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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Somniferus«

»Hexennacht«

»Das Schattenbuch«

»Hinter der Maske«

»Janus«

Michael Siefener, geb. 1961 in Köln, studierte Rechtswissenschaft und promovierte 1991 über rechtliche Fragen der Hexenprozesse. Seit 1992 ist er freier Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet heute in Manderscheid/Eifel und Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem im Bereich der phantastischen Literatur. Seit einigen Jahren Mitarbeit an einer geplanten Geschichte der Zauberbücher unter Federführung von Prof. Dr. Marco Frenschkowski, Universität Leipzig.

Michael Siefener

Das Schattenbuch

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

eISBN 978-3-95441-502-1

Meinen beiden Schutzengeln

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

27. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Zunächst schien nichts an diesem warmen Sommertag ungewöhnlich. Arved Winter war am Vormittag von Manderscheid losgefahren, nachdem er Salomé und Lilith gefüttert und den beiden Katzen ihre Streicheleinheiten gegeben hatte, und hatte sich in seinem alten geerbten Bentley auf den Weg nach Trier gemacht. Immer wenn er sich an das Steuer setzte, musste er an Lydia Vonnegut denken, die Arved den großen Wagen vermacht hatte – ihn, die beiden Katzen und ihr Vermögen. Bei Lydia Vonnegut hatte es sich um eine verbitterte alte Frau gehandelt, die Arved damals, als er noch Priester gewesen war, auf ihrem langen und qualvollen Weg in den Tod begleitet hatte.

Er seufzte, als er den Wagen aus der Garage setzte und langsam durch die schmale Straße fuhr. Lydia Vonnegut hatte seine Zweifel am Priesterberuf und an Gott genährt und sich teuflisch gefreut, als er von der Kanzel herunter erklärt hatte, er habe den Glauben verloren. Seitdem war Arved Winter suspendiert. Noch immer war er mit sich nicht im Reinen.

Er lenkte den Wagen behutsam durch den kleinen Ort, fuhr am Maarmuseum vorbei, an der ehemaligen Tankstelle, den beiden Supermärkten auf der grünen Wiese und befand sich bald zwischen Feldern und Weiden. Rechts von ihm erhob sich der bewaldete Mosenberg, ein erloschener Vulkan, der ihm immer wie eine unbestimmte Drohung vorkam.

Lydia Vonnegut hatte er seine finanzielle Unabhängigkeit und gleichzeitig sein berufliches Scheitern zu verdanken. Es hatte ihn in die Hölle gestoßen, doch das war eine andere Geschichte – eine Geschichte, die er immer wieder zu verdrängen versuchte. Besonders heute wollte er nicht daran denken. Der Mittwoch war stets einer Fahrt nach Trier gewidmet. Jedes Mal überlegte er vorher, ob er über die Autobahn fahren sollte, doch jedes Mal entschied er sich dagegen und nahm die Landstraße. Dieser Weg war eindeutig der schönere, und außerdem hielt die Vorfreude länger an.

Die Vorfreude auf die Stadt, in der er lange gelebt und gearbeitet hatte. Und die Vorfreude auf Lioba Heiligmann.

Er hatte Lioba kennen gelernt, als er auf der verrückten Suche nach Informationen über die Hölle und den Weg dorthin gewesen war. Unwillig schüttelte er den Kopf und versuchte sich auf das Fahren zu konzentrieren. Die Straße wand sich hinunter in das Tal der kleinen Kyll und wartete mit Serpentinen auf, die mancher Alpenpass nicht zu bieten hatte. Diese Kurven trieben Arved immer wieder den Schweiß auf die Stirn – und den Gedanken in den Kopf, vielleicht doch bald einen nicht so schwerfälligen Wagen zu kaufen, auch wenn er sich an den Geruch von altem Leder und Holz gern und rasch gewöhnt hatte.

Lioba …

Als er auf der anderen Seite des Tals angekommen war und die Straße endlich geradeaus führte, wanderten seine Gedanken wieder umher. Sie flogen ihm voran nach Trier.

Jeden Mittwoch besuchte er Lioba in ihrem kleinen, baufälligen Haus. Jeden Mittwoch atmete er den Duft ihrer Bücher und den Geruch ihrer Zigarillos ein. Jeden Mittwoch kam und ging er mit Herzklopfen. Sie war mit ihm durch die Hölle geschritten, sie hatte ihm beim Umzug nach Manderscheid geholfen, sie hatte ihm ein Stück Leben geschenkt.

Arved fuhr durch Großlittgen, durch Minderlittgen und Wittlich und nahm dann die Bundesstraße nach Trier, vorbei an Salmtal und Hetzerath. In Schweich verdüsterte sich der Himmel, und als er über die Mosel fuhr, fielen die ersten Regentropfen. Sie waren nur die Vorboten eines Wolkenbruchs, der die Welt hinter den Scheiben des Wagens zu einer verschwommenen Unwirklichkeit machte. Arved erinnerte sich an einen anderen Wolkenbruch, oben im Kunowald hinter Manderscheid, als er auf jene Frau getroffen war, mit der sein schreckliches Abenteuer begonnen hatte … Wann würden ihn diese Gedanken endlich verlassen?

Er fuhr langsam in Trier ein und stellte den Bentley am Hauptfriedhof ab. Arved wollte nicht warten, bis es zu regnen aufhörte. Er stieg aus, nahm den alten Stockschirm aus dem Kofferraum, doch bis er ihn aufgespannt hatte, war er bereits durchnässt. Er stieß einen kleinen Fluch durch die zusammengebissenen Zähne, schloss den Wagen ab und ging in Richtung Innenstadt.

Dabei kam er an Sankt Paulin vorbei, wo er früher, in einem anderen Leben – und als anderer Mensch – Pfarrer gewesen war. Als er den gelb gestrichenen, hohen Turm sah, drangen wie jeden Mittwoch widerstreitende Gefühle auf ihn ein. Wehmütig erinnerte er sich an den Duft des Weihrauchs, an die Kühle der großen, barocken Kirche, an die alten Schränke in der Sakristei und den anheimelnden Geruch, den sie verströmten. Es waren Erinnerungen an Äußerlichkeiten aus einer Zeit, in der sein Inneres bereits hohl geworden war. Er richtete den Blick wieder geradeaus und erkannte in der Ferne bald die schwarze, sich zwischen die Häuser zwängende Masse der Porta Nigra, jenes Symbols alter Größe und Macht aus einer Zeit, in der das Christentum gerade erst seinen Siegeszug antrat – Zeichen einer anderen Zeit, einer Zeit des Umbruchs, der Ungewissheit, des Niedergangs und Neubeginns. Er mochte dieses römische Stadttor mehr als Sankt Paulin.

