Nala und der magische Steinkreis

I M P R E S S U M

 

Titel: NALA - Der magische Steinkreis

Autor: Gabriela Proksch Bernabé

Copyright © 2019 by

 

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Nova MD GmbH / Raiffeisenstraße 4, 8337 Vachendorf / Germany

Homepage: www.novamd.de

Email: info@novamd.de

 

 

 

Neuauflage  2019

 

 

Umschlagdesign: Patricio Perez, Bern ; Team Nala, Jenbach

Bildmaterial und Illustration: Claudia Martina Rauber, Bern

Print - ISBN: 978-3-947738-00-7

eBook - ISBN: 978-3-966614-59-7

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Gabriela Proksch Bernabé

 

Nala

 

Der magische Steinkreis

 

 

Illustrationen von Claudia Martina Rauber

 

 

 

 

 

 

 

Lass dich nicht unterkriegen. Sei wild und frech und wunderbar.“

Aus: Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren.

 

 

„Ich suche Freunde. Was bedeutet ‚zähmen‘?“

„Das wird oft ganz vernachlässigt“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet ‚sich vertraut miteinander machen‘.“

„Vertraut machen?“

„Natürlich“, sagte der Fuchs. „Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt …“

Aus: Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry

 

 

1 Süden

 

Das gleißende Licht des Südens kitzelte Nala wach. Blinzelnd öffnete das Mädchen die Augen. Wo war sie? Langsam dämmerte ihr, dass dieses Dachfenster in der winzigen Kammer zur neuen Unterkunft im Feriencamp gehörte. Gestern war Nala nach einer langweiligen, nicht enden wollenden Fahrt aus Bayern hier in Südfrankreich angekommen. In der Dunkelheit hatte sie nicht viel von dem Hof und den Araberpferden, die hier gezüchtet wurden, gesehen. Ihre Eltern setzten sie spät abends hier ab und waren dann, gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder Phillip, zu einem Campingplatz am Meer weitergefahren. Dort planten sie die Sommerferien zu verbringen. Nala war glücklich gewesen, dass sie sich in diesem Zimmer direkt unterm Dach gleich aufs Bett werfen und einschlafen konnte.

Gemütlich war es hier. Ihr gefielen die einfachen, hellen Möbel und das weiß gestrichene Metallbett. Mit der leuchtend gelben Decke und den dicken Polstern war es zwar altmodisch, aber kuschelig. Nala sah sich genauer um. Auf dem Bord an der Wand konnte sie die mitgebrachten Bücher und ihren Skizzenblock unterbringen und im Schrank in der Ecke war viel zu viel Platz für ihre wenigen Klamotten. Es kam Nala gelegen, dass sie ein Zimmer für sich allein zugeteilt bekommen hatte. Sich mit irgendeinem fremden Mädchen den Raum teilen zu müssen, war eine Horrorvorstellung!

Geklapper von Hufen, leises Knarren der Stalltüren und fröhliches Gekicher holte sie endgültig aus ihrem Halbschlaf. Mist, die anderen Mädchen und Jungs eroberten den Hof. Sie war zu spät! Die letzten beißen die Hunde ...

Nala schlüpfte in ein weites, verwaschenes Shirt und bequeme Jeans. Sie schwankte zwischen Vorfreude auf die edlen, arabischen Pferde und Bangen vor der Begegnung mit der Gruppe, mit der sie drei Wochen ihrer Ferienzeit verbringen würde.

Seit sie sechs Jahre alt war, hatte Nala Reitstunden bekommen und sich sofort in die Ponys verliebt. Mit ihren sanften Augen, dem weichen Fell und dem speziellen Geruch, der Nalas Meinung nach ein Duft war, hatten die wunderschönen Tiere ihr Herz im Sturm erobert. Das Gefühl, im Sattel zu sitzen und die Leichtigkeit und Anmut der Bewegungen ihres Lieblingsponys Sunshine unter sich zu spüren, machte sie vollkommen glücklich.

Ein weiteres Glück waren Nalas Fantasiegeschichten, in denen sie sich verlieren konnte. Sobald sie sich ein Buch schnappte, im Garten oder ihrem Zimmer versteckte und vor sich hin träumte, war sie in Sicherheit. Oft kritzelte das Mädchen Zeichnungen in einen Skizzenblock, um sich die schönsten Erlebnisse aus ihren Träumereien besser zu merken.

Nala war schlau und hatte wenig Schwierigkeiten in der Schule, aber das nützte nichts, wenn man jeden Morgen mit einem aus Zeigefinger und Daumen vor der Stirn gebildeten „L“ begrüßt wurde. „Loser“, „Spinnerin“ oder „Wurm“ für Bücherwurm hörte Nala nicht nur einmal und nicht nur geflüstert, hinter ihrem Rücken.

„Die Hölle, das sind die anderen“, dachte sie. Dieser Satz, den Jean-Paul Sartre, ein französischer Autor, geschrieben hatte, fiel ihr oft ein. Ihre Eltern waren Lehrer und vernarrt in alles, was aus Frankreich kam. Mama hatte unzählige Zitate von Dichtern oder Philosophen zur Hand. Nala hörte daheim jeden Tag irgendwelche hochgestochenen Sprichwörter und Erklärungen zu allem. Wirklich zu allem!

