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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Somniferus«

»Hexennacht«

»Das Schattenbuch«

»Hinter der Maske«

»Janus«

Michael Siefener, geb. 1961 in Köln, studierte Rechtswissenschaft und promovierte 1991 über rechtliche Fragen der Hexenprozesse. Seit 1992 ist er freier Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet heute in Manderscheid/Eifel und Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem im Bereich der phantastischen Literatur. Seit einigen Jahren Mitarbeit an einer geplanten Geschichte der Zauberbücher unter Federführung von Prof. Dr. Marco Frenschkowski, Universität Leipzig.

Michael Siefener

Hexennacht

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
eISBN 978-3-95441-499-4

Zum Andenken an Andrea
und
für Silke

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Arved Winter kam sich wie ein Hochstapler vor, als er hinter dem großen Holzlenkrad des alten Bentley Platz nahm, die Tür zuzog, die mit einem sanften Geräusch ins Schloss fiel, und den Motor startete. Er fuhr rückwärts aus der Garage auf die enge, ruhige Palmatiusstraße, schob dann den Lenkradhebel der Getriebeautomatik vorsichtig auf D, tastete sich in die Thebäerstraße vor und bremste heftig, als ein kleiner Volkswagen, den er wegen der breiten Dachsäule seines Bentley nicht rechtzeitig gesehen hatte, hupend vor ihm vorbeibrummte. Winters Herz raste. Er strich sich das wirre blonde Haar aus dem Gesicht. Was für ein Tag. Zuerst der Brief – und jetzt das.

Mit Schrittgeschwindigkeit bog er in die Thebäerstraße ein. Vor ihm erhob sich St. Paulin mit seiner barocken Südfassade in Gelb und Weiß, die mit dem Grün der sie einrahmenden Ahornbäume und dem Blau des kalten Frühlingshimmels kontrastierte. Der riesige Bentley glitt an dem Märtyrerkreuz vor der Kirche vorbei und hin zur Paulinstraße. Arved Winter warf einen Blick in den Rückspiegel. Der hohe Turm mit den Voluten und Obelisken war wie ein Finger, der in den Himmel wies. Arved Winter schaute lieber wieder auf die Straße. Er schluckte; Tränen sammelten sich in seinen Augen.

Fünf Jahre war er Pastor an St. Paulin gewesen.

Vorbei.

Heute Morgen hatte er den bischöflichen Suspendierungsbescheid erhalten. Natürlich hatte Arved ihn erwartet, doch schwarz auf weiß lesen zu müssen, dass er ab nun kein Seelsorger mehr war, hatte ihn mehr geschmerzt, als er erwartet hatte.

Lange stand er an der Ampel vor der Paulinstraße. Als es endlich Grün wurde, fuhr er stadtauswärts, vorbei an dem großen alten Friedhof, dessen gusseiserne Engel seltsame Schatten über die Straße warfen, hin zum Verteilerkreis und von dort auf die Autobahn, weg aus Trier.

Er gab Gas. Der schwere Wagen beschleunigte erstaunlich schnell. Arved bemerkte, wie die Insassen der ihn überholenden Autos sein außergewöhnliches Gefährt anstarrten. Manche nickten anerkennend, manche schienen sich über ihn lustig zu machen. Es war ihm peinlich. So hatte er sich seine erste Ausfahrt nicht vorgestellt.

Doch der tief blaue Himmel, das frische, frühe Grün des erwachenden Jahres und auch der angenehme Geruch von altem, gepflegtem Leder und Holz halfen dabei, seine Stimmung wieder ein wenig zu heben.

Er fuhr auf die A1 ab, in Richtung Eifel. Heute war ihm danach, in Waldeinsamkeit und Bachesraunen mit sich allein zu sein.

Weg von dem schlimmen Brief, der sein endgültiges Scheitern dokumentierte, fort von diesem dunklen Haus, in das er erst vor wenigen Tagen umgezogen war, fort von den beiden schwarzen Katzen, die ihm bisweilen wie zwei kleine Dämonen erschienen.

Wenn er an Dämonen geglaubt hätte.

Das dreißig Jahre alte Coupé nahm mühelos die ersten Steigungen in Nähe der Mosel. Wittlich war schnell erreicht. Er fuhr von der Autobahn ab, denn die neugierigen Blicke waren ihm allmählich zu viel geworden. Arved folgte der Hauptstraße, ließ sich treiben, hatte die Stadt bald hinter sich gelassen und befand sich auf einer geraden, gut ausgebauten Landstraße, die mitten ins Nirgendwo zu führen schien. Bald verwandelte sie sich in eine Bergstraße, forderte ihn mit engen Serpentinen heraus, schlängelte sich in ein dunkles Tal, überraschte mit Farbspielen aus Grün und Blau und schwarzen Schattentupfern, bevor sie eine Hochfläche erklomm, von der aus der Blick weit in alle Richtungen ging.

Es herrschte kaum Verkehr. Arved fuhr langsam, auch um sich an den Wagen zu gewöhnen. Sein alter Escort war mit diesem herrschaftlichen Gefährt nicht zu vergleichen. Es war, als befinde er sich wieder in der Fahrschule.

Langsam lenkte Arved den Bentley durch Minderlittgen. Er sah, wie zwei Jugendliche einen Bauwagen hinter sich herzogen und ein alter Mann vor einem gedrungenen Haus eine schwere Kette um eine Teakholzbank legte. Zwei gebeugte Gestalten schleppten eine Baustellentoilette durch das Dorf. Jemand grub in einem Vorgarten. Und auf einem Scheunendach saß eine Gestalt, die wie eine Vogelscheuche wirkte.

Arved hatte den Ortsrand bald erreicht. Die Straße führte weiter über die Hochfläche. Einem BMW war er nicht schnell genug; der Wagen überholte ihn mit röhrendem Motor und war bald hinter der nächsten Kuppe verschwunden. Als Arved sie erreichte, stellte er mit klopfendem Herzen fest, dass es dahinter steil bergab ging. Er hoffte, die Bremsen des alten Bentley waren genauso gepflegt wie die übrige Technik.

Wo mochte die alte Lydia Vonnegut ihren Wagen in die Inspektion gegeben haben? Der Kilometerzähler zeigte nicht einmal vierzigtausend an; der Wagen war noch fast neu.

Hoffentlich.

Arved musste mehr Kraft auf das Bremsen verwenden, als er vermutet hatte. Als die scharfe Kurve vor dem Ortseingang immer näher kam und der Wagen nicht viel langsamer wurde, hätte er beinahe zu beten begonnen. Allmählich aber reagierte der Wagen und Arved fuhr mit nur wenig mehr als der erlaubten Höchstgeschwindigkeit in den Ort ein. Verblüfft bemerkte er, wie jemand vor einem gesichtslosen Neubau einen großen Blumenkübel anbohrte, als wolle er ihn mit der Mauer verschrauben und vor einem heraufziehenden Sturm schützen. Eine Frau in einem langen blauen Abendkleid und mit hohen Stöckelschuhen stand mit zwei Gießkannen und einem Rechen am Straßenrand und wartete, bis Arved vorbeigefahren war. Im Rückspiegel sah er, wie sie hinter ihm rasch die Straße überquerte und ein kleines Stallgebäude aufschloss. Dann war er um die nächste Kurve gebogen.

