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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Sommer der Hexen«

»Wolfsherbst«

»Dämonenwinter«

»Schattenschrei«

Georg Miesen, Jahrgang 1962, hat mit seinem 2002 erschienen Roman Hexensommer in der Eifel den Reigen der fantastischen Eifelliteratur eröffnet. Es folgten drei weitere im KBV Verlag veröffentlichte Romane (Wolfsherbst, Dämonenwinter, Schattenschrei), die mit einer Neuauflage seines ersten Werks unter dem Titel Sommer der Hexen ihren vorläufigen Abschluss fanden.

Er ist Mitglied des FDA und leitet gemeinsam mit Andreas Züll die Schreibwerkstatt Nettersheim und die Lesereihe Zümiesmus.

Georg Miesen

Sommer der Hexen

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Manuela Schmitz
eISBN 978-3-95441-495-6

Für Jochen Gruch,
den Idealisten,
und für meine Kollegen
Michael Wiederhold, Ulrich Hüsch und Peter Meinert,
weil sie ihren guten Namen für die üblen Machenschaften
meiner Protagonisten hergegeben haben.

Inhalt

Schattenkönig

1. Der erste Fund

2. Der zweite Fund

3. Der erste Vorfall

4. Der zweite Vorfall

5. Der Hexenkommissar

6. Die Heilerin

7. Der dritte Fund

8. Die Schülerin

9. Die Seance

10. Ein seltener Gast

11. Der Stein

12. Das Elixier

13. Die Dienerin

14. Die Hebamme

15. Wolf

16. Telefongespräche

17. Gerüchte und Drohungen

18. Die Geburt

19. Zu Besuch bei einer alten Dame

20. Der Traum

21. Unerwartete Hilfe

22. Dorftratsch

23. Der erste Kampf

24. Trügerischer Frieden

25. Hexenfeuer

26. Pesthauch

27. Entdeckt

28. Entführungen

29. Die Gefangenen

30. In den Fängen des Hexenkommissars

31. Der Prozess

32. Feuer

Epilog

Dr. Franziskus Buirmann, Hexenkommissar aus Euskirchen

Abt Norbert Horrichem

Danksagung

Schattenkönig

Ich bin viele leise Schritte

Die dir folgen in der Nacht

Leises Kratzen kurzes Rascheln

Deine Angst ist meine Macht

Hülle mich in dunkles Schweigen

Finsternis und kalte Nacht

Tanze um erloschne Kerzen

Schrecken der von dir erdacht

Warte hinter jeder Ecke

In dunklen Gassen harre ich

Wo sich Licht und Schatten paaren

Glaube mir ich kriege dich!

Bin dein Schatten bin dein Ende

Flüsternd in der Dunkelheit

Niemals wirst du mir entkommen

Abgelaufen deine Zeit

Sebastian Miesen

1. Der erste Fund

Es war einer dieser Sommertage, die bereits am frühen Morgen mit dem Versprechen von Licht und Wärme die Menschen aus ihren Häusern zu locken versuchten. Hätten die Ferien schon angefangen, oder wäre es Wochenende, die Versuche wären bestimmt erfolgreich gewesen. So aber schlurften nur vereinzelt ein paar ältere Männer und Frauen an diesem Mittwochmorgen über die Bürgersteige des Orts.

Marmagen, im Herzen der Nordeifel, schien sich heute einen ruhigen Tag gönnen zu wollen. Sogar der Berufsverkehr hielt sich in Grenzen.

Peter Meinert, der Hausarzt im Dorf, lief geschäftig die Treppenstufen der Bäckerei Milz herab. Heute war sein freier Tag, er hatte die Morgenrunde mit seinem Hund bereits hinter sich und freute sich auf ein ausgiebiges Frühstück.

Auf halber Höhe gewahrte er etwas aus dem Augenwinkel, das ihn abrupt innehalten ließ. Er wechselte die Tüte mit den verführerisch duftenden Brötchen von der rechten in die linke Hand und schaute sich suchend um.

Die Straße war hier auf Höhe der Kirche und der Bäckerei auf einer Länge von circa fünfzig Metern aufgerissen worden. Das Kanalnetz sollte endlich saniert und eine Gasleitung gelegt werden. Die Bauarbeiten dauerten bereits mehrere Wochen an und verwandelten diesen sowieso schon engen Bereich der Hauptverkehrsstraße in Marmagen in ein Nadelöhr. Wenn dann noch die Kunden der Bäckerei Milz oder des Gemischtwarenladens Rütz auf der gegenüberliegenden Seite parkten, staute sich der Verkehr zu den Stoßzeiten wie in einer Großstadt. Ein Ärgernis für Verkehrsteilnehmer und Anlieger.

Als sein Blick drei Arbeiter traf, die gerade hektisch aus einem Graben kletterten, wurden seine Augen schmal. Da stimmte etwas nicht.

In den bleichen Gesichtern der Männer, die jetzt am Rand der Baugrube standen, konnte Peter Schrecken und Abscheu lesen.

Hatte es einen Unfall gegeben?

In seiner Zeit als Notarzt der Klinik in Bonn hatte Peter Meinert solche Situationen nur allzu oft beobachten können. Ohne weiter zu überlegen, sprang er die letzten Stufen der Treppe herunter und eilte zu der Baustelle.

»Was …?«, hob er an zu fragen, aber der Arbeiter, der ihm am nächsten stand, wandte ihm nur ein starres Gesicht zu und zeigte zum Grund des Grabens.

Peter Meinert brauchte einen Moment, bis er erkannte, was die Leute so aufgeschreckt hatte, dann hielt er sich unwillkürlich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen überraschten Ausruf.

Gebannt von einer Mischung aus Entsetzen und Faszination starrte er nach unten, bis ihn eine laute Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.

»Was ist denn hier los?«, polterte jemand in seinem Rücken.

Bevor Peter eine Antwort geben konnte, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, und ein kräftiger Körper schob sich an ihm vorbei. Es war Josef Pfahl, der Ortsvorsteher, der in gewohnt jovialer, aber auch befehlsgewohnter Manier die Leitung übernahm.

»Ach du heilige Scheiße!«

Peter zuckte bei dem laut ausgestoßenen Fluch des Ortsvorstehers zusammen und riss endlich seinen Blick von dem Skelett im Graben los.

Erstaunt beobachtete er, wie Josef Pfahl die Gesichtsfarbe wechselte und trotz seiner robusten Statur ins Wanken geriet.

Gerade noch rechtzeitig griff er ihm unter die Arme, um ihn zu stützen. Josef Pfahl holte tief Luft und erlangte augenblicklich seine Standfestigkeit wieder zurück. Sein Blick wanderte kurz zur Grube, dann sah er Peter Meinert an.

»Das muss verschwinden! Sofort! Sonst spielen die Leute im Dorf verrückt.«

Peter schaute ihn zweifelnd an. Die Sorge des Ortsvorstehers, im Dorf könnte dieser Fund eine Panik auslösen, schien sein Urteilsvermögen beeinträchtigt zu haben.

Er konnte sich zwar das Szenario gut vorstellen, das in Josef Pfahls Kopf herumspukte, aber einen solchen Fund konnte man doch nicht einfach so verschwinden lassen.