Immerhin hatte die Begeisterung ihrer Eltern für dieses Land es möglich gemacht, dass sie drei Wochen im Feriencamp in den Pyrenäen, den Bergen an der Grenze von Frankreich und Spanien, verbringen durfte. Auf einem Pferdehof! Wie lange hatte sie darauf gewartet! Es war das langersehnte Geschenk zu ihrem bevorstehenden 14. Geburtstag! Sogar ihre Großeltern hatten ein wenig Geld dazugelegt, damit sie hier sein konnte.

Wieder hatte Nala sich weggeträumt! Dabei war es gerade jetzt wichtig, schnell nach unten in den Hof zu kommen. Dahin, und zu den Pferden zog sie ein freudiger Galopp. Wie von unsichtbarer Hand zurückgehalten, setzte sie aber nur widerstrebend einen Fuß vor den anderen. Sie fürchtete sich davor, wie die Mädchen sie aufnehmen würden. An die Jungs mochte Nala überhaupt nicht denken.

In der einfachen Küche werkte eine lustig aussehende Frau. Mit ihrem wild hochgesteckten Haarknoten und den lebhaften, braunen Augen wirkte sie herzlich und nett. Sie war dabei, das Geschirr zu waschen. Ein Baguette, Butter, Marmelade und eine Kanne Tee standen am riesigen Tisch bereit.

„Gut geschlafen, meine Kleine?“

„Sehr gut. Wieso sind die anderen schon im Hof? Mich hat niemand geweckt.“

„Du bist gestern spät angekommen. Wir wollten dich ein bisschen ausschlafen lassen“, antwortete sie sanft. „Ich heiße Claire und helfe im Sommer die Rasselbande zu füttern. Nimm dir zu essen, und dann raus mit dir“, sagte sie.

 

Draußen im Hof herrschte buntes Treiben. An den Zaun gelehnt stand ein hübsches, blondes Mädchen. Sie war ziemlich herausgeputzt für einen Morgen im Stall. Ihre schwarzen Stiefel glänzten. Auf der Reithose und dem Shirt glitzerten Strasssteine, und sie trug die coolste Sonnenbrille, die Nala bisher gesehen hatte. Ein gutaussehender Junge sprach mit ihr. Sein Gesicht wirkte überheblich, zweifelsfrei passten die beiden zusammen.

„Jackie“, riefen zwei kleinere Mädchen gleichzeitig zu ihr hinüber, sie winkten dabei. Die Zwillinge hatten lustige pig tails, die über den Ohren abstanden und waren mit einem Stallbesen unterwegs. Ein Mädchen mit roten Locken half ihnen beim Kehren. Bewundernd schauten die drei zu Jackie. Offenbar bestaunten sie das Outfit und versuchten ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Ein schlaksiger Junge hievte gemeinsam mit seinem Freund Strohballen in die Heuraufe.

„Was glotzt du so?“, rief Jackie.

Nala schaute hinter sich. War sie damit gemeint?

„Ja, du da“, schnauzte das Mädchen sie an. „Zuerst lässt du uns die ganze Arbeit alleine machen, und dann starrst du Löcher in die Luft!“

 

Energisch betrat Frau Birkner den Hof und unterbrach die angespannte Stimmung. Nala erkannte sie vom Foto auf der Homepage, auf der sie sich im Frühling für das Feriencamp angemeldet hatte. Die groß gewachsene Reitlehrerin mit ihrem offenen Gesicht und dem langen, dunkelbraunen Zopf wirkte ein bisschen streng, aber sympathisch. Um mit ihren Pferden im wärmeren Klima Frankreichs zu leben, war sie aus Deutschland in den Süden gezogen. Durch Annoncen in Pferdezeitschriften kamen in den Sommerferien jedes Jahr Jugendliche hierher, um zu reiten und Französisch zu lernen.

„Willkommen auf Gestüt Au Grand Chêne, das heißt übersetzt: Zur Großen Eiche. Ich bin Greta Birkner, bitte nennt mich beim Vornamen. Wie ihr wisst, züchten wir Pferde, trainieren sie und geben Reitunterricht. Hier lebt eine ganze Herde Araber, mehrere Fohlen, Ponys und ein Esel. Es gibt bei uns auch Tiere, die wir aus schlechter Haltung aufnehmen und ins Herdenleben integrieren. Ihr werdet sie alle im Lauf der nächsten Wochen kennenlernen. Araber sind Vollblüter, schnell, hellwach und sensibel. Darum ist dieser Kurs für Jugendliche zwischen zwölf und fünfzehn Jahren gedacht, die bereits Reiterfahrung haben. Meine Tiere sind gut ausgebildet und temperamentvoll. Ihr werdet schon mit ihnen zurechtkommen ...“

Greta sah sie der Reihe nach an. Alle waren mucksmäuschenstill und aufmerksam. „Ich hoffe, wir haben eine schöne Zeit miteinander. Am Morgen macht ihr die Stallarbeit, anschließend findet der Sprachkurs statt. Er dauert zwei Stunden. Die Lehrerin erwartet euch vollzählig um elf Uhr in der Scheune. Gebt euer Bestes. Es gelten keine Ausreden, den Kurs zu schwänzen. Wer reitet, nimmt am Unterricht teil! Wer nicht im Unterricht ist, wird nicht reiten. So einfach ist das. Wir sehen uns nach der Mittagspause um drei Uhr bei den Pferden.“

Gebannt hatte Nala zugehört. Als alle gemeinsam auf die Scheune, in der ein Versammlungsraum eingerichtet war, zustrebten, ließ sie sich von der Bewegung der Gruppe mitreißen.

