Tom Turtschi

GOTTESZONE

Die Reise ins Licht

 

AndroSF 103

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juli 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Adobe Stock

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Marianne Labisch

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 168 6

 


»Im Kosmos hat nur das Fantastische

eine Chance, real zu sein.«

Pierre Teilhard de Chardin

 


Für Regula

 


Teil I

 


Kapiteltitel in Tom Turtschis GOTTESZONE1

»Und?« Captain Gerlach drehte sich fragend zu Koendrink.

Der First Officer saß angespannt über den Screen gebeugt und setzte unentwegt Rufsignale ab. »Tote Hose auf allen Frequenzen – da meldet sich keiner …«

»Versuchen Sie es weiter!« Gerlach rieb die Nasenwurzel und gab sich alle Mühe, die Müdigkeit aus seinen Augen zu bügeln. Er setzte sich wieder aufrecht hin und verfolgte konzentriert die Koordinaten, die ihm der Bordcomputer auf die Retina projizierte. Kurz bevor sie über die Kolonie glitten, schaltete er die Bugkamera ein. Die virtuelle Steuerkonsole verschwand und er starrte durch das Kameraauge angestrengt auf die Zone ihres Überflugs. Kein Licht durchbrach die Dunkelheit, keine einzige Funzel brannte in der Kolonie. Vergebens wartete er auf das bläuliche Schimmern der Kuppel, auf die Scheinwerfer der Erntestände und die kriechenden Glühwürmchen der Transporter.

Zwei Minuten später passierten sie die Küstenlinie. Gerlach doppelzwinkerte auf das Kreuzchen der Bugkamera am oberen Rand des Blickfeldes und die Projektion im Auge poppte weg. Er lockerte den verspannten Nacken, drehte sich zur Seite und äugte durch die Luke.

Ein Silberstreifen durchbrach die Nacht.

Der Schimmer war nicht das erhoffte Licht, trotzdem atmete er auf. Am Horizont drückte zum neunten Mal die Sonne durch den Dunst und tauchte Gordian Prime in eine überbordende Morgendämmerung. Ein unwirkliches Gleißen aus Lila und Orange, das an den hemmungslosen Barock alter Bibelfilme erinnerte, an die Pfirsich- und Aprikosenhimmel kurz vor der Offenbarung. Kitschig, aber allemal eindrücklich. Fasziniert blinzelte Gerlach in den anbrechenden Tag. Jeder neue Tag ist eine Offenbarung, musste er sich eingestehen, selbst wenn dieser auf ihrem Orbit nur gerade eine Stunde dauerte. Der Tag übertünchte die abweisende Nacht, als ob es sie nie gegeben hätte.

»Transit neun abgeschlossen. Beim nächsten Mal werden wir weiter südlich über die Gebergründe fliegen. Vielleicht hat sich jemand in die Sümpfe durchgeschlagen und wir haben da mehr Glück.« Gerlach beendete die Durchsage, neigte den Kopf zur Seite und schaute auf den Planeten hinunter. Das insellose Meer füllte die Luke zur Hälfte; beim gekrümmten Horizont Gordian Primes kippte die glitzernde See in das Kobaltblau des Himmels.

In seinem Rücken zischte die Tür zur Brücke. Schritte eilten herbei, stoppten hinter dem Kommandostand.

»Sie beabsichtigen sicher, bald runterzugehen –«

Gerlach hörte Jastrofs Bemerkung und vermisste das Fragezeichen am Ende des Satzes. Ein Gruß als Einleitung hätte ihn auch nicht gestört – aber ihr Gast hatte die letzten drei Wochen keinen Hehl daraus gemacht, wie viel ihm an Umgangsformen oder der Meinung des Captains lag.

Charmant schob Jastrof nach: »Ich fahre gerne Karussell und genieße die Aussicht! Und Ihre Gesellschaft! Der Konzern erwartet aber mehr von uns. Das haben wir doch beide verstanden, Captain.«

Sicher doch, dachte Gerlach und beschwichtigte sich: Ein Kunde ist König und braucht kein Freund zu sein. Langsam drehte er sich zu Jastrof um. Sein Blick kletterte die hagere Gestalt hoch, über das weiße Hemd, den markanten Adamsapfel, über die schmalen Lippen zu der scharf geschnittenen Nase. Jastrofs Augen fixierten ihn von oben herab. Nicht arrogant, im Blick lag viel mehr eine gelassene Selbstsicherheit. Gerlach musste an einen russischen Aristokraten denken, für den es seit Generationen eine Selbstverständlichkeit bedeutet, seine Wünsche erfüllt zu sehen. Ohne Wenn und Aber. Er verbiss sich eine Antwort.

Er wusste, Jastrof stand unter Druck. Der Konzern saß ihm im Nacken, X-Logistic erwartete lieber gestern als heute ein Ergebnis. Nur erleichterte dessen überhebliche Art nicht gerade, ihn zu unterstützen. Jastrof stellte keine Fragen und erteilte keine Befehle, aber alle seine Bemerkungen hatten die penetrante Eigenschaft, das Gegenüber zu vereinnahmen und zum gefügigen Komplizen seines Willens zu machen.

»Sie sind intelligent, Captain Karl Gerlach: Ihnen ist bewusst, was die ausstehenden Lieferungen bedeuten. Jeder weitere Tag bringt uns näher an den Kollaps! Wir …«

»Jastrof, ich bitte Sie! Ich habe den Job durchaus verstanden. Wir ziehen am selben Strang, nur will ich verhindern, dass der zu unserem Galgen wird. Die Sicherheit der Crew hat oberste Priorität. Ich werde eine Landung in Betracht ziehen, wenn wir von hier oben alles in Erfahrung gebracht haben, was möglich ist. Weiß der Teufel, was uns da unten erwartet …«

 


Kapiteltitel in Tom Turtschis GOTTESZONE2

»Kurz: Ich kriege nichts rein. Sie antworten auf keine Nachricht. Ich kann keinerlei Aktivität registrieren, elektromagnetisch scheint alles tot zu sein.« Leon Koendrink verwarf entschuldigend die Hände, als sei er persönlich dafür verantwortlich und hätte seinen Job schlecht gemacht.

