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Deutsche Erstausgabe (ePub) August 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2017 by Christina Lee

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Reawaken«

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN-13: 978-3-95823-772-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen von Vanessa Tockner


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

Klappentext:

 

Seit Jahren vergräbt sich Tristan Rogers in der Arbeit für seinen Hundesalon, um sich nach einem tragischen Verlust von seiner Einsamkeit abzulenken. Als er Zeuge einer hässlichen Trennung zwischen einem unangenehmen Kunden und dessen Freund West wird, schreitet er beherzt ein und gewährt dem jungen Mann Zuflucht. Irgendetwas an West zieht ihn an und nach einigen Textnachrichten und Treffen entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Männern, aus der schnell mehr wird. Allerdings zögert Tristan, sich wieder an jemanden zu binden, und auch West hat sein ganz eigenes Päckchen zu tragen. Nur Vertrauen zueinander und in sich selbst wird ihnen dabei helfen, ihre gebrochenen Herzen zu heilen.


 

 

 

 

 

Für Rob. Ich bin so froh, dass dir eine zweite Chance auf Liebe vergönnt war. Ich wünsche dir ein Leben voller besonderer, glücklicher, magischer Momente.


 

1

 

Tristan

 

Ich drehte das Schild an der Tür zu Doggie Styles, dem Betrieb für Hundepflege und -betreuung, dessen Besitzer ich seit acht Jahren war, auf Geschlossen um. Es war unser langer Tag in der Woche, an dem wir bis sieben geöffnet hatten. Ich hatte gerade die Rechnungen auf der Theke gesammelt, als der letzte Kunde zur Tür hereinkam und die Glocke darüber klingeln ließ. Als ich über die Schulter sah, stellten sich mir die Nackenhaare auf, obwohl ich genau wusste, wer der Besitzer der zwei verbliebenen Hunde war. Es war der Kunde, den wir aufgrund seiner streitlustigen und selbstgefälligen Art Mr. V nannten – was für Voldemort stand.

»Gut, wir wollten gerade schließen«, bemerkte ich in neutralem Ton, obwohl ich ihm eigentlich sagen wollte, dass es verdammt höchste Zeit war.

Nachdem er in meine Richtung gebrummt hatte, was normal für ihn war, warf ich unwillkürlich einen Blick zum Parkplatz hinaus, wo Mr. Vs jüngerer Partner in seinem Auto saß, das auf der anderen Seite des kleinen Platzes stand. Ich konnte ihn kaum erkennen, abgesehen von dem schwarzen Kapuzenpulli, in dem er zu verschwinden schien und den er ständig trug, ob mit oder ohne Absicht. Ich wusste nicht, warum ich so fasziniert von ihm war; vielleicht lag es eher an seiner Beziehung zu Mr. V. Sie schienen so gegensätzlich zu sein – der abgenutzte Kapuzenpulli des Freunds und Vs makellose, dunkle Anzüge –, aber das war wohl nichts Neues.

Mein verstorbener Partner Chris und ich hatten ebenfalls extrem unterschiedliche Interessen gehabt, aber wir hatten wohl funktioniert, hatten sogar diesen Betrieb zusammen eröffnet. Ich hatte ihn getroffen, als ich erst achtzehn gewesen war und gerade mein Coming-out gehabt hatte, und wir waren schnell Freunde geworden, bevor wir uns ein paar Jahre später hoffnungslos ineinander verliebt hatten. Man könnte sagen, dass wir seitdem immer zusammen gewesen waren – bis er vor beinahe drei Jahren an einem Gehirntumor gestorben war.

Während ich Mr. Vs zwei sechsjährigen Mopsschwestern namens Coco und Chloe die Hundeleinen anlegte, trat V unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, als hätte er es eilig. Er sah auf seine glänzende silberne Armbanduhr, als würde ich seine Zeit verschwenden, also bewegte ich mich langsamer, um ihn zu ärgern. Wichtigtuerische Menschen waren höllisch frustrierend und das war noch ein Grund, warum mich der Freund faszinierte – im direkten Vergleich wirkte er bescheiden. Allerdings hatte er die paar Male, als er die Möpse abgeholt hatte, nicht viel gesprochen und ich hatte nur einmal bemerkt, wie er über etwas gegrinst hatte, das mein Mitarbeiter Elijah gesagt hatte. Was die Frage aufwarf, ob er seinen sarkastischen Humor teilte.