Der Regen hatte viele Passanten von der Straße vertrieben, doch Arved wollte sich vom Ritual dieses Tages nicht abbringen lassen. Jeden Mittwoch besuchte er den Dom, aß im Restaurant Zum Domstein zu Mittag – immer Wildragout mit Kroketten und Preiselbeeren, danach ein Mokka – und dann stattete er Lioba Heiligmann einen kurzen Besuch ab. So machte er es auch an diesem Tag, der sich scheinbar durch nichts von vielen vorangegangenen Mittwochen unterschied.

Als er endlich vor dem schmalen Haus in der Krahnenstraße stand, an dessen Fassade der Efeu immer größere Flächen beanspruchte und das Gebäude allmählich in einen lebenden Organismus zu verwandeln schien, hatte es zu regnen aufgehört. Die beiden beinahe blinden Fenster im ersten Stock starrten wie ins Nichts oder in die Vergangenheit, das kleine Bodenfenster blickte nachdenklich in den Himmel, und die Farbe an der Tür blätterte immer stärker ab. Man ahnte nicht, dass sich hinter dieser Fassade einer der weltweit größten Bücherbestande auf dem Gebiet des Okkulten, Magischen und Unerklärlichen befand. Lioba Heiligmann war Antiquarin, die ihr Geschäft von zu Hause aus betrieb; der Gedanke an ein Ladenlokal war ihr zuwider; zu viele Kunden, die mit fettigen Fingern und Eistüten in der Hand ihre Schätze durchstöbern würden, sagte sie immer.

Arved stieg die vier Stufen zur Haustür hoch – und stutzte.

Vor der Tür stand ein Karton mit Büchern. Obwohl es vorhin heftig geregnet hatte, waren die Bücher trocken und unbeschädigt; erst kurz zuvor musste sie jemand hier abgestellt haben. Arved runzelte die Stirn und klingelte.

Lioba Heiligmann öffnete so rasch, dass Arved annahm, sie habe auf ihn gewartet.

Sie lächelte ihn an. »Arved Winter! Welch eine Freude. Sind Sie wieder mal in Trier? Schön, dass Sie mich besuchen.«

Es sollte überrascht klingen, aber eine schwache Spur Ironie schwang in ihren Worten mit – wie jedes Mal. Dann bemerkte auch sie den Bücherkarton und zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie mir etwas mitgebracht? Wie war das noch mit Athen und den Eulen?« Ihre dunkle Stimme verursachte bei Arved ein angenehmes Gefühl von Wärme.

»Ich habe keine Ahnung, wer die Bücher hier abgestellt hat. Als ich ankam, waren sie schon da.«

Lioba Heiligmann bückte sich und hob die obersten Bände kurz an. Sie machte »hm« und »aha« und wuchtete dann den ganzen Karton mit verblüffender Leichtigkeit hoch. »Langjährige Übung«, sagte sie zu Arved, dessen bewundernder Blick ihr nicht entgangen war. »Kommen Sie mit nach drinnen, der Kaffee wartet schon.«

Arved folgte ihr in das dunkle, kühle Innere des Hauses, das sich erfolgreich gegen jeden Sommer wehrte. Amüsiert betrachtete er Lioba, die vor ihm her in ihr Wohnzimmer ging, das gleichzeitig ein Teil ihrer ungeheuren Bibliothek war. Wie immer trug Lioba Heiligmann klobige Wanderschuhe und eines ihrer berüchtigten geblümten Kleider, über dessen Schulter das mit silbernen Streifen durchzogene braune Haar wie ein Wasserfall wallte. Sie stellte den Karton auf dem Perserteppich ab und rieb sich die Hände.

»Ein wenig staubig, dieses unverhoffte Geschenk«, sagte sie, drehte sich um und schaute Arved fragend an.

Er faltete die Hände vor dem nicht allzu unscheinbaren Bauch und zuckte gleichzeitig hilflos die Schultern. Ihr Blick machte ihn immer ein wenig nervös. Sie war achtundvierzig Jahre alt, zehn Jahre älter als er, und auf eine nachlässige Art schön. Manchmal träumte er von ihr.

»Was stehen Sie so herum wie ein verlegener Schuljunge? Setzen Sie sich. Sie sind hier doch schon beinahe zu Hause – wenn auch nur mittwochs.« In ihrer Stimme lag wieder dieser milde Spott.

Auf dem kleinen Mahagonitisch zwischen den beiden Ledersesseln standen bereits zwei dampfende Tassen Kaffee. Arved nahm in dem linken Sessel Platz, in dem er immer saß. Der Kaffee vor ihm war von milchigem Hellbraun – »Sie verdünnen wohl alles in Ihrem Leben«, hatte Lioba dazu einmal gesagt – und der andere schwarz. Lioba riss sich von den Büchern los, ließ sich schwer in den zweiten Ledersessel fallen und schlug undamenhaft die Beine übereinander. Sie nahm aus der Packung auf dem Tisch einen Zigarillo, steckte ihn sich an und sog heftig daran. Mit sichtlichem Wohlbehagen stieß sie Rauchkringel in die Luft. Dabei betrachtete sie nachdenklich den Bücherkarton. »Schon seltsam«, meinte sie. »Ich habe vor ein paar Tagen mit meinem Kollegen Zaunmüller aus der Johannisstraße geplaudert, und er meinte, es komme öfter vor, dass ihm außerhalb der Öffnungszeiten Bücher an die Ladentür gestellt werden.« Sie streifte die Asche an dem kleinen Aschenbecher aus Onyx ab. »Mit solchen Geschichten konnte ich nicht dienen – bisher.«

Arved sah den Karton an, als handle es sich um ein riesiges Insekt, von dem er nicht ganz sicher war, ob es noch lebte. »Vielleicht ist es ein Geschenk von Herrn Antiquar Zaunmüller«, mutmaßte er.

Lioba schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. So viel ich beim ersten Durchstöbern gesehen habe, handelt es sich fast ausschließlich um Titel aus meinem eigenen Bereich. Einiges ist wertloser Mist, aber ein paar Sachen sind durchaus wertvoll. Zaunmüller könnte sie sehr gut verkaufen. Das sind keine Bücher, die man einfach nur entsorgen will – und wenn doch, dann war der Täter ein Dummkopf. Auch das schließt Zaunmüller von vornherein aus.« Sie legte den halb aufgerauchten Zigarillo in den Ascher, stand auf und bückte sich zu dem Karton herunter.

