Aus dem australischen Englisch von Manfred Sanders

Impressum

Die australische Originalausgabe The Carrow Haunt

erschien 2018 im Verlag Black Owl Books.

Copyright © 2018 by Darcy Coates

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: EbookLaunch

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-777-6

www.Festa-Verlag.de

1

Verehrte Gäste

Frierend wartete Remy auf der ausladenden Steinveranda, während der Kleinbus knirschend die Schotterauffahrt heraufkam. Der fast volle Mond goss sein Licht über den zugewucherten Formschnittgarten und das steinerne Gästehaus, und in der Ferne brandeten Wellen gegen unsichtbare Klippen.

Trotz der kalten Herbstluft war die Führung ausgebucht. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnte Remy hinter den Fenstern des Kleinbusses erwartungsvolle Gesichter erkennen, die versuchten, einen Blick auf das Gebäude zu werfen, einige grinsend, andere mit leicht bangem Blick. Remy konnte sich ein Schmunzeln der Vorfreude nicht verkneifen.

Der Bus bremste und hielt an, und Jones sprang hinter dem Lenkrad hervor, um die Schiebetür an der Seite aufzuziehen.

Remy mochte Jones sehr; er war fast 80, aber sein drahtiger Körper besaß immer noch eine flinke Energie. Sie bezahlte ihn dafür, die Besucher von ihren Hotels oder Wohnungen hierher- und wieder zurückzufahren. Er erledigte den Job mit zuverlässigem Lächeln und beflissener, schwungvoller Verbeugung. Aber obwohl Jones jetzt schon seit zwei Jahren mit ihr zusammenarbeitete, hatte er nie Remys Einladung angenommen, sich einmal das Innere von Carrow House anzusehen.

Acht Besucher, eine Mischung aus jungen und älteren Gästen, stiegen aus dem Kleinbus. Jones begrüßte sie mit einer knappen Verbeugung und dirigierte sie mit einer Handbewegung zur Veranda. Die Gruppe blieb vor der untersten Stufe stehen und betrachtete das Haus, die Gärten, die imposanten Steingiebel und die dunklen Fenster.

Remy nahm ihre übliche Pose ein, einen Fuß etwas nach vorne gestellt, um die Silhouette ihres Kostüms voll zur Geltung zu bringen, die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, die linke zum Himmel erhoben. Sie holte tief Luft und ließ ihre Stimme laut durch die Nacht hallen. »Willkommen, verehrte Gäste, am berüchtigten Carrow House. Möge das Schicksal verhüten, dass Ihnen während Ihres Aufenthaltes ein Ungemach widerfährt.«

Sie wusste, dass sie zum Schießen aussah, aufgetakelt mit ihrem Kleid im Stil des frühen 20. Jahrhunderts, aber das gehörte zur Show. Die Gäste bezahlten nicht nur dafür, sich das berühmteste Spukhaus des Bundesstaats anzusehen – sie zahlten für ein Erlebnis. Und Remy, Liebhaberin historischer Kostüme und staubiger alter Bücher, kam ihnen dabei nur zu gerne entgegen. Die steife Uniform aus schwarzer Seide machte sie zu einer passablen Verkörperung einer gruseligen Haushälterin aus der Zeit Edwards VII. und passte perfekt zur Atmosphäre der Geschichte, die sie zu erzählen hatte.

Die Gäste reagierten positiv, einige schmunzelten, andere nickten. Eine Dame mittleren Alters klatschte zweimal in die Hände. Remy ließ die erhobene Hand fallen und drehte sich um – wobei ihre schwarzen Röcke und ihr langes dunkles Haar auf, wie sie hoffte, dramatische Weise herumschwangen –, dann fixierte sie ihr Publikum mit einem durchdringenden Blick. »Heute Abend werden Sie Geschichten makabrer und schauriger Natur hören. Sie werden mit eigenen Augen die Räume sehen, in denen sich Geschehnisse unvorstellbaren Grauens abgespielt haben. Und vielleicht werden Sie sogar von einem Wesen aus einem Reich jenseits der sterblichen Welt besucht.«

Sie hielt einen Finger hoch und lupfte die Augenbrauen. »Ihr Chauffeur wird Sie gleich verlassen und erst in etwa drei Stunden zurückkehren. Sollte jemand unter Ihnen die Befürchtung hegen, dass sein Mut möglicherweise nicht so lange standhält, so ist dies die letzte Gelegenheit, ungeschoren davonzukommen.«

Die Besucher sahen sich gegenseitig an, doch keiner bewegte sich. So wie immer, aber Remy dehnte das Schweigen noch einen Moment aus und genoss die wachsende Spannung. Dann ließ sie ihre theatralische Pose fallen und winkte die Besucher zu sich. »Also gut. Kommen Sie herein, liebe Gäste. Mein Name ist Remy und ich kann es kaum erwarten, Ihnen das Haus zu zeigen.«

Mit weiterem Schmunzeln und leisem Lachen schlurfte die Gruppe die vier ausgetretenen Steinstufen herauf. Remy wich in den dunklen Türeingang zurück, um ihnen Platz zu machen. Sie nahm sich eine Sekunde, um die Gruppe zu mustern: Zwei Frauen mittleren Alters hatten ihre Arme untergehakt, wahrscheinlich Schwestern oder gute Freundinnen. Die drei jungen Leute sahen sehr nach Touristen aus. Ein Mann mit schütterem Haar blinzelte durch eine runde Brille und strich immer wieder seine Jacke glatt. Eine Frau, die aussah, als fände sie es gleichermaßen peinlich und aufregend, hier zu sein, presste ihre Lippen aufeinander, um ein Grinsen zu unterdrücken. Und ein großer dunkelhaariger Mann hielt sich am Ende der Gruppe; sein Gesicht war unbewegt, aber seine Augen leuchteten hell im dämmrigen Licht.

Remy stemmte die Hände in die Hüften. Sie war nicht besonders groß, deshalb musste sie den Hals recken, um jeden in der Gruppe sehen zu können, aber sie achtete darauf, Blickkontakt zu allen herzustellen. »Leidet jemand unter Epilepsie? Herzkrankheiten, die medikamentös behandelt werden? Hat jemand Probleme mit dem Treppensteigen oder mit längerem Gehen?« All diese Fragen waren den Gästen bereits gestellt worden, als sie die Führung gebucht hatten, aber Remy wartete, bis alle den Kopf geschüttelt hatten, dann winkte sie Jones zu, der neben dem Bus stand.