»Sonst? Was wissen wir?« Gerlach blickte auffordernd in die Runde.

Neben Koendrink saßen Pitou und Cejka, die beiden Frauen. Masha Cejka – mit ihren zerzausten blonden Haaren, die wringenden Hände auf dem Tisch gebändigt – wirkte angespannt. Ihre Halswirbelsäule neigte sich nach vorne und schob den Kopf eine Handbreit vom mädchenhaften Körper, so als könnte sie kaum erwarten, auf die Ereignisse loszustürmen. Wie eine Katze in Lauerstellung fixierte sie mit ihren Smaragdaugen den Captain. Sie schwieg.

Auch Solène Pitou sagte nichts. Die Ärztin stützte die Ellbogen auf, legte die Fingerkuppen aneinander und massierte gedankenverloren mit den Zeigefingern die Nasenspitze. Sie dachte angestrengt nach. Die LEDs ihres Exocortex hinter dem Ohr orgelten durch das Farbspektrum und tauchten die Haarstoppeln im Nackenbereich wie das Gefieder eines Raben bei Sonnenlicht in ein changierendes Leuchten.

Spiro Obonai saß mehr unter als an dem Tisch. In den Sessel gefläzt markierte er Desinteresse, seine Wurstfinger spielten lustlos mit einem Hologramm auf dem Flat herum, dann kratzte er sich am Hals, bohrte in der Nase. Halblaut murmelte er zu Koendrink: »Die Siedler sind doch den Schnecken auf den Schleim gekrochen …«

Leon Koendrink verzog keine Miene, auch die anderen überhörten die Bemerkung. Nur Jastrof strafte Spiro mit einem Pastorenblick ab, missbilligend, aber nachsichtig. Er stand als Einziger. Mit einem Becher Kaffee in der Hand lehnte er an der Stirnwand der Lobby und wippte mit dem Spielbein. Das rhythmische Rascheln seiner Hose unterstrich die Stille im Raum.

Masha Cejka, die Exobiologin, räusperte sich. »Wir kennen die Nexen als friedliche Spezies. Sie ähneln unseren Schnecken, auch wenn sie beträchtlich größer sind – ausgewachsen erreichen sie gut und gerne das Gewicht von drei, vier Elefanten. Sie sind keine Räuber, nicht einmal Pflanzen fressen sie: Die Pigmente ihrer Haut beherrschen die Fotosynthese. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nexen etwas mit dem Verschwinden der Farmer zu tun haben.«

»Jaja, dumme brave Kühe – habt ihr schon mal eine Horde brünstiger Kühe erlebt? Oberfail, solche hormongesteuerten Biomorpher, ich sage euch: Die Biester haben sie kaltgemacht!«

Masha warf Spiro einen vernichtenden Blick zu. Alles, was nicht mit Strom betrieben wurde, machte den molligen Jungen hysterisch. »Niemals wurde bisher ein hitziges Tier oder eine aggressive Population beobachtet. Da ist kein Raubtiergebiss, nicht einmal über zahnlose Münder verfügen sie – wie sollten sie für die Siedler gefährlich werden? Ich möchte daran erinnern: Seit vier Jahrzehnten wird auf Gordian Prime Lox ohne Zwischenfälle gewonnen. Exoloxan ist nun mal ein Biopolymer, das sich bei uns nicht ohne beträchtlichen Aufwand produzieren lässt. Die Tiere sind ein Segen. Sie scheiden Exoloxan als Produkt ihres Stoffwechsels in rauen Mengen aus. Sie werden artgerecht gehalten, in großen Gehegen, die völlig ihrer natürlichen Umgebung entsprechen. Die Tiere sind friedlich, dafür bürge ich!«

Spiro zog eine Fratze und versetzte dem Hologramm einen Klaps, dass die Elektronen zitterten. »Scheißviecher«, murmelte der junge Techniker, »diese prämetabolistischen Aggregate sind mir nicht geheuer, allen Beteuerungen zum Trotz …«

Solène Pitou fuchtelte mit den Armen und ruderte wie eine Polizistin mit den Händen, bemüht, das aufkommende Gespräch in geordnete Bahnen zu dirigieren und einen Crash zu vermeiden. »Wie ich im Briefing lese, ist die Produktivität über Wochen gesunken, die Ernteleistung brach ein. Die Chargen wurden geringer, peu à peu, zuletzt blieben die Lieferungen ganz aus …« Sie wandte sich zu Jastrof und kippte ihre Hände um die Achse. Die Handflächen schauten zur Decke, als wollte sie ihm die mageren Befunde aus dem Papier zurückschieben: »Voilà, c’est tout, das ist alles, was ich Ihrem Bericht entnehme. Und was ist der Grund? Litten die Tiere an Verstopfung? Maschinendefekte? Eine feindliche Invasion? Warum schweigen sich die Siedler aus? Verehrter Herr Jastrof: Die Faktenlage ist mehr als dürftig. Sie haben uns engagiert und verlangen eine Expedition auf den Planeten. Als Medizinerin muss ich sagen, sie fordern eine Operation ohne Diagnose. C’est irresponsable!«

Jastrof nickte Pitou zu. Er zerknüllte den leeren Pappbecher, stieß sich mit dem Bein von der Wand ab und begann auf und ab zu gehen. »Sie haben das Briefing gelesen. Schön. Sie kennen also den Ernst der Situation: Die letzte Lieferung aus Gordian Prime traf vor siebzehn Monaten auf der Erde ein – ein halbes Jahr, bevor die Siedler den Kontakt abbrachen. Das entspricht in der Weltproduktion einem Rückgang von dreiundzwanzig Prozent der Jahrestonnen – die Preise von Lox sind explodiert! Für die Weltwirtschaft eine Katastrophe. Fakt ist weiter, dass ohne das Oligomer nichts läuft, ohne Loxan wird die Zivilisation in das Erdölzeitalter zurückkatapultiert. Niemand will das …«

»Das steht alles im Bericht von X-Logistic!«, fuhr Leon Koendrink unwirsch auf, »Und wie Sie richtig bemerkten: Wir haben in Ihrem Wisch auch das Kleingedruckte gelesen! Aber das beantwortet nicht Solènes Frage: Warum meldeten sich die Siedler nicht, als Probleme bei der Förderung auftauchten?«

Jastrof nickte verständnisvoll, dazu zückte er aus seinem mimischen Repertoire ein eingespieltes Lächeln, das er zwischen die Mundwinkel legte.

