Gerd Scherm

DIE IRRFAHRER

 

Fantasy 23

 


Gerd Scherm

DIE IRRFAHRER

 

Fantasy 23

 

 

Die Irrfahrer im Internet:

www.irrfahrer.de

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: November 2015

    p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Gerd Scherm & Friederike Gollwitzer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 043 6

 


Gerd Scherm

DIE IRRFAHRER

 


Gerd Scherms DIE IRRFAHRER

 


»Sicher sind wir Götter eitel und grausam, aber wir sind die einzige Hoffnung, die den Menschen bleibt.«

Ein nicht genannt werden wollender anonymer Gott

 

Prolog

 

 

 

Brief des Schreibers Seshmosis an Elias in Jericho

 

Verehrter Elias!

Ich hoffe, Ihr seid wohlauf und auch Eurer Tochter Rachel geht es gut. Meine Gedanken wandern oft zu Euch und ich frage mich, ob die anderen Rückkehrer aus Ägypten immer noch um die Stadtmauern von Jericho streifen und ihre Shofarhörner blasen. Nach unserer Abreise aus Eurer schönen Stadt überfiel uns eine Horde von denen, doch unser gütiger Gott stand uns bei. Nachdem er ihren Anführer eingeäschert hatte, ließen die anderen schnell von uns ab.

Nun leben wir schon zwei Jahre in Byblos. Wir, die wir von Theben auszogen, um eine neue Heimat zu finden. Ich weiß nicht, ob wir das, was wir suchten, wirklich gefunden haben. Dazu müsste mir erst klar sein, was Heimat eigentlich ist. Wenn es nur darum geht, einen Ort zu finden, an dem man in Frieden leben kann, dann ist Byblos sicher unsere Heimat. Wenn es aber ein Platz sein soll, an dem mir warm ums Herz wird und wo jemand für mich da ist, dann bin ich immer noch auf der Suche.

Die meiste Zeit seit unserer Ankunft in dieser Küstenstadt habe ich damit verbracht, die Geschehnisse unseres Auszugs aus Ägypten niederzuschreiben. Doch diese Arbeit ist vollendet und es gibt für mich nicht viel, das die Monotonie meiner Tage unterbricht.

Wie oft denke ich an die schönen Stunden bei Euch und Eurer liebreizenden Tochter, deren Lächeln mich auch hier in der Ferne noch verzaubert. Doch ich schweife ab, bitte verzeiht! Wollte ich Euch doch berichten, wie es uns auf unserer Reise ergangen ist, da ich bei unserer Begegnung in Jericho nicht die Gelegenheit dazu fand.

Wie Ihr wisst, verließen wir Theben nicht ganz freiwillig. Um der Wahrheit genüge zu tun, es waren eigentlich alle hinter uns her: der Statthalter des Pharaos, die Palastwache, die Stadtwache, die Tempelwache und ungefähr die Hälfte der zahlreichen ägyptischen Götter.

Dabei haben wir im Prinzip nichts anderes getan als sonst und einfach unser Leben gelebt. Die einen mehr, die anderen weniger. Gut, ich muss zugeben, Raffim ging nicht gerade sanft mit den heiligen Krokodilen des Gottes Suchos um. Aber wie anders sollte er sie zum Weinen bringen, um die Krokodilstränen zu gewinnen? Als Glücksbringer in Gold oder Silber gefasst waren sie immerhin seine Haupteinnahmequelle. Auch Barsils Geschäfte waren nicht nach jedermanns Geschmack. Vor allem dann nicht, wenn den Leuten ihre eigene Inneneinrichtung auf dem Basar zum Kauf angeboten wurde. Sicher kam es auch vor, dass manch feuriger Stier, den unser guter Melmak veräußerte, sich als müder Ochse erwies, aber im Großen und Ganzen waren wir Hyksos in Ägypten wirklich integriert. Allerdings erschien es mir angebracht, unseren Namen zu ändern, als Raffim das Erdbeben ausgelöst hatte, bei dem halb Theben zerstört wurde. Aus Versehen hatte er dem Krokodilgott Suchos sein göttliches Ankh entrissen und so das Unglück ausgelöst.

Mit unserem neuen Namen Tajarim, der Touristen bedeutet, fahren wir auch hier in Byblos gut. Touristen sind überall gern gesehen und keiner sieht sie als Bedrohung.