Als er das Hinweisschild zur Abtei Himmerod sah, folgte er ihm. Er verließ Großlittgen und tauchte in einen dunklen Wald ein, der ihm wie ein Vorzeichen erschien. Die Sonne sank allmählich und die Schatten der Bäume wurden länger. Arved betätigte den elektrischen Fensterheber und kühle Luft drang in das Wageninnere. Mit ihr kam gedämpfter Gesang von Vögeln. Und ein dumpfes Gefühl von Feuchtigkeit.

Wie in seinem neuen Haus.

Hinter der nächsten Anhöhe lag das Zisterzienserkloster. Arved bog von der Straße ab und fuhr durch das archaische Torgebäude, hinter dem sich rechts von der vor kurzem restaurierten Mühle ein kleiner Parkplatz befand. Erst als Arved den Motor abstellte, fragte er sich, was er eigentlich hier wolle. Er kannte diesen Ort gut, hatte hier unter der Leitung der Mönche Exerzitien mitgemacht, hatte Kurse besucht, hatte vor allem mit Pater Stephan lange Gespräche über den Glauben geführt und war jedes Mal gestärkt und zuversichtlich von hier abgereist. Er stieg aus und ging auf die Kirche zu.

Schon immer hatte ihn dieses Gotteshaus mit seinen vollkommenen Proportionen begeistert. Die Voluten in der stillen, eleganten Barockfassade erinnerten ihn an St. Paulin. An all das, was er verloren hatte. Er betrat die Kirche, die erst in den fünfziger Jahren nach dem alten Vorbild wieder aufgebaut worden war, nachdem das Kloster in der Franzosenzeit der Säkularisation zum Opfer gefallen und in den langen Jahren danach zur Ruine geworden war. Ein eisiger Hauch umfing ihn. Die Kirche lag in einer Senke und war berüchtigt für ihre Kälte. Im Sommer war es ein Segen, im Winter eine Qual.

Einer der Mönche schrubbte den Boden. Es war ein sehr junger Novize; Arved kannte ihn nicht. Er wollte ihn nicht ansprechen und setzte sich still in die hinterste Bank. Der Novize schaute zu ihm auf, wagte ein Lächeln, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schien aber verwirrt zu sein. Ohne das Lächeln abzusetzen, senkte er den Kopf wieder und arbeitete weiter. Wenn er mit dem Schrubber gegen eine der Bänke stieß, war ein lange hallendes Knirschen die Folge. Natürlich, dachte Arved. Ich trage einen schwarzen Anzug, aber an meinem Revers steckt kein kleines Kreuz mehr. Er hat geglaubt, ich sei ein Priester. Ich bin noch immer Priester. Ich bin nicht laisiert.

Ob er um ein Gespräch bitten sollte? Ob er Pater Stephan aufsuchen sollte, der immer ein offenes Ohr für die Nöte der anderen hatte? Doch was brachte es jetzt noch? Die Würfel waren gefallen und er selbst hatte sie geworfen. Er schaute nach vorn, zu der wunderschönen, riesigen Madonna auf der Mondsichel, die in der Apsis thronte und den ganzen Kirchenraum mit ihrem Glanz zu überstrahlen schien. Hier herrschte Friede. Ein Friede, der ihm abhanden gekommen war. Seine Gedanken schweiften ab. Er wunderte sich noch einmal über die seltsamen Aktivitäten in den beiden Dörfern, die er auf dem Weg hierher durchquert hatte. Es hatte den Anschein gehabt, als bereiteten sich die Leute auf etwas vor – als führten sie ein Leben, das ihm völlig unverständlich war und an dem er niemals Anteil haben würde. Aber – was wusste er schon vom Leben? Er, der Verhätschelte und Verwöhnte, der Beschützte und Lebensfremde? Ja, er hatte während seiner Zeit als Pastor in Sankt Paulin vieles gesehen, was er sich nie hätte vorstellen können: schreckliche Krankheiten, Grausamkeiten, Schicksale, die seine Phantasie überstiegen hatten. Doch all das hatte nicht in sein eigenes Leben eingegriffen. Er hatte in seiner behaglichen Pastorenwohnung in dem palastähnlichen Pfarrhaus hinter einer hohen Mauer gewohnt, die ihm immer wie ein Sinnbild seines Lebens erschienen war. Und nun lebte er nur vier Häuser weiter, in derselben Straße, in einem eigenen, dunklen, kalten, ihm unheimlichen Haus. Ob die Katzen sich an ihn gewöhnen würden? Er hoffte es. Denn ohne sie läge er auf der Straße.

Er stand auf und ging an dem Novizen vorbei, der ihm freundlich zunickte und ihn ziemlich genau anschaute. Er schien immer noch irritiert zu sein. Riecht man es, ist es so etwas wie Stallgeruch?, dachte Arved und musste unwillkürlich lächeln. Der Novize erwiderte sein Lächeln.

Allmählich setzte draußen die Dämmerung ein. Sachte Schatten liebkosten den Steinboden und die Holzbänke. Arved blieb vor der Chorschranke stehen. Das Gestühl der Mönche mit den alten, großen Antiphonarien wirkte wie aus der Zeit herausgefallen. Auch das Gestühl stammte aus den fünfziger Jahren, doch es war nach alten Vorbildern getischlert. Schatten sammelten sich zwischen den Bänken, Schatten klebten an dem großen Kreuz über dem schlichten Altar. Arved war es, als fielen sie wie Spinnweben herab.

Die Madonna in der Apsis schien den Kopf zu drehen.

Arved blinzelte erschrocken. Was war nur mit ihm los? Zuerst die seltsamen Aktivitäten in den Dörfern und nun diese lebendig gewordene Madonna. Er schüttelte den Kopf und musste lächeln. Nie hätte er geglaubt, dass ihm seine Suspendierung so nahe gehen könne.

Dabei hatte er sie bewusst herbeigeführt. Oder zumindest billigend in Kauf genommen. Seine Tat hatte nichts anderes nach sich ziehen können. Doch gleichzeitig hatte sie dafür gesorgt, dass er ein großes Haus erhalten hatte. Ein dunkles, unheimliches, schattenverklebtes Haus.

Und einen großen Wagen. Einen Wagen, in dem er angestarrt und entweder belächelt oder ausgelacht wurde.

Und zwei schwarze Katzen. Er mochte keine Katzen.

Und ein riesiges Vermögen. Das an die Pflege der Katzen gebunden war.

Er sah die Madonna an, die nun wieder ihre alte Position eingenommen hatte. Als er bemerkte, dass die Mönche zur Vesper in den Chorraum zogen, ging er zurück in eine der Bänke, setzte sich und lauschte ihren Gesängen, die immer so beruhigend auf ihn gewirkt hatten. Dabei ließ er die Gedanken schweifen, während die Schatten immer dichter wurden. Er hatte ein behütetes Leben aufgegeben, hatte sich zunächst Armut und Elend ausgesetzt, nur um kurze Zeit später auf wundersame Weise aufgefangen zu werden. Fast glaubte er, darin das Walten einer Vorsehung zu erkennen. Er musste wieder lächeln und schüttelte ganz leicht den Kopf.

