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Wilhelm König

Grenzgänge

 

Saga

deutsche liebe 64

und wird auf ihn warten

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und wird zu ihr kommen

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und wird ihn erkennen

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

und werden zusammenbleiben

was auch geschieht

was auch geschah

deutschland ist unterwegs

Wilhelm könig

I

Die Begegnung

»Willy, Willy!« Die Menge jubelt, als der hohe Gast von drüben auf den Balkon des Hotels »Erfurter Hof« tritt. »Willy, Willi!« möchten auch wir mit einstimmen, meine junge Frau Brigitte und ich, die wir die Szene am Fernseher verfolgen. Doch hätte unsere Begeisterung beiden Männern gelten müssen, Gast wie Gastgeber, dem Mann aus dem Osten wie aus dem Westen, dem Willy mit »y« und dem Willi mit »i«.

Schon seit dem frühen Morgen des 19. März 1970 geht es in allen Medien hierzulande um nichts anderes als um den ersten Besuch des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, in dem nun doch längst faktisch vorhandenen zweiten deutschen Staat. In Erfurt wird der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin (West) und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Vorsitzenden des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, empfangen.

Brandt winkt verstohlen – ja, es ist der gleiche Mann, der noch nicht vor langer Zeit, wie die Mehrheit der Wähler, den Feind der Menschheit und besonders Deutschlands nur auf der anderen Seite sah – vielleicht bis dahin auch sehen mußte.

Und wieder schwillt der »Willy, Willy«-Chor drunten auf der Straße an. Das Volk mag nach Hunderten oder Tausenden zählen, und laß die Hälfte oder zwei Drittel davon Funktionäre, Polizisten und Staatssicherheitsdienstler sein: sie müssen sich freuen – andere dürfen sich freuen!

Schon weit im Vorfeld gab es natürlich in der ganzen Republik Diskussionen um Sinn und Zeitpunkt dieser deutschdeutschen Begegnung. Und es wird weiterhin Auseinandersetzungen geben, quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten. Aber ich möchte mich nun nicht mehr daran beteiligen.

Fünf Jahre ist es jetzt her, daß ich zum vorläufig letzten Mal in das Land hinter Mauer und Stacheldraht gereist bin. Ja, damals hatte ich auch Erfurt besucht, die Stadt, die jetzt Schauplatz dieser bedeutsamen Begegnung ist. Damals wurde ich als Spinner und Kommunistenfreund verlacht und verdächtigt. Und jetzt? Keine Reisen mehr ... aber nicht deshalb, weil das Leben nicht ausreichen würde, »über eine Wiese zu gehen«, wie ein hiesiger, bedeutender Künstler gesagt haben soll, einer, der selbst öfters den Schritt über die Grenze tut und, trotz inniger Heimatverbundenheit, stets den Blick über den Horizont schweifen läßt.

Ich habe bis heute mehr als eine Wiese überquert – in verschiedenen Richtungen: im Frühjahr und im Herbst; im Heuet und zu der Zeit, in der auch ein Schäfer querfeldein seine Herde treiben darf.

Ja, vorläufig keine Reisen mehr; nicht mehr blindlings fort, nur fort! Sondern bleiben, anhalten, um zu sehen und zu hören, was sich da noch bewegt oder bewegt hat, mir gar bis hierher gefolgt ist.

Ja, ich höre und ich sehe, es ist etwas in Bewegung geraten. Vielleicht hat die Bewegung zu gleicher Zeit wie die meine und ohne mein Wissen neben mir her eingesetzt, ist insgeheim gar weitergegangen – in jedem Fall hätte ich richtig gehandelt, weil es an der Zeit war!

Und es bewegt sich weiter, weniger an mir vorbei als um mich her. Das Land bewegt sich. Die Bundesrepublik Deutschland – diese Westzonen proben den Aufstand gegen sich und ihre Halsstarrigkeit und Uneinsichtigkeit gegenüber der »Ostzone«, der Deutschen Demokratischen Republik. Man reist nun allgemein mehr in dieses Land. So ist es auch ein wenig mein Wunsch, wenn ich nun stehenbleibe, zu genießen, zu sehen, und zwar von einem ruhigen, gesicherten Standpunkt in meiner Heimat aus, daß meine Einzelunternehmungen, meine mehr oder weniger instinktmäßig ausgeführten Vorstöße in dieses jenseitige, »kommunistische« und »russische« Deutschland einen Sinn hatten. Ich war unter den ersten; ich habe mich vorgewagt. Sicher auch wie ein Suchender und Getriebener – getrieben von was nur? –, der danach verlangt, einmal an einem Ort ganz bleiben zu können. Und das ist jetzt wieder die Heimat. Das mußte ich aber erst draußen erfahren, und zwar wörtlich er-fahren!

Hier, in diesem Land

Die erste Bekanntschaft mit der von mir seit langem schon im Widerstand zur damaligen Sprachregelung so genannten »Deutschen Demokratischen Republik« – ja, eben mit jener »Zone« irgendwelcher Verdrängungen und verschwiegenen Niederlagen – machte ich im Jahr 1961 von Heidelberg aus, wo ich mich seit dem 2. Januar am dortigen Berufsförderungswerk des Arbeitsamts Baden-Württemberg zur Umschulung als Technischer Zeichner des Allgemeinen Maschinenbaus aufhielt.

Daß ich gerade diesen Lehrgang belegte, war reiner Zufall. Eigentlich hätte es, von meinem Schreinerberuf aus, mehr in Richtung Möbelzeichner oder Innenarchitektur gehen müssen. Doch als das Arbeitsamt diese Umschulung genehmigte – das war Ende 1960 –, hatte der Holzkurs bereits begonnen, und es blieb nur noch der Maschinenbau, ein Fach, mit dem ich mich bisher nicht befaßt hatte. Mir war’s gleich; ohnehin würde ich da nicht der einzige Berufsfremde sein, hieß es.

So wie in den vergangenen fünf Jahren – wieder der Fünfjahresrhythmus! –, seit meiner glücklichen Heimkehr aus dem Heim im Allgäu, ging es auf alle Fälle nicht weiter: Monatelang arbeitslos; eine kurze Anstellung – dann krank! Manche meinten – vor allem wieder Tübinger Arzte –, ich sei, im besten Fall, gemütskrank. Das sei vermutlich eine Spätfolge meines Schlittenunfalls als Kind. Und ab und zu, in Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit, glaubte ich selbst daran.