Ich beobachtete, wie V zu seinem teuren, blauen deutschen Wagen ging, während meine Angestellten die Böden auf der Betreuungsseite desinfizierten. Wir hielten die Räume blitzblank – Hygiene war eine Voraussetzung in jedem Dienstleistungsunternehmen, aber besonders bei Tieren unerlässlich, die Zwingerhusten und andere ansteckende Krankheiten wie ein Lauffeuer verbreiten konnten.

Wir hatten vor einer Weile den Schritt zur Papierlosigkeit getan oder es zumindest versucht, daher begann ich, die Belege in ein Computerprogramm einzuscannen, zu dem Elijah mich überredet hatte. Wie sich herausgestellt hatte, hatte er ein Händchen für Buchführungsmethoden – darauf sollte mal jemand kommen – und ich war ihm dankbar dafür; seit Chris' Tod war es bei uns etwas chaotisch geworden. Ich sah auf, gerade als Brin und Brooke ihre Plastikhandschuhe auszogen und zum Trocknen über den Waschbeckenrand hängten. »Sind wir fertig?«, fragte Brin.

Mein Hund Mack, ein Corgi-Sheltie-Mischling, stupste unter dem Tisch, wo er auf einem Kissen lag, meinen Knöchel an. Er war neun Jahre alt und der Trubel in der Betreuung war an den meisten Tagen zu viel für ihn. Wenn ich ihn also zur Arbeit mitbrachte, lag er normalerweise herum und war immer ziemlich ruhig.

»Jepp. Ich nehme den Müll«, antwortete ich und nickte zu dem großen, schwarzen Müllsack, den wir am Ende eines jeden Tages füllten. »Macht euch einen schönen Abend.«

»Bis morgen«, erwiderte Brin und ich winkte ihnen nach, als sie zur Tür gingen. Die zwei hatten heute den ganzen Tag lang herumgealbert und das wärmte mir das Herz. Brin, der mit seinem neuen Freund Nick wunschlos glücklich war, und Brooke mit ihren Geschichten über ihren Ehemann und ihre Kinder vervollständigten unsere kleine Familie hier. Wenn es eins gab, wovon ich überzeugt war, dann, dass ich gute Mitarbeiter ausgewählt hatte, die mich sicher durch schwere Zeiten bringen würden.

Ich verlor mich im methodischen Aufräumen der über den Schreibtisch verstreuten Papiere und zögerte es hinaus, in meine leere Wohnung zurückzufahren. Ohne Chris war es dort einsam, aber mit den Wochen und Monaten hatte die abgrundtiefe Trauer ein wenig nachgelassen und war zu meinem neuen Normalzustand geworden. Der Schmerz verschwand nie wirklich; man lernte nur, damit zu leben.

Ich hatte über einen Umzug nachgedacht, da noch so viel von Chris in der Wohnung steckte, aber an den meisten Tagen hatte ich einfach nicht genug Energie, um darüber nachzudenken. In den Wochen danach hatte ich seine Kleidung zusammengepackt und gespendet. Chris hätte die Augen verdreht, denn das war meine übliche Vorgehensweise. An den meisten Dingen hielt ich nicht allzu lange fest. Ständig mistete ich das eine oder andere aus – wahrscheinlich hatte ich das den Pflegefamilien zu verdanken, in denen ich aufgewachsen war. Jedes Mal, wenn ich von einem Ort zum anderen gezogen war, wurde mein ganzer Besitz auf einen Müllsack reduziert.