Er lächelte und nickte ihr zu, dann stieg er hinter das Lenkrad, schlug die Tür zu und trat aufs Gas. Das Dröhnen des Motors und das Knirschen des Schotters wurden leiser, als der Bus zurück in Richtung Stadt verschwand. Es war eine einstündige Fahrt, aber offenbar zog Jones es vor, auf der Straße zu sein, statt vor Carrow House zu warten.

»Nun denn.« Remy grinste ihre Gruppe an. »Ich freue mich, dass Sie alle heute Abend hier sein können. Ihnen steht ein ganz besonderes Erlebnis bevor. Ich mache diese Führung jetzt seit fast zwei Jahren einmal pro Woche, und dieses Haus schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Aber zuvor noch ein paar kleine Verhaltensregeln. Verlassen Sie bitte nicht die Gruppe. Einige Teile des Gebäudes sind nicht mehr so baulich stabil, wie sie aussehen, und ich möchte nicht den Rest des Abends damit verbringen, Versicherungsformulare auszufüllen. Fassen Sie bitte nichts an, so hübsch und verlockend es auch aussehen mag. Die meisten Möbel in diesem Gebäude sind antik, und es ist sehr großzügig von den Besitzern des Hauses, uns diese Führungen machen zu lassen. Halten wir es also für sie sauber, okay?«

Sie machte eine kurze Pause, bis wieder alle genickt hatten, dann fuhr sie fort. »Ich werde Sie auf die Toiletten hinweisen, wenn wir daran vorbeikommen. Fotografieren ist innerhalb des Hauses nicht gestattet – tut mir leid, das ist der ausdrückliche Wunsch der Besitzer –, aber Sie können das Haus gerne von außen fotografieren. Dazu haben Sie nachher noch die Gelegenheit, bevor wir zurückfahren. Einige frühere Gäste haben tatsächlich übernatürliche Phänomene auf ihren Bildern festgehalten; sollten Sie so etwas auf Ihren Fotos entdecken, würde ich mich immens freuen, wenn Sie sie mir zumailen könnten. Ja, das war’s. Sind wir bereit?« Wieder wurde genickt, und Remy trat zurück und winkte ihre Gäste durch die offene Tür.

Obwohl sie bereits fast eine Stunde vor Beginn der Führung in Carrow House gewesen war, hatte Remy in Vorbereitung der Ankunft ihrer Gäste alle Lichter gelöscht. Jetzt betätigte sie den Schalter, um die Eingangshalle zu beleuchten und deren Schätze den staunenden Blicken darzubieten. Die Besucher stießen Laute der Überraschung und Bewunderung aus. Remy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie zum letzten Mal in ihre theatralische Stimme verfiel: »Willkommen, meine Lieben, im gefürchteten Carrow House!«

2

Seine kalten Augen

Carrow House den staunenden Blicken ihrer Gäste zu präsentieren, gehörte zu Remys Lieblingsmomenten auf ihren Führungen. Das Gebäude war die perfekte Mischung aus Dekadenz und Verfall. Remy ließ der Gruppe ein paar Minuten Zeit, um den mit Spinnweben überzogenen Kronleuchter hoch über ihnen zu bewundern, die prächtige geschwungene Doppeltreppe, die sich im hinteren Bereich der Halle in den Schatten versteckte, die aufgeschlitzten Porträts an den Wänden und die Mahagoni-Lehnstühle, die noch die Spuren von Axthieben aufwiesen.

Remy winkte den Gästen, weiter hereinzukommen. »Carrow House wurde im Jahre 1901 von John Carrow und seiner Frau Maria erbaut. John war ein hoch angesehener Arzt, wenn auch vielleicht nicht gerade der begnadetste Geschäftsmann, den die Welt je gesehen hat. Er errichtete das Gebäude als Kurzentrum in der Überzeugung, dass die salzige Meeresluft die Heilung zahlreicher Krankheiten unterstützen würde. Kurzentren waren damals seit fast einem Jahrzehnt in den höheren Gesellschaftsschichten äußerst beliebt, aber leider flaute diese Modeerscheinung bereits wieder ab, als John das Cliffside Kurzentrum und Sanatorium eröffnete.«

Sie führte die Besucher zu einer Reihe gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand neben der Tür und ließ ihnen einen Moment, um die Bilder zu betrachten. Sie zeigten ein Gebäude, das sich nicht allzu sehr vom modernen Carrow House unterschied – ein ausladendes steinernes Herrenhaus mit Dutzenden von hohen, dunklen Fenstern. Gruppen von Patienten saßen in einem gepflegteren und jüngeren Garten, einige in Decken gehüllt, andere in Korbrollstühlen, umgeben von Krankenschwestern. »Diejenigen, die sich die exorbitanten Preise des Sanatoriums leisten konnten, waren nicht sehr von den strikten Regeln des Hauses angetan. John Carrow erlegte den Patienten eine strenge Nachtruhe ab halb acht auf, bestand darauf, dass sie zweimal täglich im eiskalten Meer badeten, und strich jede Form von Zucker, Fett und Alkohol aus ihren Diäten. Das Sanatorium hatte von Anfang an mit finanziellen Problemen zu kämpfen.«

Remy ging langsam rückwärts und führte die Gäste dabei zu einer Sammlung verkohlter antiker Gegenstände, die auf einem Tisch in einer Ecke der Eingangshalle ausgestellt waren. »1906, kaum fünf Jahre nach dem Bau des Hauses, brach in einem der Salons ein Feuer aus und verbreitete sich rasend schnell im ganzen Haus. Der untere Teil des Westflügels und die oberen Stockwerke erlitten schwere Schäden. Auch wenn der Brand letztlich als Unglücksfall eingestuft wurde, verdächtigten viele Leute John oder seine Frau Maria, das Feuer gelegt zu haben in dem Versuch, dieses Fass ohne Boden loszuwerden. Falls das tatsächlich ihr Plan war, so hatten sie damit Erfolg. Sie kassierten eine beträchtliche Summe von ihrer Versicherung und verwendeten das Geld, um das Gebäude umzugestalten.«