Da musste doch die Polizei verständigt werden oder jemand vom Kulturamt, falls es sich um einen historisch bedeutsamen Fund handeln sollte.

Josef Pfahl wischte Peters Einwände jedoch mit einer energischen Geste beiseite.

»Das ist meine geringste Sorge. Um die Polizei kümmere ich mich, genauso wie um irgendwelche Hanswurste vom Amt. Dafür habe ich die richtigen Beziehungen. Kannst du dir vorstellen, was für Typen hier plötzlich auftauchen, wenn in der Öffentlichkeit bekannt wird, was wir hier gefunden haben? Das wird denen auch nicht recht sein.«

Der Ortsvorsteher war bei seiner Rede so laut geworden, dass sich zwei ältere Damen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite bis gerade eben eifrig miteinander getratscht hatten, neugierig umdrehten.

Leiser, aber mit großem Nachdruck, fuhr er fort: »Am besten schnappe ich mir gleich eine Schaufel und sorge dafür, dass das Ding niemanden mehr erschreckt.«

Peter zuckte bei Josefs letzter Bemerkung zusammen.

»Du willst es zuschütten und damit zerstören? Das kannst du nicht machen! Wenn das rauskommt, bekommst du den größten Ärger. Da werden dir auch deine Verbindungen nicht helfen.«

Josef Pfahls Blick wurde für einen Moment leer, dann nickte er energisch und wandte sich Peter zu.

»Wenn dir das nicht passt, kannst du es ja rausholen und vorübergehend in Gewahrsam nehmen. Dann warten wir ab, ob jemand nachfragt. Wenn nicht, lassen wir das Skelett unauffällig verschwinden.«

Peter schüttelte abwehrend den Kopf.

»So einfach geht das nicht. Hier werden Experten gebraucht. Das Umfeld muss aufgenommen werden, die Lage der Knochen festgehalten und die Schichten, in denen der Fund verborgen lag, genauestens vermessen werden. Sonst ist es hinterher immens schwierig, das genaue Alter festzustellen.«

»Papperlapp!«, unterbrach ihn Josef. »Wir brauchen jetzt ganz bestimmt keine Experten. Außerdem dauert das viel zu lange und lässt sich nicht geheimhalten. Du hast doch so was auch schon mal gemacht. Entweder du holst das da raus, oder ich schlage es sofort kaputt.«

Peter öffnete den Mund zu einer weiteren Erwiderung, schluckte sie jedoch wieder herunter, als er Josefs hartem Blick begegnete.

»Scheiße!«, fluchte er stattdessen, »Du meinst es ernst.«

Josef Pfahl warf einen schnellen Blick zu den beiden Damen hinüber, die sich anschickten, die Straßenseite zu wechseln, und nickte mit Nachdruck.

»Verdammt! Du bist so ein Sturkopf. Na gut. Ich schau mir das erst einmal an.«

»Dann beeil dich!«, zischte Josef, aber Peter hörte schon nicht mehr zu.

Er schaute in die Grube und spürte, wie sein wissenschaftliches Interesse erwachte. Josef Pfahl wusste natürlich, dass er sich für Lokalgeschichte interessierte und hin und wieder an Ausgrabungen in der Umgebung teilgenommen hatte. Ein Professor der Uni in Bonn unterstützte ihn, seit Peter ihm geholfen hatte, die Todesart einer bei Ausgrabungen entdeckten Leiche zu bestimmen.

Mit geübtem Blick versuchte Peter zunächst, das Umfeld des Fundes zu erfassen.

Das Skelett befand sich in etwa zwei Metern Tiefe inmitten einer dicken Lehmschicht. Die wasserundurchlässige Tonerde hatte dafür gesorgt, dass die Knochen fast vollständig erhalten geblieben waren.

Ganz in seinen Überlegungen vertieft, drückte er Josef Pfahl seine Brötchentüte in die Hand, schätzte die Tiefe des Grabens ab und sprang hinunter. Dabei achtete er darauf, weit genug vom Skelett entfernt zu landen.

Die Erde hier unten war feucht und glitschig, und er musste höllisch aufpassen, wohin er seine Füße setzte. Vorsichtig ging er in die Hocke und sah sich den Fund genauer an.

Das Skelett musste in einer Art Luftblase gelegen haben, die aufgeplatzt war, als die Bauarbeiter die Seitenwand erweitern wollten. Peter konnte die Ausbuchtung erkennen, aus der es herausgerutscht und auf den wenige Zentimeter tiefer liegenden Grund gefallen war.

Wie durch ein Wunder waren die Knochen heil geblieben. Mit ausgebreiteten Armen, leicht angewinkelten Beinen und überschlagenen Füßen lag das Gerippe fast wie eine Christusfigur da, genauso gelbbraun wie der Lehm, in den es eingebettet war.

Es hatte einst zu einem Kind gehört, das vielleicht ein oder zwei Jahre alt geworden war.

Peter Meinert schluckte. In den pathologischen Abteilungen der Universitäten, konserviert in Formaldehyd und eingeschlossen in große Gläser, gab es unzählige Beispiele menschlicher Missbildungen, aber sicher nirgends etwas wie das hier.

Das Kind war eine Mutation, eine üble Laune der Natur, das sagte ihm sein Verstand. Tiefer liegende Schichten seines Bewusstseins raunten ihm jedoch etwas anderes zu.

Vor ihm lag ein Monster, dessen Anblick die Menschen seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzte.

Hatte hier das Böse selbst seine Hand im Spiel gehabt?

Mattschwarze, kurze Hörner ragten aus der breiten Stirn, lange Fangzähne bestückten ein Raubtiergebiss, und dort, wo das Kind Hände und Füße hätte haben sollen, befanden sich sichelartige Klauen mit messerscharfen, gekrümmten Krallen.

Voller Entsetzen fragte sich Peter Meinert, ob es überhaupt ein menschliches Wesen gewesen war. Unwillkürlich drängten sich Gedanken an Teufelsanbeter und deren Traum von der Geburt des Antichristen in sein Bewusstsein. Josefs Sorgen waren angesichts dieser Deformierungen durchaus berechtigt. Die Medien würden sich mit Eifer auf den Fund eines Teufelskindes stürzen und das ruhige, katholische Marmagen zum Mekka der Satanisten avancieren. Eine höchst zweifelhafte Ehre.

Peter schüttelte seine Beklemmungen ab und versuchte das Gerippe unvoreingenommen zu untersuchen.

Jetzt erst fiel ihm auf, wie zerbrechlich, ja geradezu erbarmungswürdig das vielleicht siebzig bis achtzig Zentimeter kleine Skelett wirkte. Seine Haltung strahlte trotz allem eine bedrückende Hilflosigkeit aus.

Kerben an den linken Brustwirbeln in Höhe des Herzens ließen Peter aufmerken. Sie stammten offensichtlich von einem scharfen Gegenstand wie einem Messer oder einem Dolch und zeugten von dem gewaltsamen Tod des Kindes.

Das genaue Alter des Skeletts zu schätzen, mochte Peter sich nicht trauen, aber es konnte durchaus mehrere Jahrhunderte im wasserundurchlässigen Ton gelegen haben.

