Elisabeth Stier

Das Gigantische
Genie

-Kteilt aus-

Inhaltsverzeichnis

Kein Tag wie jeder andere

K fällt in mein Leben

Das Unding

Das sonderbare Experiment

Der nächste Morgen

K im Keller

Unterwegs

In Wendelang angekommen

Hühner und Schwein Rosali

In der Kneipe

Das Ofenrelikt

Am Meer

K zeigt mir den Abgrund

Die denkende Schachtel

Der letzte Abend

Kein Tag wie jeder andere

Gefühlt tausend Jahre ist es her, dass mein damaliger Schullehrer der Oberstufe M. Lockwile mir etwas erzählte über überdimensionale Gebäude aus Zahlen, Buchstaben, auch Dimensionen in der unüberschaubaren kosmischen Vielfalt der mathematischen Irrgärten. Dunkle Zahlenkolonnen mit den Schatten der imaginären Vielfältigkeit. Verworrene und sich windende übereinander gelegene Bewusstseinsebenen eines vielleicht Wahnsinnigen, der kurz vor dem Durchbruch aller Wahrheiten von Himmel und Hölle zu sein schien. Er war der Lösung, seiner Lösung, der Vollendung allen Seins in seiner Welt der Spiralen, Kreisen von Zufälligen, Gesetze der Mechanik, der Quantenmechanik, der Himmelsmechanik, Uhrmechanik und was weiß ich für sonstigen Mechaniken der Geschichte, nicht mehr so weit entfernt, als wie ein einzelner Schritt vor der Erkenntnis des Gottes aller Wesen dieser Welt.

Er ist gestorben. Vor einigen Jahren. Unbemerkt von der Welt, leise zugleich verstohlen wie ein Kind seine Kindheit verlässt. Was ist von ihm geblieben? Ich weiß es nicht. Jedenfalls denke ich an jenen Mann mit kräftigem Körperbau zurück. Seine Gestalt war sehr auffällig. Der Gang war von weitem zu erkennen. Man mochte ihn nicht so besonders. Er war nicht sehr einfühlsam und immer absolut direkt. Manchmal sogar etwas eklig oder vorlaut. Nie konnte ich ihm das Wasser reichen. Sein Intellekt war gewaltig ausgebreitet. Seine Arme umfassten einen sprichwörtlich wie eine Meeresbucht bei einem Gespräch. Seine Augen funkelten voller Stolz sowie mit Großmut seinem Partner gegenüber. Aber, er war ein Gigant an Wissen, wobei auch sehr geduldig einem etwas zu erklären. Die Augen konnte man nicht verlassen und war gezwungen immerfort seinen Worten zu lauschen, auch wenn man vieles nicht sofort verstand oder gar nicht. Seine Sätze verwöhnten jedes Gehör mit Klang, Dynamik als auch Widerhall. Musik aus einer Welt, die nur leicht an der Oberfläche schäumt. Unvorstellbar, was da in der Tiefe der Worte noch wartete, erkannt sowie entdeckt zu werden.

Ein Verlust an denkbaren Sätzen, die nie gesprochen worden. Die nie gedacht und auch vielleicht nie geahnt werden können. Wenn er durch die Straßen zog, um zu seiner Arbeit zu kommen, hatte er immer seine Aktentasche dabei. Er trug sie nicht unterm Arm, sondern ließ sie an einem Finger mit schlendernden Arm schaukeln. Siegessicher und glücklich, wie es schien, dorthin zu gehen, wo die Schüler nicht unbedingt fröhlich auf ihn warteten.

Traurig oder teilnahmslos nimmt jedermann diesen Verlust dahin. Man kennt sich nicht, man hat keine Beziehung, man lebt eh anders.

Ich bereite gerade eine Besprechung vor, sitze am Fenster und schaue so vor mich hin in die Stadt. Da ist zwar etwas zu sehen, nur meine Gedanken sind fern jener Realität, die mein Auge erzeugt; wenn schon! Der Kaffee ist kalt geworden und eine Pause war ja auch nicht schlecht. Mein Chef wollte einen allgemeinen Bericht über die Regelungstechnik für alle Kollegen. Der soll nicht länger als 10 Minuten dauern. Eine Informationsveranstaltung für alle sozusagen, der das beinhalten wird, was eh schon alle wissen. Kann im Grunde nur langweilig sein.

Da kommen dann noch ganz andere Gedanken hoch. Warum soll gerade ich das machen? Will er mich testen? Wieso nur 10 Minuten und was weiß er mehr darüber als ich? Soll ich mich zweifelsohne zum Affen machen oder soll ich allen zeigen, was ich drauf habe? Wahrlich zum kotz… Ein Studium dauert einige Jahre, bevor man die Werkzeuge der Mathematik anwenden kann. Ob man die auch verstanden hat, steht dabei noch auf anderen Blättern der Gedankenirrwege. Wie viele Diskussionen an Abenden mit Kommilitonen, wie viele Stunden der Übungen am Gewehr der Schriftsetzer, ich meine den Bleistift, habe ich überstehen müssen. Mein Verstand hat gewürgt, geknurrt, gefleht – gar gestreikt. Was muss man das alles über sich ergehen lassen? Warum, wieso, weshalb, …. Die Antwort lag da, im Studentenwohnheim überall ausgebreitet – Klausur. Logische Antwort der Hochschule. Aber jetzt wieder diese Fragen, nur diesmal ist es viel, viel schlimmer. Auf der einen Seite sitzen mir da gegenüber gespannte Kollegen, die von der Materie fast keine Lust dafür haben, auch nur in Ansätzen davon was verstehen zu wollen, weil eh nicht klar vermittelbar. Andererseits ist das Thema in aller Tiefe kaum von einem selbst durchschaubar. Dann noch die vielen Hintergedanken in diesem Universum von anderen, viel besser geschulten, als auch geübten Mitmenschen, denen eh nie das Wasser zugereicht werden kann, weil man selbst gefühlt kaum das Abitur schafft. Die Zange ist einfach unerklärlich weit gefasst, in die ich hier gestürzt bin. Kann man eigentlich noch tiefer in einen Abgrund schauen und nicht mehr sehen, was auf dem Grund liegt?