Remy zeigte auf die Fotos mit den Korbrollstühlen, gefliesten Badewannen und uniformierten Krankenschwestern und machte dann eine ausladende Geste, die die opulente Eingangshalle umfasste. »Sie wandelten das Sanatorium in ein Luxushotel um und nannten es Carrow Hotel. Statt Salzbädern gab es jetzt Seidenbettwäsche, statt Kräutertees Cocktails. Das medizinische Personal wurde gefeuert und durch Hausmädchen, Butler und eine Truppe Entertainer ersetzt. Innerhalb von drei Wochen verwandelte sich Carrow Hotel von einem überholten, langweiligen Gesundheitstempel in einen angesagten Treffpunkt der feineren Gesellschaft, und das trotz seiner abgeschiedenen Lage. Und so blieb es für sechs friedliche Jahre.«

Sie hob vielsagend die Augenbrauen, dann drehte sie sich zu den Lehnsesseln vor dem prachtvollen Kamin um, der die gegenüberliegende Seite der Eingangshalle zierte. »In ihrem Eifer, das Hotel neu zu beleben, hatten John und Maria Carrow es versäumt, gründlich die Vergangenheit ihrer Angestellten zu überprüfen. Hätten sie es getan, dann hätten sie entdeckt, dass ihr Gärtner, Edgar Porter, erst vier Jahre zuvor wegen Mordes angeklagt worden war. Ihm wurde vorgeworfen, seine Frau getötet zu haben, aber er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Man fragt sich, ob die Geschworenen wohl zu einem anderen Urteil gelangt wären, wenn sie gewusst hätten, dass das Opfer seine dritte Frau war und die beiden vorherigen innerhalb eines Jahres nach ihrer Hochzeit auf Nimmerwiedersehen verschwanden.«

Ein Murmeln lief durch die Gruppe. Eine der jüngeren Frauen hielt sich die Hand vor den Mund, um ein nervöses Lachen zu unterdrücken.

Remy – immer wieder über die Reaktionen erfreut, die ihre Geschichte hervorrief – senkte den Kopf, sodass ihre Gesichtszüge von dunklen Schatten konturiert wurden. »Am Abend des 10. November 1912 brach in der Küche ein Feuer aus. Obwohl es schnell gelöscht wurde und nur geringen Schaden anrichtete, ließen John und Maria das Gebäude räumen. Als das Personal am nächsten Morgen zurückkehrte, waren die Türen verschlossen und eine Mitteilung war an das Holz genagelt worden, die verkündete, dass Carrow Hotel geschlossen bleiben würde, bis das Gebäude renoviert war. Wie man sich vorstellen kann, brodelte die Gerüchteküche. Zwei Brände in sechs Jahren? Entweder wurde das Haus extrem vom Pech verfolgt oder es steckte mehr dahinter.

Carrow Hotel blieb fast vier Monate geschlossen. Als es wieder öffnete, stand John allein in der Tür. Seine Frau sei verstorben, behauptete er mit gesenktem Kopf, eine Hand auf sein Herz gelegt. Der Kummer, ihr Hotel zum zweiten Mal in Flammen aufgehen zu sehen, sei zu viel für sie gewesen und habe sie dahingerafft.« Remy ahmte die Geste nach; sie legte eine Hand auf die Brust und senkte ihren Kopf. Dann blickte sie wieder auf. »Die Hotelgäste machten die Trauer für die Veränderung von Johns Aussehen verantwortlich.«

»Oooh.« Eine der älteren Damen, die begriff, was Remy andeuten wollte, klammerte sich fester an den Arm ihrer Begleiterin.

»Nach allem, was wir heute wissen, hat wohl Edgar Porter, der Gärtner, das Feuer gelegt. Er versteckte sich im Haus, während Gäste und Angestellte evakuiert wurden, dann ermordete er John und Maria, sobald sie allein waren. Er hatte fast sechs Jahre in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt und während dieser Zeit Johns Sprechweise, seine Eigenheiten und sein Lachen studiert. Einige Leute behaupteten, es hätte ohnehin bereits eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern gegeben, die noch verstärkt wurde, als Edgar die Kleidung seines früheren Arbeitgebers anzog. Für die Neueröffnung des Hotels wurde ganz neues Personal eingestellt, und keinem der Gäste fiel auf, dass der Mann, der sie willkommen hieß, ein paar Zentimeter größer und ein kleines bisschen hagerer war als ihr alter Gastgeber.«

Remy drehte sich wieder zum Kamin um und zeigte auf ein prächtiges Ölporträt, das darüber hing. Ein dünner Mann mit eingefallenen Wangen, stahlgrauem Haar und stechenden Augen blickte auf die Besucher herab. »Edgar ließ dieses Porträt sechs Wochen, nachdem er Carrow Hotel übernommen hatte, anfertigen, vielleicht um seinen Anspruch auf das Gebäude zu untermauern.«

»Er sieht verschlagen aus«, meinte der rundliche Brillenträger. Er schob seine Brille mit dem Finger hoch und wippte auf den Fußballen. »Als wäre sein Kopf voller kranker Gedanken.«

»Vielleicht war es so. Es ist hauptsächlich ihm zu verdanken, dass Carrow House als das berüchtigtste Spukhaus des Bundesstaates gilt.« Remy ließ ihren Blick eine Sekunde auf dem vertrauten Gemälde ruhen. Es war meisterhaft ausgeführt, und die grauen Augen schienen Remy überallhin zu verfolgen. Ein Kribbeln kroch über ihre Haut. Sie wandte dem Bild den Rücken zu und grinste ihre Besucher an. »Gehen wir nach oben.«

Sie führte die Gäste über einen staubigen, verschlissenen Teppich zur Treppe am hinteren Ende der Halle. Die Holzstufen knarrten, als sie hinaufgingen, und Remy sah, dass die beiden älteren Freundinnen sich am Geländer festklammerten, als hätten sie Angst, die Treppe könnte unter ihnen einstürzen.