Arved nahm einen Schluck Kaffee und schloss die Augen. Niemand kochte so guten Kaffee wie Lioba Heiligmann. Vielleicht war das eines der Geheimrezepte ihres erfolgreichen Bücherhandels. Arved schlug die Augen wieder auf und sah Lioba über den Karton gebeugt, als würde sie inbrünstig beten. Neben sich hatte sie bereits einen kleinen Bücherstapel angehäuft.

»Die Amonesta-Ausgabe vom Soldan-Heppe-Bauer, na ja«, murmelte sie und begründete mit dem rot eingebundenen Buch einen zweiten Stapel. »Hm, die Magie der Renaissance.« Das Buch mit dem schwarzen Schutzumschlag wanderte auf den größeren Stapel. »Schobers Blutbann und Braems Magische Riten, brr.« Schon war der zweite Stapel um zwei Bücher höher. »Hallo! Das ist ja Ennemosers Geschichte der Magie in der Erstausgabe!« Sie legte das Buch vorsichtig auf den größeren Haufen und sah hoch zu Arved. »So etwas gibt man doch nicht so einfach weg. Und Sie haben wirklich nicht gesehen, wer mir den Karton vor die Tür gestellt hat?«

Arved schüttelte den Kopf. Er hielt noch die inzwischen leere Tasse in der Hand; er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte. »Vielleicht ein unbekannter Verehrer von Ihnen?«, wagte er zu fragen und spürte, wie er dabei rot wurde.

»Klar. Jemand, der mich um meiner Caritas-Kleider und meiner unnachahmlichen Art wegen liebt.« Dabei bückte sie sich wieder über den Karton. »Gut, dass mein unbekannter Gönner den Regen abgewartet hat; sonst wären all diese schönen Bücher nur noch Brei.« Sie schien wieder eines entdeckt zu haben, das nicht ganz so schön wie die anderen war, und warf es mit einem verächtlichen Schnauben auf den kleineren Haufen.

Arved erkannte nur einen Teil des Titels: Die Vernichtung der weisen … Offenbar war die Vernichtung zur Vernichtung freigegeben. Inzwischen war sein Kopf wieder kühler geworden.

»Was ist denn das?« Lioba richtete sich auf, hielt ein schmales, in hübsches Leder gebundenes Buch hoch und schlug es mit dem zugleich zärtlichen und bestimmten Griff einer geborenen Antiquarin auf. »Das Schattenbuch. Hm.« Sie blätterte es vorsichtig durch. »Scheint kein okkulter Text zu sein, eher etwas Literarisches. Mit Bildern.« Sie klappte das Buch zu und schien sich nicht entscheiden zu können, zu welchem Haufen sie es legen sollte. Als sie Arveds fragenden Blick bemerkte, reichte sie es ihm.

Das weiche, braune Leder schmiegte sich ihm in die Hände, als wolle es von ihm gestreichelt werden. Es erinnerte ihn an seine beiden Katzen, die er von Lydia Vonnegut geerbt hatte. Beinahe hatte er den Eindruck, als ob das Buch warm und lebendig wäre. Er betrachtete es von allen Seiten. Es war wie neu. Auf dem Rücken, über den fünf Bünde liefen, waren zwischen dem obersten und dem zweiten Bund die durch einen Bindestrich getrennten goldenen Wörter Schatten-buch eingeprägt. Nur am oberen Rand waren die Blätter beschnitten. Arved öffnete das Buch.

Auf dem dicken, weißen Bütten des Titelblatts stand: Schattenbuch. Von Thomas Carnacki. Mit drei Holzschnitten. Privatdruck. Arved blätterte um und kam zum ersten der angekündigten Holzschnitte. Er zeigte eine Bibliothek in einem hohen Raum mit einem Rundbogenfenster. Auf einem Beistelltisch zwischen zwei ausladenden Sesseln lag ein aufgeschlagenes Buch, aus dem etwas hervorzuwachsen schien, das groteskerweise wie ein Bergfried aussah. Die Szene erinnerte Arved stark an das Zimmer, in dem er augenblicklich saß. Unwillkürlich hob er den Blick und schaute sich um. Die Regale, der Tisch, die Sessel … Nur gab es hier kein Rundbogenfenster, und der Raum war bei weitem nicht so hoch wie der auf dem Holzschnitt. Auf dem Blatt nach der Illustration begann eine Geschichte mit dem Titel: Die Sammlerin. Beim raschen Durchblättern fand Arved auch die beiden anderen Holzschnitte, die er sich nicht eingehend anschaute, und stellte fest, dass noch zwei Geschichten folgten. Das ganze Buch hatte nur 128 Seiten. Er gab es Lioba zurück.

Inzwischen hatte sie alle Bücher ausgepackt. Die beiden Stapel waren nun annähernd gleich hoch. Sie deutete auf jenen mit den für wertlos befundenen Büchern. »Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen, können Sie die hier in die Mülltonne hinter dem Haus werfen. Wenn Sie sich einen oder mehrere Bände nehmen wollen: nur zu.«

Arved stand auf, packte das unterste Buch des Turms und hob diesen vorsichtig an. Lioba hielt derweil den Erzählband in der Hand, ließ die Blicke vom einen Bücherstapel zum anderen gleiten und legte das schön eingebundene Werk zu Arveds großem Erstaunen auf die zu entsorgenden Bücher.

»Man kann nicht alles behalten«, meinte Lioba entschuldigend. »Ich habe noch nie etwas von einem Carnacki gehört, und die Holzschnitte sind zwar Originale, aber sie gefallen mir nicht. Ich fresse einen Besen, wenn sie etwas wert sind. Das ist eines der Bücher, die nur darauf aus sind, Staub zu sammeln. Ich zeige Ihnen den Weg in den Hof.«

Sie ging vor Arved her und stapfte mit ihren Wanderschuhen laut über den Steinboden im Flur. Als sie den Hintereingang öffnete, drang verstohlene Helligkeit herein. »Vielen Dank«, sagte sie und war schon wieder im Innern des Hauses verschwunden.

Arved balancierte mit den Büchern über die Treppe, die in den Hinterhof führte. Er stellte die in Ungnade gefallenen Werke neben der blauen Tonne ab und öffnete diese. Es befanden sich schon einige Bücher darin. Nacheinander legte er die Neuankömmlinge dazu. Als er die Tonne schließen wollte, fiel ein Schatten hinein. Arved ließ den Deckel los, der nach hinten klapperte. Der Schatten war verschwunden; vielleicht war es eine Wolke gewesen, die unter der Sonne hindurch geglitten war.