Wann hatte es begonnen? Nicht damals, als er ins Priesterseminar eingetreten war. Auch nicht bei seiner Weihe und beim Antritt seiner ersten Kaplanstelle in Koblenz. Und erst recht nicht, als er die Pfarre Sankt Paulin in Trier angeboten bekam. Er war begeistert gewesen, denn Sankt Paulin war eine der ältesten Pfarreien in Deutschland. Schon gegen Ende des vierten Jahrhunderts war hier eine Basilika bezeugt und der Boden war mit dem Märtyrerblut der thebäischen Legion getränkt. Nein, er konnte keinen konkreten Zeitpunkt bestimmen. Vielleicht war es Lydia Vonnegut gewesen, vielleicht hatte sie ihm ihr Gift eingeträufelt – oder ihm die Augen geöffnet. Er wusste es immer noch nicht.

Er bemerkte nicht, dass die Mönche ihre Vesper schon beendet hatten und durch das Querschiff auszogen. Er saß da, mit einem gefrorenen Lächeln auf den Lippen, und schwamm durch die Vergangenheit.

2. Kapitel

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Sonntagspredigt«, hatte Lydia Vonnegut gesagt, als Arved Winter am nächsten Tag, seinem freien Tag, neben ihrem Bett saß.

Er kam nicht gern in das alte Haus in der Palmatiusstraße 8, doch er sah es als seine Pflicht an, dieser sterbenden Frau beizustehen.

»Sie waren in der Kirche?«, fragte Arved erstaunt und verlagerte ein wenig das Gewicht auf dem knarrenden Holzstuhl. Ich muss abnehmen, dachte er, als sei dies das Wichtigste in seinem Leben. Dabei gab es doch nun etwas ganz anderes – etwas, das ihm das Genick brechen konnte.

»Nein, aber Else hat es mir berichtet. Sie wissen ja, wie dieses dumme Ding jede Woche in die Messe rennt, damit sie die Sünden abbüßt, die sie mir gegenüber begeht.«

Lydia Vonnegut sah ihn mit ihren verschiedenfarbigen Augen scharf an, richtete sich auf und beugte den Oberkörper Arved entgegen. Er roch den Gestank des Todes und ekelte sich davor.

»Sie bestiehlt mich, wo sie nur kann. Das ist der einzige Grund, warum sie bei mir bleibt.« Sie lachte meckernd. »Manchmal höre ich es klappern, wenn sie geht. Am Klang kann ich erkennen, ob sie etwa eine der chinesischen Vasen oder einen Silberleuchter mitgenommen hat. Aber es ist mir egal.« Sie verzog den faltigen Mund zu einem Grinsen. Zu einem Totengrinsen.

»Soll ich die Polizei einschalten?«, fragte Arved unschlüssig. Er hatte keine Ahnung, ob Lydia Vonnegut phantasierte oder ob Else, die ältliche Magd, tatsächlich ihre karge Rente und ihr noch kargeres Gehalt bei der Sterbenden durch eine gelegentliche Langfingerei aufbesserte.

»Nein, nein, soll sie doch ihren Spaß haben. Wenn sie mir jeden Tag eine Kleinigkeit stiehlt, wird sie mich in tausend Jahren arm gemacht haben.« Sie legte sich zurück und lachte überraschend laut und kräftig. »Nun aber zu Ihrer Predigt«, sagte sie, als sie wieder stiller geworden war. »Die alte Else war ganz entsetzt.«

Er hasste den Blick ihrer Augen – eines grün, das andere gelblich. Nicht nur Else war entsetzt, wollte Arved sagen, doch er schwieg und schaute sich in dem dunklen Zimmer um. Es ging auf die Thebäerstraße hinaus; manchmal hörte man gedämpften Verkehrslärm durch die vorgelegten Fensterläden, doch das lauteste Geräusch in dem Raum war die große Standuhr gegenüber dem Bett. Sie schlug jede Viertelstunde. Da sich außer ihr und dem Bett sowie dem Stuhl, auf dem Arved saß, kein weiteres Möbelstück in dem Raum befand, hallte jeder Schlag unangenehm laut. Weiterhin war das Huschen und Schleichen der beiden schwarzen Katzen zu hören; ihre Krallen verursachten klickende Geräusche auf dem alten, glatten Parkett.

»Hat Sie etwa der Teufel geritten?«, fragte die alte Vonnegut in scheußlich neckischem Tonfall. »Haben Sie wirklich von der Kanzel herab verkündet, dass es keinen Gott gibt und all die dummen Kirchenschafe ihre Gebete ins Nichts schicken?«

»Nicht ganz«, beeilte sich Arved zu sagen und nestelte an seinem engen Priesterkragen herum. »Ich habe meinen Zweifeln Ausdruck verliehen, das stimmt. Aber ich habe die Kirchgänger nicht beleidigt.« Er erinnerte sich deutlich an seine Predigt – und an das steinerne Schweigen, als er danach das Glaubensbekenntnis sprechen wollte und es nicht mehr konnte. Er hatte die Kirche verlassen. »Vielleicht waren es die vielen Gespräche mit Ihnen, Frau Vonnegut, die meine Zweifel genährt haben.«

Sie lachte böse. »Das würde mir sehr gefallen. Ich mag es, den Leuten ihre Illusionen und ihre Sicherheit zu rauben. Warum soll es Ihnen besser gehen als mir?« Plötzlich griff sie sich mit der krallenartigen Hand an die Seite. Ihr Gesicht war ein einziger Ausdruck des Schmerzes. Eine der beiden Katzen sprang ihr auf den Bauch und kuschelte sich an sie, als wolle sie ihre Herrin trösten. »Sehen Sie, das ist wahre Liebe«, sagte sie und streichelte über das glänzende Fell der Katze, die daraufhin zufrieden schnurrte. »Du, meine kleine Lilith, würdest mich nie im Stich lassen, nicht wahr? Du bist anders als dieser Gott, den immer mehr Menschen als eine Lachnummer entlarven. Machen Sie etwas aus dem Leben, Arved Winter. Wenn Sie schon keine Seele haben, können Sie alles ohne Reue tun: Essen, trinken, huren. Sie sind nichts anderes als ein Fleischklumpen, der nach dem Tod wieder zu Dreck wird. Schade zwar, aber unausweichlich. Wer etwas anderes glaubt, ist nur dumm.«

Ihre Worte taten Arved weh, doch am meisten schmerzte ihn, dass er seinen Gott verloren hatte. Was war Gott anderes als eine Projektion des Menschen, die er sich zur eigenen Beruhigung geschaffen hatte?

»Es freut mich, dass unsere langen Gespräche eine solch wunderbare Frucht getragen haben«, sagte Lydia Vonnegut, als sie sich von dem Schmerzanfall erholt hatte. »Nun ist aus Ihnen ein vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden.«

»Ich habe meinen Himmel verloren«, flüsterte Arved.