 

Nicole, die zarte Französischlehrerin, fragte zuerst nach ihren Namen. Die Zwillinge hießen Kiki und Mimi. Ihre rothaarige Freundin war Rosalie. Der hochnäsige Schönling stellte sich als Leo vor. Die anderen Jungs waren Ben und Luka. Wer Jaqueline, also Jackie war, wusste Nala. Sie selbst erklärte, dass sie Nathalie hieß, jedoch von allen Nala genannt wurde. Das war ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit. Ihr kleiner Bruder konnte Natalie nicht aussprechen und nannte sie Nala. Der Name gefiel ihr und so blieb es dabei.

Die erste Unterrichtsstunde war leicht. Mit ihren Eltern hatte sie mehrere Urlaube in Frankreich verbracht. Deshalb stach sie durch ihre gute Aussprache heraus. Sie kannte das! Wer hinterher hinkte, gehörte nicht zur Gruppe. Wer zu gut war, der wurde ebenso ausgeschlossen. Nala hielt sich mit ihren Antworten immer wieder zurück, aber alle Tarnung nützte nichts. Streberin, zu spät ... Sie sammelte Punkte für das Außenseiterkonto. Mit ihren schlabberigen Klamotten konnte Nala auch nicht wirklich ankommen. Sie fühlte sich in enger, schicker Kleidung nicht wohl. Am liebsten versteckte sie sich und ihre paar Kilos zu viel unter weiten Pullovern oder Shirts. Nala war ein wenig pummelig. Da die meisten Mädchen in der Schule wie besessen von ihrem Aussehen und ihrer Figur waren, genügte das, um sich mies zu fühlen.

Wann konnte sie endlich zu den Pferden gehen? Die hatten wenigstens keine Vorurteile.

 

2 Lilou

 

Die Hitze raubte Nala den Atem. Nach dem Essen hatte sie Zeit, sich die Pferde und den Reiterhof näher anzusehen. Zu Mittag war das ganze Gestüt wie ausgestorben. Nur die Zikaden gaben ihr Konzert. Eine junge, getigerte Katze schnurrte um Nalas Füße, wandte sich aber gleich wieder ab, um sich unter dem Sonnenschirm zusammen zu rollen und zu schlafen.

Die Pferde standen auf der Weide. Sie hatten sich Schattenplätze gesucht und dösten mit gesenktem Kopf vor sich hin. Nur ihre Schweife bewegten sich und wehrten die lästigen Fliegen ab. Die meisten waren Araber. Eine uralte Pferderasse, gezüchtet um in der Wüste mit wenig Wasser und Nahrung zu überleben. Sie galten als treu und menschenbezogen. Angeblich verbanden sich die Tiere so sehr mit ihren Besitzern, dass sie wie Wachhunde auf die Nomaden aufpassten. Wenn Räuber des Weges kamen, weckten sie die schlafenden Karawanen auf. Der Legende nach erschuf Allah diese Wesen aus dem Südwind und hauchte ihnen den Atem des Lebens ein. Sie waren elegant, widerstandsfähig und ihre stolze Haltung faszinierte Nala. Die ganze Herde schaute gepflegt aus, ein bisschen staubig, aber man sagte ja: „Dreckige Pferde – glückliche Pferde.“

Eine weiße Stute stand abseits. Sie wirkte fast apathisch. Ihr Fell war stumpfer als das der anderen, und sobald sich eines der Tiere bewegte, trippelte sie nervös auf der Stelle. Rund um sie herum flatterte ein schwarzer Vogel, ein Rabe wahrscheinlich. Seine Unruhe störte den Schimmel nicht. Der große Vogel setzte sich auf den Rücken der Stute, die gelassen stehen blieb. Der Kontrast zwischen dem Weiß des Pferdes und dem Schwarz des Raben war faszinierend. Nala konnte ihre Augen nicht von den beiden lassen.

Die Schimmelstute hatte ihr Herz berührt, denn das Mädchen kannte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein sehr gut. Auch ihr war es lieber, hier allein zu sein als in der neuen Gruppe. Nala wusste, dass sie die Regeln, wie man sich beliebt macht, nicht mitbekommen hatte. Immer wieder eckte sie an. Sie konnte sich gar nicht vorsichtig genug verhalten. Jeder Schritt war ein Sprung ins nächste Fettnäpfchen.