Aber es schien keine Sonne.

Der Himmel war hellgrau, und ein gleichmäßiges Licht lag über dem stillen Hinterhof, in dem sich eine Linde verbissen gegen Stein und Asphalt behauptete. Die übrigen Häuser des Blocks drängten sich aneinander, als suchten sie Schutz beim anderen. Mauern und Zäune liefen von allen Seiten zu der in der Mitte stehenden Linde; es war Arved, als streckten sie zaghafte Arme und Fühler aus, um sich des einzigen lebenden Dings in ihrer Gegenwart zu versichern.

Die blaue Tonne hatte ihren Schlund noch immer weit geöffnet. Arved schaute hinein, als er nach dem Deckel tastete. Der Schatten hatte sich nicht verzogen, er lauerte zwischen den Büchern, von denen einige aufgeklappt waren. Zuoberst lag der Erzählband, dabei war sich Arved sicher, dass er ihn als Erstes in die Tonne gelegt hatte. Er streckte die Hand danach aus.

In der Linde schrie ein Vogel. Arved zuckte zusammen. Der Vogel kreischte noch einmal und flog als verwischter Schatten unter dem grauen Himmel fort. Vielleicht war es eine Elster gewesen. Arved griff nach dem Buch. Es schien sich gleichsam gegen seine Finger zu schmiegen. Er zog es aus der Tonne und ließ den Deckel laut zufallen. Wie eine Beute trug er das Buch zurück ins Haus.

Er fand Lioba damit beschäftigt, die Bücher, die ihr soeben aus heiterem Himmel zugefallen waren, ihren Beständen einzuverleiben. »Ich werde bald wieder einen schönen Internet-Katalog machen können«, sagte sie fröhlich. »Solche Geschenke könnte ich jeden Tag gebrauchen.« Da sah sie, dass Arved den Erzählband in den Armen hielt. »Drücken Sie ihm nicht die Luft ab. Sie halten es ja wie ein kleines Kind – allerdings wie ein Kind, auf dessen Weiterleben man keinen allzu großen Wert legt.«

Arved schaute auf das Buch in seinen Armen. »Ich finde, es ist zu schade, um weggeworfen zu werden. Wenn Sie erlauben, nehme ich es mit.«

Lioba kniff die Augen zusammen. »Natürlich. Ich stehe zu meinem Wort. Legen Sie es draußen auf die Garderobe. Und dann kommen Sie her, wir haben noch gar nicht palavert.«

Eine Stunde blieb Arved bei Lioba, wie immer. Sie unterhielten sich über das Wetter, über Liobas letzte Einkäufe und Geschäfte, über Arveds Katzen und sein Leben in der Eifel, und als Arved sich endlich erhob, hatte er das Buch vergessen. Er ging zusammen mit Lioba zur Haustür, verabschiedete sich mit einem festen Händedruck von ihr und trat die wenigen Stufen hinunter zur Krahnenstraße, als Lioba ihm plötzlich zurief: »Nehmen Sie Ihr Buch mit! Ich will es nicht haben!« Sie warf es ihm entgegen.

Arved fing es auf wie ein rohes Ei. Er winkte Lioba noch einmal zu, sie winkte zurück und schloss die Tür. »Bis zum nächsten Mittwoch«, murmelte er und ging langsam durch die stille Krahnenstraße in Richtung Innenstadt.

Das Schattenbuch ging mit ihm.

2. Kapitel

Arved war froh, als er sein Haus in Manderscheid erreicht hatte. Er war in Trier in einen fürchterlichen Stau geraten, und heftiger Regen hatte die Fahrt über die Autobahn zu einer Tortur gemacht. Erst kurz vor der Abfahrt hatte sich das Wetter gebessert.

Die beiden Katzen begrüßten ihn in der Diele. Er bückte sich, um sie zu streicheln, wie er es immer tat, wenn er nach Hause kam. Lilith und Salomé sprangen auf ihn zu, doch dann blieben sie stehen, tänzelten ein paar Schritte zurück und verschwanden im Wohnzimmer. Arved richtete sich wieder auf und sah erstaunt zu, wie die beiden schwarzen Schwanzspitzen im Gleichschritt durch die Tür huschten. Dann fiel sein Blick auf das Buch, das er noch unter den Arm geklemmt trug. Ob es vielleicht einen Geruch ausströmte, der den Katzen unangenehm war? Er zuckte die Achseln und folgte den beiden Tieren ins Wohnzimmer. Dort legte er das Buch auf den niedrigen Couchtisch, auf dem außer einer kleinen Vase mit einer künstlichen Blume nichts stand. Die Marmorplatte war wie ein unberührtes Schneetuch.

Arved ließ sich schwer in das Polster des englischen Ledersofas fallen und seufzte auf. Von den Katzen war nichts zu sehen; es war, als gäbe es sie gar nicht mehr. Noch vor einigen Monaten hätte Arved dies keineswegs schlimm gefunden, denn sie waren ein Teil des Erbes, das Lydia Vonnegut ihm hinterlassen hatte, und es war schwer für ihn gewesen, sich an diese beiden dunklen, rätselhaften Geschöpfe zu gewöhnen. Doch inzwischen gefiel ihm ihre Gegenwart.

Er schaute durch das breite Fenster auf die Wiese mit den knorrigen Obstbäumen. Kühe stapften träge durch das hohe Gras und kauten mit wohlabgemessenen Bewegungen und ohne jegliche Hast. Arved liebte dieses Bild, das ihn vom Frühjahr bis zum Herbst begleitete. Dieser Ausblick war so viel angenehmer als der in der engen Palmatiusstraße in Trier, in der Lydia Vonneguts Haus stand. Er beglückwünschte sich noch einmal zu der Entscheidung, es zu verkaufen und hierher zu ziehen. Er hätte nicht dort bleiben können – nicht nach seinen Erlebnissen, die in jener Hexennacht des vergangenen Jahres ihren Ausgang genommen hatten und ihm manchmal wie aus einem anderen Leben erschienen. Immerhin hatte er durch die Ereignisse Lioba Heiligmann kennen gelernt; sie war ihm während der zurückliegenden Monate sehr ans Herz gewachsen. Doch obwohl er sich jede Woche mit ihr traf, wusste er nur sehr wenig über sie.