»Aber Sie haben sich selbst gefunden, auch wenn das wohl ziemlich desillusionierend war.«

Wieder dieses keckernde Lachen. Wenn es einen Teufel gäbe, würde er so lachen, dachte Arved. Er wollte nach draußen, in den kalten Vorfrühlingstag. Er hasste dieses totenstille, kalte Haus mit den schleichenden Katzen, hasste die vorgelegten Fensterläden, das wispernde Efeu vor den Scheiben, die dichten, unnatürlich schwarz erscheinenden Schatten im ganzen Haus, das bisweilen knackte und knisterte, als läge es ebenfalls im Sterben. Die spärliche Beleuchtung legte Risse in den alten Wänden frei und der Stuck bröckelte von der Decke. Die ehemals hochherrschaftlichen Räume waren nur ein Schatten ihrer selbst, doch es würde nicht viel Mühe kosten, ihnen ihren früheren Glanz wiederzugeben. Und was war mit ihm selbst? Auch die Räume seines Innersten, die einmal in der Gegenwart Gottes geglänzt hatten, waren baufällig, waren verwüstet, waren verwaist. Dunkelheit herrschte darin.

Nach der abgebrochenen Messe waren aufgebrachte Gemeindemitglieder auf ihn zugestürmt und hatten ihn mit Fragen und Vorwürfen bedrängt, und einige besonders Fromme hatten ihn sogar beleidigt. Es würde nicht lange dauern, bis die Nachricht von seinem Verhalten ins bischöfliche Palais drang. Man würde ihn zum Gespräch laden. Bis dahin wollte er keine Messe mehr feiern; das konnte Franz Bomberg, der junge, aufstrebende Kaplan tun, der ihn sowieso nicht leiden mochte. In ihm war alles leer.

So leer wie dieses Haus. Und so dunkel. Wenn er sich gefunden hatte, wenn es wirklich so dunkel in ihm war, dann gab es für ihn keinen Grund mehr weiterzuleben.

»Aber natürlich werden Sie weiterleben. Sie werden noch vielen Menschen Gutes tun«, sagte die alte Vonnegut, als habe sie seine Gedanken gelesen.

Erstaunt schaute er sie an.

»Manche meiner lieben Mitmenschen glauben, ich bin eine Hexe«, sagte sie. Es klang gepresst. Sie schien schwer gegen die Schmerzen anzukämpfen. »Manche sagen, ich kann Gedanken lesen. Und manche glauben, ich stehe mit dem Bösen im Bunde. Das ist schon seit der Schulzeit so. Meine Augen sind mir zum Verhängnis geworden – immer wieder. Was liegt da näher, als irgendwann einfach dem Bild zu entsprechen, das sich die anderen von einem machen? Also bin ich zur Hexe geworden. Für die Welt und für mich.« Sie stieß einen Seufzer aus. Die zweite Katze sprang ihr auf den Bauch. Die alte Frau zuckte zusammen. »Das siehst du ebenfalls so, Salomé, oder?«

Wie konnte sie die Tiere auseinander halten? Arved sah nur schwarze Fellbündel und grüne Augen; die eine Katze war das Spiegelbild der anderen.

»Nein, nein, sie sind ganz unterschiedlich«, sagte die alte Frau und streichelte die beiden Tiere. »Außerdem hat Lilith ein paar ganz feine silberne Härchen am Hals. Man muss schon genau hinsehen. Was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht. Man wird mich zu einem Gespräch bestellen.«

»Zu einem Verhör.«

»Man wird mir nahe legen, mich in psychiatrische oder psychologische Behandlung zu begeben. Und wenn auch das nichts nützt …«

»Wird es etwas nützen?«

»Ich weiß es nicht.«

Lydia Vonnegut bäumte sich auf. Die beiden Katzen sprangen fast lautlos von ihr herunter. »Es wird nichts nützen! Sie sind verloren!« Mit einem tiefen Seufzer fiel sie zurück auf die Laken. Sie regte sich nicht mehr.

Arved sprang auf und beugte sich zu ihr herunter. Verängstigt legte er das Ohr an ihren Brustkorb. Bisher war es ihm gelungen, noch nie einen Menschen sterben zu sehen. Ihr Herz schlug noch. Nun atmete sie auch wieder. Eigentlich tat sie Arved Leid. Sie hatte aufgrund ihrer körperlichen Besonderheit viel zu leiden gehabt und war immer eine Außenseiterin gewesen. Doch gleichzeitig spielte sie diese Rolle sehr gern; sie ging darin auf und war zum Zerrbild ihrer selbst geworden.

Die beiden Katzen waren auf das Fußende des ausladenden Empire-Bettes gesprungen und saßen dort wie zwei Ebenholzstatuen. Wie Seelenwächter. Oder wie Seelenfänger.

Arved warf ihnen einen bösen Blick zu, doch sie rührten sich nicht. Sie schienen ihn genau zu beobachten. Nun war Lydia Vonnegut eingeschlummert; sie atmete tief und regelmäßig. Seit Tagen hatte sie vor Schmerzen nicht mehr geschlafen; Arved war dankbar dafür, dass sie nun endlich ein wenig Ruhe fand. Er wagte nicht, sie zu verlassen, denn er wollte nicht, dass sie wieder allein war, wenn sie erwachte. Er sah es als seine seelsorgerische Pflicht an, diese alte, verhärmte, vergrämte, einsame, böse gewordene Frau in den Tod zu begleiten – in einen Tod, der ihr nicht einmal ein ewiges Leben versprach.

Oder sollte er einfach gehen und nie wiederkommen? Sich öffentlich für seine Predigt und die abgebrochene Messe entschuldigen, eine Therapie machen, vielleicht im Recreatio-Haus der Benediktiner von Münsterschwarzach, und danach wieder wie gewohnt seinen Dienst versehen?

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Entsetzen.

Else, Lydia Vonneguts Haushälterin, hatte Arved vor einem Jahr gebeten, sich um ihre Arbeitgeberin zu kümmern, auch wenn sie mit der Kirche nichts am Hut habe. Else hatte sich davon eine gewisse Entlastung versprochen, und Arved hatte gehofft, Lydia Vonnegut vielleicht sogar für die Kirche zu gewinnen. Aber es war anders gekommen. Schon damals war die alte Dame, eine steinreiche Witwe, deren vor zehn Jahren gestorbener Gatte ein erfolgreicher Bauunternehmer gewesen war, sterbenskrank gewesen. Als sie die Diagnose Krebs erhielt – Bauchspeicheldrüsenkrebs –, fand sie sich rasch damit ab und verweigerte jede Art von Behandlung: keine Strahlentherapie, keine Chemotherapie, nichts. Sie sagte, sie wolle in Würde sterben. Arved hatte diese Entscheidung sehr beeindruckt, doch als er sein christliches Rüstzeug auspacken wollte, lachte sie ihm nur ins Gesicht und machte ihm unmissverständlich klar, dass sie Atheistin sei. Er fragte sich kurz, ob er in diesem Fall überhaupt etwas für sie tun könne. Sie schien seine Gedanken erraten zu haben und bat ihn inständig zu bleiben. Sie habe niemanden, mit dem sie sich unterhalten könne, und es verlange sie so sehr nach menschlicher Gesellschaft – auch wenn es sich nur um einen Priester handele. Arved hätte weglaufen sollen, doch er war geblieben. Ein ganzes Jahr schon kam er montags und donnerstags zu ihr und diskutierte mit ihr – über Gott und den Glauben.