Paul, der alte Pferdepfleger, der mit Greta nach Frankreich gezogen war, löste sich aus dem Schatten und kam auf Nala zu. Wie lange war er wohl dort gestanden und hatte sie beobachtet? Die Hände in den Hosentaschen vergraben, näherte er sich wie zufällig.

„Und, gefallen dir unsere Rösser?“

„Ich habe noch nie so viele schöne Pferde gesehen,“ antwortete Nala bewundernd. „Was ist mit der weißen Stute dort? Sie gehört irgendwie nicht dazu.“

„Deshalb interessiert sie dich, oder?“

„Ja“, musste sie zugeben. „Ich fühle mich oft selber so.“

„Kenn ich ...“, behauptete Paul kurz und knapp.

„Sie heißt Lilou. Ist erst vor ein paar Tagen zu uns gekommen. Ist vom Hänger direkt auf die Weide galoppiert. Hat sich nicht anfassen lassen. Wurde nie respektvoll behandelt oder geliebt. Ist ein Wanderpokal. Von einem Besitzer zum nächsten. Zu scheu, zu kompliziert, zu bockig. Was weiß ich? Hatte einen schlimmen Unfall und verlor endgültig das Vertrauen zu den Menschen. Das Übelste ist, dass sie sich von der restlichen Herde fernhält. Pferde brauchen keine Menschen. Aber Pferde brauchen andere Pferde.“

Paul sprach, als wäre er darin nicht besonders geübt, wahrscheinlich verbrachte er seine Zeit lieber schweigend mit den Tieren. Auf Nala machte er einen liebevollen, warmen Eindruck. Abrupt drehte er sich um und ging.

„Lilou ...“, dachte sie, „...ein schöner Name. Wer bist du?“

Es war kurz vor drei. Die Reitstunde wollte sie auf keinen Fall verpassen.

 

Auf dem Hof vor der Scheune und dem Wohnhaus war die ganze Bande versammelt. Alle quatschten aufgeregt miteinander. Nala setzte sich neben die Zwillinge. Mit ihren blauen Augen und den gestreiften Shirts wirkten sie am lustigsten. Die beiden waren überhaupt nicht herausgeputzt und schauten zumindest interessiert zu ihr herüber.

Jackie und Leo klebten wieder zusammen und tuschelten. Nala kam es vor, als würden sie fies und abfällig zu ihr herüberschauen und dabei grinsen. Wahrscheinlich bildete sie sich das ein, aber sie war besser vorsichtig.

Greta betrat den Hof. Sofort wurde es still.

„Los geht’s, mir nach zur Weide!“

Nalas Herz klopfte rasend schnell. Sie war schon länger nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Die Besitzer des Stalles, in dem sie als Kind reiten gelernt hatte, waren einige Jahre später umgezogen. Damit endete ihr Unterricht. Hoffentlich war Reiten wie Fahrrad fahren, das man angeblich nicht verlernte.

„Wird schon gut gehen“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

Paul hatte acht Araber mit Stricken und Halftern an den Zaun gebunden. Lilou, die verschreckte Stute, war nicht dabei, stellte Nala ein bisschen enttäuscht fest, obwohl sie vom alten Pferdepfleger wusste, dass die Schimmelstute noch nicht soweit war. Sie fühlte sich diesem Pferd sehr nah. Schade.

„Damit ihr euch nicht streitet, ziehen alle ein Los mit dem Namen des Arabers, für den ihr heute die Verantwortung übernehmt. Zuerst putzt ihr gründlich und sattelt. Am Reitplatz sehe ich ja, wie ihr mit eurem Pferd zurechtkommt. Morgen entscheide ich, wer am besten auf welches Tier passt. Seid achtsam mit meinen Schätzen, sie sind sensibel, erwarten feine Hilfen und eine faire Behandlung.“

Es folgte ein bisschen Gemurre von denjenigen, die sich in ein bestimmtes Pferd verguckt hatten. Im Großen und Ganzen aber war das Losverfahren für den ersten Tag okay.

Nalas Hände zitterten, als sie ihren Zettel auseinanderfaltete.

„Samsara“, flüstert sie den exotisch klingenden Namen ihres Pferdes.

„Samsara“, sagte sie lauter, als sie an der Reihe war. Freudestrahlend entdeckte Nala, dass es eine zarte, braune Stute mit schmaler Blesse und großen, dunklen Augen war. Wach und aufmerksam schaute sie mit gespitzten Ohren direkt zu dem Mädchen.

 

 

3 Schlange

 

„Wir teilen die Gruppe, damit ihr für die erste Reitstunde viel Platz habt. So sehe ich besser, wie ihr mit den Tieren umgeht und was ihr könnt,“ sagte Greta nach dem Putzen.

„Jackie, Leo, Rosalie und Ben beginnen. Ihr anderen lasst eure Pferde ungesattelt. Paul bleibt bei ihnen. Wer keinen eigenen Helm hat, holt sich einen passenden aus der Sattelkammer.“

Am Reitplatz führten die vier ihre Araber auf die Mittellinie und stiegen auf. Nur Rosalies Stute war ein bisschen aufgeregt und trippelte herum. Sonst zeigten alle Pferde ihre gute Ausbildung und blieben die Ruhe selbst.