Das Problem war, dass ich gedacht hatte, die Trauer würde zusammen mit seinem Kram verschwinden, aber so funktionierte das nicht. Außerdem war seine Familie eine ständige Erinnerung an das Leben, das wir geteilt hatten. Wir trafen uns immer noch an Feiertagen und erinnerten uns gemeinsam an Chris – was ebenso tröstlich wie schmerzhaft war. Aber ich war auf so viele Arten an sie gebunden und konnte das nicht loslassen, nicht jetzt, vielleicht sogar niemals. Meine Finger bewegten sich automatisch und drehten meinen Ehering herum, von dem ich mich scheinbar auch nach drei Jahren nicht trennen konnte, geschweige denn ihn abnehmen.

Nachdem ich mir eine Aufgabenliste für morgen geschrieben hatte, ging ich mit dem Müll und Mack an der Leine zur Tür. Ich schob den Riegel hinter mir vor und erstarrte dann eine Sekunde lang an Ort und Stelle, als ich zu meinem Schrecken entdeckte, dass Mr. Vs Auto noch auf dem leeren Parkplatz stand.

Die Fenster waren offenbar einen Spalt geöffnet, denn ihre erhobenen Stimmen drangen über den Asphalt zu mir herüber und es klang so, als wären sie mitten in einem Streitgespräch. Ich versuchte, mich um meinen eigenen Kram zu kümmern, während ich Mack auf den Rücksitz meines Trucks hob und dann zum großen Müllcontainer in einer Ecke des Parkplatzes ging, den alle angrenzenden Betriebe nutzten.

Ich hob den Deckel, warf den Sack hinein und gerade als ich mich wieder zu meinem Pick-up umdrehte, stieg Vs Freund plötzlich schnaubend aus dem Auto.

»Du musst mich gehen lassen und mir einfach... etwas Raum geben«, sagte er und knallte die Tür zu, bevor er seinen abgetragenen Rucksack über die Schultern zog. Der sah irgendwie schwer aus, als wäre er mit vielerlei Dingen vollgestopft.

Er sah kurz zu mir und verengte herausfordernd die Augen, während er die Kapuze über den Kopf zog. Er war offensichtlich verärgert und ich wollte mich bestimmt nicht zwischen die beiden stellen. Also senkte ich den Kopf und hielt auf meinen Truck zu.

Als Mr. V aus dem Fahrzeug stieg, blieb mein Blick doch an ihm hängen; ich hätte nicht wegsehen können, auch wenn ich es versucht hätte.

»Steig wieder ins Auto«, sagte er mit gebieterischer Stimme, bei der sich in mir alles sträubte. »Wir reden zu Hause darüber.«

»Nein«, sagte der Freund. »Ich hab dir gesagt, dass ich mit dir fertig bin. Du kannst alles behalten – es läuft sowieso alles auf deinen Namen.« Er fischte sein Handy aus der Tasche und warf es durch das offene Fenster auf der Beifahrerseite.

Diese Aussage überraschte mich. War V ein kontrollsüchtiger Mistkerl?

Nicht meine Angelegenheit, sagte ich mir und setzte mich hinter das Steuer meines Autos. Nur konnte ich mich scheinbar nicht zum Fahren aufraffen, obwohl ich den Schlüssel drehte und den Motor startete. Stattdessen öffnete ich mein Fenster langsam ein wenig, um auf irgendetwas Beunruhigendes zu lauschen.

»Ich gebe mir mehr Mühe. Das verspreche ich.« Der gequälte Klang von Vs Stimme driftete herüber und einen kurzen Moment lang fühlte ich beinahe mit ihm. Ich hatte ihn nie anders als schroff gehört. »Wir können uns etwas überlegen. Ich kann dir geben, was du brauchst.«

Der Freund knurrte frustriert. »Genau das ist das Problem; begreifst du das nicht? Ich brauche mein eigenes Leben.« Der Freund begann wegzugehen und V folgte ihm neben dem Zebrastreifen auf den Gehsteig. Zwischen ihnen gab es einen deutlichen Größenunterschied, aber beide waren eher schlank. V packte den Arm seines Freunds und sie wechselten in leisem Tonfall einige knappe Worte.