Arved rutschte auf dem Sofa ein wenig nach vorn, griff nach dem Erzählband und blätterte darin herum. Er hatte noch nie etwas von einem Autor namens Thomas Carnacki gehört, aber das war nicht verwunderlich, denn er kannte sich in der Literatur nicht gut aus. Eigentlich hatte er das Buch nur mitgenommen, weil es ihm leid getan hatte. Es war so schön und so liebevoll gemacht, viel zu schade für die Mülltonne. Er vertiefte sich in die Holzschnitte.

Den ersten, der zu der Geschichte mit dem Titel Die Sammlerin gehörte, hatte er ja schon bei Lioba betrachtet. Auch jetzt noch erinnerte ihn der grob und doch eindrucksvoll hingeworfene Bibliotheksraum an das Zimmer, in dem Lioba ihn zu empfangen pflegte. Der seltsame Fortsatz, der aus dem geöffneten Buch hervorwuchs, war ihm hingegen unheimlich.

Der zweite Holzschnitt stellte eine Waldlichtung mit einem einzelnen Stumpf in der Mitte dar, neben dem etwas auf dem abschüssigen Boden stand, das wie ein Bierfass wirkte. Der Stumpf schien eine Krone zu tragen, aus der etwas hervorragte, das wie ein riesiger Nagel wirkte. Entweder waren die Fähigkeiten des Künstlers begrenzt gewesen, oder er hatte mit diesem Ensemble etwas ausdrücken wollen, das sich nur durch die Geschichte erschloss. Der dritte Holzschnitt hingegen schien einen seltsamen, mit phantastischen Verzierungen geschmückten Spiegel in einem kahlen, unmöblierten Zimmer darzustellen. Weder auf dem Titelblatt noch sonst wo in dem Buch gab es einen Hinweis auf den Künstler – das Buch hatte keinen Druckvermerk, aus dem sich die Auflagenhöhe, der Drucker oder der Buchbinder ergaben. Nicht einmal Druckort und Druckjahr waren zu ermitteln. Bei dem wunderbaren braunen Ledereinband mit den fünf Bünden handelte es sich jedoch um eine meisterliche Arbeit, das war selbst Arved klar.

Er holte aus der Küche ein Himmeroder Klosterbier und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Zwei Schluck des würzigen Starkbiers tauchten sein Gemüt in mönchischen Frieden und stimmten ihn auf das Leseerlebnis ein. Er verschlang die erste Geschichte und vergaß darüber Zeit und Welt. Als er fertig war, rieb er sich die Augen, trank das Glas leer und goss sich ein zweites ein.

Es war eine Geschichte über eine Sammlerin, eine Büchersammlerin, genauer noch eine Sammlerin von Occulta, die völlig in ihrer Sammelleidenschaft aufging und gar nicht bemerkte, wie einsam sie eigentlich war. Obwohl sie viel jünger als Lioba war, erinnerte sie Arved doch an die Antiquarin. Durch einen Zufall lernte die Frau einen älteren Sammler kennen, der ihr gegenüber bald tiefe Gefühle empfand, die sie jedoch nicht wahrnahm. Der Sammler, ein reicher Mann jenseits aller weltlichen Sorgen, einsam wie die junge Frau, sich seiner Einsamkeit aber schmerzlich bewusst, beging Selbstmord, als er begriff, dass er das Herz seiner großen Liebe nie würde für sich einnehmen können. Von nun an suchte er sie als Geist heim. Zuerst bemerkte sie auch dies nicht, doch bald konnte sie nicht mehr verleugnen, dass sie von einem Phantom verfolgt wurde. Seine Liebe, die er im Leben empfunden hatte, war nun in Hass gewandelt, und er stürzte die junge Frau schließlich von einem hohen Turm in den Tod.

All dies war in einer lyrischen und zugleich harten Sprache geschildert, die Arved sehr anrührte. Wie er selbst die Einsamkeit kannte! Wie er die Gefühle der beiden Hauptpersonen nachvollziehen konnte – auch jene der jungen Frau, denn in Arveds Leben hatte es ebenfalls eine Zeit gegeben, in der er mit großer Leidenschaft gesammelt hatte, um sich von dem Leben, das ihn als Pfarrer täglich umtoste, abzulenken. Er hatte Reliquien und Reliquiare in großer Zahl angehäuft. Ein paar Monate nach seinem Fortgang aus Trier hatte er die ganze Sammlung verkauft und eine hübsche Summe dafür erhalten. Er war froh, diesen Ballast nicht mehr durch sein Leben schleppen zu müssen, doch was Sammelleidenschaft war und wie sehr sie einen von sich selbst und von seiner Umwelt ablenken konnte, das wusste er nur allzu gut.

Er klappte das Buch zu und legte es behutsam auf den Tisch mit der hartweißen Platte. Seine Gedanken schweiften wieder zu Lioba.

Sie lebte allein, schien keinen Freund, keinen Liebhaber zu haben, was angesichts ihrer forschen Art und ihrer unbestreitbaren, reifen Schönheit, die ihre unmögliche Kleidung nicht vollständig verbergen konnte, erstaunlich war. Hatte sie immer schon allein gelebt, oder war sie einmal – oder mehrmals – verheiratet gewesen? Arved mochte ihre offene Art, ihre Unkompliziertheit, und er hatte oft den Eindruck, dass er selbst das genaue Gegenteil von ihr war. Er wunderte sich über sich selbst, dass er es wagte, sie beinahe jede Woche zu besuchen. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein, aber er war sich keinesfalls sicher, was sie über ihn dachte. Er war das, was man beschönigend »vollschlank« nannte, seine welligen, blonden Haare hatten sich gelichtet, und er entsprach beileibe keinem Schönheitsideal, war kein brillanter Plauderer, kein Draufgänger, kein selbstbewusster Mensch. Er traute sich nicht einmal, ihr das Du anzubieten, was er vor sich selbst damit rechtfertigte, dass sie die Ältere war und daher dieses Angebot von ihr kommen müsse. Er hätte gern mehr aus ihrem früheren Leben erfahren, doch darauf kam sie nie zu sprechen.

Es wurde dunkel. Arved machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er beobachtete das Erstarken der Schatten, und erst als er nur noch Schemen erkennen konnte, fiel ihm auf, dass die beiden Katzen noch immer nicht um ihr abendliches Futter bettelten. Normalerweise strichen sie ihm ab neun oder zehn Uhr um die Beine, maunzten, rannten immer wieder in die Küche, wie um Arved anzulocken, doch heute Abend blieben sie unsichtbar und unhörbar. Verdutzt stand Arved auf und schaltete das Licht an. Grün und gelb fiel es aus der Jugendstil-Deckenlampe und verband sich mit den Schatten, ohne diese wirklich zu vertreiben.