Gerlach legte seine Hand auf Koendrinks Schulter. »Lassen Sie Jastrof sprechen, Koendrink …« Er wusste, wie pikiert sein First Officer auf dieses Qualitätslächeln reagieren konnte. Koendrink hielt absolut nichts von Männern mit manikürten Fingernägeln und Gelfrisur, er hielt genauso wenig von Diplomatie – aber jetzt war nicht der Moment, ihren Auftraggeber zu brüskieren.

»Ich sehe: Sie haben die Problematik erfasst. Unsere Aufgabe besteht darin, genau das herauszufinden. Seit der letzten Transmission vor vierzehn Monaten, die uns von Gordian Prime erreichte, haben wir nichts mehr erfahren. Als ein halbes Jahr später auch keine Lieferung auf der Erde eintraf, mussten wir handeln. Ich wurde auf die lange Reise geschickt und ich habe Sie vor drei Wochen gechartert, um die Situation vor Ort in Augenschein zu nehmen. Wir müssen in der Kolonie nach dem Rechten sehen …« Jastrof blieb stehen. Jetzt kam die ernsthafte Miene eines Politikers zum Zug, der die Tragweite der Worte unterstreichen will, die er gleich in die Kamera sprechen wird. »Es gibt Vermutungen … Im Briefing wird Jair Weiss erwähnt. Beiläufig, Sie werden dem keine große Beachtung geschenkt haben. Gerne ergänze ich den Bericht mit einigen Aspekten, die mir über Jair Weiss bekannt sind …« Er trat neben den Captain und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Sein Blick schweifte durch die Runde, und nach einer Kunstpause fuhr er eindringlich fort: »Seit die Kolonisten den politischen Wirrkopf zum Sprecher ernannt haben, bereitet uns die Kolonie nichts als Ärger. Erst verknappte er die Lieferungen, trieb die Preise hoch, missbrauchte seine Stellung und Macht, um untragbare Sozialleistungen durchzusetzen, dann machte er uns das Leben mit übersteigerten Tierschutzideen schwer. Ich gehe von einem Boykott aus, auf Gordian Prime findet so etwas wie ein Aufstand statt. Dort gibt es subversive Elemente, die auf die Grundfesten der freien Weltgemeinschaft zielen. Ich bin sicher, uns allen ist klar, worin bei dieser Situation unsere Aufgabe besteht.« Jastrof beugte sich herausfordernd über den Captain und fixierte ihn durchdringend.

Gerlach hielt seinem Blick stand.

Jastrof richtete sich auf, ging um den Tisch und ließ sich neben Spiro in den freien Sessel fallen.

»Sie stellen Vermutungen an, Jastrof … Mir wären gesicherte Fakten lieber. Koendrink, haben Sie die Daten der Überflüge ausgewertet? Keinen verdächtigen Hinweis übersehen?«

»Hmm …«, Leon Koendrink massierte bedächtig seine Bartstoppeln, »die Infrastruktur scheint intakt. Die Kuppel, die Ausfallstraße, die Gehege – das ist alles da. Auch der Orbitalaufzug für die Ware weist keinen Defekt auf, soweit ich das zurzeit beurteilen kann. Nein, Captain, muss passen … keine sachdienlichen Hinweise.«

»Was ist mit der letzten Nachricht der Siedler?« Spiro tauchte schlagartig aus seinem Dämmerzustand auf. »Die letzten Zeichen von Aktivität in der Kolonie wurden von einer automatischen Relaisstation im Sombreronebel aufgefangen. Steht im Briefing von X-Logistic. Ist die Meldung zugänglich?«

Leon Koendrink blickte Spiro verwirrt an. Schließlich begriff er, dass wohl nicht alle das Briefing bis zum Ende abgearbeitet hatten. »Die Datei, die vor vierzehn Monaten von der Relaisstation A13 registriert wurde, befand sich im Anhang des Berichts. Kein Notsignal, nichts deutet auf Schwierigkeiten hin. Die Aufzeichnung ist einfach wirr, unverständlich – und das rührt nicht nur von der lückenhaften Aufzeichnung her.« Er legte die zentrale Datenbank aus dem Gubernator des Schiffes auf das Display in seinem Auge und zwinkerte durch die Navigation. Suchte die Datei, startete den Player und sagte: »Die Bildqualität ist unbrauchbar und die verständlichen Stellen der Sprachaufzeichnung, na ja – hören Sie selbst … Öffnen Sie den Port für Audiostreams in Ihrer Brain-Bridge.«

Ein Fiepsen und Surren machte sich im Innenohr der Anwesenden breit, dann kristallisierten sich aus dem akustischen Brei einige Wortfetzen heraus.

… die Schwi-- … ist -elle … -rkenne dich, f-lge! …Synchr-nisi-re, -szilli-e … wir surfen … wie die Schwingung auch sein wird: sie enth-lt die Generalschwing-ng des Göttl-chen, worin das unbew-sste …

 


Kapiteltitel in Tom Turtschis GOTTESZONE3

Leon Koendrink war in der Küche verschwunden und Gerlach hatte ihm angeboten, die Golombek im Clark-Orbit in einer stationären Umlaufbahn zu parken und die Anpassung der Bordzeit an Gordian Prime vorzunehmen. Das verstand er genauso gut wie der First Officer – mit Koendrinks Fertigkeit an den Kochtöpfen konnte er nicht mithalten. Alle schätzten Koendrinks Essen, und er wollte der Crew die Vorfreude nicht verderben. Wahrscheinlich würde es einige Tage dauern, bis sie wieder gemeinsam und gemütlich an einem Tisch saßen. Während der Einsätze kam es selten dazu: Koendrink fand nicht die Zeit, sich in der Kombüse auszutoben, jeder verpflegte sich auf die Schnelle aus dem Nutrimat und würzte die fahlen Lox-Derivate mit dem Gedanken, dass sie irgendwann wieder unterwegs sein und reichlich Gelegenheiten bestehen würden, sich an Koendrinks raffinierter Kochkunst gütlich zu tun.