Der Brillenträger lief ein paar Stufen hinauf, um Remy einzuholen. »Wohnt heute noch jemand in diesem Haus?«

»Nein, seit fast 20 Jahren nicht mehr.« Die Treppe machte eine Wendung, deshalb blieb Remy auf dem Absatz stehen, damit die anderen Gäste sie ebenfalls hören konnten. »Sie werden verstehen, warum, wenn ich Ihnen mehr von der Geschichte des Hauses erzähle. In den Achtzigern gab es Überlegungen, das Haus abzureißen und an seiner Stelle etwas weniger Düsteres zu bauen, aber das Grundstück ist nicht besonders viel wert und es ist zu weit weg von der Stadt, um von großem Nutzen zu sein. Die aktuellen Besitzer haben seinen Ruf als Spukhaus akzeptiert und mir freundlicherweise gestattet, diese Führungen zu veranstalten.«

Von diesem Punkt, den halben Weg die Treppe hinauf, hatten sie einen ausgezeichneten Blick auf die Eingangshalle. Remy zeigte auf die Stühle, den vom Alter zerfressenen Teppich, die kunstvoll geschnitzten Türen. »Die meisten dieser Möbel stammen aus Edgars Zeit. Sie waren eine Zeit lang eingelagert, wurden aber wieder aufgestellt, als das Hotel endgültig geschlossen wurde. In den Gästezimmern werden Sie außerdem einige der Originalbetten und -schränke sehen.«

Sie ging weiter die Treppe hinauf und hob ihre Stimme, damit alle sie hören konnten. »Carrow House hat 22 Gästezimmer, dazu Freizeiträume im Erdgeschoss und Personalwohnungen auf dem Dachboden. Der Hausbesitzer – erst John, dann Edgar – wohnte immer in dem Zimmer mit dem besten Blick aufs Meer. Wir werden es später noch besuchen, aber erst gehen wir in Zimmer 8.« Am Ende der Treppe bog sie nach links in den hohen Flur, der tiefer in das Gebäude hineinführte. Auch mit eingeschaltetem Deckenlicht wirkte der Korridor erstickend eng und dunkel. Remy behielt ihre Gäste im Auge, als sie ihr zu einer Tür folgten, die ein kleines Bronzeschild mit einer 8 trug. Manchmal hatten klaustrophobische Besucher Probleme mit den Korridoren, aber die heutige Gruppe schien gut damit zurechtzukommen.

Remy öffnete die Tür und trat zurück, um die Gäste hineingehen zu lassen. Oberflächlich betrachtet sah Zimmer 8 nicht viel anders aus als die anderen Räume. Hohe Bogenfenster, die zum Meer hinausblickten – das im Dunkeln allerdings kaum zu sehen war, abgesehen von winzigen Glitzerflecken Mondlicht auf den Wellen –, und dekadente antike Möbel beherrschten den Raum. Remy betrat das tapezierte Zimmer als Letzte und wischte sich die staubigen Hände an ihrem schwarzen Seidenkleid ab.

»1913, 18 Monate nachdem Edgar den Platz seines Arbeitgebers eingenommen hatte, verschwand Albert Geiger, der in diesem Zimmer logierte. Der Letzte, der ihn offiziell sah, war ein Hausdiener, der dem stark alkoholisierten Gast ins Bett half. Edgar sagte gegenüber der Polizei aus, er habe gesehen, wie Geiger früh am Morgen vom Grundstück ritt, doch einige Leute stellten fest, dass diese Geschichte wenig Sinn ergab. Denn erstens war Geiger mit einer Kutsche angekommen, nicht zu Pferde. Zweitens enthielt der Kleiderschrank noch immer seine Garderobe. Drittens war Geiger allgemein dafür bekannt, dass er meistens bis mittags oder noch länger schlief, vor allem an Tagen nach Zechgelagen. Und viertens konnte keiner der Angestellten – auch nicht die, die seit vier Uhr morgens im Garten gearbeitet hatten – Edgars Aussage bestätigen.

Aber Edgar – oder John, als den die Polizei ihn kannte – war ein angesehener Ehrenmann, deshalb glaubte man seinem Wort mehr als dem anderer. Geigers Verschwinden blieb über Jahre ein Rätsel. Aber neun Tage nachdem er verschwunden war, beschwerten sich Gäste, die in Zimmer 8 untergebracht waren, über einen üblen Geruch. Sie wurden umgehend in ein anderes Zimmer verlegt, und später an diesem Abend machte ein Hausmädchen einen sehr seltsamen Eintrag in ihr Tagebuch.«

Remy griff in eine der versteckten Taschen ihrer Röcke und holte das schwarze ledergebundene Buch heraus, das ihre Notizen für die Führung enthielt. Sie klappte es an der ersten Markierung auf und las vor: »Konnte nicht schlafen; ging in die Küche, um etwas zu trinken zu holen. Unterwegs sah ich Mr. Carrow, der einen Sack aus Zimmer 8 trug. Er schien überrascht, mich zu sehen. Der Sack roch übler als alles, was ich je vorher gerochen habe; als ich ihn fragte, was darin sei, antwortete er, ein Tier sei in dem Zimmer verendet. Hat einer der Gäste sein Haustier vergessen? Der Sack war groß, aber er gestattete mir nicht, ihm zu helfen, sondern schickte mich zurück ins Bett. Es ist sehr seltsam.« Remy klappte das Buch zu. »Das Hausmädchen, Josephine mit Namen, verschwand, kurz nachdem sie am nächsten Morgen mit ihrer Arbeit begonnen hatte.«

»Befand sich dieser Mann in dem Sack?«, fragte die Dame mit den hellen Haaren. »Geiger?«

»Es konnte nie eindeutig nachgewiesen werden, aber es erscheint wahrscheinlicher als jede andere Möglichkeit.« Remy steckte das Buch wieder in ihren Rock, dann ging sie zwischen den Gästen hindurch zum Kleiderschrank. Seine schweren geschnitzten Türen knarrten, als sie ihn öffnete, und der vertraute modrige Geruch wehte ihr entgegen. »Und wie der Leichnam so lange in Zimmer 8 versteckt bleiben konnte – nun, jeder Kleiderschrank in Carrow House wurde mit einer doppelten Rückwand gebaut, möglicherweise um zusätzlichen Stauraum zu schaffen. Die Polizei fand später Spuren von Körperflüssigkeiten in dem kleinen Hohlraum.«

Sie drückte auf einen verborgenen Riegel an der Rückwand des Schrankes, und das Holzbrett schwang nach vorne. Die Gruppe trat hinter ihr näher, einige hielten sich die Hand vor die Nase, als hinge der Verwesungsgeruch noch im Schrank. Das Geheimfach war klein, einen Viertelmeter tief und etwas über einen Meter hoch – gerade eben groß genug, um einen erwachsenen Leichnam hineinzustopfen. Es war in dem dämmrigen Licht schwer zu sehen, aber einige Stellen des Holzes waren verfärbt.