Er versuchte sich vorzustellen, wie die in der Vergangenheit noch tief im Aberglauben verhafteten Menschen wohl auf eine solche Missgestalt reagiert hatten und verzog das Gesicht. Ein Wunder, dass das Kind überhaupt seine Geburt überlebt hatte.

»Du warst in deinem kurzen Leben schon gestraft genug«, murmelte er voller Mitleid und fasste einen Entschluss.

Er würde dafür sorgen, dass es weder zerschlagen noch einer sensationslüstern gaffenden Öffentlichkeit ausgeliefert würde.

Mit einem Ruck wuchtete er sich hoch, kletterte aus dem Graben und schaute Josef Pfahl an.

»Ich muss ein paar Sachen beschaffen. Kannst du dafür sorgen, dass keiner unseren Fund zu sehen bekommt?«

Josef hatte die Bauarbeiter um sich geschart und leise auf sie eingeredet, während Peter seine Untersuchungen vorgenommen hatte. Ihre Mienen drückten zwar immer noch Furcht, aber auch eine grimmige Entschlossenheit aus.

»Was hast du vor?«, fragte er mit einem lauernden Unterton.

»Dir helfen!«, antwortete Peter leise. »Aber das Skelett wird nicht zerstört.«

Sie waren seit Jahren befreundet und hatten gemeinsam schon so manche Krisensituation im Dorf gemeistert.

Josef Pfahl sah Peter forschend an, dann nickte er zustimmend und wandte sich an die Bauarbeiter.

»Holt eine Plane und deckt die Grube ab. Wir regeln den Rest wie besprochen.«

Die Männer machten sich mit sichtbarer Erleichterung sofort an die Arbeit. Sie wollten nichts mit dem schrecklichen Fund zu tun haben und waren froh, dass sich nun jemand anderes darum kümmern würde.

Peter Meinert überließ es Josef Pfahl, die neugierigen Damen, die zum Glück noch nicht den wahren Grund für die Unterbrechung der Bauarbeiten ahnten, abzulenken. Er begab sich auf den Weg in seine nahegelegene Praxis, um eine Trage, eine Digitalkamera, eine saubere Plane und Einweghandschuhe zu besorgen.

Als er sich noch einmal umwandte, bemerkte er, wie Josef Pfahl verstohlen zum Turm der Kirche schaute. Für den im Dorf verwurzelten Ortsvorsteher war sie immer eine feste, verlässliche Größe gewesen. Unwillkürlich blieb Peter stehen und folgte seinem Blick. Dabei fielen ihm zwei Steinfiguren an der Giebelseite auf, die sich mit ihren dicken, klobigen Körpern an ein einzelnes, kreisrundes Fenster klammerten.

Es waren zwei Teufel: Der eine sah durch das Fenster in den Innenraum der Kirche hinein, der andere schaute missbilligend auf den Eingang.

Ihre Darstellung sollte dem Bösen spotten, dem es nicht gelang, die Menschen vom Besuch der Kirche abzuhalten. Im Zusammenhang mit dem, was gerade zu Füßen des Gotteshauses aus der Erde gedrungen war, wirkten die Gestalten jedoch geradezu bedrohlich.

Mit einem Ruck riss sich Peter Meinert von dem Anblick los und eilte die steile Römerstraße zu seiner Praxis hinauf.

Als er zurückkehrte, schien Josef Pfahl die Situation fest im Griff zu haben.

Die beiden älteren Damen hatten sich wieder auf die gegenüberliegende Seite verzogen und schauten schmollend herüber. Als sie Peter mit seiner Trage sahen, verdrehten sie die Köpfe, um zu sehen, was da los war, aber die Bauarbeiter schirmten ihn sofort mit ihren Körpern ab. Zuerst machte er Fotos von der Fundstelle und nahm Proben der Tonerde. Erst als Josef unruhig wurde, hob er das Skelett vorsichtig auf die Trage und legte eine dicke Plane darüber.

Im Hintergrund hörte er, wie Josef Pfahl einer der neugierig gaffenden Dorfbewohnerinnen etwas von einem Fuchs erzählte, der in die Grube gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte.

»Kann sein, dass das Tier die Tollwut hatte, da muss sich das Veterinäramt drum kümmern.«

Peter musste sich beherrschen, um nicht erstaunt den Kopf zu schütteln. Ein Fuchs mitten im Ort? So etwas konnte nur Josef einfallen. Dass dann noch er, der Hausarzt, den angeblichen Kadaver untersuchte und nicht die Tierärztin der nahen Praxis, musste doch auf Misstrauen stoßen. Die Autorität des Ortsvorstehers war jedoch offensichtlich so hoch, dass die Frau, mit der er sprach, die dreiste Lüge ohne Widerspruch aufnahm, denn sie beeilte sich, der anderen die Neuigkeit weiterzuerzählen.

In ihrer Stimme schwang der Stolz mit, dass sie als Erste Bescheid wusste. Josef Pfahl hatte sie ganz bewusst ausgewählt, schließlich kannte er die Kommunikationswege im Dorf sehr genau. Schon heute Nachmittag würde die Nachricht jeden im Dorf, der sich dafür interessierte, erreicht haben. Das ersparte ihm lästige Nachfragen.

Man musste nur daran denken, bezüglich der Tollwutgefahr rechtzeitig Entwarnung zu geben.

Einer der Bauarbeiter half Peter dabei, die Trage aus der Grube zu heben und in die Praxis zu bringen. Im ersten Stock hatte er ein Arbeitszimmer eingerichtet, in dem sich auch eine Liege befand. Dort legten sie die Trage vorsichtig ab. Der Arbeiter hatte es anschließend sehr eilig, wieder nach draußen zu gelangen.

Peter geleitete ihn zu Tür. Beim Anblick des davoneilenden Mannes runzelte er verärgert die Stirn. »Wie kann man nur so abergläubisch sein!«

Als er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, stieg ihm ein eigenartiger Geruch in die Nase.

Mit böser Vorahnung schlug er die Plane zurück und fluchte leise, als der um einiges intensiver wurde. Was er zunächst für Erdklumpen gehalten hatte, die an den Knochen hingen, stellte sich bei näherem Hinsehen als organische Reste heraus. Die Knochen selber waren nicht in Gefahr, aber die Haut- und Fleischreste, die in dem Tonbett regelrecht konserviert worden waren, begannen nun an der frischen Luft zu faulen.

Er musste sich dringend um deren Erhaltung kümmern, denn sie konnten später bei wissenschaftlichen Untersuchungen wichtige Informationen preisgeben. Allein die Möglichkeit, eine DNA-Analyse von Geweberesten vornehmen zu können, war von unschätzbarem Wert. Die einfachste und naheliegendste Möglichkeit, war den Fund sofort einzufrieren. Aber darüber hinaus musste er sich um weitergehende Konservierungsmöglichkeiten kümmern. Es gab da auch noch einen Freund, der am Rheinischen Landesmuseum in Bonn arbeitete, den er anrufen und um Rat bitten konnte. Dabei durfte er jedoch keinen Verdacht erregen. Daher versuchte er es zunächst bei ein paar Adressen im Internet, von denen er sich entsprechende Anweisungen herunterladen konnte.