Die Bahngeschwindigkeit war eingestellt und die Höhe ausgependelt, der Inklinationswinkel lag stabil bei null: Die Golombek saß über dem Äquator und drehte mit dem Planeten in den Nachthimmel.

Gordian Prime benötigte ziemlich exakt sechsunddreißig Stunden für eine Eigenrotation – ein langer Tag. Das konnte strapaziös werden. Trotzdem wusste er, nichts führte daran vorbei, sich an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Gerlach skalierte den Tag in vierundzwanzig Einheiten, die Stunde zu neunzig Minuten und stellte die Bordzeit neu ein. Ein Tag mit sechsunddreißig Stunden schien ihm absurd: Mittag um achtzehn Uhr, Nachtessen um siebenundzwanzig Uhr. Das versprach vor allem Orientierungslosigkeit. Wenn schon Biorhythmus und Schlafwachzyklus des Körpers geschunden wurden, brauchte das Hirn nicht eine zusätzliche Vergewaltigung. Die Siedler mochten sich durch die Jahre an die sechsunddreißig Stunden gewöhnt haben, aber für Kurzaufenthalter wie sie würde das im Kopf einen Jetlag bewirken, auf den er gerne verzichtete.

Neunzehn Uhr zweiundsiebzig – Gerlach nickte, zwinkerte das Fenster mit der Zeiteinstellung aus dem Auge, kappte die Brain-Bridge zum Kommandostand und stand auf.

Die Messe lag unmittelbar hinter der Brücke.

Nach wenigen Schritten trat Gerlach durch die Tür.

Spiro Obonai kniete am Boden und hantierte am Servicewägelchen, das kopfüber vor ihm stand. Die beiden Frauen fläzten sich auf der Couch und verfolgten interessiert Spiros Geschäftigkeit.

Spiro setzte die vier Räder des Servierboys in Schwung. Er nickte befriedigt, stand auf und stellte das Wägelchen auf die Rollen. »Ha! Wer sagt’s denn! Viermal pusten, und das Ding funktioniert besser als frisch aus dem 3-D-Plotter.«

»Chic, chic!« Solène schürzte die Lippen und nickte anerkennend. Sie setzte eine erstaunte Miene auf, und mit einem schelmischen Augenzwinkern schob sie nach: »Und warum musste das jetzt zehn Monate quietschen? Du hast das rascher hingekriegt als eine Totalrevision des Reaktors samt Rekalibrierung der temporalen Antimaterieschlaufen!«

Spiro überhörte das Kichern der beiden Frauen und hielt Solène die Dose vors Gesicht.

»WD-40! Bewährt durch die Jahrhunderte, echt antik!« Er drehte sich zu Masha um. »Da hat es nicht mal Schneckenschleim drin. Das ist gutes altes Erdöl!«

Masha sah ihm zu, wie er die heilige Dose sorgsam in der unteren Seitentasche seiner Cargohose verschwinden ließ.

»Sag mal, trägst du eigentlich eine Werkzeugkiste oder eine Hose?« Die beiden Röhren buchteten an unzähligen Stellen, Balkone und Erker wuchsen wie bei einer Säule von Gaudì in alle Richtungen. »Kannst du dich damit noch hinsetzen?« Sie rückte zur Seite und deutete kokett auf den handbreiten Spalt, der zwischen ihr und Solène frei wurde.

»Mal halblang, Schwesterchen. Keine Zeit zum Chillen. Wenn die Damen die Beine hochlegen, müssen andere rotieren, damit das Dinner gereicht werden kann.«

Spiro packte den Servierboy und wieselte quer durch die Messe zu Leon in die Kombüse.

Gerlach trat zum Tisch und setzte sich. Er griff nach dem Wasserkrug, füllte die Gläser, trank bedächtig einen Schluck. »Was gibt’s denn?«

Solène hob die Augenbrauen, Masha zuckte mit den Schultern. Durch das Klappern aus der Küche hörten sie Koendrinks Stimme: »Indische Frikadel Pan mit Patat Oorlog. Zur Nachspeise Poffertjes.«

Die drei tauschten fragende Blicke aus, dann flogen ihre Augen zur Pendeltür: Spiro stob mit dem Servicewagen herein, im Gefolge Leon, der sich die Hände an der Schürze trocken rieb. Er deutete auf die Backform. »Ein asiatischer Hackfleischauflauf aus dem Ofen, verfeinert mit Muskatnuss, Nelke, Knoblauch und Ketjap Manis. Dazu Pommes mit Mayo, Zwiebeln und Erdnusssoße.«

»Ich sag’s euch, gediegen, was unser Küchenlord hingezaubert hat! Bin sicher, da werden sogar die Grünfutterprinzessinnen dahinschmelzen. Darf ich zu Tisch bitten?« Mit einem Seitenblick zur Couch winkte Spiro Richtung Gedecke, dann stapelte er die Teller und begann mit dem Anrichten. Genüsslich tranchierte er den Hackbraten, schaufelte Fritten, löffelte Erdnusssoße.

Der letzte Teller stand auf dem Tisch, auch Spiro setzte sich und griff nach dem Besteck.

»Sie denken daran …«, unterbrach ihn der Captain, »unser Gast.«

»Speist der Herr wieder in seinem Quartier?«

»Wie immer …«, nickte Gerlach.

Unwirsch schlenzte Spiro Gabel und Messer auf den Tisch und maulte: »Und der Tablettjockey bin ich – wie immer. Alles wie immer, die noble Gesellschaft pfeift und der Diener rennt.« Spiro schnitt eine Grimasse, griff beim leeren Platz den Teller, packte ihn mit Glas und Besteck auf ein Servierbrett und flog davon.