Das Herz pochte mir in der Brust, ich legte den Rückwärtsgang ein, fuhr aus der Parklücke und in Richtung Straße. Sie redeten immer noch und V hatte den Ärmel seines Freunds gepackt. Offenbar war es eine Mischung aus reinem Adrenalin und Frust, die mich handeln ließ. Niemand sollte durch ein schlechtes Gewissen davon abgehalten werden, wenn er Raum und Zeit brauchte.

Ich fuhr neben das Paar und rief durch mein heruntergelassenes Fenster: »Steig ein!«

Beide versteiften die Schultern und starrten mich an.

»Hä?«, fragte der Freund mit verblüffter Stimme.

»Ich sagte, steig in das gottverdammte Auto.« Heilige Scheiße, was war nur über mich gekommen?

»Was zum Teufel tun Sie da?«, fragte V, während dem Freund der Mund offen stand.

»Ich stelle sicher, dass das nicht zu etwas führt, das Sie später bereuen werden«, stieß ich hervor, während ich seine Hand am Arm seines Liebhabers anstarrte. V verstand meine Andeutung und ließ ihn los.

Der Freund stieß einen Atemzug aus und nutzte die Gelegenheit, um einen großen Schritt zurückzutreten.

Ich starrte V aus zusammengekniffenen Augen an. Ich hatte einen leichten Vorteil, was Gewicht und Größe betraf, und konnte mit ihm fertigwerden, falls es nötig sein sollte.

»Steig ein«, sagte ich noch einmal und der Freund erwiderte meinen Blick. Seine Augen waren dunkel und stürmisch und passten zur Farbe des Ponys, der zerzaust in seine Stirn fiel. »Er wird dir nicht folgen, nicht, wenn ich etwas dazu zu sagen habe. Ich bringe dich, wohin du musst.«

Der Freund zögerte einen kurzen Moment, bevor er ruhig zur Beifahrertür ging, sie öffnete und in meinen Pick-up stieg. Sein Duft erfüllte den Innenraum und ich erkannte das Aroma sofort, da Chris' Mutter es liebte, mit Rosmarin zu kochen. Er verstaute seinen vollgestopften Rucksack zwischen den Knien auf dem Boden und erneut fragte ich mich, was zum Teufel sich darin befand.

Ich fuhr ohne das geringste Zögern davon, da ich V keine Zeit geben wollte, um zu seinem Auto zurückzugehen, hineinzuspringen und uns zu folgen. Aber als ich einen Blick in den Rückspiegel warf, stand V immer noch mit hängenden Schultern auf dem Gehsteig und wirkte erschüttert und geschlagen.

 

 


 

2

 

Tristan

 

»Du hast das Richtige getan«, bemerkte ich, während ich die nächste Seitenstraße entlangfuhr und auf den Freeway zuhielt, nicht sicher, in welche Richtung ich mich wenden sollte.

Der Freund sank in seinem Sitz zusammen, das Gesicht von der Kapuze verdeckt, aber ich hörte, wie er einen Atemzug nach dem anderen ausstieß. Ich hätte gewettet, dass sein Puls in diesem Moment ebenso verrücktspielte wie meiner. Was zum Teufel hatte ich mir da eingebrockt?

»Wohin?«, fragte ich, um sicherzustellen, dass er sich mit mir im Auto nicht gefangen fühlte.

Schließlich sah er zu mir herüber, sein Blick sowohl mit Bangen als auch mit Staunen erfüllt.

Nach einem weiteren Herzschlag hatte er mir immer noch nicht geantwortet, zuckte nur locker mit einer Schulter.

Fuck, er konnte nirgendwohin. Zugegeben, anfangs hatte ich gedacht, er hätte diese kleine Show mit V geplant. Wenn ich mir allerdings den leichten Anflug der Angst in seinem Blick so ansah, bevor er mit einer ruhigen Entschlossenheit, die meine Bewunderung weckte, die Zähne zusammenbiss, hatte er das wohl nicht.

