Lauras Kopf stiegen Schreckensbilder auf. Max, der im Sumpf gegen ein riesiges Krokodil kämpfte. Das aufgerissene Maul des Reptils. Die spitzen Zähne. Und der junge Mann dazwischen …

»Denkst du, er ist … tot?«, fragte Laura tonlos.

Merle schwieg und hob die Schultern.

Laura wollte aller Mut verlassen. Max war eine wertvolle Stütze gewesen. Er hatte Magister Horatius die meiste Zeit auf dem Rücken getragen, weil der Alte zu schwach war, um zu laufen.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, meinte Merle. »Vielleicht hat er seine Kumpel von TEMP getroffen.«

Trotz der Schwüle, die im Dschungel herrschte, durchfuhr es Laura eiskalt. Max ein Verräter? Es hatte doch so ausgesehen, als stünde er auf ihrer Seite!

Merle reichte ihr eine Wasserflasche. »Hier, trink!«

Laura nahm einen großen Schluck. Wenn Merle mit ihrer Vermutung recht hatte, wem konnten sie dann noch vertrauen? Wer war Freund, wer Feind? Lauras Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sich ärgerlich über die Augen. Nein, sie würde jetzt nicht heulen. Das brachte sie kein Stück weiter. Was sie brauchten, war ein vernünftiger Plan.

»Wir müssen zum Schloss«, sagte sie.

Merle nahm ihr die Flasche ab. »Genau das haben wir vor. Magistra Elisa hat uns losgeschickt, um euch zu holen. Und wir haben euch gefunden. Mission erfüllt. Jetzt geht es zurück. Mit Max oder ohne ihn.«

Laura schüttelte den Kopf. »Du weißt noch nicht alles, fürchte ich.«

Merle sah sie fragend an.

»Die Leute von TEMP sind bereits im Schloss«, sagte Laura.

»Woher weißt du das?« Merle war verwundert.

»Von Elias, meinem Bruder«, antwortete Laura. »Er ist im Schloss, zusammen mit meinem Vater.« Alles war so verwirrend. »Elias … hat mit mir geredet. In Gedanken.« Sie tippte sich an den Kopf. »Er … er hat ebenfalls eine besondere Gabe.«

»Ooookay«, sagte Merle gedehnt, so als müsste sie die Nachricht erst einmal verdauen. »Das ändert natürlich die Situation.«

Laura nickte. Sie hatte keine Ahnung, wie viele TEMP-Leute sich im Schloss befanden. Elias hatte nur von einem Mann mit einem Gewehr gesprochen, den er vom Raum der Ewigkeit aus gesehen hatte. Aber bestimmt war dieser Mann nicht allein gekommen. Wenn TEMP einen Zugang zu der magischen Welt gefunden hatte, war Bernd Asshoff sicher auch dabei. Und vermutlich noch ein paar andere.

Übelkeit stieg in Laura hoch. Sie fühlte sich überfordert. Die Gefahr war mit so einer Schnelligkeit gekommen, damit hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich hätten sie und die anderen Schüler im Schloss der Ewigkeit lernen sollen, mit ihren besonderen Talenten zurechtzukommen, doch jetzt blieb keine Zeit mehr dafür. Das Gedankenlesen war für Laura noch ganz neu. Merle, die die Gabe des Gedeihens und des Verderbens besaß, erging es wohl ähnlich.

»Haben wir überhaupt eine Chance gegen die Leute von TEMP?«, flüsterte Laura.

»Natürlich.« Merle zog sie hoch. »Nur wer aufgibt, hat bereits verloren. Und wir geben nicht auf. Wir lassen nicht zu, dass TEMP diese Welt beherrscht.« Sie grinste schief.

Laura grinste zurück. Merles Zuversicht machte ihr Mut.

Inzwischen waren auch Severin, Olivia und Rufus wach geworden. Nur Magister Horatius schlief noch und schnarchte mit leicht geöffnetem Mund.