»Der Herr verschmäht unsere Gesellschaft …« Masha verfolgte Spiros Abgang. Jeden Abend dasselbe Ritual. Er konnte einem leidtun. »Jetzt sind wir bald drei Wochen unterwegs und nicht einmal hat sich dieser Ogneslaw Jastrof dazu herabgelassen, mit uns zu essen.«

Gerlach zuckte mit den Schultern, aber Leon Koendrink hakte nach: »Den Typen hätten wir besser in Lahan gelassen. Den Job, – na ja, den konnten wir schlecht ausschlagen, aber wir hätten darauf beharren sollen: Passagiere nur gegen Aufpreis!«

Gerlach brauste auf: »Das nächste Mal verhandeln Sie, Koendrink! Seien Sie froh für den Auftrag – und schlucken Sie die Kröte. Sie können Jastrof von mir aus vorher marinieren …«

»Doucement, doucement! Leon stößt sich doch nur an der Marotte unseres Gastes, alleine zu speisen. Gesellig ist er wirklich nicht …«

Masha zog die Augenbrauen hoch. »Wie habt ihr euch den eigentlich eingehandelt? Ist immerhin das erste Mal, dass uns ein Auftraggeber begleitet.«

Gerlach schluckte, wischte sich den Mund ab und sagte: »War schlicht eine Bedingung. Jastrof suchte auf Lahan eine Crew, die ihn nach Gordian Prime begleitet. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass er auf uns gestoßen ist.«

Masha hörte nur mit halbem Ohr zu. Verwirrt fragte sie nach: »Wie konnte dieser Jastrof von unserer Anwesenheit auf Lahan wissen? Der Stopp war nicht geplant. Ich verstehe nicht, wie er euch umgehend nach der Ankunft in die Handelsniederlassung zitieren konnte.«

»In die Handelsniederlassung von X-Logistic auf Lahan?« Leon Koendrink lachte auf. »Wenn du dich nicht die ganze Zeit in deinem Labor verkrochen und selber einen Fuß auf die Raumstation gesetzt hättest, würdest du das nicht fragen. Lahan ist eine schmutzige, heruntergekommene Absteige der Marketender, Schmuggler und Wegelagerer. Dort reihen sich Bordelle und Spielhöllen aneinander, aber seit Jahren sind die offiziellen Stellen und Handelsvertretungen abgezogen.

Nein, meine Liebe, der Captain und ich saßen beim Bier im Sputnik, als der feine Herr in die Bar trat. Die Gespräche verstummten, alle Blicke richteten sich zur Tür. Der Herr blieb stehen, schaute von Tisch zu Tisch – er betrachtete uns, wie ein Rekrutierungsoffizier Dienstwillige mustert.«

»Genau«, fuhr Gerlach fort, »und schließlich stach er mit zielstrebigen Schritten exakt auf uns zu. Setzte sich, stellte sich vor. Er fackelte nicht lange. Noch bevor sein Longdrink vor ihm stand und das Raunen im Raum in Geschwätz und Gelächter überging, hatte er uns sein Angebot unterbreitet, ihn auf der letzten Etappe seiner Reise nach Gordian Prime zu begleiten.«

»Ich präzisiere: Hat er dem Captain den Job angeboten. Mich hat er nur knapp gegrüßt.«

Gerlach winkte ab.

Skeptisch neigte Solène den Kopf zur Seite.

»Ich fass es nicht. X-Logistic akquiriert Freelancer in einer solchen Spelunke? Ce n’est pas sérieux … Pas du tout.«

»Mag sein – aber fünftausend Kredits pro Tag, der Einsatz würde zehn Tage dauern, bei Verzögerungen bot er eine Verdoppelung des Betrages an. Zuzüglich Reisespesen. Solène, die drei Wochen Hinflug schenken ein, da beklage ich mich bestimmt nicht über einen eigenwilligen, mehrheitlich abwesenden Tischgenossen. Wir laufen seit Wochen auf dem Trockenen!«

»Qui sait, ob dieser Jastrof wirklich für X-Logistic arbeitet? Habt ihr das überprüft?«

Gerlach nestelte in seiner Brusttasche und zückte die Digikarte. »Ogneslaw Jastrof, Head of Opinion Engineering … darunter Postadresse, seine Brain-Bridge-ID, oben hochoffiziell das Logo von X-Logistic. So was kann man fälschen, klar, aber sein ganzes Gehabe und die Art des Briefings deutet doch schwer auf den Konzern.«

Solène stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. X-Logistic war einer der Big Player. Das sah nicht nach einer Aktion aus, die dem Vorgehen eines Weltkonzerns entsprach.

»Ich weiß nicht, Charles … Das Briefing ist den Speicherplatz nicht wert, in dem es geschrieben steht. Über Gordian Prime erfahren wir genau nichts.«

»Eine Geheimmission? Vielleicht ist dieser Head of Opinion Engineering in einer verdeckten Aufklärung unterwegs?« Masha schaute fragend in die Runde.

Gerlach gefiel die Entwicklung des Gespräches nicht. Anstatt sich über den Auftrag zu freuen, machte sich bei seiner Crew Skepsis breit. Koendrink war ein Brummbär, sein Lamentieren spielte keine Rolle, aber Solènes Vorbehalte verunsicherten ihn. Ihm lag daran, ihre Bedenken zerstreuen.

»Solène«, sagte er, »finde etwas über Ogneslaw Jastrof heraus. Und über Gordian Prime. Gehe unsere Datenbank durch, recherchiere. Ich verspreche, wir werden auf der Hut sein. Sollten Unstimmigkeiten auftauchen, werden wir reagieren. Bedenkt, noch zehn Tage – bald ist alles erledigt! Und uns steht ein stressfreies halbes Jahr bevor!«

In diesem Moment schoss Spiro zur Tür herein. Er glitt auf den Stuhl, stürzte sich auf Hackbraten und Frites und legte dazu einen Slapstick hin: Er imitierte der Reihe nach die Tischsitten der ganzen Crew, das Picken der Frauen, Leons Geste, wie er mit dem Handrücken die Erdnusssoße vom Dreitagebart wischt, und des Captains Marotte, das Wasser wie einen kostbaren Bordeaux im Mund zu schwenken.

Jastrof und Gordian Prime rückten in den Hintergrund. Die Stimmung wurde heiter und zunehmend ausgelassen. Spiro spielte den Komödianten, er kam richtig in Fahrt. Noch als Leon den Tisch abgeräumt und die Nachspeise geholt und alle sich auf Couch und Sessel gemütlich eingerichtet hatten, schnitt er immer neue Themen an, über die er referieren konnte. Nur wenn er sich ein Gebäck in den Mund schob und kaute, fanden die anderen Gelegenheit, ein Wort beizusteuern. Das geschah aber mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass sich niemand zu beschweren brauchte, weil er übergangen wurde.