Jetzt, da die Gruppe so nahe war, konnte Remy ihre Stimme senken und unheilvoller klingen lassen. »Einige Gäste behaupteten, ein Klopfen aus diesem Schrank gehört zu haben, schon lange bevor der Mord entdeckt wurde. Die Berichte lauten alle gleich: Der Gast liegt im Bett, kurz vor dem Einschlafen, als er ein leises Tapp, tapp, tapp hört … Eine Frau meinte, es klinge, als bäte jemand darum, herausgelassen zu werden.«

Die Besucher reagierten, indem sie sich entweder näher an das Geheimfach beugten oder zurückschreckten. Zwei der Damen kicherten nervös und der Brillenträger begann wieder, auf den Fußballen zu wippen.

»Er wurde aber überführt, oder?«, fragte die Stillere der älteren Damen. Das Beben in ihrer Stimme legte die Vermutung nahe, dass die Tour die Idee ihrer Begleiterin gewesen war. »Wenn die Polizei Blut fand …«

»Man fand es erst fast acht Jahre nach Geigers Tod.« Remy drückte sorgfältig die falsche Rückwand wieder an ihren Platz und schloss das Geheimfach. »Während seiner Zeit als Besitzer von Carrow House ermordete Edgar mindestens 29 Gäste und Angestellte und ist möglicherweise für bis zu 63 weitere Vermisstenfälle verantwortlich.«

Diese Zahlen veranlassten die Besucher, überrascht nach Luft zu schnappen oder leise Pfiffe auszustoßen. Das war nicht ungewöhnlich. Auch wenn Carrow House für seine übernatürlichen Phänomene berüchtigt war, kannten die meisten Leute nicht das Ausmaß seiner blutigen Vergangenheit. Nur der große dunkelhaarige Mann am hinteren Ende der Gruppe wirkte unbeeindruckt.

»Carrow Hotel hatte zwei Arten von Gästen«, fuhr Remy fort, während sie den Kleiderschrank schloss. »Wohlhabende Angehörige der feinen Gesellschaft, die wegen der Aussicht und der Unterhaltungsangebote kamen, und Wanderer, die an der Küste entlang unterwegs waren. Als das Hotel älter wurde und nicht mehr so angesagt war, wuchs der Anteil der weniger betuchten Gäste.

Weite Strecken zu reisen – vor allem allein –, war zur damaligen Zeit ein riskantes Unterfangen, und es kam durchaus vor, dass Reisende unterwegs verschwanden. Obwohl eine erstaunlich große Zahl von ihnen etwa zu der Zeit verschwand, als mit ihrer Ankunft im Carrow Hotel zu rechnen war, wurden nicht alle Vermisstenfälle der Polizei gemeldet und noch weniger wurden untersucht. Geigers Geschichte ist insofern bedeutsam, als es der erste bekannt gewordene Fall eines verschwundenen Gastes war. Aber er war beileibe nicht der letzte.« Remy warf der Gruppe ein grimmiges Lächeln zu und deutete mit dem Kopf zur Tür. »Gehen wir jetzt in Louise’ Zimmer.«

3

Der gesprungene Spiegel

Remy führte ihre kleine Gruppe durch den Korridor zur anderen Seite des Hauses. Sie ging langsam, damit alle genug Zeit hatten, die verblassten rot gemusterten Tapeten und die Ölgemälde, die zwischen den Türen hingen, zu bewundern. Ein Läufer dämpfte die Schritte der Besucher, dennoch knarrten die Bodenbretter unter dem Gewicht. »Die meisten dieser Zimmer haben irgendwann einmal den Tod gesehen. Edgars bevorzugte Vorgehensweise bestand darin, seine Opfer beim Einchecken auszuwählen und ihnen ein Zimmer zu geben, das so weit wie möglich von den anderen Gästen entfernt lag. Dann suchte er sie mitten in der Nacht auf und erdrosselte sie oder – weniger häufig – schlitzte ihnen die Kehle auf. Es wurden nie irgendwelche Komplizen juristisch belangt, aber viele Leute denken, dass er wohl von mindestens einem oder zwei loyalen Angestellten Unterstützung erhielt. Er brauchte sicherlich Hilfe, um zum Beispiel blutige Bettwäsche zu waschen oder die Leichen und ihre Besitztümer zu entsorgen.« Remy blieb vor Zimmer 19 stehen und grinste, als sie die Tür öffnete. »Hinein mit Ihnen.«

Wie zuvor ließ Remy die Gäste an sich vorbei ins Zimmer treten. Der Raum war fast identisch eingerichtet wie der vorherige, mit Ausnahme einer Mahagonikommode. Ein langer hässlicher Sprung verlief quer durch den Spiegel. »Louise Small und ihre Dienerin wohnten zwei Nächte in diesem Zimmer, bevor sie verschwanden. Ein anderer Gast, der sich mit Louise angefreundet hatte, rief die Polizei. Die Beamten durchsuchten ihr Zimmer und fanden einen Sprung im Spiegel der Kommode. Edgar behauptete, Louise habe ihren Aufenthalt kurzfristig abgebrochen, und eines der Zimmermädchen sei beim Putzen gestolpert und gegen den Spiegel gefallen. Die Polizei akzeptierte seine Aussage und schloss den Fall ab.«

»Einfach so?« Einer der jungen Touristen strich sich das lange Haar aus dem Gesicht und runzelte die Stirn. »Sie haben einfach sein Wort akzeptiert?«

»Vergessen Sie nicht, dass John Carrow ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft war. Und insbesondere in kleinen Orten wie dem, der Carrow House am nächsten liegt, herrschte die stillschweigende Überzeugung, dass reiche und einflussreiche Personen keine Kriminellen sein konnten. Landstreicher stahlen und mordeten; die Reichen waren über solch niederes Tun erhaben.« Remy zuckte mit den Achseln. »Auch auf die Gefahr hin, politisch zu werden – manchmal frage ich mich, inwieweit sich diese Einstellung überhaupt geändert hat. Selbst heute noch kann jemand für Jahre ins Gefängnis wandern, weil er etwas in einem Supermarkt geklaut hat, aber Banker, die Millionen aus Treuhandfonds unterschlagen, bekommen nur einen Klaps auf die Hand.«