Manchmal glaubte er, sie sei eine Teufelin – eine Prüfung, die Gott ihm geschickt hatte. Er hatte sie nicht bestanden; das wusste er seit gestern.

Und manchmal glaubte er, dass sie ihn noch überleben würde. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie unter starken Schmerzen litt – sie hatte sich geweigert, Morphium zu nehmen, weil sie den Übergang ins Nichtsein bewusst vollziehen wollte.

Arved ging in dem abgedunkelten Zimmer auf und ab. Die beiden Katzen auf dem Fußende des Bettes beobachteten jede seiner Bewegungen. Offenbar schneite es draußen wieder; ein weißer Schein drang zwischen den Lamellen der Schlagläden in das karge Schlafzimmer. Wie sehr wünschte sich Arved, jetzt dort draußen zu sein und sich die Seele vom Schnee reinwaschen zu lassen. Er trat an eines der beiden hohen Fenster heran und versuchte, einen Blick nach draußen zu werfen.

»Sehnen Sie sich nach der strahlenden Sonne des schönen Tages draußen?«, hörte er die Stimme der alten Frau, die im Schlagen der Standuhr unterging. Als es die vierte Stunde geschlagen hatte, redete sie weiter: »Es gibt keinen Weg zurück. Wenn man erkannt hat, dass man keine Seele besitzt, kann einen alles Licht der Welt nicht mehr erhellen.«

Arved drehte sich zu ihr um. Die verfluchten Katzen und die alte Frau schauten ihn eindringlich an. Wie eine Hexe, dachte er. Noch vor dreihundert Jahren hätte man sie verbrannt – und ihre schwarzen Hilfsgeister dazu.

»Ja, ich bin eine Hexe«, kicherte die alte Frau. »Jeder in Trier hält mich für eine. Habe mich dem Bösen, der in Wirklichkeit der Gute ist, schon in meiner Jugend verschrieben. Mein Mann konnte ein Liedchen davon singen.« In ihrem schwefelgelben Auge funkelte es, während das grüne kalt und unbeteiligt blieb.

3. Kapitel

Feuer. Hexen. Verbrennen. Teufel.

»Die Nacht des Satans …«

Es war eine helle Stimme gewesen. Verdutzt schaute Arved hoch. Er hatte sich in Tagträumen über seine verhängnisvolle Predigt und über Lydia Vonnegut verloren, die sich selbst als Hexe bezeichnet hatte. Er saß immer noch in der Himmeroder Abteikirche. Inzwischen war es draußen schon ganz dunkel; die Innenbeleuchtung war eingeschaltet und vertrieb die Schatten. Arved schaute sich um. Ein Mönch ging das Mittelschiff in Richtung Westwerk hinunter. Hatte er diese Worte gesprochen? Es war der Novize. Arved sprang aus der Bank und stieß dabei gegen das Holz. Polternd hallte es in der großen, schlichten Kirche wider. Der Novize drehte sich um. Arved ging mit schnellen Schritten auf ihn zu.

»Was haben Sie da gesagt?«, fragte er und sah den jungen Mann verblüfft an.

»Ich habe gar nichts gesagt«, erwiderte der Novize und zog eine schwarze Augenbraue hoch. Auf seinem Gesicht lag die gleiche Freundlichkeit wie vorhin.

Arved schüttelte den Kopf, aber es gelang ihm nicht, die Bilder von Hexen und Scheiterhaufen zu vertreiben, die sich bei der Erinnerung an Lydia Vonnegut eingeschlichen hatten. »Verzeihen Sie, ich hatte geglaubt, Sie hätten ›Die Nacht des Satans‹ gesagt.«

Der Novize lachte kurz und herzlich auf. »Oh, ich fürchte, da sind mir meine gelegentlichen Selbstgespräche zum Verhängnis geworden. Ich hatte ›Wie macht man so was?‹ gebrummelt, weil ich noch nicht weiß, wie ich mit dem Staubwedel an die hohen Fensterbänke kommen soll. Morgen muss ich nämlich weiter fegen. Ein Gutes hat’s: So lerne ich meine Kirche besser kennen.« Er schaute hoch zu den Fenstern, die nichts als schwarze Löcher vor dem erhellten Innenraum waren. »Aber es ist nur allzu verständlich, dass Sie mich derart missverstanden haben. Gerade heute Nacht.«

Er wollte schon weitergehen, doch Arved sagte schnell: »Wie meinen Sie das? Was ist mit der heutigen Nacht?« Er sah den Novizen verständnislos an.

»Wissen Sie das denn nicht? Heute ist Walpurgisnacht. Heute ziehen nach dem Volksglauben die Hexen, Teufel und Gespenster umher. Es ist eine Hexennacht.« Er ließ Arved stehen und verschwand durch den Haupteingang im Westwerk.

Ob damit die seltsamen Taten der Bewohner von Großlittgen und Minderlittgen in Zusammenhang standen? Unwillkürlich musste er wieder an Lydia Vonnegut denken. In ihren letzten Tagen war sie ihm immer mehr wie eine Hexe erschienen. Als der Tag ihres Todes gekommen war und sie spürte, wie ihre Kraft versickerte, schrie sie vor Entsetzen auf. Sie schien seltsamerweise keine Schmerzen mehr zu haben, aber nun kam doch die Angst. Die starke Frau, deren Todesweg Arved über ein Jahr lang begleitet hatte, kreischte wie ein kleines Kind, das sich dem Schwarzen Mann gegenübersieht. »Da steht er!«, brüllte sie mit letzter Kraft. »Da steht er!« Dabei zeigte sie in die dunkelste Zimmerecke.

Arved hatte tatsächlich geglaubt, dort stehe jemand. Es war ein schwarzer Umriss, nicht größer als sie selbst – starr, schweigend, unerschütterlich. Wartend.

Als sie sich ein letztes Mal aufbäumte, stieß sie einen durchdringenden Schrei aus. Die beiden Katzen setzten sich vor ihr Bett und schauten in die dunkle Ecke. Sie waren starr, schweigend und unerschütterlich. Ein Luftzug wehte plötzlich durch den Raum. Dabei war weder die Tür noch ein Fenster geöffnet. Der Schatten war verschwunden.

Arved verließ die Kirche. Walpurgisnacht. Er glaubte nicht an solche Dinge. Er glaubte an gar nichts mehr. Aber er wollte nicht zurück in sein finsteres Haus. In Lydia Vonneguts Haus.