Gerlach schmunzelte. Das Fazit von Spiro Obonais Vorliebe für Süßspeisen im Allgemeinen und griechische Küche im Speziellen, kombiniert mit den etwas zu kurz geratenen Armen, verlieh ihm die Schnittigkeit eines Hydranten. Wenn er so da saß, hätte man ihm nie zugetraut, wie wieselflink er sich bewegen konnte. Mit der Anmut einer Robbe, in ausladenden, runden Gesten, aber erstaunlich agil. Solène nannte ihn manchmal mon petit gamin: Für seine sechsundzwanzig Jahre wirkte er viel zu jung, rührte bei ihr an mütterliche Instinkte, wie ein etwas unbeholfener Junge in der Pubertät, der zwischen erotischen Fantasien und dem Rockzipfel der Mama lavierte.

Gerlach wusste aus Spiros Akte: Die Mutter hatte den dreijährigen Sohn verlassen, sich aus Griechenland abgesetzt und zurück nach Korea begeben. Der Vater steckte ihn in ein Heim. Bald galt er als renitenter Lümmel, unerziehbar. Nach und nach kollidierten die Jugendstreiche mit dem Gesetz; mit fünfzehn die erste Verurteilung vor dem Jugendgericht. Spiro geriet an die falschen Leute, nach Gerlachs Dafürhalten aber mehr an die falschen Erzieher und Sozialarbeiter als an halb gare Gestalten aus der Unterwelt. Es folgte eine Verwahrung. Die geschlossene Anstalt hinderte ihn nicht an weiteren Streifzügen im Darknet, das Löschen von mehreren Tera sensibler Kundendaten bei einem der Big Five wurde ihm zugeschrieben. Als Kleidi Darky erlangte er in der Hackerszene einige Berühmtheit.

Gerlach erinnerte sich, wie er Spiro mit gemischten Gefühlen angeheuert hatte. Ernüchtert, wie attraktiv der Posten des Technikers auf seinem Schiff offenbar war, las er die einzige Bewerbung auf seinem Tisch: das Begehren der griechischen Behörde, einen quirligen, hochbegabten Jungen anzustellen. Allerdings gesegnet mit einer ungestümen kriminellen Energie. Das demütigte und kränkte ihn, sie waren Forscher und keine Sozialinstitution, er brauchte einen Ingenieur und bot keinen geschützten Arbeitsplatz an.

Nicht das Geld, das die Behörde zahlte: Das erste Treffen mit Spiro veranlasste ihn, sich auf das Abenteuer einzulassen. Es war keine schlechte Entscheidung, weder für die Golombek noch für sie beide.

Gegen dreiundzwanzig Uhr, die Platte mit dem Gebäck war weggeputzt, verebbte das Gespräch. Sogar Spiro öffnete den Mund jetzt mehrheitlich, um zu gähnen.

Masha und Leon tauschen verstohlene Blicke, dann erhoben und verabschiedeten sie sich.

Spiro warf den beiden einen sehnsüchtigen Blick hinterher, hieb auf die Schenkel, rollte vom Sessel und hob die Hand: »Wünsche allseits eine gesegnete Nachtruhe! Auf mich wartet ein Date mit Nikola Tesla …«

Gerlach wartete, bis Spiro durch die Tür verschwunden war. Fragend sah er zu Solène: »Studiert Obonai jetzt historische Persönlichkeiten? Das ist mir neu …«

»Bof … studieren – ich weiß nicht. Ich vermute, seine Nachtlektüre ist mehr dem Vergnügen als der Bildung geschuldet. Der zieht sich einen Datensatz aus der Psychothek rein … und spielt Magier, der seine Haare durch Koronaentladungen wie eine Glühbirne leuchten lässt.«

Gerlach schmunzelte. »Etwas in der Art, sicher hast du recht. Soll er glücklich werden …« Er griff nach der Espressotasse, nippte, hielt inne – den letzten Schluck hatte er vor geraumer Zeit runter gekippt. Auf halbem Weg zurück auf den Unterteller verharrte die Tasse und Gerlach inspizierte sie selbstvergessen, als wollte er im Kaffeesatz lesen.

»Besorgt, Charles?«

Gerlach schaute zu Solène und erwog eine Antwort. Bis auf das Klirren der Keramik und das Scheppern des Löffels, als die Tasse auf dem Teller aufsetzte, blieb es lange still.

Wenn er an den Auftrag von Jastrof dachte, waren auch ihm die kommenden Tage nicht ganz geheuer. Mit solchen Jobs hatten sie keine Erfahrung. Aber er vertraute auf seine Crew. Und jetzt war ganz sicher nicht der Moment, um Solène gegenüber Bedenken zu äußern. Schließlich sagte er: »Nein, nicht besorgt. Vielleicht etwas angespannt. Aber wir werden das hinkriegen, gemeinsam. Morgen – lass uns den Abend genießen, Solène …«

 


Kapiteltitel in Tom Turtschis GOTTESZONE4

Leon Koendrink manövrierte auf die Orbitalstation zu.

Wie ein Luftballon an seiner Schnur stand der Hafen hoch über der Kolonie. Die Nanoseile des Raumlifts fielen von der silberglänzenden Konstruktion in die Tiefe und verloren sich im Dunst über dem Habitat der Siedler.

Die Docks der Transportschiffe erinnerte Leon an die Zinken einer Gabel. Die vier Ausleger liefen in einer Fläche zusammen, die bald in einen kurzen, zylinderförmigen Griff überging. Normalerweise öffnete dieser Stummel seinen Bauch, um die Aufzüge zu empfangen, die Ware von Gordian zu löschen und für die Reise nach Terra in die interstellaren Transporter zu pumpen. Jetzt lag die Orbitalstation des Raumlifts verlassen da, nichts deutete auf Aktivität hin.