Eigentlich wollte ich damals ja auf dem kürzesten Weg über das Rote Meer nach Kanaan, doch meine Gefährten überstimmten mich und forderten, die Pyramiden zu besichtigen, wenn wir doch schon Touristen sind. Also entschieden wir uns für die lange, gefahrvolle Route den Nil entlang, mitten durch ein feindlich gesinntes Land. Es war ein Graus für mich! Ihr kennt die Seele eines Schreibers und versteht sicher meine Qualen. Aus der Beschaulichkeit meiner Schreibstube gerissen, sah ich mich unvermittelt als Anführer von zweihundert Flüchtlingen samt Vieh und Habe. Ich will hier nicht die Einzelheiten ausbreiten, verehrter Elias, dafür sende ich Euch meinen umfangreichen Bericht, sobald die Abschrift fertig ist. Oder ich bringe ihn persönlich zu Rachel.

Doch lasst mich hier die wichtigsten Punkte herausgreifen, um Euch einen Eindruck zu geben.

Unter merkwürdigen Umständen erreichte unsere Karawane damals Abydos, besser gesagt die Nähe von Umm el-Qaab, wo die Gräber derer liegen, die vor den Pharaonen über das Land geherrscht hatten. Hier passierte etwas Ungeheuerliches: Mir erschien ein Gott.

Es ist sonst nicht meine Art, Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnehmen und dann auch noch mit diesen zu reden, doch die Erscheinung war sehr überzeugend. Und Furcht einflößend.

Bis heute weigert er sich, mir seinen Namen zu verraten und ich nenne ihn deshalb Gott ohne Namen oder kurz GON. Er ist, wie soll ich sagen, eigensinnig. Er liebt es, mir in unterschiedlichen Formen zu erscheinen, mit denen er auf künftige Ereignisse hinweisen will, und er spricht oft in Rätseln, die ich nicht zu lösen vermag. Und so bin ich jetzt nicht nur Schreiber, sondern dazu noch Prophet, auch wenn mir dieser Beruf immer noch sehr fremd ist.

Nach einigen Anfangsschwierigkeiten gab uns GON sechs Gebote, nach denen wir leben sollten und damit unser Gott immer unter uns sein kann, fertigte unser Karrenbauer Schedrach für ihn einen kleinen hölzernen Schrein als seine Wohnung. Jetzt steht dieser in meinem Zimmer.

Doch zurück zu unserer Reise, besser Flucht.

In der Stadt Sauti stießen dann weitere Menschen zu unserer Karawane: Die nubische Prinzessin Kalala mit ihrem Leibwächter Tafa, der Sänger El Vis aus Memphis und ein Prophet namens Nostr’tut-Amus, der sich uns mit der Begründung anschloss, endlich einmal eine erfüllte Prophezeiung erleben zu wollen.

In Sauti kam es dann zu einer wahren Nacht des Todes, in der alle Erstgeborenen starben, egal ob Mensch, ob Vieh. Mit der Hilfe von GON wurden wir von dieser Katastrophe verschont.

Später konnten wir in Krokodilopolis die Sache mit Raffim und dem Ankh bereinigen und hatten dadurch, GON sei Dank, wenigstens die meisten ägyptischen Götter vom Hals. Allerdings bin ich unter den Pyramiden von Gizeh dann Osiris in die Arme gelaufen und er war nicht sehr freundlich zu mir. Er warf uns schlicht aus Ägypten und der Pharao, den ich kurz darauf traf, bestärkte diesen Rausschmiss. Vor allem mit seiner Ritualaxt, die er über meinem Kopf schwang.

Ich hatte von Anfang an gesagt, wir sollten schnell und diskret über das Rote Meer verschwinden, aber Raffim und die anderen bestanden ja darauf, die Wunder Ägyptens zu sehen.

Als wir endlich dem Land den Rücken gekehrt hatten, kam uns auf dem Sinai ein Riesenzug von Hyksos gefährlich nahe. Sie standen unter der Führung eines gewissen Moses und waren äußerst unfreundlich und militant. Doch wieder half uns GON und wir konnten eine direkte Begegnung mit diesen Leuten um Haaresbreite vermeiden. Bald darauf erreichten wir Gaza und von dort aus reiste ich zu Euch nach Jericho, wo Ihr so freundlich wart, mir die Herkunft meines Volkes zu verraten.

Nun bin ich am überlegen, ob ich nicht doch noch Euer großzügiges Angebot annehmen soll, als Schreiber in Rachels Eurer Stadt zu arbeiten, falls denn die Stelle noch offen ist. Bitte gebt mir möglichst bald durch Boten Bescheid, da ich ernsthaft in Erwägung ziehe, Byblos zu verlassen.

 

Gerd Scherms DIE IRRFAHRER

 

Ich küsse die Erde vor meinem Herrn und neige mein Haupt vor Euch, edler Elias, und bitte Euch, Rachel von ganzem Herzen von mir zu grüßen.

Euer ergebener, treu verbundener

Seshmosis, Schreiber zu Byblos