Es war freilich nicht das Gemüt allein. Dafür hätte sich kein Kostenträger gefunden. Es war eher das Herz. Hinzu kam eine Allergie, die ich mir in der Schreinerei geholt haben mußte: Ich reagierte auf Leim und Schleifstaub mit Asthmaanfällen und Hautausschlägen. Noch im Winter 1959/60 hatte ich es in einer Möbelfabrik in Stuttgart-Bad Cannstatt versucht – versuchen müssen! Es folgten zwei kürzere Gastspiele als Pförtner und Fahrstuhlführer in Stuttgart-Mitte. Und von Frühjahr bis Sommer 1960 arbeitete ich abermals in einem Stuttgarter Kaufhaus. Dann gab ich auf und wartete den Bescheid des Arbeitsamts ab.

Doch so einfach war das alles gar nicht. Um an diesem Umschulungswerk aufgenommen zu werden, mußte der Bewerber in seinem zuständigen Arbeitsamt eine Eignungsprüfung ablegen.

Diese Eignungsprüfung bestand in der Hauptsache aus der Lösung von einfachen Rechenaufgaben sowie im Verknüpfen natürlicher Gegenstände und Erscheinungen nach dem Muster: »Pflanze verhält sich zu Baum wie Tier zu Hund« usw.

Ferner waren geometrische Fragmente zu Ende zu zeichnen und ein wertloses Triebwerk aus Achsen, Rädern und Kolben vor den Augen des stummen Prüfers – eines älteren Doktors der Psychologie (oder Psychiatrie, ich weiß das heute nicht mehr so genau!) – zusammenzusetzen. Für jede Aufgabe war eine bestimmte Zeit vorgeschrieben. Wer unterhalb dieser Zeit blieb, sammelte Pluspunkte, die dem Kandidaten bei anderen, zeitraubenderen Aufgaben zugute kommen konnten.

Zuvor war man vom Arbeitsamtsarzt untersucht worden. Ein Einarmiger mit Fronterfahrung. In meinen Augen war das kein Arzt, zum Heilen berufen. Eher war der dazu da, meinen Weg nach Heidelberg oder zu einer anderen Umschulung zu verhindern.

Er untersuchte nicht viel. Erst schaute er mich an, warf einen Blick in die Akten, dann wieder auf mich.

»Trauen Sie sich das zu?« fragte er. »Sie haben ja eine merkwürdige Vergangenheit!«

»Wieso merkwürdig?«

»Na, erst mimen sie den Dackel, dann erschießen Sie zwei Männer. Aber nicht irgendwelche, sondern gezielt zwei ehemalige Nazis, wie man das heute nennt.«

»Mimen, sagen Sie?«

»Nun, wenn es stimmt – dann ist die Umschulung doch vertane Zeit, und das Geld dafür hinausgeschmissen!«

»Das Geld kommt ja nicht von Ihnen«, sagte ich.

»Nein, sicher nicht; aber ich habe darüber zu wachen, daß es sinnvoll ausgegeben wird.«

»Und im Krieg haben Sie auch immer gewußt, was sinnvoll ist, Herr Doktor?« fragte ich frech.

Der Herr Doktor stutzte; runzelte die Stirn: »Aha! Daher weht der Wind. Habe ich es mir doch gleich gedacht.«

»Was gedacht?«

»Schluß der Debatte und der Untersuchung. Sie kriegen Bescheid. Ade!«

»Ade, Herr Doktor. Für Sie ist wohl ein Dackel ein Dackel – und bleibt es sein Leben lang?«

Keine Antwort ist auch eine Antwort, sagt man. Doch vielleicht hörte ich sie nicht mehr, weil ich in diesem Augenblick die Tür hinter mir zuzog. Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich auch gar keine Antwort hören. Hoffentlich war das das letzte Mal, daß ich es mit dem zu tun habe – aber wer weiß, fuhr es mir durch den Kopf.

Mein Kopf? Unbewußt legte ich die rechte Hand auf die Stirn – was ist mit dem? Ich kanns doch; ich schaffs doch – ich bin doch begabt genug?

Ehe ich diese Prüfungen über mich ergehen ließ, hatte ich einen Berufsberater aufgesucht. Der kam schließlich auf die Idee mit dem Technischen Zeichner. Aber vorher hat er mich auch ausgefragt, hat in den Akten geblättert – woher die alle diese Unterlagen haben? Hier, in diesem Land und in dieser Gesellschaft, bist du für alle Zeiten registriert, abgestempelt, numeriert. Mitten im Aktenstudium schüttelte er immer wieder den Kopf. Schließlich klappte er den Ordner zu, holte tief Luft, stand auf, reichte mir die Hand und erklärte: »Also – wir probieren es! Es kann nur noch besser werden. Auf alle Fälle nicht schlechter – nehmen wir es mal an!«

 

Ich bekam schließlich meine Umschulung und freute mich. Freute mich allein über die Tatsache, wieder rauszukommen: aus meinen Verhältnissen – aus dem Dorf; aus dem Tal. Ich fuhr mit dem Zug zunächst bis in die nächste Stadt, talabwärts, stieg dort um und fuhr durch bis Heidelberg. Auch die bezahlten Heimfahrten, auf die ich mich dann nicht weniger freute, bewältigte ich mit der Bahn.

Ich hätte mit meinem Zimmer- und Lehrgangskollegen in dessen VW mitfahren können. Denn er stammte aus der Kreisstadt. Auf diese Weise hätte ich die Hälfte der Fahrtkosten frei gehabt, so wurde es auch in anderen Fällen geregelt. Aber ich wollte nicht. Erstens war die Mühle dauernd überladen, einerseits durch Ernsts – so hieß der Landsmann – eigenes Gepäck, dann durch den Kollegen, den er bis Pforzheim mitnahm, und dessen Gepäck. Zweitens war der Mann vom Krieg her hirnverletzt. Er litt unter Anfallen, so wie ich sie vom Heim her kannte. Die Anfalle – wöchentlich bis vierzehntäglich einmal – verliefen insgesamt sehr harmlos.

Für kurze Zeit – etwa eine halbe Minute lang, schätzte ich – verdrehte er mitten im Gespräch die Augen und hörte und sah nichts mehr. Das Gesicht behielt immer den gleichen lächelnden Ausdruck. Ernst wußte um seinen unheilbaren, unveränderlichen Zustand, ertrug ihn jedoch mit Geduld und Humor. Da hatte ich im Allgäu schlimmere Fälle erlebt: da stürzten die Männer wie von der Axt gefällte Bäume zu Boden und krümmten sich, Schaum stand ihnen vor den Lippen. Auch sie erholten sich, standen auf und spazierten herum wie jeder andere, Gesunde.