»Lilith! Salomé!«, rief er. Keine Reaktion. Da musste er wohl schwerere Geschütze auffahren. Er ging in die Küche und raschelte mit der Dose, in der sich das Trockenfutter befand – die Bobbels, wie er sie immer nannte. Als auch daraufhin die Katzen nicht angestürmt kamen, machte er sich ernstlich Sorgen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Schon kurz vor elf. »Lilith? Salomé?«

Er ging zurück ins Wohnzimmer und überprüfte die Balkontür. Sie war verschlossen, draußen konnten die beiden schwarzen Teufelchen nicht sein. Dann suchte er das ganze Haus nach ihnen ab, wobei er die Futterdose mitnahm und sie immer wieder aufreizend schüttelte.

Er fand die Katzen im Keller, dicht aneinander geschmiegt. Sie schauten ihn mit großen Augen an, schienen aber gesund und munter zu sein.

»Was ist denn mit euch los?«, fragte Arved, der schon lange die Gewohnheit angenommen hatte, mit seinen Tieren zu reden. Er schüttelte die Dose noch einmal, und die Katzen spitzten die Ohren. Sehr zögerlich standen sie auf, reckten sich, und noch zögerlicher folgten sie ihm nach oben in die Küche. Dort schüttete er die Bobbels in die Näpfe, und die Tiere vergaßen ihre seltsame Angst und fielen über das Futter her. Bald knirschte und knurpste es nur noch. Arved schüttelte den Kopf, stellte ihnen noch ein Schälchen mit frischem Wasser hin und ging wieder ins Wohnzimmer zu seinem neuen Buch.

Die nächste Novelle, die den Titel Vor des Messers Schneide trug, erzählte von einem Mann, der mit zwei Frauen ein doppeltes Spiel gespielt hatte. Die beiden taten sich zusammen, überwältigten den Mann, einen angesehenen Arzt, und entführten ihn. Nun begann erst die eigentliche Geschichte. Der Mann wurde gefesselt und auf einen Stuhl geschnallt, vor dem in einer Entfernung von etwa zwei Metern eine mannshohe Bretterwand mit eingelassenen Messern stand, deren Klingen auf ihn deuteten. Diese Wand war beweglich und wurde durch starken Federdruck in ihrer Position gehalten. Die beiden Frauen, die über den Arzt zu Gericht saßen, erklärten ihm, die Messerwand werde in genau zwei Stunden nach vorn schnellen und ihn durchbohren, denn sie sei mit einer Zeitschaltung versehen. Er könne seinem Schicksal nur entgehen, indem er ihnen eine annehmbare Entschuldigung für sein abscheuliches Verhalten biete. Zwei geschlagene Stunden versuchte der Gefesselte sich zu retten, doch in den Augen der Frauen fand er keine Gnade. Der Autor beschrieb das Ende des Unglücklichen mit großer Detailverliebtheit, die Arved den Magen umdrehte. Die beiden Frauen entwickelten sich in ihrer Unbarmherzigkeit und Rachsucht zu gleichsam dämonischen Wesen, die zum Schluss keiner menschlichen Regung mehr fähig waren. Diese Novelle war so gruselig intensiv, dass Arved nicht mehr weiterlesen konnte. Die Illustration hingegen hatte offenkundig nichts mit der Geschichte zu tun. Seltsam …

Er schob das Buch fort, wusste nicht, ob er fasziniert oder angewidert sein sollte, und bekam geradezu Angst vor der letzten Geschichte. Er wollte sie auf keinen Fall vor dem Schlafengehen lesen. Für heute reichte es. Er zog sich um und begab sich ins Schlafzimmer im oberen Stock. Es wurde eine unruhige Nacht.

Arved träumte zwar nicht von den beiden Geschichten, die er gelesen hatte, aber sein Traum hing mit dem Schattenbuch zusammen. Er sah seine beiden Katzen, wie sie das Buch belauerten, dann kroch etwas zwischen den Seiten hervor, das die Tiere umschlang und zerquetschte. Von ihren kläglichen Schreien wachte er auf.

Die Katzen schrien tatsächlich.

Arved sprang aus dem Bett und lief die knarrende Treppe hinunter. Lilith und Salomé hockten im Wohnzimmer und jaulten beinahe wie Hunde. Arved schaltete das Licht ein. Er bemerkte nichts Außergewöhnliches, alles war wie am vergangenen Tag. Das Buch lag auf dem weißen Couchtisch, die Blume stand daneben, die Möbel … Arved stutzte.

Die Blume.

Es war eine künstliche Lilie, die Lioba ihm einmal geschenkt hatte. Sie war verwelkt.

Arved trat unsicher vor sie und hob sie aus der Vase mit der kleinen Öffnung. Das ehemals frische Weiß der Blüte und das starke Grün des Stängels und der Blätter waren braun geworden. Angewidert warf er die schlaffe Blume auf den Tisch. Die beiden Katzen hatten zu jaulen aufgehört. Sie machten einen Buckel, und ihr Fell war gesträubt. Er versuchte sie zu beruhigen und zu streicheln, doch sofort schossen sie wie zwei schwarze Blitze aus dem Zimmer. Arved ging zurück nach oben ins Bett. Er lag noch eine Weile wach, aber die Stille des Hauses und des Dorfes wiegte ihn endlich wieder in den Schlaf.

Am anderen Morgen war er sich ziemlich sicher, dass die verwelkte künstliche Blume nur ein Traum gewesen war. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, stieg er vorsichtig nach unten. Was wäre, wenn die Lilie wirklich in Verwesung übergegangen war? Arved näherte sich der weit offen stehenden Wohnzimmertür. Und erstarrte im Rahmen.

Die Lilie lag neben der Vase, beinahe über dem Buch. Sie war braun. Mit zwei Schritten war Arved bei ihr. Hob sie auf. Das Braun glitt ab von ihr. Es waren nur Schatten gewesen. Die Blüte war jetzt strahlend weiß, Stängel und Blätter grün, so wie es sich gehörte. Arved atmete auf und stellte die Blume zurück in die Vase. Warum hatte sie daneben gelegen? War er wirklich in der Nacht hier gewesen? Oder hatten die Katzen vielleicht die Blume aus der Vase gezerrt? Das sah ihnen gar nicht ähnlich. Wo waren sie überhaupt?