»Schon gut«, sagte ich. »Ich hab eine Idee.«

Er sprach nicht, sah nur aus dem Fenster und auf die vorbeiziehende Umgebung, während seine Finger wie bei einem nervösen Tick auf sein Knie trommelten. Vermutlich bekam er Zweifel an dem, was er getan hatte. Aber meiner Meinung nach war es mutig gewesen. Vor allem, wenn ich den knappen Gesprächsfetzen zwischen ihnen richtig verstanden hatte. Es hatte geklungen, als bräuchte der Freund allermindestens etwas Zeit zum Nachdenken.

Einige angespannte Minuten später lenkte ich mein Auto auf den Parkplatz meiner Wohnung an der Lake Avenue. Ich wohnte im zwölften Stock mit direkter Sicht auf den Eriesee und ehrlich gesagt würde ich nirgendwo anders wohnen wollen. Es war ein Anblick, der nie wirklich langweilig wurde.

»Was tun Sie da?« Der Freund blinzelte mehrmals schnell hintereinander, als ich den Motor abstellte.

»Hier wohne ich«, antwortete ich und öffnete meine Tür.

»Ich kenne Sie nicht mal.« Er klang gleichzeitig fassungslos und beleidigt. Ich würde wetten, dass er damit V Konkurrenz machen könnte. Und die ganze Zeit über hatte ich mir in Gedanken diesen lieben, scheuen Kerl ausgemalt, der eher auf der passiven Seite war. Es war ja bekannt, was über voreilige Schlüsse gesagt wurde.

»Du kennst mich gut genug.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich leite ein Geschäft für Hundepflege. Ich kümmere mich ein paar Mal in die Woche gut um eure Hunde.«

Als er nicht antwortete, stieg ich aus dem Auto und steckte kurz den Kopf wieder hinein. »Du kannst auf dem Sofa übernachten, wenn du nachdenken musst. Oder du kannst gehen. So oder so, fühl dich nicht unter Druck gesetzt.«

Sobald ich mit Mack auf den Fersen den Weg entlangging, hörte ich, wie die Autotür hinter mir zuschlug und er mir nachkam. Ich konnte das kleine Lächeln nicht unterdrücken, das mir auf die Lippen trat. Schweigend marschierten wir durch die Lobby und in den leeren Aufzug. Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich auf die Nummer meines Stockwerks drückte und wir in die zwölfte Etage hochfuhren, als würde er entweder seine Entscheidung überdenken oder versuchen, mich zu durchschauen.

In der Wohnung führte ich ihn durch den engen Gang und an meinem Fahrrad vorbei, das ordentlich an einigen Haken hing, um Platz zu sparen. Wortlos fütterte ich Mack, holte dann übrig gebliebene Pizza hervor und wärmte einige Stücke für uns beide auf. Als ich ihm einen Teller reichte, nickte er dankend und aß schweigend, während er vor der Fensterwand stand und auf den dunklen See hinausstarrte, der von der Skyline der Stadt erleuchtet wurde. Es war eine großartige Aussicht und an der Art, wie er sich zum Glas lehnte, konnte ich sehen, dass er ebenso fasziniert davon war wie ich, als Chris mir die Wohnung vor zehn Jahren zum ersten Mal gezeigt hatte. Meine Güte, was hab ich mir da eingebrockt, Chris?

Wurde auch verdammt Zeit, dass du was tust, flüsterte er zurück. Er war immer für ein Abenteuer zu haben gewesen. Genau aus dem Grund hatten wir Doggie Styles eröffnet, obwohl ich nie daran geglaubt hatte, dass es je mehr als ein Wunschtraum sein würde. Aber während ich beobachtete, wie der Freund in die dunkle Nacht hinausstarrte, erinnerte ich mich daran, wie kompliziert Menschen und ihre Beziehungen waren. Verglichen damit waren Tiere leicht zu handhaben. Ihre Bedürfnisse waren einfach, ihre Liebe bedingungslos. In den härtesten Zeiten zog ich ihre Gesellschaft vor.