Daß Ernst und ich auf ein Zimmer kamen, war kein Zufall. Die Verwaltung dachte in diesem Fall wohl nach Landschaften und Regionen, und da wir beide aus einer Gegend kamen und vom selben Arbeitsamt geschickt wurden, war es nur folgerichtig, daß man uns zusammenlegte.

Das war auch keine schlechte Entscheidung. Nur in seinen bis unter den Himmel vollgeladenen Donnervogel wollte ich ums Verrecken nicht einsteigen.

Wir vertrugen uns bis zum Schluß sehr gut – freilich wurden wir keine Freunde. Lags am Altersunterschied? Er verkehrte nach Feierabend mit einer anderen Gruppe, Kollegen aus der Klasse. Manchmal stieß ich mit Karlheinz dazu. Und dann feierte die ganze Klasse auch mal gemeinsam. Gründe dazu gab es immer wieder: Lehrergeburtstag, bestandene Prüfung, Ausflüge.

Ernst hatte stets eine Flasche Whisky im Spind – »Englischen Korn« nannte er ihn, sei es aus Jux oder wirklich zur Tarnung. Nach seinen Angaben benötigte er ihn vorwiegend zur »Entfäulung« seiner Kiefer und Kauwerkzeuge, bereits vor dem Frühstück, und er bot mir ebenfalls einen Schluck an. Manchmal griff ich zu, aber nie vor dem Frühstück. Er trug ein hartes amerikanisches Gebiß, das er vor dem Schlafengehen nicht aus dem Mund zu nehmen brauchte. Deshalb die besondere morgendliche Mundpflege.

Die Gebäude waren damals noch ziemlich neu. Im allgemeinen wohnten alle zu zweit in zentralbeheizten Zimmern mit Blick auf die Straße und daran entlang aufgestellte Reihenhäuser. Nicht weit davon ein Flugplatz der Amerikaner. Nachts konnte man – auch mit weniger feinfühligen Ohren – das Rauschen der Autobahn hören. Auf dem Flugplatz landeten nur kleine Maschinen, die aber sicher so laut wie größere waren und eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts darstellten. In den kleinen Pausen hielt man sich im Gang auf, die Raucher rauchten, öffneten die Fenster und blickten auf diesen Flugplatz. Zu den großen Pausen zog man hintereinander in den Speisesaal hinüber und schlürfte eine Fleischbrühe, pumpte sich mit Tee voll oder blies den Dampf von einer Tasse Kaffee. So lebte man miteinander in trautem Einverständnis, hoffte auf eine wirkliche Umkehr der Verhältnisse nach diesem Lehrgang, war gespannt, ob diese Zeit auch staatlich anerkannt wurde, und fühlte sich, durch das massenhafte Auftreten vergangener und gegenwärtiger Krankheiten, im Grunde wie ein Gesunder.

 

Alle waren sie auf eine Art »beschädigt«, die sich hier aus der ganzen Republik zusammengefunden hatten: Dem einen fehlte eine Hand oder ein ganzer Arm, dem andern ein Fuß oder ein halbes Bein; ein dritter bekam Anfälle – so wie Ernst –, hatte es am Herz oder litt unter einer Allergie, wie Friedhelm, der Kräutermann (so nannten wir ihn, weil er den ganzen Tag mit Kräutern und Arzneien beschäftigt war) und ich. Ach, und was mochte da noch alles beim einzelnen aus den Fugen geraten sein!

Das waren Leute wie ich: Handwerker, Büroangestellte, Kriegsteilnehmer – auch zwei ehemalige Kellner waren darunter. Jeder von ihnen hatte beim heimatlichen Arbeitsamt die gleiche Eignungsprüfung ablegen müssen: Strich, Zahl – Zahl, Strich! So auch Karlheinz, mein Brettnachbar in der Klasse. Er war in Heidelberg so etwas wie mein Freund und Kamerad. Wir spielten miteinander auch Schach, oft bis in die Nacht hinein, waren zeitweise geradezu schachsüchtig, wenn es das gibt. Es muß es geben, denn wir saßen oft bis nachts um drei im Aufenthaltsraum.

Karlheinz war ein paar Jahre älter als ich und hatte ein lahmes Bein; das steckte in einem Stahlmieder und war noch dünner als ein Arm. Die Haut war gerötet, Kniescheibe und Kniegelenk gegenüber Schenkel und Wade übermäßig ausgebildet. Er hatte Bauschlosser gelernt. Mit 19 Jahren erlitt er einen Betriebsunfall. Auf der Baustelle wurde er unter einem herabstürzenden schweren Warmwasserkessel begraben. Er war mehrere Wochen bewußtlos. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Danach war er Vollrentner, wurde von Heim zu Heim, von Kur zu Kur gestoßen. Dann ein paar Jahre zu Hause – die Mutter pflegte ihn (ach, immer die Mütter!); jetzt war er hier. Er wollte wieder etwas arbeiten, und vielleicht war das ein Einstieg. Wir nannten ihn nur den Seemann, obwohl er nie zur See gefahren war. Aber er hatte davon geträumt, einmal auf einem Überseedampfer zu fahren. Er stammte aus Hannoversch Münden – »wo Fulda und Werra sich küssen/und es in der Weser büßen müssen«, lernte ich von ihm. Ja, doch: er hatte schon auf Schleppkähnen gestanden und mit Seeleuten verkehrt; es gab Ausreißversuche nach Hamburg und Bremen. Diese Zeit hatte zumindest sprachlich abgefärbt – zuerst auf ihn, und von ihm auf mich! Wenigstens in Einzelheiten.

 

Man hatte sich sehr schnell eingefügt in die neue Gemeinschaft, einem Spiegelbild der Gesellschaft im allgemeinen, mit dem Unterschied jedoch, daß man sich hier als Gleicher unter Gleichen fühlen konnte. Das verlief ohne einen verzögernden Höflichkeitsaustausch. Jeder hatte ein Recht, hier zu sein, und jeder nahm dieses Recht auch für sich in Anspruch. Niemand wies uns jetzt die Plätze an. Aber dann kamen wir von den Stühlen nicht mehr los, auf die wir uns einmal gesetzt hatten. Der Ausschnitt, den man im Zeichensaal oder Speisesaal vom Viereck der Häuserblöcke wählte, blieb. Der Gemeinschaftsraum, in dem sich die Männer – keine Frau – zum Kaffee oder Tee morgens und nachmittags, am Mittag zum Essen und nach Unterrichtsschluß trafen, nahm einen ganzen Gebäudeflügel ein. In den Zwischenpausen saßen wir an verschiedenen Tischen. Anders am Mittag und Abend. Das änderte sich erst im Laufe der Zeit, dann hockten auch immer die gleichen beieinander. Das war aber nicht vorgesehen. Das ergab sich. So wie wir uns schon die Bretter im Zeichensaal nicht bewußt herausgesucht hatten. Am nächsten Tag fanden wir uns auf unseren Plätzen und blieben da bis zum Schluß. Und staunen konnte man darüber, wie wir schon nach kurzer Zeit diese uns zuvor fremden Plätze verteidigten. Irgendwie setzte sich hier etwas fort, das draußen schon begonnen hatte. Oder es war hier halt nicht anders als draußen.