Er konnte nur hoffen, dass er das erforderliche Material entweder in seiner Praxis fand oder ohne große Schwierigkeiten besorgen konnte.

Ein Glück nur, dass er heute keine Patienten behandeln musste. Sonst hätte er wohl kaum die Zeit dafür gefunden.

»Ich wüsste zu gerne, wie alt du wirklich bist«, sagte er laut und rieb sich die Hände.

Eine knappe Stunde später tauchte Josef Pfahl mit Peters Brötchentüte auf. Peter hatte sie über seine Nachforschungen ganz vergessen. Bei ihrem Anblick meldete sich sein vernachlässigter Magen mit einem wütenden Knurren zu Wort.

»Ich hoffe, du bist mir nicht böse wegen vorhin«, polterte Josef gleich los. Seine Stimme war offensichtlich nicht dafür geschaffen, in Zimmerlautstärke zu klingen. »Ich weiß, was du riskierst, aber mach dir keine Sorgen, ich hab mich noch eine Weile umgehört. Keiner hat was bemerkt.«

»Fast keiner«, erwiderte Peter und verwies auf die Bauarbeiter.

»Ach die!«, antwortete Josef. »Mach dir um die Jungs mal keine Sorgen. Die werden dicht halten, dafür leg ich meine Hand ins Feuer. Und selbst wenn einer das Maul nicht halten kann, glaubt ihm sowieso keiner.«

Statt einer Antwort brummte Peter nur unbestimmt vor sich hin. Er arbeitete gerade verschiedene Arten der Konservierung durch und musste feststellen, dass es nicht ganz so einfach war, die richtige Methode für seinen Fund herauszusuchen.

Es würde schon irgendwie gehen, aber seinen freien Tag konnte er jetzt vergessen. Da erschien es ihm nur gerecht, wenn sich Josef wenigstens ein bisschen schuldig fühlte.

»Sagen wir es mal so«, wandte er sich schließlich an den Ortsvorsteher. »Du schuldest mir zwar etwas mehr als nur ein ausgefallenes Frühstück. Aber um einen Anfang zu machen, kannst du mich jetzt schon mal einladen.«

»Gut«, erwiderte Josef mit einem erleichterten Grinsen. »Das trifft sich ganz ausgezeichnet. Es gibt da nämlich ein paar Punkte auf der neuen Agenda, die ich dringend mit dir besprechen muss …«

»Oh nein! Keine Politik!«, wehrte Peter ab. »Da müsstest du schon ein opulentes Abendessen ausgeben. Und zwar aus deiner eigenen Kasse und nicht auf Parteikosten.«

Josef machte ein finsteres Gesicht und setzte zu einer Entgegnung an, aber Peter lachte nur und schob ihn zur Tür hinaus.

»Ich will nichts mehr hören. Jetzt gibt es Frühstück und einen netten unpolitischen Plausch. Außerdem fällt mir noch etwas ein, was du für mich erledigen kannst.«

2. Der zweite Fund

Am folgenden Samstagmorgen unternahm Peter Meinert wie jede Woche gemeinsam mit seinem Hund einen ausgedehnten Spaziergang durch die Feld- und Wiesenlandschaft in Marmagens Umgebung.

Die Sonne löste nach und nach die Dunstschleier des frühen Morgens auf und entblößte eine Kulturlandschaft von erhabener Schönheit. Dort, wo ihr Licht bis zum Boden durchdrang, erzeugte sie lange Schatten und hob die sanften, geschwungenen Bodenwellen der Wiesen und Felder hervor. Alles strahlte in milden, vielfältig schattierten Grüntönen. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und ein warmer Wind ließ die Hitze des kommenden Sommertages erahnen.

Der Anblick, der sich vor ihm ausbreitete, als er die Anhöhe erreicht hatte, war dazu angetan, Peter ehrfürchtig innehalten zu lassen. Heute vermochte die Natur ihn jedoch nicht zu erreichen. Sein Blick war nach innen gerichtet, seine Gedanken kreisten um das groteske Skelett, das sich seit Mittwoch in seinem Kühlraum befand. Die Konservierung hatte zum Glück soweit gut geklappt, er hatte den einsetzenden Verwesungsprozess fürs Erste aufhalten können. Aber die Altersbestimmung war ein Problem, das er nicht so recht in den Griff bekam.

Im Allgemeinen dachte man in diesem Zusammenhang an die bekannte Radio-Karbon-Methode, die den radioaktiven Zerfall der in den Fundstücken enthaltenen Kohlenstoffatome berechnete. Aber für eine genauere Datierung war dieses Verfahren nicht geeignet. Es gab natürlich auch feinere Methoden, aber die waren kompliziert und aufwändig. Nichts, was einem einfachen Hobbyarchäologen wie ihm zur Verfügung stand. Er konnte leider auch nicht, wie bei Ausgrabungen allgemein üblich, die ersten Hinweise aus dem Umfeld des Fundorts entnehmen, wusste zu wenig über die Beschaffenheit der Erdschicht und rein gar nichts über das Vorhandensein bestimmter Pflanzenteile wie Samen und Schoten. Ganz zu schweigen von irgendwelchen Grabbeigaben wie Schmuck, Werkzeug, Waffen oder banalen Haushaltsgerätschaften. Damit wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, Rückschlüsse auf die Kultur und damit auf das Datum der Grablegung des mutierten Kindes ziehen zu können.

Aber außer ein paar nichtssagenden Fotos, die er von den Erdschichten gemacht hatte, und etwas Tonerde, in der jedoch nichts weiter zu finden war, besaß er nichts. Welcher Teufel hatte ihn bloß geritten, das Skelett einfach so an sich zu nehmen?

Balu, sein dickfelliger Berner Sennenhund, zerrte unterdessen mit vollem Körpereinsatz einen riesigen Ast aus dem Graben neben dem geteerten Feldweg und zog ihn vor Peters Füße.

Peter, der nicht auf ihn geachtet hatte, stolperte über das Hindernis und fluchte zunächst ungehalten.

Dann sah er seinen Hund an.

»Willst du mir damit sagen, dass du zu wenig Aufmerksamkeit bekommst?«

Balu legte den Kopf schief und schaute ihn erwartungsvoll an, sein Schwanz zuckte leicht.

»Und zum Dank soll ich diesen halben Baum auch noch werfen?«

Das Zucken steigerte sich zu einem freudigen Schwanzwedeln.

Peter schüttelte den Kopf, hob den Ast auf und brach ein einigermaßen handliches Stück davon ab.

Balu sprang begeistert hoch, bellte heiser und drehte sich erwartungsvoll im Kreis.

Sobald Peter den Ast warf, wobei er sich an dem immer noch recht schweren Teil fast den Arm auskugelte, setzte sich Balu mit wuchtigen Sprüngen in Bewegung und jagte dem »Stöckchen« hinterher.

Der dickfellige Berner in Bewegung wirkte gleichzeitig tapsig und elegant. Mit Wucht warf er sich auf den Stock, packte ihn, lief noch ein paar Schritte und ließ sich dann fallen. Lang ausgestreckt lag er da und knabberte demonstrativ an dem Holz. Als Peter ihn zu sich rief, schaute er sein Herrchen nur provozierend an und kaute unverdrossen weiter.