Er war sehr erstaunt gewesen, als er eine Woche nach ihrem Tod eine Nachricht von ihrem Notar erhielt. Arved hatte der kargen Beerdigungszeremonie als Einziger beigewohnt, bei der die Asche der alten Frau von einem Bestattungsunternehmen ohne jegliche Ansprache in die Mosel geschüttet worden war. Nicht einmal Else hatte sich blicken lassen; sie tauchte nie wieder auf. Ihr Notar machte keinen Hehl daraus, dass er die alte Frau abscheulich gefunden hatte. Sie hatte Arved Winter – als Dank für seine mutige Predigt und zur Ermunterung, seinen gottlosen Weg weiterzugehen – ihr gesamtes Vermögen, das sich auf mehrere Millionen Euro belief, sowie ihr Haus und ihren Bentley vermacht, allerdings unter der Auflage, gut für Salomé und Lilith zu sorgen, was vierteljährlich durch einen benannten Tierarzt zu überprüfen war. Arved hatte nicht gewusst, ob er lachen oder weinen sollte. Nun war er mit einem Schlag all seine existentiellen Sorgen los, in die er sich durch seine Zweifel und Ungläubigkeit selbst gestürzt hatte, aber er musste in das unheimliche Haus einziehen, denn wohin hätte er sonst gehen sollen und für die nicht minder unheimlichen Katzen sorgen?

Als er an diese Katzen dachte, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Er fütterte sie jeden Tag, hatte sich mit dem im Testament benannten Tierarzt in Verbindung gesetzt und sich von ihm Ratschläge zum Füttern und zum Umgang mit den Tieren geben lassen, aber sie blieben ihm gegenüber vollkommen unnahbar. Sie ließen sich nicht streicheln, nicht rufen, nichts befehlen. Sie kamen nicht einmal, wenn er mit der Futterdose raschelte. Jeden Abend stellte er zwei Näpfchen in die Küche und jeden Morgen waren sie leer. Manchmal sah er die beiden schwarzen Schatten am Rande seines Blickfeldes über die Treppe oder durch eines der vielen moderigen Zimmer huschen, doch nur selten zeigten sie sich ihm in aller Deutlichkeit.

Arved Winter ging tief in Gedanken zurück zu seinem Wagen und fuhr weiter durch das Tal der Salm. Die Leuchtkegel der Scheinwerfer malten bleiche Flecken auf die Bäume und fuhren mit fahlen Fingern über Wiesen und Gebüsch. Eine Abfahrt links von der Straße, ein kleiner Torbogen, darüber angestrahlt die Worte: Molitors Mühle. Ein Restaurant. Erst jetzt erinnerte sich Arved daran, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte.

Er lenkte den schweren Wagen langsam in die Einfahrt und kam an das Restaurant, eine ehemalige Mühle an der Salm, die einladend beleuchtet war. Er stellte den Bentley auf den großen Parkplatz, wo er allein stand und wie ein urzeitliches Ungetüm wirkte. Er drehte den Motor ab und verließ den Wagen. Ein kurzer Blick auf die Speisekarte verriet ihm, dass es sich hier um ein Feinschmeckerrestaurant handelte. Früher hätte er sich kaum erlauben können, hier einzukehren, doch jetzt war er vielfacher Millionär.

Er konnte es noch immer nicht glauben. Unglaube. Und genau dieser Unglaube hatte ihn reich gemacht. Reich? Oder nicht vielmehr arm? Hatte er seine Seele verkauft?

Er betrat den Gastraum; tatsächlich war er allein hier. Sofort kam ein Ober, wies ihm einen Tisch an und reichte ihm die Speisekarte. Arved wählte Lammrücken mit Rosmarinbutter und dazu einen Ahrwein. Leise Musik drang aus verborgenen Lautsprechern.

Als der Ober das Essen brachte, meinte Arved: »Nicht viel los heute.«

»An diesem Abend ist nie viel los«, antwortete der Ober, ein älterer Mann mit einem dünnen Oberlippenbart und erstaunlich bleicher Haut.

»Walpurgisnacht?«

Der Ober nickte, stellte ihm das Essen mit einer eleganten Bewegung hin und zog sich wieder zurück. Arved legte sich die gestärkte Leinenserviette über den Schoß und aß. Es schmeckte vorzüglich und auch der Wein war eine gute Wahl gewesen – nicht zu schwer, aber fruchtig und vollmundig. Doch der rechte Genuss wollte sich nicht einstellen.

Walpurgisnacht. Hexennacht.

Nie zuvor hatte Arved so deutlich die Gegenwart von etwas gespürt, das er nur mit den Begriffen des Geisterreiches zu beschreiben vermochte. Wenn es keinen Gott gab, dann gab es auch keine Geister, kein Jenseits, dann war alles mit dem Tod zu Ende. Dennoch rührte ihn dieser Abend an. Er kaute auf dem zarten Lamm herum, als sei es ein zähes Steak.

Hexen überall. Hier in der Eifel, in dieser Nacht, in der sich die Bewohner nicht einmal trauten, essen zu gehen, der Geist einer Hexe in seinem Haus, das er noch nicht als sein Zuhause ansehen konnte und vielleicht nie würde ansehen können. Aber er war zu müde, in absehbarer Zeit noch einen Umzug hinter sich zu bringen und eine neue Bleibe zu suchen.

Als der Ober abräumte, fragte Arved: »Warum geht in dieser Nacht niemand aus?«

Der Ober lächelte, während er das schmutzige Geschirr geschickt in einer Hand balancierte. »Aber jedermann geht aus, mein Herr. Nur nicht hierhin, sondern auf den Tanz in den Mai. Und wer nicht ausgeht, treibt mit den anderen Schabernack. Das ist eine alte Tradition hier.«

Arved zahlte und ging. Und war beruhigt. Da hätte er tatsächlich beinahe geglaubt, dass die uralte heidnische Angst vor dieser Nacht noch in der hiesigen Bevölkerung weiterlebte. Sogar er selbst hatte ein seltsames Gefühl gehabt. Er schüttelte den Kopf über seine Dummheit und verließ das Lokal. Noch immer hatte er keine Lust, nach Trier zurückzufahren. Er setzte den alten Bentley in Bewegung, ließ sich wieder treiben, bog nach Eisenschmitt ab, sah auch hier huschende Gestalten, die unförmige Gegenstände hin und her schleppten, doch nun hatte er nur noch ein Lächeln dafür übrig. Und ein Lächeln für sich selbst. Für seine wabernden, nebelhaften Ängste und Phantasien.

Er durchquerte das Dorf langsam. Einmal musste er heftig bremsen, weil plötzlich vor ihm auf der Straße eine schwarze Katze saß. Sie sah genauso aus wie Lilith. Oder wie Salomé. Sie lief nicht weg, sondern schaute geradewegs in die Lichtkegel des Autos. Er wollte schon aussteigen und sie verscheuchen, als sie plötzlich verschwunden war. Er hatte sie nicht fortlaufen sehen. Arved atmete auf und fuhr vorsichtig weiter.

Hinter Eisenschmitt führte die Straße steil bergan, tauchte in einen dichten Lärchenwald ein und stieß auf eine etwas größere Straße, die aus dem Nichts zu kommen schien und den Wegweisern zufolge nach Manderscheid führte. Arved wusste, dass bei Manderscheid eine Auffahrt zur Autobahn lag. Inzwischen war es bereits nach neun Uhr und leichter Regen setzte ein. Es war Zeit, nach Trier zurückzufahren. Mit einem kräftigen Ruck am Lenkrad leitete Arved den Wagen auf die Straße nach Manderscheid.