Verschiedene Systeme

Die Ausbildung erfolgte nach dem Berufsbild des Technischen Zeichners. Neben der theoretischen Schulung wurde besonderer Wert auf das Ausführen praktischer Arbeiten gelegt. Verschiedene Stoffgebiete wurden behandelt: Normgerechtes Zeichnen, darstellende Geometrie, Fachrechnen, Rechenschieberrechnen, Fachkunde, Werkstoffkunde, Maschinenelemente und Werkstattpraxis (Bescheinigung des Berufsförderungswerks e.V.).

Die Werkstatt – ein flacher, ebenerdiger Betonbau, der den offenen Winkel des Berufsförderungswerks gegen die Stadt Heidelberg hin halbwegs abschloß, war erst in unserer Zeit betriebsfertig geworden. Hier fielen wir an einem Vormittag und an einem Nachmittag in der Woche ein und beobachteten unsere ausgebildeten Mitschüler an den Maschinen: Drehbänke, Bohrmaschinen (Metallbohrmaschine: Radialbohrmaschine), spanabhebende Metallbearbeitungsmaschinen, spanabhebendes Werkzeug; die Drehbank (Schnelldrehbank, Metalldrehbank): das Schaltgetriebe (der Spindelstock), der Vorlegeschalthebel, der Hebel für Normal- und Steilgewinde, der Hebel für das Leitspindelwendegetriebe, die Drehzahleneinstellung, der Wechselräderkasten (Vorschubgetriebekasten, das Nortongetriebe)... die Nortonschwinge, ein Stellhebel, der Einschalthebel für Rechts- oder Linkslauf der Hauptspindel, der Drehbankfuß ... die Verstellspindel, mit Kurbel ... die Fallschnecke, zum Einschalten der Vorschübe, der Hebel für das Mutterschloß der Leitspindel ... der Längssupport, der Quersupport ... Kühlmittelzuführung, die Pinole, der Pinolefeststellhebel, der Reitstock, die Reitstockspitze, das Pinoleverstellrad, das Drehbankbett ... die Spannut, die Spannbacke ... der Mitnehmerklemmring... das Drehherz... Drehstähle, der Schruppstahl, der Schlichtstahl... Werkzeugkunde, Werkstoffkunde ... neu damals: ein Indexautomat.

Fortsetzung Fachkunde: Gewicht und Wichte. Punkt 1.

»Die Erde übt auf jeden Körper eine Anziehungskraft aus (Schwerkraft). Das Einwirken der Anziehungskraft auf einen Körper nennt man Gewicht. Die Maßeinheit ist das ...«

Das Gebiet Fachkunde wurde zunächst von unserem Zeichenlehrer, einem frühergrauten, trinkfesten Sportwagenfahrer, locker weitergeführt. Bis zur Übernahme dieser Unterrichtsstunde durch einen jungen Ingenieur. Er gab sich von Anfang an sehr ungezwungen – nachmachbare Haltung: linker oder rechter Ellbogen auf der Fensterbank abgestützt und in den Raum nasalierend: er versuchte den Eindruck zu vermitteln, als begänne er hier nichts Neues. Sondern führe nur eine etwas vernachlässigte Übung weiter. Tatsächlich war dies hier sein erster »Lehrauftrag«. Es sollte ihm nicht schwergemacht werden, solange er einsah und durch Handhabung des Belehrungsvorgangs bewies, daß er es ausschließlich mit »erwachsenen« Männern zu tun hatte. Der minderjährige Kellner wurde stillschweigend mit eingeschlossen. Herrn Knorr – »Sie können ruhig rauchen, meine Herrn, wenn Sie es unbedingt brauchen; ich hab’ nichts dagegen ... Ich stamme aus Mannheim, bin dort geboren, zur Schule gegangen, Realschule, aufgewachsen, Ingenieurstudium, ein Jahr Praktikantenzeit in den USA; die sind schon viel weiter dort als wir«, so hatte er sich uns in der ersten Stunde rauchend vorgestellt – wurde sodann auch das Fach »Rechenstab« übertragen. Jede Veränderung im Schulablauf teilte uns der Vertreter des Arbeitsamtes mit, der – mit Blick auf den Innenhof des Gebäudevierecks – zwischen den Schulräumen sein Büro hatte. Sekretärin, an die Schreibmaschine gekettet. Wenig beschriftete Ordner. Dafür verläßliches Gedächtnis. »Die Unterlagen sind in der Stadt ...« Herr Knorr gab sich einen Ruck. Mit ein paar seitlichen Ausschlägen war er an der Tafel. Die Kreide flog ihm voraus: »Damit es etwas anschaulicher wird, empfehle ich die Verwendung von Farben ... In den Staaten waren die Arbeitsbedingungen im wesentlichen nicht sehr viel anders, meine Herrn, dafür zielgerichteter; wer in den ersten Wochen nicht folgen konnte, blieb auf der Strecke, das war das Ausleseprinzip ... Wir aber leben in der Bundesrepublik. Es ist vielleicht gut so, möchte ich sagen ... Bitte, meine Herrn, beginnen Sie mit Blatt 1. Punkt 1: Allgemeines zum Rechenschieber. Der Rechenschieber ist ein sehr altes Rechenhilfsmittel. Man kannte seinen grundsätzlichen Aufbau schon im 17. Jahrhundert ... Kennen Sie denn den, meine Herrn: seit der Krieg aus ist, gibt es wieder Läuse in Deutschland ... hahaha! – Es gibt verschiedene Systeme ... Wir benutzen einen Rechenschieber des Systems Darmstadt in vereinfachter Weise ... Sein großer Vorteil liegt darin – sage ich es zu schnell? –, daß er eine versetzte Skala hat ... Siehe später!«

 