»Gibt’s Frühstück?«, fragte Olivia und strahlte Severin an.

»Nur das, was noch von gestern übrig ist«, erwiderte dieser, öffnete seinen Rucksack und fing an, die restlichen Nahrungsmittel auf dem Boden auszubreiten.

Laura hielt unterdessen Ausschau nach Max. Sie ging um den Unterstand herum und suchte den Boden nach Fußspuren ab. Doch der Pflanzenteppich hatte sich bereits geschlossen. Die Blätter und Stängel schienen höhnisch zu wippen. Kein Zweifel, Max war fort.

Laura schloss die Augen und konzentrierte sich. Vielleicht konnte sie wieder Gedanken auffangen. Was war mit Elias? Befand er sich immer noch mit ihrem Vater im Raum der Ewigkeit? Inzwischen waren etliche Stunden vergangen. Waren die beiden gefangen genommen worden?

In ihrem Kopf blieb es still. Laura konnte nur ihre eigenen Gedanken wahrnehmen. Enttäuscht schob sie die Unterlippe vor. Was konnte sie mit einer Fähigkeit anfangen, die sie immer im Stich ließ, wenn es darauf ankam?

»Kommst du?«, fragte Severin. Er war hinter sie getreten. »Oder willst du kein Frühstück?«

»Doch, aber …« Sie sah ihn an.

»Mach dir keine zu großen Sorgen«, sagte er zu ihr.

»Aber mein Vater und Elias«, sagte Laura. »Sie sind im Raum der Ewigkeit …«

»Deine Mutter ist schließlich auch noch da«, meinte Severin. »Wenn jemand weiß, was zu tun ist, dann sie.«

Laura war jetzt komplett verwirrt. »Meine Mutter? Sie ist hier?«

»Oder soll ich besser Magistra Elisa sagen?« Severin lachte und erzählte Laura alles, was er erfahren hatte.

Es verschlug Laura die Sprache. Natürlich war ihr die äußere Ähnlichkeit zwischen ihrer Mutter und Magistra Elisa aufgefallen. Aber es waren zwei komplett unterschiedliche Charaktere. Valerie Lilienstedt war karrierebewusst, zielstrebig und liebte die neuste Technik. Magistra Elisa dagegen war eher mütterlich, behutsam und hatte viel Verständnis für ihre Schülerinnen. Und die beiden Frauen sollten ein und dieselbe Person sein?

Laura schüttelte den Kopf. »Ich glaube es einfach nicht!« Welches furchtbare Spiel hatte ihre Mutter die ganze Zeit gespielt?

»Deine Eltern tun alles, um die magische Welt vor TEMP zu schützen«, sagte Severin. »Deswegen arbeitet deine Mutter in dieser Firma. Und sie hat sich mit Asshoff angefreundet, um ihn besser zu kontrollieren.«

»Das bedeutet … Papa weiß Bescheid?« Laura konnte es nicht fassen. »Und er hat mitgemacht?« Ihre Gedanken waren ein einzige Chaos. Wie oft hatten sich ihre Eltern in der Vergangenheit gestritten! Dann hatten sie sich getrennt, worunter Laura und Elias sehr gelitten hatten. Und jetzt … Hieß das, dass ihre Eltern in Wirklichkeit immer noch zusammen waren? Laura hatte das Gefühl, dass ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde. Empörung, Wut und Freude wechselten einander ab. Die Eltern hatten sie getäuscht! Was für ein gigantischer Betrug! Würde Laura ihnen je wieder vertrauen können? Andererseits … dann war ihre Mutter gar nicht richtig mit Bernd Asshoff zusammen, sondern ihre Eltern liebten sich noch …

Die Tränen liefen Laura übers Gesicht. Alles war zu viel für sie. Sie lehnte sich gegen Severin. Er nahm sie in die Arme.