Ja gewiss, es geht noch ungenießbarer, bei weitem entsetzlicher, als man sich das vorstellen kann. Bisher ist es mir nicht gelungen, auch nur etwas aus diesem unbehaglichen Milieu an die Oberfläche zu tragen und mit einer willigen Seele auf dieser Welt zu teilen. Jeder Versuch eine in Sätze gekleidete Kolonne von Wörtern hintereinander zu gestalten sind kläglich gescheitert. Kein Lesender konnte auch nur erahnen, was ich meinen könnte. Man steht dann als Idiot im Mittelpunkt. Nicht so sehr als der Dumme, sondern mehr als jener, der bedauert werden muss. Losgelöst von der weltlichen Realität der Gesetze aller Vernünftigen.

Sätze müssten die Wörter gleichzeitig beinhalten, welche für den zu sagenden Satz notwendig währen. Welches sollten das denn sein? Kann man Gedanken außerhalb der Vernunft überhaupt formulieren? Gibt es Wörter, die noch nicht gedanklich hinterlegt sind wie zum Beispiel: Abcarst, ülevisuntert, ausgebrazt…

Ich habe jemanden kennengelernt, der war ein Meister des Unverständnisses sowie der Unklarheit jeglicher Zufälligkeit an Buchstaben. Kaum zu glauben, dass er als Person vor mir stand. Herr K. Unverdaut nannte er sich. Das war sicher nur ein Synonym für ihn für andere. Aber dafür eindeutiger wie als ein jedermann Namen hat. Der ist irgendwie nichtssagend und tot für alle, die nicht mit dem Namen irgendwas verbinden. Einen Gedanken oder ein Bild ein Traum eine Erinnerung und so weiter. Aber K. Unverdaut klingt schon so wie ein Abgang aus dem Allerwertesten samt Endoder Dickdarmbereich. Da ist dann der entsprechende Darmwind auch nicht mehr fern vorstellbar. Dazu gesellen sich noch Verbalien wie 'groß' machen und Adjektive wie eklig, schmutzig obendrein unansehnlich, um mit rechten versöhnlichen Bildern zu spielen. Im Gegenteil dazu ist das auch was Gutes. Aller Unrat wird entsorgt und vernichtend aus dem Körper gebracht. Die Reste und nicht weiter auszubeutenden Materialien werden nicht mehr gebraucht und dann entsorgt.

Ich mache mir heute den Vorwurf ihn nie so richtig ernst genommen zu haben. Er ähnelte in einer geheimen, beängstigenden, unaussprechlichen Weise dem M. Lockwile. Die Ähnlichkeit ist eigentlich nur gefühlt und riecht nach einem Duft, der nur an dem Gedächtnis nagt, wie ein Kratzer. Ein Duft, der so eine Ahnung von etwas beinhaltet, was man nicht so richtig zu fassen bekommt im Geiste. Da kreisen Gedanken irgendwo im Hirn herum, die nichts finden, das sie zurückbringen können in das Wasser des 'na klar'- Erkennens. Der trübe Erinnerungsschaum ist übermächtig beileibe verwischt jedes klare Bild. Allerdings ist da doch ein kleiner Bach, von in der Zeit gelegenen Bildchen, die sich nur chaotisch verformt zeigen. Unerkannt zugleich geheimnisvoll. Ein Kind der weltlichen Gabe Dinge aus dem umweltlichen Graben aller Dunkelheit und Lichtquellen zeigt sich fragend. Ein Embryo der neuen versteckten oder vergrabenen Allmächtigkeit. Keine Hand kann dieses Fließende fassen oder gar erfassen. Es bleibt verborgen, unerreichbar, hilflos um Kontakt suchend. Da ist aber nichts und kein Verstand, der dazu imstande wäre. Aber diese beiden Geschöpfe, die in meiner Erinnerung leben, vielleicht schon. Die Zeit hat diese beiden Einzelwesen aus meinem körperlichen Umfeld genommen. Und die Zeit hat sie wieder in mein Hirn zurückgebracht. Warum gerade jetzt? Was ist jetzt anders als zu jenen vergangenen Welten, als ich sie nicht so gesehen habe wie jetzt?

Die Zeit will mir jetzt etwas sagen? Wie will sie das machen? Die Zeit ist in mir und immer im jetzt verflossenen Gestern. Ein Schwall an ins Nichts stürzenden Gedanken, die immer weiter jeglicher Begrifflichkeit entfliehen. Würde man sie zu sich ziehen, könnte man durch die sich ständig aufwickelnden Umläufe der Zeitgeschehnisse wohl alsbald wahnsinnig werden. Ertrinkend in seiner eigenen Gedanklichkeit. Schön blöd, wenn es dazu kommt. Also was tun?

Es wird mir nicht anderes übrig bleiben als von meiner Begegnung mit K. Unverdaut zu schreiben. Sollen die Menschen, die mit mir dieser Seele lauschen, mehr erkennen als ich. Irgendein Wesen muss sich endlich finden, die Unruhe, die gar an sich schreiende Dunkelheit, überall, endlich mit Licht zu erfüllen.