Schritt, Trab, Galopp und Bahnfiguren wurden geritten. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass alle sattelfest waren. Greta machte sie darauf aufmerksam, dass die Zügelhilfen sanfter werden sollten.

„Sie passt super auf ihre Pferde auf“, dachte Nala.

„Ihr müsst einen sicheren, unabhängigen Sitz bekommen, damit eure Hände sich nicht an den Zügeln festhalten und die empfindlichen Mäuler der Araber stören“, kündigte die Reitlehrerin an.

Jackie und Leo ritten recht gut, soweit Nala das beurteilen konnte. Es sah jedoch so aus, als ob ihre Pferde unter Druck gerieten und sich verspannten. Spiegelte sich die Ungeduld der beiden in der Stimmung der Tiere? Na ja, wenigstens waren sie mit sich und der Reitstunde so beschäftigt, dass sie nicht auf dumme Ideen kamen.

Danach kam Nalas Vierergruppe an die Reihe. Samsara ließ sich leicht satteln und zum Reitplatz führen. Auf dem Weg dorthin klopfte dem Mädchen das Herz bis zum Hals. Nala wusste nicht, ob sie sich mehr vor dem Aufsitzen oder den urteilenden Blicken der anderen fürchtete.

Als sie am Platz ankam, saßen Jackie und Leo auf einer Bank und schauten zu, wie die Pferde hereingeführt wurden. Greta sprach in einiger Entfernung gerade mit Paul.

„Sollen wir schon aufsitzen?“, fragte Mimi ein wenig unsicher.

„Klar, jetzt geht’s endlich los.“ Luka war dabei, den Sattel nachzugurten und sich ans Aufsteigen zu machen.

Leo, auf der Zuschauerbank, schien wieder übermütig und frech zu sein. Er linste verstohlen in seine Tasche und grinste feixend zu ihr herüber. Jackie schaute überheblich.

„Wenn sie die Nasenlöcher noch weiter oben trägt, wird ihr bei Regen das Wasser hineinlaufen,“ schoss es Nala durch den Kopf. Sie ließ sich durch diesen Gedanken ablenken.

Dann ging alles ganz schnell.

Gerade, als sie ihren Fuß in den Steigbügel stellte und dabei war, das Bein über Samsaras Rücken zu schwingen, bemerkte Nala aus den Augenwinkeln eine blitzartige Bewegung. Leo zog etwas aus seiner Tasche und warf es Samsara vor die Füße.

Das war eine Schlange! Eine schwarze Schlange!

Panisch wiehernd stieg die Stute mit den Vorderbeinen in die Luft. Nala, die gerade das Bein schwungvoll über ihren Rücken gehoben hatte, flog in hohem Bogen in den Sand.

 

Dumpf schlug sie auf. Hufe landeten knapp neben ihrem Kopf. Dann ging Samsara schon zu Boden.

Schreie drangen wie weit entfernt zu ihr durch. Gretas Stimme klang verschwommen.

„Atme, Nala! Atme tief durch! Geht´s dir gut?“

„Ja, alles okay.“ Ohne wirklich zu wissen, ob sie sich verletzt hatte, antwortete das Mädchen.

Sie war in einem Schockzustand und versuchte wieder zu sich zu kommen. Ihre Rippen und der Po taten Nala zwar weh, aber als sie Arme und Beine bewegte, hatte sie keine allzu großen Schmerzen. Auf den ersten Blick schien zumindest nichts gebrochen zu sein.

„Was ist mit Samsara?“, fragte sie gleich. „Sie ist gestürzt, oder?“

„Sie steht wieder, wir wissen aber noch nicht, ob sie in Ordnung ist.“ Greta blickte besorgt zur Araberstute.

„Kannst du aufstehen?“ Nala wurde von jemandem gestützt und langsam hochgezogen. Alle waren vor Schreck aufgesprungen und in die Mitte des Platzes geeilt. Steif stakste sie ein paar Schritte umher und versuchte, sich aufrecht zu halten.

„Leo hat eine Schlange vor Samsaras Füße geworfen, deshalb ist sie gestiegen!“, stöhnte Nala und hielt sich dabei die schmerzenden Rippen.

„Eine Schlange? Wo denn? Ich sehe gar nichts!“, sagte Greta entsetzt.

Tatsächlich, Nala blickte sich um und sah jetzt auch weit und breit keine Schlange mehr. Was war geschehen? Alle schauten das Mädchen erstaunt an.

„Was, niemand hat das bemerkt?“, fragte sie sich im Stillen.

Offenbar waren sowohl Greta und Paul als auch die anderen Jugendlichen mit ihren Pferden beschäftigt oder in Gespräche vertieft gewesen. So hatte keiner die hinterlistige Aktion bemerkt.

„Nala, du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass Leo etwas mit dem Unfall zu tun hat.“ Zur Gruppe gewandt fragte Greta: „Ist das noch jemandem aufgefallen?“

Alle schauten betreten zu Boden. Rosalie zuckte unsicher mit den Schultern.