Das Tier hatte viel gelernt, ging auf Kommando bei Fuß, ließ sich ablegen, zog im Winter die Schlitten der Nachbarkinder und kannte sogar die Kommandos für rechts und links. Aber eines hatte Balu immer verweigert: Er apportierte nicht. Jedenfalls nicht so, wie es der zweibeinige Vertreter seines Rudels gerne gesehen hätte.

Schließlich war das seine Beute, er hatte sie gejagt und würde sie auch nur dann wieder hergeben, wenn es ihm gefiel.

Das intensive Mienenspiel seines schön gezeichneten Gesichts, besonders unterstützt durch die braunen Linien über den Augen, die sich wie Brauen abmalten, wirkte dabei fast menschlich.

»Komm und hol’s dir«, schien er ihm zuzurufen. Ein Spiel, auf das Peter sonst gerne einging. So mancher Spaziergänger hatte schon irritiert den Kopf geschüttelt, wenn er den seriösen Arzt laut lachend hinter seinem großen Hund herlaufen sah.

Aber heute war Peter nicht in der Stimmung für solche Spiele. Als er erkannte, dass sein Hund den Stock nicht auf Kommando herbringen würde, seufzte er kurz auf und ging weiter, als würde es ihn nicht interessieren.

Der Hund schaute ihm eine Weile nach, sprang dann auf und trabte mit dem Ast in der Schnauze beleidigt hinterher.

»Spielverderber!«, schien sein mürrisch wirkender Gesichtsausdruck zu sagen.

Peter war mit seiner Aufmerksamkeit erneut bei den sterblichen Überresten des deformierten Kindes. Wahrscheinlich hatte man den Leichnam so tief wie möglich in der Erde verscharrt. Es war schon verwunderlich, dass man ihn nicht verbrannt hatte. Genauso verwunderlich wie die Nähe eines solchen Grabes zur Kirche. Wer vergrub schon ein Teufelskind in geweihter Erde?

Es sei denn, man hatte sich dadurch einen besonderen Schutz versprochen. Oder jemand hatte es heimlich dort verscharrt.

Vielleicht jemand, der das Kind nicht als ein Monster, sondern als ein menschliches Wesen angesehen hatte?

Frustriert schüttelte Peter den Kopf. Das brachte ihn auch nicht weiter. Er nahm sich vor, als nächstes zum Kreisarchiv nach Euskirchen zu fahren. Vielleicht gab es in den Quellen dort Aufzeichnungen über eine Missgeburt in Marmagen oder andere Hinweise, die ihm bei der Datierung hilfreich sein konnten.

Seine Schritte lenkten ihn eine Weile später nach links auf einen Feldweg, der ihn am Sonnenhof vorbei zurück zum Dorf führen sollte.

Balu, der vor ihm hergetrabt war, setzte sich hin, ließ den Stock auf den Boden fallen und schaute ihn mit erwartungsvoll wedelndem Schwanz an.

»Ach!«, bemerkte Peter, jetzt doch froh über die Ablenkung. »Jetzt darf ich wieder mitspielen?«

Er nahm den Stock und holte weit aus. Sirrend flog das Holz durch die Luft, beschrieb einen langen Bogen und landete in Höhe eines großen Holzkreuzes.

Während der Hund hinterherlief, blinzelte Peter irritiert. Hatte er da etwas gesehen? Es kam ihm so vor, als sei ein Schatten über den Grund gehuscht, just in dem Moment, in dem der Stock den Boden berührt hatte. Wahrscheinlich war es nur der Staub, der aus der trockenen Erde des brachliegenden Feldes emporgewirbelt worden war.

Peters Blick fiel auf das Kreuz. Grob und wuchtig ragte es aus dem mit Wildkräutern und vereinzelten Gerstenhalmen bewachsenen Acker rechts des Weges hoch hinauf und markierte weithin sichtbar den höchsten Punkt im umliegenden Gelände. Es bestand aus grau verwitterten, rissigen Balken, an der Spitze mit einem Stück Blei oder Blech abgedeckt, ansonsten ohne jede Zier. Gerade diese Schmucklosigkeit machte den besonderen Reiz dieses Glaubenssymbols aus. Es wirkte, als sei es hier vor Urzeiten aus dem Boden gewachsen und nicht erst vor ein paar Jahrzehnten von Menschenhand errichtet worden.

Balu lief den Feldweg entlang, bis er sich in Höhe des Kreuzes befand. Plötzlich schien er eine Witterung aufgenommen zu haben. Er änderte ruckartig seine Richtung und trabte, mit der Schnauze dicht über dem Boden, vom Weg ab im Zickzack-Kurs auf das Kreuz zu.

Zunächst lief er daran vorbei, dann jedoch, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, kehrte er um, machte vor dem Kreuz Halt und drückte seine Schnauze tief in die Erde.

Peter hörte ihn heftig schnaufen und sah, wie er nach irgendetwas zu schnappen schien.

Dann begann der Hund zu graben. Seine breiten Pfoten wühlten sich in die Erde und schleuderten den Dreck nach hinten. Wie Geschosse flogen Erdklumpen und kleine Steine durch die Luft.

Das ging Peter nun zu weit, und er versuchte den Hund abzurufen. Als Reaktion erntete er nur ein drohendes Knurren. Das Nackenfell des Hundes sträubte sich, und die Lefzen zogen sich hoch, um ein beeindruckendes Gebiss zu entblößen.

»He! Was hast du da?«, versuchte er den Hund abzulenken, in der Ansicht, dass er irgendein Tier, eine Maus oder einen Maulwurf, entdeckt haben musste. Balu reagierte immer noch nicht auf sein Rufen, wühlte noch einmal kräftig in der Erde und riss dann etwas aus der Mulde heraus, die seine Pfoten gegraben hatte.

Ein runder, etwa fußballgroßer Gegenstand, schmutzig braun, mit hellen, fahl schimmernden Flecken, soweit Peter es sehen konnte.

Balu schüttelte seinen Kopf heftig hin und her, als wolle er seiner Beute das Genick brechen.

Als er Peter näher kommen sah, knurrte er einmal kurz, legte sich flach auf den Bauch, platzierte seinen Fund zwischen den Pfoten und legte besitzergreifend den Kopf darauf.

Genau wie er es vorausgesehen hatte, war sein Herrchen nicht bereit, ihm seine rechtmäßig erworbene Beute zu lassen.

»Pfui! Aus!«, kommandierte Peter, als er die knochenartige Konsistenz der Beute erkannte.

Der Hund reagierte nur widerwillig auf den Versuch seines Herrchens, ihn von seiner Neuerwerbung zu trennen, stand schließlich aber doch auf und gab seine Beute frei.

Peter bückte sich und hob den weißbraun gesprenkelten Gegenstand vorsichtig hoch. Er drehte ihn stirnrunzelnd in der Hand und schaute plötzlich in braune, erdgefüllte Augenhöhlen.

Vor Schreck schrie er laut auf, ließ den Schädel fallen und wich entsetzt zurück.

Was hatte sein Hund da aus dem Feld ausgegraben?