Drei Ports waren belegt. Automatische interstellare Transporter umklammerten mit den Greifern die Ausleger, ihre Rüssel in die Saugstutzen gesteckt. Wie stechende Mücken warteten sie darauf, jeden Augenblick den Lebenssaft zu fühlen, der in ihr Inneres strömt.

Leon zog die Golombek hoch und drehte ab, um den letzten freien Hub auf der linken Seite anzusteuern. »Diese Kisten werden nie mehr eine Fuhre Lox zur Erde bringen … Scheiße.« Er zoomte auf den Rumpf des Transporters an Port eins, schwenkte den Rumpf entlang über die Schuppen des Hitzeschildes bis zur Verdickung des Kopfes. Er legte das Bild über die Brain-Bridge in die Augen des Captains.

»Nein«, sagte Gerlach, »der wird nie mehr fliegen.«

Leon richtete die Cam auf die Ausleger zwei und drei – dasselbe Bild: Im Nackenbereich, wo die zentralen Ganglien der Transporter saßen, standen die Schutzschilde an den Rändern in skurrilen Verrenkungen vom Rumpf ab und klaffte ein Loch.

Plötzlich ging alles rasch.

In Gerlach stieg eine Mischung aus verhaltener Neugier und dem Wunsch hoch, die Sache zügig hinter sich zu bringen. Kaum hatte die Golombek angedockt, stellte er mit knappen Befehlen ein Expeditionsteam zusammen: Masha Cejka wollte er dabei haben, Jastrof konnte er nicht übergehen. Koendrink würde die Stellung halten, zusammen mit Pitou und Obonai. Er wollte an Bord eine funktionsfähige Crew zurücklassen, als Rückversicherung – wer wusste schon, mit welchen Überraschungen Gordian Prime aufwarten würde.

Leon überprüfte die Systeme der Orbitalstation. Die Energieanzeige leuchtete im grünen Bereich, die Lebenserhaltung funktionierte.

Eine knappe Stunde später öffnete Gerlach die Schleuse und die drei betraten den Verbindungsgang zur Halle mit den Raumliften. In ihrem Schlepptau surrten die Kugeldrohnen mit der Ausrüstung.

Im Vorraum des Lifts hielt der Trupp. Gerlach betrachtete das Steuerungspanel der Aufzüge. Nickte: Eine Kabine und die drei Tanks lagen in der Basisstation, aber der zweite Personentransporter befand sich im Orbit. Er fixierte den Zahlenblock und zwinkerte den Code. Die Tür glitt zur Seite.

Masha und Jastrof schritten zu den anpassungsfähigen Schaumstoffliegen, legten sich hin und fixierten die Gurte. Gerlach arretierte die Drohnen in den Gepäcknischen und bestieg die freie Memory-Foam-Pritsche neben den beiden anderen. Er legte die Steuereinheit des Orbitalaufzugs auf sein Retinadisplay und startete den Countdown. Dann schaltete er die Projektion in der Linse aus, atmete tief und blickte durch das facettierte Panzerglas hoch in den Sternenhimmel. Er hatte den Speedmode gewählt, die Belastung dürfte beträchtlich werden, sie würden gleichsam ins Bodenlose fallen. Trotzdem würde die Fahrt sechzehn Stunden dauern.

Die Arretierung klinkte aus, und sanft begann die Kapsel, hinunterzugleiten. Die Station und ihr Schiff rückten vor den Sternenhimmel. Das gabelartige Gebilde wurde zunehmend kleiner, verwandelte sich in einen Drachen mit vier Schwänzen, der am Ende des Nanoseiles immer weiter in den Himmel stieg. Gerlach wehrte sich dagegen, das Gefühl der Leichtigkeit zu genießen, er spannte seine Muskeln, um auf den Kippmoment vorbereitet zu sein.

»Augen offen halten!«, befahl er, »Wenn ihr nicht erbärmlich kotzen wollt, dann sperrt die Augen auf!«

»Sternschnuppen suchen?«, kicherte Masha. »Ich werde uns stabile Mägen wünschen. Und ein Empfangskomitee, mit Sekt und Kaviar, das sich in aller Form dafür entschuldigt, unsere Nachricht nicht beantwortet –«

Die Hydraulik setzte ein, ihr Zischen und Fauchen schnitt Masha das Wort ab. Zeitgleich das Ächzen der Achse in der Nabe: Die Kapsel begann, um das Laufwerk zu drehen. Der gekrümmte Horizont von Gordian Prime schob sich vor die Sterne.

»Das ist der Moment, an den man sich nie gewöhnt«, würgte Gerlach hervor. Den Satz beendete er in seinem Kopf: Das Vestibularorgan flippt aus, völlige Desorientierung, und man hat keine Chance zu entscheiden, ob man hochschießt oder runtersaust …

Die Kapsel beschleunigte, Gordian Prime stürzte in die drei aufgerissenen Augenpaare, drückte ihre Körper tief in den Schaumstoff, das Surren der Kühlanlage bauschte sich sturmartig auf und heulte schmerzhaft in den Ohren.

Nach einiger Zeit kehrte die Orientierung zurück. Die Gleichförmigkeit der Belastung erlaubte dem Körper, die Bedingungen zu adaptieren. Das unsägliche Eigengewicht drückte, aber der Magen beruhigte sich.

Die Augen meldeten dem Hirn ganz andere Signale: Sie krochen auf den Planeten zu. Die Stunden zogen sich dahin, die Oberfläche schimmerte durch die dunstige Atmosphäre, kaum merklich veränderte sich die Zoomstufe. Erst beim Durchbruch von der Mesosphäre in die Stratosphäre ließ der Druck auf ihre Glieder etwas nach. Die Landschaft näherte sich nun rasch, obwohl die Kapsel ihr Tempo verlangsamte.

Die Sicht klarte auf und sie konnten am Ende des Seils ein Glitzern erkennen.

»Die Kuppel«, sagte Jastrof bleich wie ein Fisch. Er wollte den Arm heben, um auf den funkelnden Punkt zu zeigen, aber er brachte ihn nicht hoch.