»Alles wird gut, Laura.« Sein Mund war ganz nah an ihrem Ohr. »Deine Eltern werden dir bestimmt alles erklären, wenn … wenn das hier erst vorbei ist.« Er löste sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Jetzt komm, sonst futtern die anderen alles auf!«

Ich kann bestimmt keinen Bissen essen, dachte Laura, als sie sich zu der Gruppe setzte, die im Halbkreis kauerte.

Auch Magister Horatius war inzwischen wach. Sein Blick war an diesem Morgen klar. Merle half dem Alten, sich aufzusetzen.

»Wo bin ich? Was ist geschehen?«, fragte er und sah sich um.

»Wir haben Sie mitten im Dschungel gefunden«, antwortete Olivia eifrig. »Zum Glück! So ganz allein wären Sie verloren gewesen. Bestimmt wären Sie bald verhungert oder verdurstet!«

»Ich muss zurück ins Schloss«, sagte der Alte und wollte aufstehen. »Es ist wichtig!«

Merle drückte ihn zurück. »Wir gehen gleich alle zusammen.«

»Meine Welt … sie ist in höchster Gefahr«, stammelte Magister Horatius. »Wenn ich nur den richtigen Schlüssel hätte! Durch ihn würde meine Welt wieder stabil werden. So aber muss ich damit rechnen, dass über kurz oder lang alles zusammenbricht.« Verzweiflung spiegelte sich auf seinem Gesicht.

Für Laura war die Welt bereits zusammengestürzt – ihre Welt. Noch immer war sie fassungslos darüber, wie sehr sich ihre Eltern verstellt hatten. Sie hatte so sehr gelitten, als sich ihr Vater und ihre Mutter getrennt hatten. Immer wieder hatte sie die Schuld bei sich gesucht. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie alles falsch gemacht hatte. Schließlich war sie überzeugt gewesen, dass es an ihrer Eifersucht auf Elias lag. Jedenfalls zum größten Teil. Ihre Mutter hatte ja oft genug erwähnt, dass Peter Lilienstedt in ihren Augen ein hoffnungsloser Träumer war.

Gedankenverloren knabberte Laura an einem Stück Brot, ohne überhaupt zu merken, was sie aß. Sie hörte kaum zu, worüber sich die anderen unterhielten. Auch die Geräusche des Dschungels nahm sie nicht wahr. Sie wurde erst aus ihren Gedanken gerissen, als alle um sie herum verstummten.

»Was ist los?«, fragte Laura verwirrt und blickte in die Runde.

Panik und Schrecken zeigten sich auf den Gesichtern der anderen. Severin und Olivia starrten auf etwas, das sich hinter Laura befand.

Laura wandte den Kopf.

Max Schirmer stand da, links und rechts flankiert von zwei Männern in weißen Overalls. Alle drei hatten Waffen auf die Gruppe gerichtet.

Olivia dreht durch

Laura nahm sich vor, niemandem mehr zu trauen. Max war so nett gewesen und hatte ihnen geholfen. Und jetzt das!

Sie stolperte hinter den anderen her. Vor ihr ging Olivia, die sich immer wieder nach Laura umdrehte. Ihr Gesicht war ganz verheult.

Rufus dagegen ließ sich nichts anmerken. Er schritt so gleichmütig durch den Dschungel, als würde er sich auf einer Wanderung befinden. Severin versuchte ebenfalls, cool zu wirken, aber Laura kannte ihn inzwischen gut genug, um zu erkennen, wie aufgewühlt er in Wirklichkeit war. Anouk war richtig zornig, und auch Merle bedachte die Männer immer wieder mit feindseligen Blicken.

Max und einer der neuen Männer hatten Magister Horatius untergehakt und zerrten ihn vorwärts. Der dritte Mann lief mit seiner Waffe nebenher, bereit, sofort zu schießen, falls es einem der Jugendlichen einfallen sollte, aus der Gruppe auszubrechen.