Trotz seines Grausens konnte er den Blick nicht von dem Totenkopf abwenden. Während er sich die Hände an den Hosenbeinen sauberzureiben versuchte, grinste ihn der Schädel mit bleckenden Zähnen höhnisch an.

Er bestand zwar nur aus bleichen, dreckverschmierten Knochen, aber Peter hatte im Nachhinein das Gefühl, in rohes, faulendes Fleisch gegriffen zu haben.

Der Schädel schien mit Leben erfüllt zu sein. Die dunklen Augenhöhlen starrten ihn lauernd an, als könnten sie ihn wirklich sehen.

Peter schüttelte sich, wandte seinen Blick ab und schaute sich um.

Die offene Landschaft und das strahlende Licht der Morgensonne halfen ihm, den unerklärlichen Panikanfall loszuwerden.

Als seine Gedanken sich beruhigt hatten, meldete sich seine Neugier, und er ging in die Hocke, um sich den Schädel genauer anzusehen.

»Das ist ja wohl ein seltsamer Zufall«, murmelte er angesichts der Tatsache, dass dies der zweite Fund dieser Art innerhalb einer Woche war.

Seine Hände griffen nach dem Schädel, als der Hund plötzlich aufjaulte.

Irritiert schaute sich Peter nach ihm um.

Balu schlich wie ein geprügeltes Tier über den Boden. Den Schwanz eingeklemmt und die Ohren zurückgelegt, jammerte und jaulte er zum Herzerweichen. Er machte den Eindruck, als sei er in größter Panik.

Dann ließ er sich zu Boden fallen und hechelte mit weit herausgestreckter Zunge so heftig, dass sein ganzer Körper erbebte. Plötzlich verdrehte er die Augen, und sein Kopf kippte kraftlos zur Seite weg.

Mit einem Satz war Peter bei ihm.

Als er das Fell des Hundes berührte, meinte er in Eis zu fassen. Erschrocken zog er seine Hand zurück. Da kam das Tier wieder zu sich. Jaulend und winselnd kroch es auf ihn zu und rollte sich zu seinen Füßen zusammen.

Peter kraulte ihm beruhigend das Fell, das sich nun wieder ganz normal anfühlte und sah zu dem Totenschädel hin.

Etwas von der Angst des Hundes sprang auf ihn über. Seine mühsam zurückgewonnene Ruhe war dahin. Allein schon die Vorstellung, den grinsenden Totenkopf ein zweites Mal zu berühren, ließ ihn erschauern.

»Da soll sich jemand anderes drum kümmern«, sagte er leise und kramte in seinen Jackentaschen, bis er sein Handy gefunden hatte.

Er wählte die Rufnummer der Polizeidienststelle in Euskirchen und gab die genaue Lage des Fundorts durch.

In der guten halben Stunde, die es dauerte, bis die Beamten auftauchten, fragte er sich, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, den Fund von Mittwochmorgen ebenfalls zu melden. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Sicher hatten die beiden Entdeckungen nichts miteinander zu tun …

Erst gegen Nachmittag waren die Arbeiten am Fundort abgeschlossen. Neben dem Schädel fand sich das vollständig erhaltene Skelett einer jungen Frau. Es lag ganz in der Nähe, nur von einer dünnen Erdschicht bedeckt. Die Fachleute der Kripo stellten fest, dass es sich um sehr alte Gebeine handelte. Zu alt, um ein Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts einleiten zu müssen.

Daher verständigten sie die Spezialisten des Rheinischen Amts für Bodendenkmalpflege, die nach ihrer Ankunft die Spurensicherung und Bergung übernahmen.

Die Datierung, einige Zeit später mit den modernen Mitteln vorgenommen, die sich Peter für die Altersbestimmung des Skelettes gewünscht hatte, ergab ein Alter von gut dreihundertfünfzig Jahren.

Ungeklärt blieben nur die Fragen, warum es so nahe an der Oberfläche lag und wie es über die Jahrhunderte vollständig erhalten geblieben war.

Am späten Abend, die Bergungsarbeiten waren nun abgeschlossen und die Beamten des Rheinischen Amts hatten sich mit dem Eigentümer des Ackers auf eine Übereignung des Fundes an das Rheinische Landesmuseum Bonn einigen können, war in der einbrechenden Dämmerung ein eigenartiges Leuchten auszumachen.

Es kam von einem glattgeschliffenen, wie geschmolzen wirkenden schwarzen Stein. Trotz seiner dunklen Oberfläche strahlte er ein kaltes, blaues Leuchten aus. Hätte ihn einer der Fachleute entdeckt, die zum Ärger des Landwirts, dem das Feld gehörte, den Boden zertrampelt hatten, wäre er ihm wohl kaum aufgefallen.

Erst jetzt, in der Dunkelheit, entfaltete er seine eigenartige Schönheit.

Ein Fuchs, der vorbeischnürte, hielt abrupt inne, änderte seine Richtung und lief auf das Leuchten zu. Vorsichtig schnupperte er an dem seltsamen Ding und fragte sich, ob es wohl essbar war.

Da drang etwas Unsichtbares aus dem leuchtenden Stein in ihn, der Fuchs heulte kurz auf, zog den Schwanz ein und rannte jaulend davon.

Peter suchte noch bis spät in die Nacht hinein im Internet nach Hinweisen auf eine aufsehenerregende oder erschreckende Missgestalt in Marmagen oder in einem der benachbarten Orte. Erst als der Bildschirm vor seinen Augen zu verschwimmen begann, entschloss er sich endlich, zu Bett zu gehen. Gefunden hatte er nichts.

Nur widerwillig schaltete er den PC ab. Der Gedanke, sich der Dunkelheit und der einsamen Stille seines Schlafzimmers zu überlassen, ließ ihn frösteln.

Eigentlich war er es gewohnt, alleine zu schlafen. Seine Frau hatte ihn vor drei Jahren verlassen, die Scheidung war ein gutes Jahr später vollzogen worden. Sie hatten sich mehr oder weniger im Guten getrennt, jedenfalls ohne schmutzige Wäsche zu waschen.

Dennoch wurde ihm in Nächten wie dieser schmerzlich bewusst, dass er einsam war.

Aber da war auch etwas anderes. Etwas, auf das er erst stieß, als er sich dabei erwischte, wie er jeden Raum, einschließlich seiner Praxis, die sich unterhalb seiner Wohnräume im Erdgeschoss befand, wiederholt auf Einbruchspuren untersuchte.

Er spürte eine unerklärliche Gewissheit, nicht mehr allein in seinem Haus zu sein. Eine Angst bemächtigte sich seiner, wie er sie noch nie erlebt hatte, bis er entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten den Hund ins Schlafzimmer holte.

Erst als das Tier dem Raum mit seinem Schnaufen und gelegentlichen leisen Scharren die erdrückende Stille nahm, konnte Peter endlich einschlafen.

3. Der erste Vorfall

Der Garten war so lang, dass er trotz seiner Breite von zwanzig Metern schmal wirkte. Von dem winzigen, penibel gejäteten Beetstreifen abgesehen, der die Terrasse abschloss, bestand er aus tadellos gemähtem Rasen. Begrenzt wurde er von einer exakten Reihe immergrüner Koniferen, die beiderseits aufgereiht am Ende auf einen Abschluss aus Edeltannen stießen.