Ich schüttelte meine düsteren Gedanken ab, holte sauberes Bettzeug aus dem Wäscheschrank und machte das Sofa zurecht. Er sank schwer auf das Polster und zum ersten Mal war deutlich zu sehen, wie erschöpft er war. Als ich seine dunklen Augenringe bemerkte, fragte ich mich, ob sich diese Entscheidung schon lange angebahnt hatte oder ob er die Mühe, die sie ihn gekostet hatte, inzwischen bereute. Mack stupste seine Finger mit der Nase an und er streichelte ihm liebevoll die Schnauze und Ohren. Seine sanfte Berührung war bezaubernd und ich fragte mich, ob er die Möpse vermisste. Als Mack zufrieden war, trabte er zu seinem Kissen in der Zimmerecke, um sich hinzulegen.

Der Freund hob die Hände an seine Kapuze und schob sie langsam zurück. Ich hielt den Atem an, als all seine dunklen, feinen Haare zum Vorschein kamen – sie waren zerzaust, sein langer Pony fiel bis auf die Wangenknochen, auf denen blasse Sommersprossen verstreut waren. Im weichen Schein der Tischlampe wirkte sein Kiefer wie gemeißelt und seine Wimpern waren so lang, wie ich sie noch nie bei einem Mann gesehen hatte. Leicht gebogen rahmten sie seine weichen, braunen Augen ein. Er beugte sich hinab, um seinen Rucksack heranzuziehen, und begann, darin herumzukramen. Auf den ersten Blick bemerkte ich sofort ein zusammengerolltes T-Shirt, eine Jeans und einen offenen Umschlag mit Geld. Er hatte vielleicht nicht vorgehabt, V heute zu verlassen, aber die Kleider und das Geld vorsichtshalber eingepackt.

Geht mich nichts an.

Ich wollte nicht, dass er sich von mir beobachtet fühlte, also schaltete ich das Licht in der Küche ein und begann, den Geschirrspüler einzuräumen. Danach legte ich Wäsche zusammen und sah mir dabei eine Kochshow an. Er schien aufzuhorchen, als ich auf den Food Network-Sender umschaltete, um eine Serie mit dem Titel Chopped zu schauen, die ich leidenschaftlich verfolgte. Ich fragte mich, ob er gerne kochte und deshalb nach Rosmarin roch. Aber es könnte ebenso gut sein Shampoo sein.

Ich räumte die zusammengelegten Handtücher in den Wäscheschrank und streckte dann die Arme zur Decke – der lange Tag forderte seinen Preis. Er war nicht der Einzige, der erschöpft war.

»Das Badezimmer ist hinter dieser Tür auf der linken Seite«, sagte ich und deutete in den kurzen Gang. »Du darfst dir gerne Essen oder Trinken nehmen, wenn du noch hungrig bist. Ich gehe jetzt ins Bett.«

»D... danke«, erwiderte er mit kehliger Stimme und riss den Blick vom Fernseher los. »Für deine Hilfe.«

Es war das erste Mal seit der Ankunft in meiner Wohnung, dass er sprach, und ich fragte mich, ob er immer so still war oder nur bei Fremden. Oder vielleicht war seine Stimme leiser geworden, je länger er mit V zusammen gewesen war. Das konnte passieren, aber wahrscheinlich dachte ich zu dramatisch.

»Kein Problem. Wenn du ein Telefon brauchst, mein Festnetzanschluss ist in der Küche«, sagte ich, verriet damit vermutlich mein Alter. Benutzte heutzutage irgendjemand etwas anderes als Smartphones? Aber damals hatte Chris darauf bestanden, dass wir es behielten. Außerdem lagen der Freund und ich nicht so weit auseinander, oder? Ich war achtunddreißig und würde ihn etwa auf vierundzwanzig schätzen, plus oder minus ein, zwei Jahre. In seinen Augen musste ich bereits kurz vor der Rente stehen. Und an manchen Tagen fühlte ich mich sogar so. Meine Güte, wie ich mich anhörte.