»Was haben Sie mit uns vor?«, fragte Anouk, als sie eine kurze Rast einlegten, um etwas zu trinken.

»Das werden wir sehen«, antwortete Max. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Laura bemerkte, dass er ihrem Blick auswich. Ob er sich für seinen Verrat schämte? Aber vermutlich hatten die Leute von TEMP längst kein Gewissen mehr. Um ihr Ziel zu erreichen, würden sie bestimmt über Leichen gehen.

»Kannst du nichts tun?«, flüsterte Laura Merle zu, als diese ihr die Wasserflasche reichte.

Merle schnitt nur eine Grimasse, die Laura nicht deuten konnte. Hieß das jetzt: »Tut mir leid, ich bin machtlos!« oder »Ich warte auf den richtigen Augenblick!«?

Wozu haben wir unsere Fähigkeiten?, dachte Laura verbittert. Es war lächerlich, darauf zu hoffen, dass sie damit die magische Welt beschützen konnten! Laura konnte zwar manchmal Gedanken lesen, aber sie beherrschte ihre Gabe längst nicht perfekt. Sonst hätte sie ja gewusst, was in den Köpfen der TEMP-Männer vor sich ging.

Dieser verdammte Dschungel! Ich wünschte, ich hätte mich nicht für die Mission gemeldet …

Laura schüttelte den Kopf. Nein, das waren ganz sicher nicht die Gedanken von einem der Männer. Die Sätze entsprangen ihrer Fantasie, waren reines Wunschdenken.

Plötzlich stolperte der Mann, der das Gewehr trug, und stürzte. Im Fallen löste sich ein Schuss. Die Kugel ging zwar ins Leere, aber der Knall ließ sie alle zusammenfahren.

Anouks Seidenäffchen Mäxchen kreischte laut und flüchtete in einen Baumwipfel. Jonathan, Severins Flughund, flatterte ebenfalls auf und flog orientierungslos herum, bis er Max ins Gesicht klatschte. Max fluchte und setzte Magister Horatius ab, der sofort auf den Boden sank.

Der Gestürzte kam mühsam wieder auf die Füße. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

»Hast du dich verletzt, Lars?«, fragte der dritte Mann, während Max immer noch den Flughund abwehrte.

»Geht schon«, antwortete Lars.

Laura sah zu Merle und entdeckte in deren Augen ein schadenfrohes Funkeln. Merle bemerkte Lauras Blick und zwinkerte ihr zu.

War Merle etwa für den Sturz des Mannes verantwortlich?

Lars rieb sich das Knie und ging einige Schritte, um das Gewehr aufzuheben, das er fallen gelassen hatte. Er humpelte deutlich.

Severin war zu Max getreten und hatte Jonathan eingefangen, der immer noch völlig verschreckt war.

»Tut mir leid«, sagte Severin zu Max. »Bei dem Knall ist er einfach durchgedreht.« Er presste Jonathan an seine Brust, um ihn zu beruhigen.

Max nickte geistesabwesend. Sein Blick ruhte auf Lars, der sichtlich gehandicapt war.

»Wo hast du Schmerzen?«

»Ach, die alte Fußballverletzung macht wieder mal Ärger«, sagte Lars. »Ich hatte jahrelang Ruhe, aber jetzt plötzlich …« Er beendete den Satz nicht, da er offenbar von einer neuen Schmerzattacke heimgesucht wurde.

Sie machten Pause. Max bandagierte das Knie seines Kollegen, während Anouk versuchte, Mäxchen von einem Baum herunterzulocken. Endlich bequemte sich das Äffchen herab und sprang wieder auf Anouks Schulter.

Lars hatte inzwischen zwei Schmerztabletten geschluckt, und sie konnten den Marsch fortsetzen.