Arved hatte sich bereits darauf eingerichtet, wieder auf die Suche nach ihnen gehen zu müssen, doch er fand sie in der Küche, wo sie vor ihren leeren Näpfen saßen und ihn vorwurfsvoll anstarrten. Er gab ihnen eine Sonderportion Bobbels und legte sich auf die Couch. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Kaminuhr, die in Ermangelung eines Kamins ein wenig unpassend auf der Mahagonianrichte stand, bereits halb zwölf anzeigte. Arved zog verwundert die Brauen hoch und gähnte. Er fühlte sich nicht einmal ausgeschlafen. Das Buch hatte ihn stärker beschäftigt, als er vermutet hätte. Er las die dritte Geschichte.

Sie trug den Titel Täter und Opfer und handelte von einem Kommissar, der eine Mordserie aufzuklären hatte, in der die Opfer zumeist mit gewaltigen Messern abgeschlachtet wurden. Immer legte der Täter Spuren, die der Kommissar zu spät entdeckte. Eine Leiche jedoch fand er nie; es blieben jeweils nur Blut oder Speichel des Opfers oder die Tatwaffe zurück, wodurch eine Identifizierung eindeutig möglich war. Manchmal erhielt er die Waffe auch mit der Post zugeschickt. Doch in einem außergewöhnlichen Fall kam der Kommissar rechtzeitig. Es gelang ihm, das Opfer zu befreien, dem eine Maske über das Gesicht gestülpt worden war, die sich allmählich zusammenzog. Der Kommissar nahm die Stelle des Opfers ein, legte sich die Maske an, die sich sogleich an ihm festsaugte, und wartete auf den Mörder, während seine Kollegen schussbereit vor dem leeren Fabrikgebäude lauerten. Doch der Mörder erschien nicht. Immer enger zog sich die Maske zusammen. Als der Kommissar schon nicht mehr um Hilfe rufen konnte, begriff er endlich, dass er selbst es gewesen war, der die übrigen Opfer getötet hatte. Und nun war er sein eigenes, letztes Opfer. Über dieser Erkenntnis erstickte er.

Puh! Arved verzog den Mund. Was für ein Buch! Er konnte nicht behaupten, die Geschichten schön zu finden, wenn er von gewissen lyrischen Passagen in der ersten Novelle absah, aber er musste zugeben, dass sie ungeheuer intensiv waren. Der Autor schien irgendeinen Trick anzuwenden, mit dem er den Leser unbarmherzig in die Handlung hineinzog. Arved hatte keine Ahnung, wie dieser Thomas Carnacki das geschafft hatte, denn schließlich war er kein Literaturexperte. Arved verspürte eine starke innere Unruhe und verließ das Haus.

Lange streifte er durch die Wälder um Manderscheid, kletterte hinab in den Achtergraben, wieder hinauf zum Lieserpfad. Er genoss die reinigenden Anstrengungen des Weges. Zwei Stunden später war er sowohl sehr müde als auch sehr hungrig. Inzwischen hatten alle Restaurants für den Nachmittag geschlossen, und Arved wollte sich nicht selbst etwas kochen, also kehrte er im Eifel-Döner ein. Während er auf sein Döner-Lahmacun wartete, dachte er wieder über das Schattenbuch nach. Ein seltsamer Titel, der in keiner der drei Geschichten aufgenommen wurde. Wahrscheinlich nannte man das dichterische Freiheit. Während des ganzen Weges hatte er über das eine oder andere Motiv aus den Novellen nachgedacht. Er hatte Mitleid mit den Opfern empfunden, auch wenn sie in gewisser Weise an ihrem Untergang Schuld oder zumindest Mitschuld trugen. Daher waren die Geschichten zwar irgendwie moralisch, aber auch sehr unbefriedigend und ließen den Leser in einer starken Spannung zurück. Das Gute hatte gewonnen und gleichzeitig verloren.

Arved erhielt sein Lahmacun und setzte sich an einen der blank gescheuerten Tische. Während er aß, dachte er weiter über das Schattenbuch nach. Man konnte beinahe den Eindruck bekommen, dass diese Geschichten nicht alles waren, dass es noch Geschichten hinter den Geschichten gab, die diese erklärten und vielleicht auch relativierten. Wie konnte sich jemand solche abgründigen Dinge ausdenken und sie niederschreiben? Was mochte der Autor sonst noch geschrieben haben?

Als Arved aufgegessen und sich die fettigen Finger gleich an mehreren Servietten halbwegs gereinigt hatte, verließ er tief in Gedanken den Imbiss. Er hatte eine Idee.

Arved holte das Buch, fuhr damit nach Wittlich und versuchte es dort zunächst in allen drei Buchhandlungen: bei Stephanus, in der Buchhandlung Rieping und in der Bücherstube neben der Post, aber überall hörte er nur, dass von einem Autor namens Thomas Carnacki nichts lieferbar sei. Keiner der Buchhändler kannte diesen Namen. Der Inhaber der Buchhandlung Rieping war sogar so freundlich, Arved in seine Datenbanken schauen zu lassen, aber ein Autor namens Carnacki tauchte nirgendwo auf. Und selbstverständlich hatte noch keiner der drei Buchhändler das Schattenbuch je in Händen gehabt.

Während des Rückwegs zum Parkplatz an der Lieser, wo Arved seinen Bentley abgestellt hatte, fasste er einen raschen Entschluss. Warum sollte er nicht mit dem Schattenbuch dorthin zurückgehen, wo er es erhalten hatte? War Lioba Heiligmann nicht Buchhändlerin, wenn auch spezialisiert auf alte Bücher über Hexen, Geister und Magie? Außerdem besaß sie einen Internetanschluss – Arved hatte sich zu dieser zweifelhaften technischen Innovation noch nicht hinreißen lassen – und beherrschte das Einmaleins der Büchersuche sicherlich im Schlaf. Ohne sich vorher bei ihr anzumelden, machte er sich auf den Weg nach Trier.

3. Kapitel

Seit so vielen Jahren beschäftigte sich Lioba Heiligmann als Antiquarin nun schon mit der Welt des Unbekannten, Unheimlichen und Düsteren, doch sie hatte noch nie ein Gespenst gesehen.

Bis heute.

Als sie die Tür ihres Hauses öffnete, weil es soeben geklingelt hatte, wich sie zurück. Da draußen stand eine Gestalt, die so bleich wie der Tod war und schwarze Ringe unter den Augen hatte. Und in diesen Augen lag für den Bruchteil einer Sekunde etwas, das sie nur als unheiliges Feuer bezeichnen konnte. Das Feuer erlosch, als die Gestalt sie ansah, und der Schatten über ihr schien sich zu heben. Doch die Blässe blieb.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Lioba, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. »Ist denn schon wieder Mittwoch?« Allmählich kehrte der leise Spott in ihre Stimme zurück.