Reiner Weiler, der Hausherr, war in gewisser Weise das Ebenbild seines Gartens. Sonnenstudiogebräunt, mit einem akkuraten Kurzhaarschnitt, wirkte er trotz der Tattoos auf seinen überdimensionierten Bizeps irgendwie klinisch. Selbst mit Stoppelbart und speckiger Baseballkappe sah er stets wie aus dem Ei gepellt aus. Nur seine Proportionen standen im krassen Widerspruch zu seinem Grundstück. Er war klein und gedrungen. Allerdings beruhte seine kräftige Statur auf stahlharten Muskelpaketen, auf die er besonders stolz war. Und die er gerne einzusetzen pflegte.

Im Moment starrte er missmutig auf einen Baumstumpf, der das korrekte Bild seines Gartens störte, und schimpfte grollend vor sich hin.

Der zugehörige Baum war bereits sauber zersägt und aufgestapelt worden. Dabei war die Schnittstelle noch nicht einmal trocken, die weitverzweigten Wurzeln pumpten immer noch Grundwasser nach oben.

Es war nicht der Baum, den er verfluchte, sondern sein Nachbar, der ihn bei der Gemeinde angezeigt hatte.

Er hatte sich schon lange über den Obstbaum geärgert. Seine dürren Äpfel waren ungenießbar, und seine Blätter, ständig von Parasiten befallen, wurden weit vor ihrer Zeit welk und unansehnlich. Ein Schandmal, das seinen schönen Garten verunstaltete. Also hatte er ihn vor zwei Tagen kurzerhand gefällt. Leider hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn sein Nachbar sofort verpfeifen würde.

Einen Tag später tauchte ein Vertreter der Gemeindeverwaltung bei ihm auf und hielt ihm einen Bußgeldbescheid vor die Nase.

So unvorstellbar ihm das auch vorkam, aber die Tatsache, dass er seinen eigenen Baum gefällt hatte, sollte ihn jetzt eine ganze Stange Geld kosten.

In seinem Bauch brodelte es vor Wut. Um sich abzureagieren, hatte er sich heute zunächst auf die Gartenarbeit gestürzt: den Baum zersägt, den Rasen gemäht, die Koniferen zurechtgestutzt.

Aber das hatte nicht gereicht, den tosenden Sturm der Entrüstung in seinen Eingeweiden zu befriedigen.

Schließlich hatte er seinen Sportbogen und eine Zielscheibe aus gepresstem Stroh ausgepackt.

Statt der schwarzweißen Ringe prangte darauf ein lächelndes Gesicht. Er hatte ein Foto seines Nachbarn eingescannt und vergrößert ausgedruckt.

Reiner kannte sich und seine Wutausbrüche sehr genau, sie hatten dem Choleriker so manche Klage wegen Körperverletzung eingebracht.

Heutzutage gab es doch nur noch Memmen, die zwar alle das Maul bis zum Anschlag aufreißen konnten, aber wenn es darauf ankam, liefen sie greinend zur Polizei und zeigten ihn an.

»Verdammte Schwächlinge!«, grollte er, zog die Sehne des Bogens durch und schickte einen weiteren Pfeil in das Gesicht seines Nachbarn. Ein befriedigtes Lachen klang aus seiner Kehle, als der Pfeil das rechte Auge durchschlug.

Plötzlich sah er, wie etwas Kleines, Graubraunes über seinen Rasen huschte.

Eine Ratte!

Eine verdammte Kanalratte! In seinem Garten!

In einer fließenden Bewegung legte er den nächsten Pfeil auf und richtete den Bogen auf das Tier.

Die Ratte schien es ihm leicht machen zu wollen. Unvermittelt blieb sie stehen, stemmte sich hoch und nahm mit zitternder Schnauze Witterung auf.

Ihre Blicke begegneten sich.

Etwas Abschätzendes, Kaltschnäuziges lag in den dunklen Knopfaugen und in der Art, wie die Ratte ihn anstarrte. Als wäre er das potenzielle Opfer und nicht das viel kleinere Tier.

Reiner hielt kurz den Atem an, spannte die Muskeln und machte sich steif. Leise ausatmend zog er den Bogen noch etwas straffer und visierte die Ratte genau an.

Der Nager schien die Gefahr, die von der Waffe ausging, nicht zu ahnen.

Sein Blick fixierte Reiner, aber er bewegte sich nicht von der Stelle.

»Los! Schieß schon!«, feuerte Reiner sich selber an, aber dieses Vieh schien ihn verhext zu haben. Seine Finger waren erstarrt, weigerten sich, seinen Befehlen zu gehorchen und hielten die Sehne fest im Griff.

Da kam plötzlich Leben in die Ratte. Sie stieß einen schrillen Pfiff aus und rannte auf ihn zu.

Der unerwartete Angriff löste Reiner aus seiner Starre. Er reagierte blitzschnell, der Pfeil sirrte von der Sehne und traf das Tier mitten im Lauf.

Die Ratte wurde durchbohrt und regelrecht im Boden festgenagelt. »Scheiße! Was war denn das!«, machte Reiner seinem Schrecken Luft und näherte sich vorsichtig dem erlegten Tier. Staunend blieb er davor stehen und schüttelte ungläubig den Kopf. Er war zwar ein geübter Schütze, aber einen solchen Treffer, ohne Zeit zu zielen und auf ein so kleines, bewegliches Ziel, hätte er sich niemals zugetraut.

Der neonfarbene Fiberglaspfeil ragte wie ein anklagendes Ausrufezeichen aus dem schmutzigbraunen Fell der Ratte empor. Ein dünnes Blutrinnsal trat seitlich aus der Wunde heraus und tröpfelte dunkelrot zu Boden.

Wie es da lag, im Todesschmerz zusammengekrümmt, mit seinen kleinen Pfoten und dem dichten braunen Fell, sah das Tier harmlos, ja geradezu putzig aus.

Reiner schaute sich nach allen Seiten um. Wenn das dieser bescheuerte Nachbar gesehen hatte, konnte er mit der nächsten Klage rechnen. Wegen Tierquälerei oder so.

»Du blödes Vieh! Hättest besser daran getan, abzuhauen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und setzte seinen Fuß auf den schlaffen Körper, um den Pfeil herauszuziehen.

Die Spitze bestand aus einem glatten Metalldorn, und doch spürte er deutlichen Widerstand, als er an dem Pfeil zog.

Fluchend zog er noch fester. Endlich bewegte er sich. Gleichzeitig verbreitete sich das Rinnsal, das aus der Wunde drang, zu einem roten Schwall und vermischte sich mit der Erde, die an der Spitze des Pfeils haftete.

Er wunderte sich gerade, dass soviel Blut aus einem solch kleinen Körper austreten konnte, als sich die Ratte unter seinem Fuß bewegte. Sie war wohl doch nicht so tot, wie er gedacht hatte.

Ein lauter hoher Schrei schnitt regelrecht durch die Luft. Der Ton war so durchdringend und hoch, dass Reiner spürte, wie seine Schädeldecke vibrierte.