Aus dem leichten Nieseln wurde plötzlich ein Platzregen. Die Scheibenwischer bewältigten die Wassermassen kaum mehr. Überdies hatte sich ein Gewitter gebildet, obwohl es den ganzen Tag über schön und frisch gewesen war. Grelle Blitze zuckten über den Wald, rollten sich wie Peitschenschnüre auf und machten aus den Wipfeln sägeblattartige Kämme. Arved fuhr mit Schrittgeschwindigkeit, denn die Straße verschwamm vor ihm. Da aber keine Haltebucht zu sehen war, traute er sich nicht, mitten auf der Straße anzuhalten. Die Gefahr, dass es zu einem Auffahrunfall kam, war zu groß.

Arveds Kinn hing schon über dem Lenkrad. Er hatte die Zähne zusammengebissen und starrte verzweifelt in den Regenvorhang, der nun auch noch von heftigen Windböen hin und her getrieben wurde. Die Blitze, geworfen in Bündeln wie von wütender Himmelshand, erhellten für Augenblicke die Nachtwelt und schufen einen falschen Tag, der als Nachbild in den Augen klebte. War da nicht rechts von ihm ein Parkplatzschild? Er schaltete das Fernlicht ein, sah nur wenig mehr als vorher, doch tatsächlich erschien nun rechts von ihm ein kleiner Weg. Vielleicht war es nur ein Holzabfuhrpfad.

Kurz entschlossen lenkte Arved den Bentley in den schlammigen Weg. Dieser verbreiterte sich und führte in einem kleinen Bogen wieder auf die Straße zurück; es war ein Parkplatz. Arved atmete auf und schaltete den Motor aus. Die Welt um ihn herum versank in Regen und Dunkelheit, die nur von gelegentlichen Blitzen durchzuckt wurde. Donner rollte dicht über ihm.

Aus dem Wald lief etwas auf den Wagen zu. Zuerst sah Arved es nur aus den Augenwinkeln, doch dann wurde es ein schwarzer Schemen, der mit beängstigender Geschwindigkeit näher kam. Arved schlug das Herz bis zum Hals. Sein Denken setzte aus. Automatisch drehte er den Zündschlüssel. Der große Achtzylinder sprang sofort an. Jetzt hatte die Gestalt den Wagen erreicht. Sie trommelte gegen die rechte Seitenscheibe. Arved wollte schon Gas geben, als er die Stimme hörte. Sie klang unendlich gedämpft.

Es war die Stimme einer Frau.

Einer Frau in höchster Not.

»Hilfe! So helfen Sie mir doch! Mein Mann! Mein Mann! Er liegt im Sterben!«

4. Kapitel

Arved ließ das rechte Seitenfenster herunter. Ein Schwall Wasser schwappte herein. Die Frau steckte den Kopf in das Wageninnere. Arved konnte nicht sagen, ob die Nässe auf ihrem Gesicht vom Regen oder von Tränen herrührte. Ihre dunklen Augen brannten.

»Mein Mann! So steigen Sie doch endlich aus! Er verbrennt!«

In diesem Regen?, wollte Arved fragen, doch er schluckte die Worte hinunter; sie erschienen ihm unendlich dumm. Er verließ den trockenen Wagen und war im nächsten Augenblick von einem Schwall Wassers überzogen. Aus dem Kofferraum holte er seine Windjacke, streifte die Kapuze über und schaute die Frau fragend an.

Sie trug eine Bundhose und klobige Wanderschuhe. Ihre Kleidung war aufgeweicht; die schwarzen Haare hingen ihr tropfnass und glatt ins Gesicht. Sie mochte ein wenig jünger als er selbst sein, vielleicht dreißig oder zweiunddreißig.

Mit weit ausholenden Bewegungen zeigte sie in den regenverhangenen Wald hinein. »Da hinten!« Sie drehte sich rasch wie ein Reh um und sprang in den Wald. Ein Blitz zuckte auf und tauchte die Bäume in krankweißes Licht. Die Frau war nur noch als Schatten zwischen den Fichten und Eichen zu sehen. Der Donner übertönte das Rauschen des Regens und das Raunen der zarten Frühlingsblätter. Eine Windbö fegte einen Regenschleier gegen Arved. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah die Nachtwelt wie durch eine Milchglasscheibe.

Fern hörte er die Stimme der Frau: »… kommen …«

Er lief auf sie zu. Morsches Holz knackte unter seinen Füßen. Schwarze Baumriesen warfen sich ihm in den Weg. Er brauchte Licht. Wie ein Zeichen zuckte der nächste Blitz. Arved war bereits vom Weg abgekommen und stand im Unterholz des dichten Waldes. Rechts von ihm ragte eine dunkle Masse auf. Eine Blockhütte vielleicht. Windschief. Nirgendwo war mehr ein Zeichen der rätselhaften Frau zu sehen. Er blieb stehen und lauschte in die Gewitternacht. Links von ihm knackte und knisterte etwas, als breche ein schweres Tier durch das Gebüsch. Es bewegte sich zielstrebig auf ihn zu. Er dachte daran, dass Walpurgisnacht war. Erlaubte sich da jemand einen schlechten Scherz mit ihm? Oder …

Er zuckte zusammen, als dicht über seinem Kopf ein Aufruhr entstand. Verschreckt schaute er hoch, während der Schatten von links rasch näher kam. Es war nur ein Vogel gewesen, vielleicht eine Eule.

»Wo bleiben Sie denn? Wollen Sie mir nicht helfen? Wollen Sie meinen Mann sterben lassen?« Nun hatte die Frau ihn erreicht und zerrte am Ärmel seiner schon völlig durchnässten Windjacke. »Kommen Sie wieder auf den Weg. Es ist da hinten!«

Er stolperte hinter ihr her. Sie lief zu schnell für ihn; der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. »Warten Sie!«, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören. Der Wind bauschte ihre Jacke; es sah aus, als habe sie Schwingen. Sie lief so schnell, dass sie den Waldboden kaum mehr zu berühren schien.

Arved war außer Atem und in seiner Seite stach es fürchterlich. Er war körperliche Anstrengungen nicht gewöhnt. Immer wieder hatte er abnehmen wollen, doch die Köstlichkeiten, die seine Haushälterin für ihn bereitet hatte, waren immer zu verführerisch gewesen. Er wünschte sich, er säße irgendwo im Trockenen – und sei es in seinem neuen alten Haus. Überall wäre er lieber als in dieser Regennacht hier draußen, in einem unbekannten Wald, mit einer unbekannten Frau und einem unbekannten Schicksal entgegen taumelnd.