Trotz der Tabletten war Lars in seiner Beweglichkeit deutlich eingeschränkt. Immer wieder blieb er stehen, um sein Bein zu entlasten. Schließlich brach der dritte Mann einen starken Ast ab, den Lars als Gehstock benutzen sollte.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dieses Ding verwende!«, schnaubte Lars verächtlich. »Mit einer Hand kann ich das Gewehr nicht benutzen.«

»Die Kids laufen uns schon nicht weg«, meinte Max. »Und es ist besser, du nimmst den Stock, denn Kain und ich können dich nicht auch noch tragen.«

Lars warf den Jugendlichen einen hasserfüllten Blick zu. Dann griff er nach dem Stock, den Kain ihm reichte, und machte probeweise ein paar Schritte.

»Besser?«, fragte Max.

»Ein bisschen.«

Sie gingen weiter. Anouk gesellte sich zu Laura.

»Meinst du, es macht Sinn, wenn wir den Männern davonrennen?«, fragte sie flüsternd und warf einen prüfenden Blick über die Schulter.

»Sie haben dann immer noch Magister Horatius«, antwortete Laura ebenso leise. »Und sie werden versuchen, alle Geheimnisse aus ihm herauszupressen. Vielleicht sogar mit Gewalt.«

Anouk nickte. »Stimmt. Ein Fluchtversuch bringt nichts.«

Jetzt kam auch Merle hinzu. »Kain ist ein hoffnungsloser Fall«, knurrte sie. »Er müsste eigentlich höllische Kopfschmerzen haben, aber man merkt ihm gar nichts an. Ich fürchte, bei ihm versagt meine Kunst.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich könnte versuchen, Max einen Kreislaufkollaps zu verpassen. Aber er ist noch der Vernünftigste der drei, und ich weiß nicht, wie die anderen reagieren, wenn er ausfällt.«

»Keine gute Idee«, sagte Laura. »Außerdem trägt er Magister Horatius zurück ins Schloss. Hier im Dschungel ist der alte Mann verloren.«

»Severin und Rufus könnten ihn schleppen«, schlug Anouk vor.

»Kain schießt bestimmt mit dem Gewehr«, wandte Laura ein.

»Okay, okay, ich lasse Max ja in Ruhe.« Merle seufzte. »Trotzdem habe ich keine Lust, nach deren Pfeife zu tanzen. Wir können ihnen diese Welt nicht einfach überlassen. Sie würden sie vernichten.«

Laura nickte nur. In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft, doch ihre Gedanken kamen zu keinem Ergebnis. Mutlos trottete sie hinter den anderen her. Sie bemerkte mit einigem Unbehagen, wie Olivia immer wieder Severins Nähe suchte. Sie strahlte ihn an, so als wäre er der Einzige, der sie alle aus dieser gefährlichen Situation befreien konnte.

Nach endlosen Stunden lichtete sich der Dschungel. In der Ferne tauchten die Mauern des Schlosses der Ewigkeit auf – wie eine uneinnehmbare Festung. Lauras Herz machte automatisch einen Hüpfer, doch dann erinnerte sie sich daran, dass die Leute von TEMP längst in das Gebäude eingedrungen waren. Was geschah dort drinnen? Was war mit ihren Eltern, mit ihrem Bruder? Fast schlagartig verpuffte all ihre Kraft; Angst und Verzweiflung lähmten ihren Körper. Sie stolperte und konnte sich im letzten Moment fangen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Anouk besorgt.

Laura schüttelte den Kopf. »Nichts ist in Ordnung. Gar nichts.«

Max und Kain setzten Magister Horatius im Gras ab.