Der Mann mit der Brille beugte sich vor, um sich den Spiegel genauer anzusehen. »Aber wurde die Polizei denn nicht misstrauisch, als die Zahl der Vermisstenfälle immer mehr anstieg? Sie sagten doch, dass er diese Morde acht Jahre lang beging, oder?«

»Das stimmt. Und vor allem gegen Ende seiner Karriere hegten bereits einige Leute in der Gemeinde den einen oder anderen Verdacht. Aber Beweise waren schwer zu finden, und immer gab es einen oder zwei Angestellte, die ihrem Arbeitgeber ein Alibi liefern konnten. Edgar Porter war, nach allem, was wir wissen, ein hochintelligenter Mann. Offenbar plante er seine Verbrechen sehr sorgfältig.« Remy zeigte auf den gesprungenen Spiegel. »Louise’ Leiche wurde nie gefunden, aber damit endet ihre Geschichte noch nicht. Der Spiegel der Kommode wurde einen Tag nach der polizeilichen Untersuchung abgenommen und entsorgt. Edgar ließ einen komplett neuen Spiegel anbringen. Und dann, zwei Nächte später, während das Zimmer unbelegt war, zersprang er erneut.«

»Wer hätte das gedacht«, murmelte einer der jungen Touristen.

»Ein Zimmermädchen meldete es am Morgen. Wieder wurde der Spiegel ersetzt. Und fünf Nächte danach weckte ein Ehepaar, das in dem Zimmer übernachtete, das halbe Hotel mit seinen Schreien. Die beiden behaupteten, vom Weinen einer Frau aufgeschreckt worden zu sein, und während sie noch herauszufinden versuchten, woher das Geräusch kam, sahen sie, wie der Spiegel mitten entzweisprang.«

Sorgsam darauf bedacht, nicht das Glas zu berühren, folgte Remy mit dem Finger dem langen Sprung. »Danach wurde die Kommode eingelagert, aber die jetzigen Besitzer des Hauses stellten sie in dieses Zimmer zurück. Mehrere Personen, darunter zwei Erforscher des Paranormalen, die vor einigen Jahren hier übernachteten, haben berichtet, dass man das Knirschen von Glasscherben hören könne, wenn das Licht ausgeschaltet ist.«

Remy schwieg einen Moment, um ihre Worte wirken zu lassen. Die meisten Besucher schienen die Geschichte aufregend zu finden. Nur die Schüchternere der beiden älteren Freundinnen sah etwas nervös aus.

Remy fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Einige dieser Berichte stammen von Besuchern dieser Führungen. Ich biete es nicht jeder Gruppe an, aber … würden Sie gerne einmal versuchen zu lauschen, wenn das Licht aus ist?«

Das rief einiges an Gemurmel und nervösem Lachen hervor. Sogar die Frau mit den hellen Haaren verlor ihre frühere Befangenheit, und ihre Augen leuchteten auf.

Remy schaute die Gäste einen nach dem anderen an und wartete auf ihr Ja oder ein Nicken, dann ging sie zur Tür. »Ich bleibe beim Schalter, damit ich das Licht schnell wieder anmachen kann, falls nötig. Seien Sie bitte so leise wie möglich und rühren Sie sich nicht, und fassen Sie nicht den Spiegel an.«

Sie drückte den Schalter. Das Deckenlicht ging aus. Da die Vorhänge zugezogen waren, wurden sie von absoluter Dunkelheit umhüllt.

Remy schloss die Augen und ließ die Umgebungsgeräusche im Raum auf sich einwirken. Sie hörte leises Atmen. Einer der Gäste schluckte vernehmlich. Jemand verlagerte sein Gewicht und die Bretter unter seinen Füßen knarrten.

Von den etwas mehr als 20 Gruppen, denen sie diese Möglichkeit angeboten hatte, hatten nur drei ein akustisches Phänomen vernommen. Remy zählte die Sekunden. Sie wollte ihre Gäste nicht zu lange im Dunkeln lassen, und auch in ihrer eigenen Brust wuchs die Beklemmung mit jedem Herzschlag.

30 Sekunden.

Eine Frau holte tief Luft. Wieder verlagerte jemand sein Gewicht.

45.

»Haben Sie das gehört?« Die scharf geflüsterte Frage kam von links. Remy drehte sich in die Richtung.

Alle hielten den Atem an. Sehr schwach, kaum wahrnehmbar, war ein hohes knirschendes Geräusch zu hören, das wie Glasscherben klang, die aneinander rieben. Remys Herzschlag beschleunigte sich. Ihre Finger lagen auf dem Lichtschalter, aber sie zögerte noch, ihn umzulegen. Sie strengte die Ohren an, um mehr von dem Geräusch zu hören.

»Machen Sie das Licht an. Bitte!«

Remy drückte den Schalter und blinzelte in der plötzlichen grellen Helligkeit.

Eine der älteren Damen hatte den Arm um ihre Begleiterin gelegt, die ihre Augen weit aufgerissen hatte und zitterte. »Haben Sie das gehört?«, rief sie und ihre Blicke zuckten im Zimmer umher. »Haben Sie das Glas gehört?«

Der Brillenträger sah Remy misstrauisch an. »Das war kein Trick, oder?«

Remy hielt beide Hände hoch, die Handflächen nach außen, um zu zeigen, dass sie nichts in der Hand hatte. Ihre Finger zitterten, deshalb ließ sie sie schnell wieder fallen und faltete sie hinter dem Stoff ihres Kleides.