An der Tür zu meinem Schlafzimmer fragte ich: »Hast du einen Namen?«

»Hm?« Er runzelte die Stirn, als er den Blick von der Kochshow abwandte, wo der Koch gerade Zwiebeln anschwitzte.

»Dein Name?«, wiederholte ich und fand, dass das eine ziemlich einfache Frage war, wenn man bedachte, dass ich diesen praktisch Fremden auf meinem Sofa schlafen ließ. Gott, ich fragte ja nicht nach seiner Familiengeschichte oder so. »Ich bin Tristan.«

Er hielt einen Moment lang inne. »Ähm... West. Mein Name ist West.«

»West«, wiederholte ich, testete die Silbe auf meiner Zunge. Ich hatte mich so viele Monate lang gefragt, wie er wohl lautete. »Du bist hier sicher.«

Seine Augenbrauen wanderten hoch. »Es ist nicht, wie Sie denken. Michael... er tut mir nicht weh. Er ist einfach nur... erdrückend und ich...«

»Du musst mir nichts erklären.« Ich hob die Hände und tadelte mich dafür, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte. Der Name Michael klang viel netter als Voldemort. Vielleicht waren wir zu hart zu ihm gewesen. Andererseits war es schwer, sein ständiges schroffes Verhalten falsch zu verstehen. »Gute Nacht.«

Ich lockte Mack von seinem Kissen herunter, damit er mir ins Schlafzimmer folgte, und war froh, dass ich an diesem Tag in der Mittagspause mit ihm Gassi gegangen war. Aber bevor ich die Tür schloss, sah ich ein letztes Mal zu West zurück. Er wirkte so verloren und einsam, wie er in meine Richtung starrte. »Wenn du dir irgendetwas leihen willst... bitte. Bedien dich.«

Am nächsten Morgen war West verschwunden. Und mein Fahrrad ebenfalls.

 

***

 

Elijah war bereits da, als ich am nächsten Morgen bei Doggie Styles ankam. Wir gingen beide schweigend unseren Aufgaben nach, waren noch müde und brauchten mehr Kaffee. Er warf die Kaffeemaschine auf dem Rollwagen an, der in der hinteren Ecke neben dem Waschbecken und dem Kühlschrank stand, und sobald sie zu brühen begann und der Duft den Raum erfüllte, fühlte ich mich gleich wacher.

Mit West im Nebenzimmer hatte ich eine rastlose Nacht gehabt und doch nicht gehört, wie er meine Wohnung verlassen hatte, geschweige denn mit meinem Fahrrad im Schlepptau. Mack ebenfalls nicht, also wären wir beide offenbar nutzlos bei einem Einbruch. Trotzdem ließ die Vorstellung mich dämlich grinsen.

Ich hatte ja gesagt, dass er sich alles ausleihen konnte.

Und ich hatte mir so einen jungen Kerl vorgestellt, der sich vor Vs mürrischem und kontrollsüchtigem Auftreten duckte, aber was ich gestern miterlebt hatte, war alles andere als das gewesen. Er hatte ihm die Stirn geboten, war für sich selbst eingestanden und wenn ich an Vs Trauer über ihre Trennung dachte, steckte wohl weit mehr hinter ihrer Beziehung, als ich ihnen zugetraut hatte.

Ich hätte es besser wissen sollen – Beziehungen waren immer kompliziert.

Als ich Elijah die Tasse reichte, sah er immer noch nicht so fröhlich aus wie sonst. »Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher«, antwortete er, während er die schwarze Flüssigkeit schlürfte. »Hatte gestern Abend einen Streit mit Stewart.«

Jetzt, da die anfängliche Verliebtheitsphase verstrichen war, schienen sie Unmengen an Auseinandersetzungen zu haben. Beziehungen waren schwer und normalerweise musste man in seinen Ansichten übereinstimmen, um die meisten Probleme zu lösen.

»Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?«

Er nickte. »Ich hasse es einfach, wenn er die Schweigenummer abzieht. Das ist so...«

»Kindisch?«, half ich nach.

Er schüttelte den Kopf. »Mehr als das. Es ist – oh oh, da kommt Ärger.«

Der Themenwechsel brachte mich aus dem Konzept; dann folgte ich seinem Blick zum Parkplatz hinaus.

Mr. V stieg mit seinen Möpsen im Schlepptau aus dem Auto und als er zur Tür marschierte, bemerkte ich das Misstrauen in seinen Augen.

»Was soll das denn?«, bemerkte Elijah, aber ich hatte keine Zeit für Erklärungen, denn Mr. V riss schnaubend die Tür auf.

»Wo ist er?«, fragte er in anklagendem Tonfall.

Ich wich nicht zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Weiß nicht.«

Am Rand meines Blickfeldes sah ich, wie Elijah die Kinnlade herunterfiel.

Mr. V zeigte mit einem Finger auf mich. »Sie hätten nie...«

»Ich habe getan, was ich für richtig hielt«, antwortete ich ruhig. »Wenn Sie Ärger machen, werde ich die Behörden einschalten.«

Das brachte Elijah zum Handeln. Er richtete sich auf und griff über die Theke hinweg nach seinem Handy.

»Nein, ich... Sie verstehen nicht«, antwortete Mr. V in weicherem Ton.

Es ist nicht, was Sie denken. Michael... er tut mir nicht weh... er ist einfach nur...

»Ich muss nur wissen, dass er in Sicherheit ist«, sagte er mit versöhnlicher Stimme.

»Ich weiß nichts«, erwiderte ich. »Ich habe West ein Sofa zum Schlafen gegeben und bis zum Morgen war er längst verschwunden.«

»West?«, wiederholte V, wobei sein Kopf nach hinten ruckte. »Ist das der Name, den er jetzt verwendet?«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Was meinen Sie?«

»Sein Name ist Jonas. Jonas West Hollis. West ist der... der Mädchenname seiner M...« Er schüttelte den Kopf, als hätte er mir all das nicht verraten sollen.

Aber ich musste zugeben, dass es faszinierend war. Kein Wunder, dass West so entschlossen gewirkt hatte, als er mir gestern Abend diesen Namen genannt hatte. Jonas passte fast nicht zu ihm. West dagegen schon.

V kratzte sich am Kinn. »Wie konnte er überhaupt...?«

Er ließ die Frage unvollendet, aber ich verriet nicht, dass er mein Rad genommen hatte. Ich war nicht sicher, warum, nur dass West die Chance, entkommen zu können, verdient hatte. Er war ein erwachsener Mann.

Ich straffte die Schultern. »Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie nicht mehr hierherkommen.«

Er nickte, nahm seine Geldbörse und fischte eine Visitenkarte heraus. »Wenn Sie etwas hören, bitte lassen Sie es mich wissen.«

Er ließ es so endgültig erscheinen, als wäre West für immer verschwunden.

Und ich hatte fast Mitleid mit ihm. Fast.

Als er gegangen war, erzählte ich Elijah, was am vorherigen Abend geschehen war, während ich meinen Kaffee trank und Mack hinter den Ohren kraulte.

»Heilige Scheiße. Du machst doch Witze«, kommentierte Elijah, stellte seine leere Kaffeetasse ins Spülbecken und drehte das Wasser auf, um sie auszuspülen. »Er hat dein Rad gestohlen?«

»Ausgeliehen«, antwortete ich mit einem Grinsen. Vielleicht verlor ich gerade den Verstand. Ich musste es dem Kerl wohl zugutehalten, dass er tat, was notwendig war. »Ich schätze, ich muss im Geschäft deines Freunds Kam vorbeischauen, um mir ein neues zu kaufen.«

»Warte nur, bis Brin davon hört. Und Brooke«, sagte Elijah und wirkte endlich fröhlicher.

Das war der Elijah, den ich kannte. Er liebte Klatsch und das war definitiv eine verrückte Geschichte.