»Na, Alterchen, kommt dir das Schloss dort bekannt vor?«, stichelte Kain, während Magister Horatius gierig die letzten Tropfen aus der Wasserflasche saugte. »Dein Werk. Genau wie der Dschungel und dieser dunkle See dort vorne. Noch ein paar Schritte, dann bist du zu Hause und kannst uns in aller Seelenruhe in deine Geheimnisse einweihen.«

Der Alte stöhnte laut und blickte Kain an. »Ich glaube nicht, dass mein Geheimnis bei euch in sicheren Händen ist«, stieß er hervor. »Ich kann nichts dafür, dass ich an manchen Tagen alles vergesse und nicht mehr weiß, wer ich bin.« Er zog zornig die Augenbrauen zusammen. »Ich wünschte aber, heute wäre so ein Tag! Wer nichts weiß, kann auch nichts verraten.«

Kain stieß ihm grob den Lauf seines Gewehrs in den Rücken, sodass er zur Seite kippte. »Halt die Schnauze, Alter!«

Olivia stürzte auf ihn zu und packte Kain am Arm. »Hören Sie sofort auf!«

Kain schleuderte sie mit einer Bewegung von sich weg, und Olivia landete auf dem Boden. Im Nu war sie wieder auf den Beinen.

»Ich hasse Sie!«, schrie sie. Ihre Augen glühten vor Zorn. »Sie sind ein Schwein!«

Kain lachte nur.

Olivia steckte sich die Finger in die Ohren und rannte los.

»Hiergeblieben!«, rief Max ihr nach.

Olivia reagierte nicht. Kain gab einen Warnschuss in die Luft ab. Olivia strauchelte vor Schreck, fing sich wieder und stürmte weiter. Direkt auf den See und die Brücke zu. Laura hörte entsetzt, wie die Brücke knarrte. Dann sah sie, wie die beiden Teile anfingen, zur Seite zu schwenken. Laura wusste, dass die Brücke nicht immer da war. Nur wenige Male am Tag schwenkten die beiden Teile vom jeweiligen Ufer über den See und trafen sich in der Mitte. Wenn man Pech hatte, musste man stundenlang warten, bis man den See überqueren konnte. Manchmal schwamm ein riesiger Schwan herbei und brachte einen ans andere Ufer. Laura hatte einmal so eine Überquerung per Schwan gemacht. Es gruselte sie jetzt noch, denn im tintenschwarzen Wasser des Sees tummelten sich Kreaturen, denen man lieber nicht begegnete.

»Bleib stehen!«, rief jetzt auch Laura ihrer Freundin hinterher. Sie hatte ihr von der Gefährlichkeit des Sees erzählt, aber würde sich Olivia in diesem Augenblick daran erinnern?

Olivia stockte einen Moment und beobachtete die Brücke, die inzwischen unpassierbar war. Sie drehte sich kurz nach den anderen um, dann lief sie entschlossen geradeaus weiter und auf den See zu.

»NEIN!«, brüllte Laura. »Nicht ins Wasser, Olivia!«

Während hinter ihr die Männer feixten, weil sie keine Ahnung von den Tücken des Sees hatten, stürzte Rufus los. Laura hielt den Atem an. Sie hatte noch nie einen Jungen gesehen, der so schnell rennen konnte wie er. Ein paar Sekunden lang hatte sie die Hoffnung, er würde Olivia noch rechtzeitig erreichen.

Doch Olivia war bereits im Wasser. Schritt für Schritt sank sie tiefer. Nur noch ihre Schultern und ihr Kopf waren zu sehen.

Rufus stob in den See. Das dunkle Wasser spritzte auf und hüllte ihn für einen Augenblick komplett ein. Dann wich er rückwärts zurück. Laura sah, wie haarige Arme aus dem See aufragten. Vielfingrige Hände streckten sich nach dem Jungen aus. Rufus schlug nach ihnen, machte einen großen Satz und erreichte das rettende Ufer. In seinem Gesicht stand das blanke Entsetzen. Die unheimlichen Klauen packten ein Büschel Schilf und zerrten daran. Sie rissen einige Pflanzen mit den Wurzeln aus, dann sanken die Arme zurück in den See.

»Olivia!«, schrie Laura voller Panik.

Ihre Freundin war nicht mehr zu sehen.