Einen Moment lang zögerte Nala. „Das gibt es doch nicht! Haben mir etwa meine Augen einen Streich gespielt? Nein, ich bin mir sicher! Sonst wäre Samsara ja nicht gestiegen! Zumindest sie hat die Schlange auch gesehen!“ All das ging ihr blitzschnell durch den Kopf.

Leo und Jackie waren beide etwas blass um die Nase. Wahrscheinlich hatten sie sich selbst erschreckt über die fatale Wirkung ihres Scherzes.

Greta war zu Samsara geeilt und untersuchte ihre Beine. Sie griff sie von oben bis unten ab, hob jedes Einzelne und führte die Stute vorsichtig ein paar Schritte vorwärts. Es war deutlich zu sehen! Samsara lahmte auf der linken Vorderhand. Sie musste sich beim Sturz verletzt haben. Verärgert schaute ihre Besitzerin in Nalas Richtung und runzelte die Stirn.

„Ich hoffe, sie hat nur eine Prellung. Auf jeden Fall muss Samsara geschont werden. Ob wir einen Tierarzt brauchen, wird sich im Lauf der nächsten Tage herausstellen.“ Man merkte Greta an, dass sie mit ihrer Araberstute mitlitt, auch wenn sie versuchte, ruhig zu klingen. Sie übergab die braune Stute an Paul, der sie langsam wegführte.

Nala schnürte es die Kehle zu, als sie sah, wie sich das Pferd lahmend entfernte. Halb zornig, halb schuldbewusst schluckte sie die Tränen des Schmerzes, des Bedauerns und der Wut hinunter.

Die anderen drei waren inzwischen alle abgestiegen und standen betreten herum.

Greta konnte nur schlecht verbergen, wie aufgebracht sie war. „Weißt du, Nala, es kann immer passieren, dass etwas schiefgeht. Davor ist keiner gefeit. Dann muss man eben die Verantwortung dafür übernehmen und nicht jemandem anderen die Schuld in die Schuhe schieben.“

„Aber, aber ...“, stammelte das Mädchen. Sie gab entmutigt auf. Was sollte sie auch sagen? Sie senkte den Kopf und wollte nur mehr weg aus dieser Situation, in der sie gedemütigt und mit schmerzenden Rippen dastand, von allen angestarrt.

„Für heute ist es zu spät ein anderes Pferd vorzubereiten. Du kannst dich aber auf Merida setzen! Steig am besten gleich wieder auf!“, sagte Greta. Vorsichtshalber fragte die Reitlehrerin nach: „Bist du sicher, dass du dir nicht weh getan hast?“

Nala zögerte: „Ich weiß noch nicht so genau. Lieber bleib ich einen Moment auf der Bank.“

„Okay, dann ruh dich aus, um den Schreck zu verdauen“, lenkte Greta ein.

Als sie versuchte, sich vorsichtig hinzusetzen, schaute ihr Leo provozierend ins Gesicht. Eine Hand rutschte Richtung Hosentasche und er zog ein Stück von einem Fahrradschlauch ein wenig daraus hervor. Gerade so weit, dass sie die angebliche Schlange in dem dunklen Schlauch wiedererkannte. Im Getümmel nach ihrem Sturz hatte er die Gelegenheit genutzt, das Teil wieder aufzusammeln. Leo schaute leise pfeifend in die Luft und stieß Jackie mit seinem Ellbogen an. Sie hatten einen verschwörerischen Ausdruck im Gesicht.

So war das also gewesen! Ein feiger Streich, der Samsara und sie verletzt hatte! Nala war fassungslos über so viel Unverfrorenheit und entsetzt darüber, wie weit die beiden gegangen waren. Dabei hatten sie alle Glück im Unglück gehabt!

Da niemand etwas bemerkt hatte und den Anschlag bezeugen konnte, war sie auch noch von Greta ungerecht behandelt worden. Die dachte jetzt wahrscheinlich, dass sie die letzte Petze war!

Das war mehr, als Nala ertrug.

„Ich geh lieber“, murmelte sie. Ohne einen Blick auf die anderen zu werfen, lief sie Richtung Wald. Alle waren schon wieder ganz auf die Reitergruppe fixiert. So stahl sie sich unbemerkt davon. Als Nala außer Sichtweite war, begann sie zu rennen.

 

 

4 Steinkreis

 

Wütend rannte Nala in das Eichenwäldchen hinter der Weide. Sie stolperte mehr als zu laufen. Die Tränen standen in ihren brennenden Augen. Sie übersah Steine und Wurzeln und musste sich immer wieder fangen, um nicht zu stürzen. Wenigstens hatte Nala das Weinen zurückhalten können, solange sie in Sichtweite dieser fiesen Jackie und des hundsgemeinen Leo war. Zum Teufel mit den beiden! Erstaunlich, wie geschickt sie das eingefädelt hatten, und Nala war voll in die Falle getappt. Ein Moment der Unachtsamkeit und schon war sie wieder zur Außenseiterin geworden. Ein Pferd hatte sich verletzt! Das war ja nicht auszuhalten!