Arved Winter hielt das Buch, das sie ihm gestern geschenkt hatte, wie einen Panzer vor seine Brust gedrückt. Blonde, wellige Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und verstärkten nur die Blässe seiner Haut. Er sah aus, als habe er die letzte Nacht gar nicht geschlafen.

Er zuckte unter ihren Worten zusammen, als hätte sie ihn gepeitscht. Da tat er ihr wieder leid. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie und machte eine einladende Handbewegung. Er drückte sich wortlos an ihr vorbei und begab sich sofort in seinen angestammten Sessel im Wohnzimmer. Das Buch legte er auf den kleinen Tisch. Dann sah er sie wieder mit diesem dunklen Blick an.

Sie blieb in einiger Entfernung von ihm stehen. Er sollte das Hemd über der Hose tragen, entschied sie still, dann würde es nicht so um seinen Bauch spannen. Überhaupt – nur ein paar kleine Änderungen wie mal ein buntes Hemd statt der ewigen weißen und eine helle Hose statt der unabänderlichen dunkelblauen würden bestimmt Wunder wirken. Aber wahrscheinlich hatte Arved in seinem Kleiderschrank nur weiße Hemden und blaue Hosen, damit er sich morgens nicht überlegen musste, was er anziehen sollte. Ihr gemeinsames Erlebnis in jener anderen Welt hatte ihn erwachsener und reifer gemacht, doch es blieb noch viel zu tun …

»Was verschafft mir die Ehre Ihres unverhofften Besuchs?«, fragte sie und zog die Mundwinkel belustigt hoch, als sie bemerkte, wie die Blässe auf seinem Gesicht langsam schwand und sich rote Flecken auf den Wangen bildeten.

Arved räusperte sich und deutete auf das Buch. »Das hier.«

»Wollen Sie es mir zurückbringen? Sie hätten es einfach in die Mülltonne stopfen können – das hätten Sie schon gestern tun sollen.«

»Im Gegenteil. Ich habe es gelesen.«

»Schön.« Sie wartete auf ein vernünftiges Wort von ihm.

»Es ist … ich habe fast die ganze Nacht gelesen, und heute Morgen auch – mit Unterbrechungen.«

Sie sparte sich einen Kommentar dazu und sah ihn nur auffordernd an, während sie die Hände in die Hüften stemmte und ungeduldig vor und zurück wippte.

»Ich wüsste gern, wer der Autor ist und ob er noch etwas geschrieben hat.«

»So gut war es?«, fragte Lioba ungläubig.

»Nicht eigentlich gut … ich weiß nicht … aber intensiv. Unheimlich intensiv.«

»Offenbar. Es hat ein Gespenst aus Ihnen gemacht. Einen Schatten. Aber so heißt das Buch ja auch, oder? Wie wäre es mit einem Kaffee?«

Arved nahm dankbar an, und sie zog sich in die Küche zurück. Während sie den gemahlenen Kaffee in die Glaskanne schaufelte und gleichzeitig den Wasserkocher in Gang setzte, musste sie unwillkürlich lächeln. Arved brauchte mal wieder etwas, woran er sich festhalten konnte, bevor er in der Lage war, freier zu reden. Wie mochte er damals seine Predigten gehalten haben? Mit der Kaffeetasse in der Hand?

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, saß er noch immer reglos da. Sie stellte ihm die volle Tasse hin; er packte sie und hielt sie sich vor den Mund, ohne jedoch einen Schluck zu nehmen. Nachdenklich schaute er in die braune Flüssigkeit, aus der leichter, gekräuselter Dampf aufstieg. Lioba setzte sich in den anderen Sessel und schlug die Beine übereinander. Sie machte es eigentlich nur, weil sie seine verklemmten Blicke sehen wollte. Sie wusste, dass sie schöne Beine hatte – das einzig Schöne an ihr, wie sie fand, denn für ihren Geschmack war ihr Körper zu groß und knochig, ihre Augen standen zu eng beieinander, die Nase war etwas zu breit, die Brust etwas zu groß und diese weißen Strähnen in den Haaren … Aber was sollte es, die Männerwelt war für sie wie eine Wüste, die sie schon vor längerer Zeit erfolgreich durchquert hatte. Sie zwang sich, nicht lauthals loszulachen, als Arved wieder einmal auf ihre Beine stierte. Sie musste sich eingestehen, dass ihr diese Blicke doch noch gefielen. »Sie wollen also etwas über den Autor erfahren?«, fragte sie schließlich und zündete sich einen Zigarillo an.

»Ich habe schon versucht, etwas über ihn herauszufinden – vorhin in den Wittlicher Buchhandlungen. Ich hatte aber kein Glück. Und da ist mir der Gedanke gekommen, dass … dass …«

»… dass Sie Ihre alte Freundin Lioba belästigen, ihr die Zeit stehlen und sie auf diesen Autor ansetzen könnten«, beendete die Antiquarin den Satz für ihn.

»Nein, nein, so war das selbstverständlich nicht gemeint«, verteidigte sich Arved sofort.

Warum sagst du nicht die Wahrheit, dachte Lioba. Nach deinem Abstieg in die Hölle hatte ich geglaubt, du seiest zum Mann gereift, aber du scheinst allmählich wieder in deine alten Gewohnheiten zurückzusinken. Schade. Dir fehlt jemand, der dich ins Leben stößt. Nicht dass ich das sein wollte. Keineswegs. Ich wäre viel zu mütterlich für dich. Außerdem bin ich zu alt, oder? »Natürlich war es so gemeint. Aber was ist daran so schlimm, dass man es nicht zugeben könnte?«

»Ich wollte Sie nicht belästigen.«

Du willst nie jemanden belästigen, dachte Lioba. Hast du je einem Menschen weh getan? Wenn ja, dann nur unabsichtlich. Wenn man ein allegorisches Bild der Unschuld zeichnen soll, wärest du die beste Vorlage. »Sie belästigen mich nicht.«

»Ich dachte, ich lasse Ihnen das Buch hier. Wenn Sie irgendwann etwas Zeit finden sollten … wenn nicht, ist es auch gut. Ich … ich mache mich dann mal wieder auf den Weg.« Er stellte den Kaffee ab, ohne davon getrunken zu haben.