Die Frau war stehen geblieben. Endlich holte er sie ein. Arved wischte sich den Regen von Stirn und Brauen und fragte: »Wo ist Ihr Mann?«

Die Frau schaute ruckweise hierhin, dorthin. Ihre Antwort verlor sich in einem Donnerschlag, der unmittelbar über ihnen die Luft erzittern ließ. Ein Blitz fuhr nieder, begleitet von einem Geräusch wie einem schrillen Schrei. Arved riss die Frau mit sich auf die andere Seite des Weges. Gleißende Helligkeit blendete ihn. Ein schreckliches Zischen und Knallen erschütterte den Wald. Eine Stichflamme stieg von dem großen, schwarzen Baum auf, neben dem die Frau eben noch gestanden hatte. Knirschend stürzte er ins Gehölz. Eine Hitzewelle hatte die beiden hilflosen Menschen eingehüllt und ihnen den Atem genommen. Nun standen sie erschüttert da und hielten sich aneinander fest. Spitz wie ein Finger ragte der Baumstumpf in die Nacht; die Bruchstelle rauchte im Licht des nächsten Blitzes, der über den Wald hinwegzuschießen schien. Schreckliches Knallen und Bersten zeigte an, dass auch er irgendwo eingeschlagen war.

Als habe die Hölle ihre Tore geöffnet, dachte Arved. Es gibt keinen Gott, es gibt keine Hölle, beruhigte er sich. Alles ist nur blindes Wüten. Er schaute die Frau an. In der regenverwischten Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht mehr erkennen. Sie war nur noch ein schwarzer Schemen – wie ein Tor im Wald des Untergangs.

»Wo?«, fragte er atemlos.

Sie machte sich von ihm los und lief einige Meter weiter, bis sie an eine Kreuzung kam. Hier nahm sie die linke Abzweigung. Sie schien den Weg im Dunkeln sehen zu können, was Arved wunderte. Er versuchte, dicht hinter ihr zu bleiben, kam aber immer wieder vom Weg ab und geriet in das Unterholz. Es fiel ihm schwer, sich von den Ranken freizukämpfen, und der Schlamm zerrte an seinen zu dünnen Straßenschuhen. Er hatte den Eindruck, als laufe er barfuß durch den nassen Wald.

Bald blieb die Frau wieder stehen. »Hier hinein«, sagte sie und zeigte auf die schwarze Mauer der Bäume.

»Sind Sie sicher?«, wagte Arved zu fragen.

Sie gab ihm keine Antwort, sondern bahnte sich einen Weg an Brombeerranken und Ginster vorbei, bis sie in einen Teil des Waldes eindrang, wo mächtige Kiefern und Fichten weit auseinander standen und der Boden dicht mit Nadeln gepolstert war. Hier kam der Regen kaum durch; es war, als sei man in das Innere einer gewaltigen Kathedrale getreten. Ein ferner Blitz zuckte; es dauerte einige Sekunden, bis der Donner einsetzte. Das Gewitter zog ab. Arved atmete auf.

Im Schein des Blitzes hatten die gewaltigen Stämme wie Säulen ausgesehen, die ein ungeheures Gewölbe trugen. Die Frau stand verloren zwischen ihnen. Draußen rauschte noch der Regen, doch hier bildeten die Wipfel ein Dach, das den Wald vor den Elementen, vor der ganzen Welt und vor dem Himmel schützte. Arved blieb neben der Frau stehen, die hektisch in alle Richtungen schaute.

»Hier war es«, sagte sie schrill. »Ich weiß es genau. Dieser Wald. Jürgen hatte noch gesagt, dass er wie eine Kirche wirkt. Und dann haben wir das Haus gesehen.«

»Ein Haus? Hier mitten im Wald?«, fragte Arved ungläubig. Er drehte sich in alle Richtungen, doch auch der nächste Blitz zeigte keinerlei Bauwerk in Sichtweite.

»Eine Ruine. Und auch nicht. Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. O Gott, wenn ich mich verlaufen habe … Wenn er nun stirbt, bloß weil ich die Orientierung verloren habe …« Sie war völlig verzweifelt und biss sich auf die Fingerknöchel.

»Vielleicht haben Sie die falsche Abzweigung genommen«, meinte Arved.

»Aber es war dieser Wald … so ein Wald«, fügte sie mit leiserer, unsicherer Stimme hinzu. »Ein Wald wie eine Kirche. Jürgen hatte darüber seine Witze gemacht, und dann …«

»Was ist dann passiert?«, wollte Arved wissen und versuchte erneut, Anzeichen für ein Gebäude zu finden.

Sie schüttelte den Kopf und lief weiter in den Wald hinein. »Weiß nicht …« Das Rauschen von jenseits der Bäume verwischte ihre Stimme.

Arved setzte ihr nach. Etwas schlang sich ihm um den Fuß und zerrte ihn zu Boden. Er ruderte mit den Händen, konnte aber den Sturz nicht mehr aufhalten. Die Bäume tanzten vor ihm und schienen sich ihm entgegenzuwerfen.

Der Aufprall nahm ihm den Atem. Nadeln stachen ihm in Hände und Gesicht. Er tastete nach seinem Knöchel. Eine Ranke hatte sich darum gewickelt. Unwirsch riss er sie ab und warf sie fort. Sie fühlte sich seltsam an. Fleischig. Als wäre es keine Pflanze, sondern ein lebendiger Fortsatz, ein Tentakel. Angewidert stand er auf und wischte sich die Hände an der inzwischen sicher völlig verdorbenen Windjacke ab. Er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

Die Frau war fort.

Nun wäre Arved für einen Blitz dankbar gewesen, doch der Wald lag in undurchdringlicher nächtlicher Finsternis. Arved fühlte sich, als habe man ihn mit verbundenen Augen in einer ihm völlig fremden Gegend ausgesetzt.

Walpurgisnacht. Schabernack.

»Hallo?«, rief er und lauschte. Nichts. Der Regen schien aufgehört zu haben; das Gewitter war wohl weitergezogen. Es war, als habe der Wald den Atem angehalten. Keinerlei Nachtgeräusche waren zu hören. Nirgendwo knackte etwas, nichts raschelte oder rauschte. Windstille. »Hallo!?«

Keine Antwort.

Nichts bewegte sich. Er war allein. Allein in diesem Wald, allein auf dieser Welt. Mit einem Mal spürte er die Größe und Bedrohlichkeit seiner Umgebung. Das war nicht mehr seine Welt. Er war in etwas geworfen worden, das keine Beziehung zu ihm hatte. In das er nicht gehörte. Er hatte seinen Platz verloren. Und keinen neuen gefunden.

Angestrengt lauschte er ins Nichts. Allmählich kehrten die Geräusche in den Wald zurück. Ein Rascheln ganz nah neben ihm. Er zuckte zusammen. Wahrscheinlich war es nur eine Maus. Fernes Blätterrauschen. Das Knarren eines morschen Stammes. Ein Zischeln. Flattern wie von gewaltigen Schwingen. Tatsächlich spürte Arved einen Luftzug über sich. Ein fauler Hauch streifte sein Gesicht. Kälte kroch in ihn. Er war völlig durchnässt. Wo war diese Frau bloß abgeblieben?

Ein Lichtstrahl fiel in den Wald und malte einen Teich aus blassem Mondwasser auf den Waldboden. Die Wolkendecke war aufgerissen. Der Wind kreischte nun in den Wipfeln. Der Teich verschwand, wurde an anderer Stelle neu geboren. Ein fernes Geräusch, wie das Pfeifen eines Marders, kam aus der Waldferne vor ihm. Er lauschte angestrengt. Es war kein Pfeifen. Es war eine unendlich leise, verwischte Stimme.

»Hier … hier …«