Bloß weg hier! Stöhnend und nach Luft ringend, rannte sie so lange, bis ihr der Atem und die Kraft ausgingen. Auf einer Wiese sank Nala keuchend zu Boden und lehnte sich an die mächtige Eiche, die hier wuchs. Endlich ließ sie ihre Tränen fließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich vom Schock erholte. Als Nala wieder klar sah, entdeckte sie den Zauber dieser Lichtung mitten im Wald. Das Mädchen sah sich genauer um und bemerkte, dass rund um den Baum Steine lagen. Sie bildeten einen Kreis. Zwar überwucherten Moos und Farn die hellgrauen Felsbrocken zum Teil, aber es sah eindeutig wie ein Steinkreis aus. Wer den wohl gebaut hatte? Und wie alt war dieser Platz hier?

Langsam breitete sich in Nala ein wohliges Gefühl aus. Ihr Atem beruhigte sich. Erschöpft legte sie sich auf das von der Sonne aufgeheizte Gras und genoss es, sich am Boden auszustrecken. Das Mädchen dehnte ihren vom Laufen angespannten Körper und räkelte sich wie eine Katze. Die Wärme der Erde tat gut. Wie durch Zauberhand wurden ihre Schmerzen mit jedem Atemzug weniger.

Seltsam. So entspannt und sicher fühlte Nala sich sonst nur, wenn sie in einem Buch verschwand oder zeichnete. So wie sie da auf dem Rücken lag und nach oben in die Luft schaute, blickte sie in die Krone der Eiche. Die Blätter raschelten leicht im Sommerwind. Auch die Bäume rings um die Lichtung bildeten mit ihren Wipfeln einen Kreis vor dem Blau des Himmels. Die Wolken zogen mit dem Wind vorüber und nahmen ihre Gedanken mit auf die Reise. Eine wunderbare Leichtigkeit durchströmte Nala. Es fühlte sich an, als ob sie schweben würde. Schwerelos glitt sie in einen eigenartigen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit.

Was war denn das? Da vorne, gleich bei den Brombeersträuchern, stand doch jemand? Eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Gestalt, so schien es Nala. Oder war das nur ein Busch, an dem etwas Weißes, Flatterndes hing? Ein Stück Stoff vielleicht? Nein, nein, da war tatsächlich eine Frau zu erkennen. Sie trug ein helles, mit Perlen besticktes Lederkleid und sah genau so aus, wie sie sich eine Indianerin vorstellte. Sie verschlang alle Geschichten über die alten Völker Amerikas und interessierte sich brennend für ihre spezielle Beziehung zu Pferden. Nala hatte gelesen, dass die Reiter tief und innig mit ihren Ponys verbunden waren.

Auf einer Schulter der geheimnisvollen Frau saß ein Vogel, der sein schwarzblau glänzendes Gefieder putzte. Er plusterte sich dabei immer wieder auf, als wollte er sich groß und wichtig machen. Er benahm sich witzig und wirkte auf eine amüsante Art großspurig.

„Moment, er sieht ja aus wie der Rabe, den ich auf der Weide bei Lilou beobachtet habe. Ist er das? Ach was, wahrscheinlich schauen diese schwarzen Vögel alle gleich aus“, dachte sie.

Nala hörte die leisen Geräusche, die der Rabe von sich gab. Kratzend und gurrend klang seine raue Stimme. Oder sprach er mit der Unbekannten? Die näherte sich der Stelle, an der Nala vor Aufregung und um besser zu sehen, aufgesprungen war. Der Rabe war von der Schulter der dunkelhaarigen Frau weggeflattert und hüpfte neben ihr am Boden. Aus der Nähe erschienen die pechschwarzen Augen des Vogels listig und weise. Nala hörte, dass er knarrend, doch deutlich „Tendo“ krächzte.

„Wie du hörst, das ist Tendo, und mein Name ist Blaue Feder. Wie wirst du genannt, kleine Schwester?“, fragte die Fremde.

„Ich heiße Nala“, stotterte sie überrascht.

Verwundert betrachtete Nala sie jetzt aus der Nähe. Ihre Füße steckten in weichen Mokassins. In ihrem Haar waren eine blaue und eine schwarze Feder eingeflochten und eine lange Kette aus Türkisen schmückte ihren Hals. Sie ließ langsam ihren Blick über die Lichtung schweifen.

Dort drüben war aus dem Wäldchen eine Herde von fünf Mustangs aufgetaucht. Die Pferde näherten sich. Eine fuchsrote Stute mit vier hellen Stiefeln begann neben ihnen zu grasen.

Eine zweite Mustangstute war braun-weiß gescheckt und hatte eine schwarze Mähne. Die beiden langbeinigen Fohlen und ein schokoladebrauner Hengst standen weiter weg bei den Büschen am Rand der Lichtung. Alle Tiere senkten gelassen ihre Köpfe Richtung Erde. Sie rupften und kauten das trockene Gras. Die frei lebende Herde bot einen atemberaubenden Anblick. Nala konnte ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten.

„Wer bist du?“ „Wo bin ich hier?“ „Träume ich?“, schoss es ihr durch den Kopf.

„Das sind ja viele Fragen“, stellte Blaue Feder fest. Sie ließ sich auf dem Boden nieder und klopfte sachte auf das Gras, um Nala aufzufordern, sich neben sie zu setzen.