Schon während des Empfangs durch den Direktor und deutlicher während der Aufteilung der Ankömmlinge auf die einzelnen Lehrgänge war von jemandem der Zweifel in Umlauf gesetzt worden, wie denn der Abschluß am Ende des Jahres aussehen werde. Es war ein formales Problem zunächst: Zeugnis oder Bescheinigung, das hieß Anerkennung oder nur Beachtung. Wirklich erhielten wir am Ende dieser Zeit nur eine »Bescheinigung« ausgehändigt ... »Habe ich es euch nicht von Anfang an gesagt –?«

Wer hatte es denn gleich gewußt? Es war Friedhelm, der Kräutermann; der Heilgehilfe. Täglich drehte er seine Runden über den Platz Heidelberg und Umgebung. Keine Himmelsrichtung war vor ihm sicher. Er brauche die Bewegung, versicherte er immerzu; sie sei ihm sozusagen verordnet. Wirklich litt er an einer nie näher bekanntgemachten Überempfindlichkeit. Am Ende einer Schulstunde wirkte er blaß und blutleer; er zeigte uns seine Hände: Die Finger mit den großen Nägelflächen schienen abgestorben. Wenn er sich auch nicht selbst helfen konnte, so beschrieb er seine Beschwerden doch sehr genau und beurteilte auch die Krankheiten anderer. Er nannte sogar bestimmte Arzneien; medizinische Fachausdrücke gehörten zu seinem Sprachschatz. Während er zwischen den Feldern hindurchraste – meistens wurde er von seinem älteren, aber leichtfüßigen Zimmerbruder begleitet –, warf er sich von Zeit zu Zeit eine Tablette in den aufgesperrten Mund. Ohne anzuhalten. Es handelte sich vorwiegend um homöopathische Mittel, die ohne Wasser oder eine andere Flüssigkeit und in regelmäßigen Abständen einzunehmen waren. In dem ganzen Jahr, während ich täglich mit ihm zusammen war, nahm er ständig irgendein Mittel ein. Nie hatte ich ihn davon sprechen hören, daß sein Leiden nach einer gewissen Zeit verschwinden würde. Er selbst betrachtete sich keineswegs als Kranken. Denn krank war irgendwie jeder – hatte eine Neurose, litt unter einem Komplex –, und er war nicht schlimmer krank als alle andern. Wenigstens diejenigen andern, mit denen er es hier zu tun hatte. Er stammte aus Gelsenkirchen, wie sein Mitsprinter. Sie hatten dort beide als Schlosser gearbeitet; aus diesem Beruf brachten sie auch ein wenig materialtechnische Erfahrung mit. Jedoch fand sich keiner von ihnen an der Spitze. Beide trampelten redlich durch das Mittelfeld; hier fühlten sie sich wohl, und sie wären sogar eine Pedaldrehung zurückgegangen, wenn es einmal den Anschein gehabt hätte, daß sie ein Schwung weiter nach vorne tragen würde. Immerhin hatte es Gründe gegeben, weshalb ihnen diese Ausbildung genehmigt worden war. Daran zweifelte niemand. Nicht mal die beiden selbst. Und keiner unter den Mitstreitern. Wenn es auch Bedenken hätte geben müssen, gerade bei Friedhelm. Man nannte ihn auch den »TT«! Das bedeutete: »Tarnen und Täuschen«. Dieses Schlagwort hatte er in der Klasse eingeführt. Er meinte damit eine grundsätzliche Zurückhaltung und das Verschweigen der eigenen, eigentlichen Fähigkeiten!

Über seine Zukunft hatte er bereits feste Vorstellungen. Nie hatte er ernsthaft vorgehabt, sein weiteres Leben nun als Technischer Zeichner zu verbringen. Vielmehr dachte er an eine bequemere Tätigkeit, die neben einem geringeren persönlichen Einsatz auch mehr Gewinn einbrachte. Er hatte genug »malocht« und kaum »Moneten« übrigbehalten. Mir gegenüber hatte er seinen Plan entwickelt: in Gelsenkirchen wolle er einen handwerklichen Kundendienst aufziehen, der sich auf Haushalte verlegte. Hier sei eine große Lücke vorhanden, wies er mir nach. Es müßte nun so gehen, daß er ausschließlich am Telefon saß, die Anrufe entgegennahm und seine Mitarbeiter einteilte. Er versprach sich allen Ernstes Reichtümer aus diesem Geschäft. Wir wollten es nicht bezweifeln, bevor der Versuch gemacht war.

Er berichtete uns auch von seinen früheren Vorhaben. Aufgrund seiner Neigungen hatte er an eine Ausbildung als Heilpraktiker gedacht. Er erwähnte eine entsprechende Fachschule in München. In diesem Beruf eines Heilpraktikers, so meinte er, sei eine Menge »Moos« zu machen. Bei kleinem körperlichem und geistigem Aufwand. Eigenkapital sei nicht erforderlich. Auf diese Seite seiner Unternehmungen mußte er besonders achten. Später gewöhnte man sich an seine Aussetzungen, unterstellte ihm sogar Miesmacherei; aber dies auch nur aus Furcht, daß an seinen Allerweltszweifeln doch etwas Wahres sein könnte. Als die Papiere vorlagen und man die Wahrheit schwarz auf weiß sah, war Friedhelms Hellseherei schon vergessen. Er selber schwamm in der allgemeinen Aufbruchstimmung. Ganz sicher würde ihm nur das Extralied in der Bierzeitung sein, mit der jeder Lehrgang das Werk verließ ...

Das Heidelberger Tagebuch

In Heidelberg im Jahre 1961 habe ich, mit einigen Unterbrechungen, auch wieder Tagebuch geführt, so wie es über die fünfziger Jahre regelmäßige bis unregelmäßige Aufzeichnungen gibt. Es beginnt exakt:

Montag, 2. 1. 1961 – In Heidelberg eingetroffen.

Dienstag, 3. 1. 1961 – Erster Schultag. Begrüßung, Namensnennung der Lehrer und der Schüler. Werkzeugempfang. Tastaufgaben: Einübung in eine neue Zeit.

Mittwoch, 4. 1. 1961 – Also Heidelberg! Schloß und die Alte Brücke. Hölderlin: »Lang liebe ich dich schon/Möchte dich mir zur Lust Mutter nennen/und dir schenken ein kunstlos Lied,/du, der Vaterlands Städte ländlich schönste, so viel ich sah ...« Der Strom! Überhaupt: Ich muß mir das bei Tag und im Sonnenschein noch mal anschauen. Der Neckar übersteigt ja schon bei stärkerem Wellengang die Umfriedungen der Hotelgärten. Welch ein Leichtsinn, so nahe ans Wasser zu bauen. Dafür gibt es hier keinen Schnee mehr. Der Winter blieb schon bei Heilbronn zurück. Es regnet sogar. Deshalb habe ich mir auch nicht alles ansehen können. Aber ich habe ja genug Zeit.