»Könnte auch was anderes gewesen sein«, meinte einer der jungen Touristen. Der junge Mann hatte die Arme verschränkt, aber seine Augen funkelten aufgeregt. »Dieses Fenster geht raus zum Meer, stimmt’s? Vielleicht war es eine große Welle oder so was.«

»Das wäre möglich«, stimmte Remy ihm freundlich zu. Sie war froh, dass ihre Stimme nicht schwankte. »Außerdem ist dies ein altes Haus; manchmal verziehen sich die Bodendielen in der kalten Nachtluft.«

Die ältere Dame schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was ich gehört habe. Es waren keine Wellen und es waren keine Bodendielen. Bringen Sie mich aus diesem verdammten Zimmer heraus.«

»Natürlich.« Remy öffnete die Tür und streckte die Hand aus, um die Besucherin nach draußen zu geleiten. »Geht es Ihnen gut? Die Küche ist warm und gemütlich, falls Sie den Rest der Führung dort abwarten wollen.«

Die Frau warf Remy einen scharfen Blick zu, als sie an ihr vorbeiging. »Ich will aus dem Zimmer heraus, nicht aus der Führung. Aber machen Sie nicht wieder das Licht aus, okay?«

Remy nickte. »Versprochen. Sind sonst alle okay?« Sie musterte die Gesichter. Auf einigen waren Schweißperlen zu sehen, aber ansonsten schien es der kleinen Gruppe gut zu gehen. »Dann gehen wir weiter. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es von hier an besser wird, aber so leicht macht mir Carrow House meinen Job nicht.«

4

Unverzeihlich

Remy zog eine antike Taschenuhr aus den Falten ihres Kleides und warf einen Blick darauf. Die Uhr hatte ihrer Urgroßmutter gehört und passte besser zum historischen Ambiente als eine Armbanduhr. Die Führung dauerte drei Stunden – das Maximum, das ein durchschnittlicher Gast ertragen konnte, bevor Erschöpfung und Müdigkeit den Spaß zunichtemachten –, und diese Zeit reichte nie aus, um alle Geheimnisse des Hauses zu entdecken. Remy erzählte einige ihrer Lieblingsgeschichten, während sie die Gruppe durch die zugehörigen Räume führte.

Hobbyforscher hatten Fotos gemacht, die einen schwachen und unscharfen weißen Fleck in den Räumen der Angestellten zeigten; diese Bilder nahm Remy aus ihrem schwarzen Buch und reichte sie herum. In einem Zimmer verbrachte die Gruppe einige Zeit damit, sich die teilweise zerfetzte Tapete anzusehen, die angeblich eins von Edgars Opfern abgerissen hatte, und Remy zeigte ihren Gästen den Weg, den der berüchtigte Geist der Grauen Lady auf seiner Spukrunde nahm. Schließlich, als von den drei Stunden nur noch 20 Minuten übrig waren, führte Remy die Besucher zurück zur Treppe. »Ich habe Ihnen von Edgars falscher Identität erzählt, von seinen Opfern, seinen Triumphen. Und jetzt wollen Sie bestimmt etwas über sein Ende erfahren.«

Die Besucher bekundeten ihre Zustimmung und Remy blieb schmunzelnd auf dem Treppenabsatz stehen, von dem aus man den besten Blick auf die Eingangshalle hatte. »Winzige Verdachtsmomente gegen Edgar hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt. Einzeln betrachtet besaßen sie kein großes Gewicht, aber sie summierten sich wie Wassertropfen in einem Fass, machten es voller und voller, bis ein kleiner Stoß es überlaufen ließ. Dieser Stoß war ein Zimmermädchen namens Sarah. Am 2. März 1921 kam sie in eine Polizeiwache gerannt, hysterisch und aus einem Schnitt am Hals blutend. Sie hatte während der gesamten vier Stunden, die sie von Carrow House in die Stadt gerannt war, mit ihren Händen die Wunde zugehalten, und stieß jetzt keuchend ihre Geschichte hervor, während man den Arzt benachrichtigte.

Sie war, so berichtete sie, in den Keller des Hotels gegangen, um eine Tüte Mehl für die Küche zu holen, als sie auf dem Steinfußboden eine Leiche erblickte. Bevor sie richtig begreifen konnte, was sie dort sah, trat John aus dem Schatten und verletzte sie mit einem Messer am Hals. Sie floh aus dem Haus und kam gerade noch mit dem Leben davon.

Ihre Geschichte brachte das Fass des Verdachtes zum Überlaufen. Es kam zu einem Tumult und am frühen Abend stürmte ein Mob aus 30 Stadtbewohnern Carrow Hotel. Einige gingen in den Keller, andere hatten Äxte, Messer und Schusswaffen mitgebracht und verwüsteten die Eingangshalle.« Remy zeigte auf die Beschädigungen an den hochlehnigen Stühlen und die aufgeschlitzten Gemälde.

»Angeführt wurde der Mob von Annabelle Carrow, John Carrows Schwester, mit der er seit Langem zerstritten gewesen war. Aufgrund eines Zerwürfnisses in der Familie hatten die beiden seit zehn Jahren nur brieflich miteinander verkehrt. Ob sie vorhatte, ihren Bruder zu schützen oder ihn anzuklagen, ist ungewiss. Wir wissen nur, dass Edgar ihr auf der Treppe entgegenkam und sie nicht erkannte. Annabelle schrie: ›Schwindler, Schwindler! Dieser Mann ist nicht John – er ist ein Schwindler.‹ Zur gleichen Zeit kamen die Männer, die in den Keller vorgedrungen waren, nach oben gerannt und riefen etwas von einem ungeweihten Friedhof. Und der ohnehin schon aufgeputschte Mob drehte vollends durch.

Jemand warf ein Seil über den Kronleuchter. Edgar wurde ergriffen, und bevor die Polizei intervenieren konnte, wurde er gelyncht.«

Die Gäste drehten sich zum staubigen Kronleuchter um und Remy konnte förmlich sehen, wie sie sich den grauhaarigen Mann vorstellten, der am Ende eines Seils zappelte, während die aufgebrachte Menge jubelte. Sie ließ sie nicht zu lange bei dem Bild verweilen, sondern winkte ihnen, ihr die Treppe hinunter zu folgen. »Die anschließenden polizeilichen Untersuchungen dauerten vier Jahre. Die Leichen im Keller wurden exhumiert, so viele wie möglich identifiziert, und sie bekamen ein ordentliches Begräbnis. Erst 1925 wurden die Ermittlungen abgeschlossen.