In seinem Schrecken verringerte er den Druck. Das Tier wand sich sofort heraus, sprang auf und verbiss sich in seine Fesseln. Lediglich der Umstand, dass er robuste Springerstiefel trug, schützte ihn vor Verletzungen.

Entsetzt zuckte Reiner zusammen, hob den Fuß hoch und trat mit aller Kraft auf die Ratte ein. Immer und immer wieder trat er zu und verwandelte das Tier in ein blutiges, schmutziges Bündel. Keuchend hielt er irgendwann inne, ging in die Hocke und betrachtete angewidert den matschigen Klumpen im Gras.

»Euch müsste man alle vergiften!«, stieß er hervor. »Vergiften und ausrotten, mit Stumpf und Stiel. Verdammtes Rattenpack!«

Die Hand, die immer noch den Pfeil festhielt, zuckte in dem Bedürfnis, die Spitze in die Überreste des Tieres zu stoßen. Nur mit Mühe unterdrückte er den unheimlichen Trieb und zwang sich zur Ruhe.

Seine Gedanken und Gefühle nahmen langsam wieder normale Größenordnungen an, als er ein seltsames Rascheln, Schaben und Piepsen hinter seinem Rücken wahrnahm.

Ahnungslos drehte Reiner sich um und gewahrte eine graue, pelzige Masse, die mit unzähligen Krallen und Zähnen bewaffnet auf ihn zu wogte.

Kaltes Entsetzen jagte wie ein Stromschlag durch seinen Körper, packte sein Herz und drückte es so unbarmherzig zusammen, dass sein Schlag für einen Moment aussetzte.

Reiner hatte gerade noch Zeit, wie ein Ertrinkender nach Luft zu schnappen, da schwappte die Flut aus tausenden Ratten über ihn hinweg.

Ein Schrei stieg in seiner Kehle hoch, erstickte jedoch in stinkendem Fell, als ihm eine der Ratten in den Mund sprang.

Tausende Zähne schlugen überall Wunden in seinen Körper, rissen Haut und Fleisch heraus und verwandelten Reiners Welt in eine rotglühende Hölle aus rasendem Schmerz.

4. Der zweite Vorfall

Mit wiegenden Schritten, wie ein Matrose auf Landgang, stakste der Mann auf dem Gehsteig der Nettersheimer Straße in Marmagen in Richtung Ortsausgang. In jeder Hand trug er eine unförmige Tasche aus abgewetztem Kunstleder, dessen Farbe vielleicht einmal grau, möglicherweise aber auch ein stumpfes Braun gewesen sein mochte.

Seine Kleidung hatte ebenfalls einmal bessere Tage gesehen, abgenutzt und verschlissen hing sie an seinem Körper wie altes Sackleinen. Die Jeans verwaschen blau, der Pullover schmutzig beige und der Wollmantel von der gleichen undefinierbaren Farbe wie die beiden Taschen. Dicke, klobige Wanderschuhe mit verkrusteten Schlammspritzern rundeten das Bild ab.

Sein Haupt war gekrönt von einem lichten Kranz dünner Haare, in dessen Mitte unzählige Tröpfchen auf der kahlen Kopfhaut glänzten.

Hin und wieder hielt der Mann an, kramte ein zerknittertes Taschentuch aus den Tiefen seiner Manteltaschen und wischte sich den Schweiß von Kopf und Stirn.

Es war heiß heute, die Sonne, jetzt gegen Mittag hoch am Himmel, schien von einem wolkenlosen Firmament herab und heizte die Luft auf, dass sie über dem Teer der Straße flirrte. In der Ferne meinte man Pfützen auf dem Asphalt zu sehen.

Oskar, so hieß der Mann, war wie jeden Tag unterwegs durch die Dörfer der Eifel. Wohin er wollte und zu welchem Zweck, wusste niemand zu sagen. Genauso wenig wie darüber, was sich wirklich in den zwei mächtigen Taschen befand.

Demjenigen, der den Fehler beging, ihn danach zu fragen, setzte er in einem bellenden Monolog auseinander, dass sie Fernseher, Videogeräte und dergleichen mehr enthielten. Defekte Geräte, die er wieder instand setzen wollte.

Natürlich drückte er sich dabei nicht so umständlich aus.

»Die sin kapott, und ich machen se wia janz.«

Oskar war nach eigener Aussage ein Unikum, das sich mit technischem Verständnis und Geduld der heutigen Wegwerfgesellschaft entgegenstemmte und reparierte, was professionelle Techniker für nicht mehr lohnenswert hielten, weil die Reparatur weitaus teurer gewesen wäre als ein neues Gerät.

Wer Oskar sein gutes, wenn auch defektes Gerät anvertrauen mochte, war dahingestellt.

Anscheinend lief sein Nebenerwerb gut, denn er war ständig unterwegs.

Das mit dem Unterwegs-Sein stellte bei Oskar ebenfalls eine Eigenheit dar. Innerorts bewegte er sich zu Fuß, aber wenn er weiter weg wollte, machte er vom guten alten Trampen Gebrauch. Wieso sollte er sich einen fahrbaren Untersatz besorgen, wenn die anderen ihn mitnehmen konnten? Die waren ja sowieso dahin unterwegs, wo er hinwollte.

Jeden Tag sah man ihn irgendwo am Straßenrand stehen. Die Miene finster entschlossen, den dicken Daumen der klobigen Hand erhoben, wartete er geduldig, bis ein Autofahrer anhielt und ihn mitnahm.

Dem konnte es allerdings passieren, dass Oskar ihn im Befehlston aufforderte, den einen oder anderen Umweg zu machen. Seine Erscheinung, schwergewichtig und düster, ließ die meisten nachgeben, Hauptsache, sie wurden den unheimlichen Fahrgast schnell wieder los.

Wer Oskar kannte, wusste, dass er harmlos und weiß Gott nicht gewalttätig war. Er war halt nur etwas eigen. Aber wer war das nicht?

So fand Oskar immer jemanden, der ihn mitnahm. Zeit spielte für ihn keine Rolle. Im Gegensatz zu seinen Mitmenschen hatte er jede Menge davon.

Dennoch schien er heute ungeduldiger zu sein als sonst.

An seiner Abholstelle angekommen, am Ortsausgang in Richtung Nettersheim, gegenüber einem Wendeplatz, der auch als Bushaltestelle für die Grundschule diente, stellte er sich breitbeinig hin und reckte den vorbeieilenden Autofahrern seinen Daumen entgegen.

Nachdem der Dritte an ihm vorbeigefahren war, ballte er die Hand zur Faust und hob sie schimpfend in die Luft.

Der Nächste sollte ihm nicht so leicht davonkommen.

Dieser Nächste war ein VW Golf, tiefer gelegt und mit teurer Metallic-Lackierung. Sein Fahrer pflegte einen sportlichen Fahrstil, den er sich weder von der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbeschränkung von dreißig Stundenkilometern noch von den Straßenverengungen vor der Grundschule vermasseln lassen wollte. Im Gegenteil, erst die Schikanen machten das Fahren zum Vergnügen. Der Motor heulte kraftstrotzend auf und beschleunigte den Wagen auf sportliche Werte.