Donnerstag, 5. 1. 1961 – Ich bin hundemüde. Das Zeichnen ist doch eine größere Anstrengung als vermutet. Da stehen wir den ganzen Tag über die Reißbretter gebeugt, mit Ausnahme der Pausen, die auch nicht viel Auflockerung bringen. Gestern hat bis neun Uhr das Licht im Saal gebrannt. So eine Zeichnung ist schnell verpfuscht. Runter also mit dem Papier und ein neues Blatt draufgeklebt.

Das Essen im Heim – ich bezeichne es ab heute als Werk – ist gut und reichlich. Im Speisesaal kann man, sofern einem der gereichte Tee nicht schmeckt, auch Bier trinken. Der Wirt, ein maulflinkes Männlein mit Hinterkopfglatze, ist Heidelberger. Er sei damals mit dem Direktor ans Werk gekommen. Obs ihm immer noch gefällt oder nicht, das möchte er nicht so genau sagen. Keiner von uns ist ihm eine Überraschung, und Bier hat er allemal verkauft. Ganz Verfressenen macht er auch mal ein Schinkenbrot, paniertes Schnitzel mit Ei. »Sauft mehr Bier!« schreit er.

Freitag, 6. 1. 1961 – Feiertag! Freier Tag.

Samstag, 7. 1. 1961 – Am Vormittag arbeiten wir allein, ohne Lehrer, und stellen eine Zeichnung fertig: Geometrische Übungen in Tusche auf DIN-A-4-Format. Abklatsch aus Lehrbüchern, vom Lehrer als Kreidegerippe an die Tafel geworfen.

Jetzt ist schon die erste Woche herum. Man kennt sich gegenseitig beim Namen, hat seinen ersten Wohnsitz bekanntgegeben; weiß, wer ledig, wer verheiratet ist und wieviel Kinder einer hat. Ich brauchte nicht zu erzählen, daß ich ohne Anhang sei; es gibt Leute hier, die sehen es einem an oder riechen es – ich weiß auch nicht, warum sie so sicher sind. Ach, sollen sie doch sicher sein: auf welche Überraschungen in ihrem Leben haben sie auch noch zu hoffen? Auf wenige! Ja, ich bin gerne hier, das kann ich sagen und aufschreiben. Wenn die Zeit im Werk herum ist, eröffnen sich mir neue Möglichkeiten – natürlich, mir mein Brot zu verdienen. Das ist ja auch der Sinn der Sache!

Donnerstag, 12. 1. 1961 – Endlich einmal wieder allein. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Schließlich leben wir hier in einer Gemeinschaft; sie soll uns auch helfen, uns gegenseitig anzuspornen, miteinander und voneinander zu lernen. Ich sitze auf meinem Zimmer und schreibe einen Brief an das Mutterhaus. Auch das muß sein! Woher soll ich nur die Zeit nehmen? Es ist eine richtige Hetze hier, fast möchte ich es so ausdrücken. Gestern abend z. B. habe ich ferngesehen unten im Gemeinschaftssaal. Du könntest jeden Abend in diesen Kasten glotzen. Dann wäre dir sehr viel abgenommen. Und gelernt und geschrieben hättest du auch nichts: keine einzige Formel, keine einzige Zeile ... Z. B. mußt du dir alles wiederholen, wenn es sitzen soll – es wird Zwischenprüfungen geben –: nehmen wir mal die Werkstoffkunde, für mich ist es neu ... Heute hat er uns diktiert – ich schreibe sehr schnell, nicht unbedingt auch so leserlich, bin immer als erster in der Klasse fertig, ich schaue mich um, obs auch stimmt, das machen andere auch, sie holen mich aber nicht ein ... also hat Gott das Erz geschaffen, es in der Erde vergraben, der Mensch findet es ... Es gibt zweierlei Aufbereitungsarten: 1. die mechanische: Eisenstücke werden zerkleinert, in Trommeln gewaschen, gesondert und gemischt mit anderen Erzarten: das reine Erz wird vom tauben Gestein (taubes Gestein: Ton, Schiefer, Quarz, Kalk) geschieden durch Elektromagnete oder durch Schwimmaufbereitung ...

Montag, 16. 1. 1961 – Die Tage vergehen wirklich wie im Flug; oder als wäre ich vollauf damit beschäftigt, sie zu zählen. Es gibt keine Pausen. Das Jahr ist kurz, sagen sie: wir müssen in euch soviel hineinstopfen wie nur möglich. Es ist ohnehin zuviel ausgespart. Was denn? Wenn wir euch das sagten, hätten wir gleich wieder ein neues Fachgebiet. Also lassen wir das. Das Wenige ist schon genug! Viel zu zeichnen: schließlich wollen wir daraus einen Beruf machen! Ich denke noch mal an unsere erste Deutschstunde im Werk. Der Lehrer, ein Studienrat, den man sich aber gut in Pantoffeln und Hosenträgern vorstellen kann, hat uns eine Seite aus einem kaufmännischen Buch vorgelesen und sie uns mitschreiben lassen. Es war die erste Arbeit dieser Art. Jetzt gibt sich alles gespannt! Am nächsten Dienstag, also morgen, will er uns die Blätter korrigiert zurückgeben. Ich mache mir weniger Sorgen über meine Schreibfehler als über meinen Zorn, der mich packt, wenn er über Politik zu reden anfängt ... Ich weiß nicht, warum ich mich so aufrege; ich habe mich eigentlich noch nie mit Politik beschäftigt, ich bin auch noch nicht festgelegt in irgendeiner Richtung ... Vielmehr ist es eine gefühlsmäßige Abwehr (Gegenangriff).

Dienstag, 17. 1. 1961 – Heute war Besuch da. Unsere Kostenträger wollten sich mal an Ort und Stelle überzeugen, für was sie eigentlich Geld ausgeben. Ich sprach auch kurz mit dem Vertreter meiner Behörde. Außer mir leben noch drei oder vier auf seine Kosten bzw. auf Kosten seiner Behörde hier, wie er mir offenbarte. Die Hefte wurden zurückgegeben. Hatte einen Fehler, den ich lange verteidigte ...: schrieb »so daß« zusammen, anstatt getrennt. Auch andere sind hereingefallen. Nun war es mir peinlich, weil ich vorher geschworen hatte, nichts falsch gemacht zu haben. Vergessen! Von Politik war heute nicht viel die Rede. Vielleicht will er mich zappeln lassen, oder die Sprüche sind ihm ausgegangen!

Sonntag, 9. 4. 1961 – Ganz eingeschlossen!