Die alten Möbel wurden eingelagert und das Gebäude in Carrow House umbenannt. Es blieb neun Jahre lang geschlossen, bis Mr. Preston, ein wohlhabender Geschäftsmann, es als luxuriöses Feriendomizil für seine Familie kaufte. Er beauftragte nacheinander vier Baufirmen mit der Renovierung des Gebäudes, aber alle annullierten ihre Verträge, nachdem Arbeiter ums Leben gekommen waren. Mr. Preston starb an einem Herzinfarkt, bevor er auch nur einmal die Gelegenheit hatte, in seinem neuen Haus zu wohnen.

In den folgenden Jahrzehnten wechselte Carrow House fast ein Dutzend Mal den Besitzer. Immer wieder wurden diejenigen, die in dem Haus lebten, von Tragödien heimgesucht. Die letzte ereignete sich vor 20 Jahren, während eines von mehreren erfolglosen Versuchen, das Haus als Hotel wiederzubeleben: Ein kleines Kind wollte nachts das Haus erkunden, verhedderte sich in den Seilen auf dem Dachboden und erdrosselte sich selbst. Am folgenden Tag schloss das Hotel zum letzten Mal seine Türen, und abgesehen von kurzen Forschungsaufenthalten hat seither niemand mehr hier gewohnt.

Die gegenwärtigen Besitzer kauften Carrow House vor einigen Jahren zu einem Spottpreis und stellten so viel wie möglich von seinem ursprünglichen Zustand wieder her. Anders als die vorherigen Besitzer, die versuchten, etwas Neues aus dem Anwesen zu machen, akzeptierten sie die düstere Vergangenheit des Hauses und feiern es als das, was es ist: das berühmteste Spukhaus des Bundesstaates.«

Schritte hallten auf den staubigen Fliesen, als die Gruppe die Eingangshalle durchquerte. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis Jones’ Kleinbus die Zufahrt heraufgerasselt kam, aber eine Sache gab es noch, die Remy ihren Gästen zeigen wollte. Sie nahm die Öllampe, die sie auf einem kleinen Tisch in einer Ecke der Halle bereitgestellt hatte, zündete sie an und wartete, bis die Flamme sich stabilisiert hatte, bevor sie sich der schmalen Tür neben der Küche zuwandte.

»Im Keller gibt es keine Elektrizität«, erklärte sie. »Die Stufen sind steil, also seien Sie bitte vorsichtig beim Hinuntergehen.«

Die nervöse Dame klammerte sich an den Arm ihrer Begleiterin und sogar die jungen Touristen wirkten etwas verunsichert. Remy ging voraus und hielt dabei die Lampe hoch, um das Licht mit den anderen zu teilen, während sie ihre freie Hand über das rostige Metallgeländer gleiten ließ, das zwischen ihnen und einem steilen Fall auf die Bodenfliesen des Kellers stand. Dutzende von Küchenhilfen, die die Stufen hinauf- und hinabgeeilt waren, hatten Abnutzungsspuren auf dem Stein hinterlassen.

Die kalte, feuchte Luft kitzelte Remys Nase. Der Keller jagte ihr immer ein Kribbeln über den Rücken, das sich wie unsichtbare Spinnen auf ihrem Rückgrat anfühlte. Als das Reich der Hausmädchen und Diener wies der Keller nicht die großzügigen Proportionen auf, die dem Rest des Hauses zu eigen waren. Die Stufen waren steil, die Decke niedrig und kein Versuch war unternommen worden, die abweisende Oberfläche der kalten Steinwände freundlicher zu gestalten.

»Hier wurden der Wein und die haltbaren Vorräte gelagert.« Remy erreichte das Ende der Treppe und trat einen Schritt zurück, um Platz für ihre Gäste zu machen. »Bitte bleiben Sie hinter der Absperrung; dies ist einer der weniger sicheren Teile des Hauses.«

Ein Absperrseil trennte einen drei mal drei Meter großen Bereich am Fuß der Treppe ab. Remys Gäste sammelten sich am Rand dieses Bereichs und Remy hielt die Lampe hoch, damit sie besser sehen konnten. »Hier fand man die Leichen.«

Der Keller erstreckte sich ein gutes Dutzend Meter in die Dunkelheit. Etliche der großen abgewetzten Steine waren aus dem Boden gerissen und an die Wand gelehnt worden. Wo sie einst gelegen hatten, bohrten sich metertiefe Löcher in den Erdboden.

»Es ist uns nicht gestattet, näher heranzugehen«, sagte Remy. Der Schall hallte laut im Gewölbe des Kellers, deshalb sprach sie leise. »Die Leichen wurden entfernt, aber es gibt immer noch kleine Knochenfragmente in der Erde, und die Hausbesitzer möchten nicht, dass ihre Ruhe gestört wird.«

Eine der älteren Damen stöhnte und klammerte sich an ihre Begleiterin.

»Hat er alle seine Opfer hier begraben?«, fragte der Brillenträger.

»Nein, nicht alle. Deshalb ist ja auch die genaue Zahl seiner Opfer unbekannt. 29 Leichen wurden im Keller geborgen, und das sind die Morde, derer er posthum überführt wurde, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere Reisende und Bedienstete in jener Zeit durch seine Hand den Tod fanden. Es gibt verschiedene Theorien, wie er sich der Leichen entledigte. Er könnte sie ins Meer geworfen haben, er könnte sie irgendwo abseits des Hauses vergraben haben, und ein Historiker – das ist eine der weniger erquicklichen Theorien – glaubt, dass einer der Köche Edgars Komplize war und einige der Opfer im Mittagessen des nächsten Tages landeten.«

Die ältere Dame stöhnte noch etwas lauter. Remy presste die Lippen aufeinander. Vielleicht hätte ich den Teil für mich behalten sollen.

»Hier unten herrscht eine grässliche Atmosphäre«, flüsterte die blonde Frau. »Es fühlt sich … ungut an.«

Remy rieb die Gänsehaut auf ihren Armen. Sie hatte dem Keller schon immer misstraut, und das nicht nur wegen des Sicherheitsrisikos, das er darstellte. Hier schien es irgendetwas Unsichtbares zu geben, das ihr den Magen zusammenzog und das Herz schwer machte. Eine einsame Spinne ließ sich von der Decke herab und spann mit zuckenden Beinen vor ihrem Gesicht ihr Netz. »Ich weiß, was Sie meinen. Gehen Sie wieder die Treppe hinauf, wenn Sie genug gesehen haben. Die Küche befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle.«