Gerlach suchte die Landschaft nach verdächtigen Zeichen ab. Er entdeckte nichts Ungewöhnliches, unter ihm erstreckte sich die idyllische Landschaft, ein Bild des Friedens. Oben schoben sich die Berge aus dem Blickfeld, unten tauchte die Küste auf, eine Zone aus Land und Wasser, wo die Sümpfe in das Meer ausfransten. Rechts schwang in einem Halbbogen ein Fluss um das Hochplateau mit den Gebäuden. Das Gewässer mäanderte verspielt von den Bergen durch ein breites Tal zu den Sümpfen. Von der Kuppel zweigte eine gerade Linie nach links ab, die Ausfallstraße zu den Gebergründen. Die Gehege grenzten an die Sümpfe. Gerlach konnte die dicht bewachsene Zone, die nordwärts in offenes Steppenland überging, deutlich ausmachen.

Die Kuppel nahm sich vor dem zerklüfteten Felsen des Hochplateaus seltsam aus, etwas deplatziert, wie ein aus dem Nest gefallenes Ei, dessen empfindliche Schale jeden Moment von den scharfen Kanten seiner Unterlage verletzt zu werden droht. Nördlich der mächtigen Kuppel tauchten zwei kleinere, graue Ellipsen auf, wie zwei Augen über einem aufgerissenen Mund. Das Dach über der Tiefgarage mit den Transportern bildete das linke Auge, die Kuppel der Basisstation das rechte. Mittig klaffte ein Loch, in dessen Dunkelheit das Seil des Orbitallifts verschwand.

Die drei glitten auf die schwarze Pupille zu, als sich die Gelenke der Kapsel mit ihrem Knarzen zurückmeldeten, die Kabine erneut drehte und sie in den wolkenfreien, azurblauen Himmel schauten. Die letzte Phase des Bremsmanövers drückte sie in die Polster, sanft – dieses Manöver hatte nichts mit der Tortur des ersten Saltos gemein.

Die Wände des Silos krochen seitlich hoch und verengten den Himmel zu einer blauen Scheibe. Die Kapsel wippte einige Male, sie hörten das Einrasten der Arretierungsbolzen, dann standen sie still. Über ihnen fuhren die Lamellen der Luke in den Himmelskreis und schlossen die Öffnung wie eine Irisblende.

 


Kapiteltitel in Tom Turtschis GOTTESZONE5

Möglicherweise hätte Leon Koendrink den überstürzten Aufbruch wohlwollender beurteilt, wenn er selber unterwegs nach Gordian Prime gewesen wäre. Beim Militär hatte er sich oft freiwillig gemeldet, um als Späher feindliches Territorium zu erkunden oder die Sturmtruppe anzuführen. Genau genommen war er der Einzige der Crew, der für diese Art von Aufgaben eine gewisse Qualifikation mitbrachte. Es fiel ihm ausgesprochen schwer, abzuwarten und Dinge geschehen zu lassen, auf die er keinen Einfluss nehmen konnte. Die Aussicht, in den nächsten Stunden und Tagen hier oben zur Untätigkeit verdammt zu sein, erbaute ihn wenig.

Missmutig bückte er sich unter der Tür durch und betrat den Gubernator. Sein Reich – der Navigationsraum mit dem zentralen Bordrechner – befand sich am Bug der Golombek, ganz an der Spitze des Schiffes, auf dem Deck unmittelbar unter der Brücke. Er schritt durch den Raum, an der Astronomie und den Kontrollpanels vorbei, und erreichte den verglasten Boden und das Panoramafenster.

Er lehnte sich an die Reling und atmete tief durch. Immerhin roch es hier nicht nach Jastrof. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, das herbe Rasierwasser des Kerls habe sich in allen Winkeln und Ecken des Schiffes abgelagert und geistere als beißende Erinnerung durch Brücke, Lobby, Messe und Korridore. Die Golombek war getränkt vom Schweiß ehrlicher Arbeit, Jastrofs liebliche Note kam ihm anrüchig und falsch vor.

Sein Blick glitt entlang der fünf Seile nach unten, bis sie in der dunstigen Atmosphäre verschwanden.

Es lag ihm fern, die Befehle des Captains anzuzweifeln. Er wusste um die Weitsicht Gerlachs, oft schon hatte der Captain sie aus misslichen Situationen geführt. Auch wenn er die Entscheidung nicht nachvollziehen konnte, er vertraute ihm und wusste: Der Moment würde kommen, wo sich seine Loyalität auszahlen würde.

Der Job für X-Logistic musste ja nicht gleich ein Pakt mit dem Teufel sein. Dieser Ogneslaw Jastrof erinnerte ihn an Colonel Meyr, der ihm nach dem Disziplinarverfahren bei seiner Entlassung aus der Army mit süffisantem Lächeln auf die Schulter geklopft hatte, als ob er einem Konfirmanden den Segensspruch überreichte. Vermutlich war seine Aversion nichts als ein Vorurteil. Er kannte Jastrof überhaupt nicht. Und das Geld konnten sie gebrauchen. Gerlach hatte sich bei Gott alle Mühe gegeben, einen der raren Forschungsaufträge an Land zu ziehen – nur in den letzten Monaten zunehmend ohne Erfolg. So gesehen war das Engagement von X-Logistic ein Geschenk des Himmels.

Er musste die Spannung der Untätigkeit ertragen. Einfach warten und ausharren.

Irgendwo da unten segelte jetzt sein Raubvogel auf unbekanntes Gelände zu. Er sah Masha vor sich, wie sie eine unbotmäßige Strähne aus dem Gesicht strich, ihre markante Nase nach vorne schoss und die Kristallaugen in die Tiefe sperberten. Was ihn an Masha so elektrisierte, ihre unerschrockene Neugier, war in Momenten wie diesem Anlass zu Sorge. Gerlach würde ein Auge auf sie werfen, darauf konnte er sich verlassen.

Er konnte nichts tun, von hier aus, über eine halbe Tagesreise von Masha und den Geschehnissen entfernt.

Den dürren Bericht von X-Logistic hatte er bereits dreimal gelesen, und die seltsame Transmission der Siedler förderte genauso wenig einen Anhaltspunkt zutage. Spiro hatte sich den ganzen Morgen erfolglos abgemüht, die unverständlichen Stellen zu rekonstruieren. Wenn Spiro daran scheiterte, brauchte er es gar nicht erst in die Hände zu nehmen.