Dienstag, 11. 4. 1961 – Wechselhaftes Wetter über Heidelberg. Am Mittag hat es noch 25 Grad – und abends regnets! So etwas zermürbt – dees brengt ao da Gsendaschta om, wie es bei uns heißt!

Mittwoch, 12. 4. 1961 – Pip-pip-pip! Telegramm: erster mensch stop gagarin stop umkreist stop mit raumschiff stop wostok I stop den planeten erde stop runden um runden stop zieht ein russe stop seine bahn stop gefahr stop für den frieden stop rettet stop rettet die freiheit stop rettet ein russe stop gagarin stop wostok I stop

Streit um Deutschland

Unterdessen war es Juni geworden; ich hatte mich längst an Schule, Stadt und Umgebung gewöhnt. Einige Zwischenprüfungen waren bestanden, und ich war dreimal wieder daheim gewesen. Bezahlte Heimfahrten nannte man das. Bis zum Jahresschluß sollten drei weitere folgen. Und vom 28. Juli bis zum 21. August war Sommerpause. Das entwickelte sich zusehends zum Hauptgesprächsthema: Wo gehts hin? Und für wie lange? Ich würde mich wohl wieder in meinem Dorf in dem Tal am Fuße der Schwäbischen Alb verkriechen, würde schlafen, Spazierengehen und nochmal schlafen und Spazierengehen.

Vor einer Woche hatte ich den Posten eines »Klassensprechers« abgegeben, zusammen mit der Kasse, in die jeder von uns eine Mark pro Woche für Ausflüge und sonstige gemeinsame Freizeitunternehmungen werfen mußte. Das war meine Idee. Aber ich mochte nun nicht mehr. Am Sonntag hatten die andern eine Rheinfahrt unternommen; da hatte ich mich bereits ausgeschlossen.

 

In der Klasse gab es, wie in den übrigen Lehrgängen am Berufsförderungswerk und in der gesamten Bevölkerung unseres Landes, einen großen Anteil von »Flüchtlingen«: Leute von drüben, die im Westen ihr Paradies suchten – und zum Teil wohl auch fanden! Mit den einen konnte man reden, über die guten wie über die schlechten Seiten ihrer Heimat, mit den anderen nicht. Überhaupt wurde mir das Problem Deutschland, deutsche Teilung erst in Heidelberg und im Umgang mit diesen »Übersiedlern« bewußt. Sicher führten mich meine Wege in den fünfziger Jahren schon mal an die Grenze: aber damals war es eine Absperrung wie jede und zu jedem Land. Ich habe sie dann auch nicht überschritten; es gab zu diesem Zeitpunkt keinen Anlaß dafür.

Zu den Leuten von drüben, mit denen ich über das Thema Deutschland stritt – weil man mit ihm streiten konnte –, gehörte besonders unser bester Mann: bester Zeichner, bester Rechner, bester Fachkundler. Bei Darstellungsschwierigkeiten richtete man sich nach ihm. Er war eine Begabung – die Lehrer bestätigten es! Aus ihm könnte ein Ingenieur werden. Heinz hieß er, Heinz Stack, war etwa 38 Jahre alt und verheiratet. Ansonsten: Kriegsteilnehmer, stark asthmatisch; seine Bewegungen waren sehr gemessen. Früher war er Bauschlosser oder so etwas, bevor er »rübermachte«. Er sprach auch öfters vom Motorenbau, doch da keiner von uns etwas davon verstand, ging niemand darauf ein. Sein Vater betreibe drüben eine kleine Werkstatt, in der er auch gelernt habe; später wurde die Werkstatt – ein Kleinbetrieb also – verstaatlicht; deshalb sei er geflohen. Er habe sich in die Lage nicht mehr länger einfügen können. Inzwischen sei sein Vater Rentner, die Mutter gestorben. Sein Vater könnte nun legal zum Sohn ziehen – aber wozu? Er habe seine Rente, und es ginge ihm gut; er habe seine Freunde auf der anderen Seite – was er denn noch mehr wolle in seinem Alter? Ja, so konnte Heinz sprechen. Außerdem werde sein Vater drüben von den neuen Herren immer noch um Rat gefragt, das gefalle ihm. Doch damit könne sich er, der Sohn, nicht zufriedengeben.

Wenn ich Heinz so offen und frei reden hörte, dann hatte ich immer öfters das Gefühl, daß ich ihn mit meinem Widerspruch – mit meinen Ansichten über ein System, das ich ja noch gar nicht kannte, aber im Grunde irgendwie wollte, wenn ich auch nur ahnte, weshalb – verletzte. Doch Heinz schien mir nichts über den Unterricht hinaus übel zu nehmen. Überhaupt drehte er manchmal mitten im Gespräch, das andere nur zum Teil verfolgten, weil es durchgehend über ihrem Niveau lag, den Spieß plötzlich herum, mochte er an der DDR – oder Ostzone – nicht alles schlechtmachen.

»So?« fragte ich verblüfft.

»Ja«, wiederholte er, holte tief Luft und stieß sie, über das Zeichenbrett gebeugt, hörbar aus.

Natürlich mußte auch ich bei ihm kiebitzen. Er hatte nichts dagegen. Irgendwie schien er sein Talent als etwas allen Gehöriges zu betrachten, das sich nur zufällig in ihm entwickelt hatte. War das nicht schon ein Ergebnis seiner »sozialistischen« Erziehung – paßte diese Haltung nicht mehr nach drüben als hierher? Fragen, die unsere unmittelbaren Aufgaben betrafen, beantwortete er mit einem verstehenden Lächeln. Darüber hinaus war er zu keiner politischen Stellungnahme zu bewegen, zu provozieren. Er ist, soweit ich mich erinnere, eigentlich nie zornig geworden – wie ich und die anderen, die bei manchen Äußerungen rot vor Zorn anliefen. Vielleicht lag es an seiner gesundheitlichen Verfassung. Denn man merkte, jede Erregung – und sei sie noch so klein – kostete Kraft; die Atemzüge gingen schneller und wurden immer tiefer.

Nein, ich glaube nicht, daß Heinz ein Gegner des »Zonenregimes« war, dafür war er zu klug und rechnete mit künftigen Veränderungen – auch auf dieser Seite! Er hatte sein Land nur verlassen, weil er sein persönliches Fortkommen gefährdet sah – ist das nicht überall Grund genug, abzuhauen, und sei es aus dem Paradies (wenn dieses Paradies vorwiegend für andere gemacht ist)? Das, so schätze ich nach wie vor, war sein Problem – sein zweites Leiden. Neben dem Asthma. Hin und wieder beschlichen ihn Zweifel, gestand er mir, ob er nicht doch zu ungeduldig gewesen sei – mit sich und der Gesellschaft im Osten Deutschlands (Mitteldeutschland, sagte er dann in solchen Augenblicken dazu). Der Westen habe ihn in vielem enttäuscht. Es sei schon denkbar, daß er eines Tages zurückkehre ...