„Ich bin hier, weil du mich gerufen hast. Du bist verwirrt und sehnst dich danach, Freundschaft mit den Pferden zu schließen. Manchmal bekomme ich Besuch von Lehrlingen aus verschiedenen Welten, wenn sie offen genug sind, um sich auf eine besondere Art mit Tieren zu verbinden. Du hast diese Offenheit und die Gabe, in andere Wirklichkeiten einzutauchen.“

„Was ist das für eine Welt?“ Hastig war Nala die Frage herausgerutscht. Sie brannte in ihr, denn das Mädchen konnte nicht fassen, was sie da erlebte. Heimlich hatte Nala das Bein ausgestreckt und wie versehentlich mit ihrem Fuß das Knie der Fremden berührt. Sie wollte unbedingt wissen, wie echt dieser Traum war. Als Nala das Knie mit ihren Zehen anstupste, lächelte Blaue Feder ihr zu und nickte wissend mit dem Kopf.

„Bei meinem Stamm bin ich eine Medizinfrau und Schamanin. Medizinmenschen unterstützen andere bei ihrer Heilung. Wir unterscheiden nicht zwischen seelischer und körperlicher Gesundheit. Alles gehört zusammen. Ich höre die inneren Fragen, die hinter den Sätzen der Menschen versteckt sind. Und darum bist du hier, du stellst interessante Fragen. Du wirst sehen: Fragen sind wichtiger als Antworten. Sei aber vor allem bereit für Antworten auf Fragen, von denen du bisher nichts gewusst hast.“

„Hmm, das klang rätselhaft. Eine Medizinfrau, eine Schamanin! Wie seltsam!“, dachte Nala.

„Und bist du eine Indianerin?“, fragte sie nun neugierig.

„Wir selbst nennen uns entweder Native Americans oder benutzen den Namen unseres Stammes, wie zum Beispiel Lakota, Cherokee und Hopi“, erzählte Blaue Feder.

Nala war begeistert. Diese Begegnung war vielleicht das Beste, was ihr passieren konnte! Möglicherweise half die Schamanin dabei, eine Lösung für das Schlamassel zu finden, in dem sie steckte. Das war zumindest eine Chance, dass endlich etwas Abenteuerliches, Ungewöhnliches in ihrem Leben geschah. Nala war bereit für jede Unterstützung, die sie kriegen konnte.

„Die Erfahrungen, die du hier machst, werden dich verändern, mehr als du es dir jetzt vorstellen kannst. Es braucht einen mutigen Schritt, um sich auf mich und diese magische Welt einzulassen. Du musst eine Entscheidung teffen und eindeutig JA sagen, wenn ich deine Lehrerin sein soll.“

„Ja natürlich will ich von dir lernen!“

Es gab kein Zögern in Nala, keine Überlegung, keinen Zweifel, nichts davon. Dieses JA kam direkt aus ihrem Herzen. Sie wunderte sich selbst über die Bestimmtheit, mit der sie ihr Einverständnis gab.

„Wenn du so sicher bist, dann wirst du ab jetzt meine Schülerin, ein schamanischer Lehrling sein“, sagte Blaue Feder feierlich.

Das Mädchen blickte auf die Lichtung. Alles war friedlich. Nur der freche Rabe hüpfte aufgeregt herum und schimpfte vor sich hin. Aus ihm wurde Nala nicht ganz schlau. Fasziniert versuchte sie, sein Gekrächze zu verstehen. Sinnlos, es gelang ihr nicht.

„Willst du nicht endlich die Pferde begrüßen?“, fragte Blaue Feder in die abendliche Stille hinein.

„Nichts lieber als das!“, dachte oder sagte Nala. Sie wusste nicht, ob das Gespräch nur in Gedanken stattfand, oder ob sie ihre Stimme benutzte, wenn sie sich mit der Medizinfrau unterhielt. Trotzdem fühlte sich das, was Nala in diesem Steinkreis erlebte, echter an, als alles, was sie bisher kannte.

 

Schnell und zielstrebig stand sie auf und ging schnurstracks auf den fuchsroten Mustang zu. Nur mehr zwei Meter von ihm entfernt, streckte sie dem Pferd ihre Hand entgegen. Die Stute hob den Kopf, drehte dem Mädchen ihr kräftiges Hinterteil zu und wich ein Stück zur Seite aus. Bei jedem weiteren Versuch, den Nala startete, um sich der in der Sonne glänzenden Fuchsstute zu nähern, wandte sie sich wieder ab.

Beim nächsten Anlauf zuckte das Mädchen zusammen, denn eine Nuss traf sie schmerzhaft, aus großer Höhe, auf den Kopf.

„Autsch!“ Sie blickte nach oben. Da flog doch der freche Rabe? Hatte der sie mit einer Nuss beworfen?

Kopfschüttelnd und lächelnd unterbrach Blaue Feder die vergeblichen Annäherungsversuche und winkte Nala zu sich. Tendo machte Geräusche, als ob er lachen würde. Was war nur schief gelaufen?