»Das ist doch nicht dein Ernst?« sagte ich und merkte, daß ich die Rückkehr solcher begabten Menschen nach Mitteldeutschland wünschte, konnte aber keine Gründe dazu angeben.

»Doch, doch!« wiederholte er. Er erhalte Briefe, in denen ihm Stellungen und Geld angeboten würden, und er beantwortete sie auch. Er schreibe sich mit seinem Vater und mit seiner älteren Schwester regelmäßig. Seit zwei Jahren lebe er nun in der Bundesrepublik. Damals sei er mit Frau und Tochter nach Niedersachsen »... sagen wir gezogen!« Ich nickte verständnisvoll.

»Freunde habe ich bis zum heutigen Tag nicht gefunden.« Ein paar Bekannte seien es natürlich geworden. Aber im allgemeinen würden die Leute in der Kleinstadt am Rande der Lüneburger Heide ihn und die Familie mit Mißtrauen betrachten. Denn ab und zu vertrete er schon Meinungen, die sie nicht von ihm erwarteten.

Und eines Vormittags, während der Pause, sagte Heinz unvermittelt zu mir: ich solle mir das Ganze doch einmal selber ansehen.

»Wie? Was?«

Die Möglichkeiten hierfür gebe es. Ich könnte sogar einen Erholungsaufenthalt bekommen. Der FDGB, die Einheitsgewerkschaft der DDR, stelle Freistellen für Westdeutsche zur Verfügung. Natürlich geschähe das nicht ohne Absicht. »Langfristig, meine ich! Aber das kann dir ja egal sein; du hast ja schon eine freundliche Einstellung zu dem System drüben ... Zehn oder elf Tage dauert so ein Ferienaufenthalt.«

Und Heinz fuhr so frei fort, als ob er keine Last mit der Luft hätte: Ich würde wahrscheinlich nach Thüringen oder in einen anderen schönen Teil der DDR geschickt werden. Es würde mich keinen Pfennig kosten – halt die Hinfahrt mit der Bahn! Die Rückfahrt würde bezahlt. Ich bekäme an Ort und Stelle sogar Taschengeld. Diese Heime – früher, zur Nazizeit und davor, bereits Kurheime – seien für Ostdeutsche, ausgenommen Funktionäre, verschlossen. Es gäbe aber viele andere Ferienhäuser und -orte für alle Bürger der DDR. Auf diesem Gebiet würde für die arbeitende Bevölkerung drüben mehr geboten als hier. Jedermann habe Anspruch auf Urlaub. Er könne sich gut denken, daß mir das gefalle.

Zuletzt waren an dem Gespräch mehrere beteiligt, lauschten den Erzählungen von Heinz – auch weitere »Flüchtlinge«. Die Angaben von Heinz wurden bestritten oder bestätigt, eingeschränkt oder ergänzt. In jedem Fall schien an der Geschichte etwas dran zu sein.

»Wenn du es genau wissen willst, dann wende dich doch an den FDGB. Schreib einfach hin!« schloß jemand; Heinz nickte.

»Und wo ist der? Wo hat dieser FDGB seinen Sitz?« fragte ich, griff dabei schon zum Rapidograph.

»Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Berlin/Ost: das kommt an!« meinte Heinz und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Gut; ihr werdet von mir hören«, erklärte ich.

 

Es war heiß, Mitte Juni des Jahres 1961 in Heidelberg. Auf den Straßen schmolz der Teer, und man konnte nur abends mit einigem Schwung arbeiten. Ist es nicht üblich, daß man bei solchen Außen- und Innentemperaturen hitzefrei bekommt? Aber nichts geschah; wir mußten Weiterarbeiten. Und dann kam es an einem der kommenden Abende doch im Speisesaal zum Krach zwischen mir, Mitschülern, Personal und Gästen. Das war noch vor dem Mittagessen. Schüler und ein Teil der Dozenten nahmen Aufstellung vor der Ausgabe, reichten die Marken hinein und empfingen beladene Teller, mit denen sie an ihre Stammplätze schlurften. Schon vorher waren mir – und wohl auch dem einen oder anderen, weniger Interessierten, der einen papierfreien Tisch gewohnt war – bunte Zettel auf den Platten aufgefallen.

Es waren Einladungen zu einem Vortrag eines Heidelberger Professors über den »17. Juni und die Lage Mitteldeutschlands« sowie seiner armen, unterdrückten Menschen.

 

17. Juni: Ein »Aufstand« in der SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone), wie man es allgemein nannte, ein Arbeiteraufstand (ach ja, wie wichtig dem Westen plötzlich die Arbeiter im Osten waren!), von den Russen brutal niedergeschlagen.

Der Rotha-Hermann hatte mich einmal darauf angesprochen, als ich wieder für ein paar Tage in mein Dorf zurückkam, mein heimlicher Aufpasser im Tal und auf der Höhe durch die ganzen hellen und dunklen Jahre. Ich hatte mich damals dumm gestellt, vielleicht weil ich mir nicht sicher war oder vor einer Antwort noch mehr Informationen haben wollte, die ja hierzulande so offen und für jedermann zugänglich herumlagen – wenn man nicht achtgibt, fallen sie einem aufs Hirn, die objektiven Informationen über den »Klassenfeind« auf der anderen Seite.

War ich mir nun sicher? Oder nur sicherer? Vielleicht hatte ich meinen Landsmann nicht vor den Kopf stoßen wollen, mit ihm gerade darüber nicht händeln wollen. Über was dann? Über alles andere, doch gedämpft und im Bewußtsein, daß wir wohl noch lange am Ort Zusammenleben würden. Im übrigen war er selber Arbeiter, verfügte wenigstens nicht über andere, sondern über ihn wurde verfügt. Vielleicht hätten wir uns gerade deshalb in der Auseinandersetzung Klarheit, wenigstens im Prinzip, über Arbeiteraufstände oder Aufstände allgemein verschaffen müssen. In jedem Fall wäre es schmerzlich gewesen, für beide Seiten.

Diese Rücksichtnahme entfiel nun, denn meine Zeit am Werk war begrenzt, begrenzt aber auch meine Aufnahmefähigkeit für immer neue oder immer wieder aufgewärmte alte Dummheiten.