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Wellensang

Eine Limfjord-Saga

 

Historischer Roman

von Anna Eichenbach

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-943531-85-5

ISBN 978-3-943531-84-8 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Wenn alte Wellen singen,

von Kampfesruhm sie künden,

der nach langer Überfahrt,

nur dem stärksten Krieger harrt.

Gullbringa

 

Turid schlang den Umhang aus grober Wolle enger um den Leib. Eine silberne Fibel hielt ihn über ihrer rechten Schulter zusammen.

Der Wind blähte die rotschwarzen Segel der Gullbringa und zerrte an den Strähnen, die sich aus ihrem schweren Zopf lösten. Beinahe zärtlich raunte ihr die Brise Versprechungen von Freiheit und Abenteuern zu, weckte alte Erinnerungen und Sehnsüchte, die sie tief in ihrem Innern vergraben gehabt zu haben glaubte. Die Seeluft schmeckte salzig auf ihrer Zunge.

Gischt tanzte in weißen Flocken auf den Wellenkämmen, während das Schiff durch die Gewässer des Kattegatt glitt. Der geschnitzte Falkenkopf am Steven blickte weit in die Ferne, wo die grünen Hügel Nordjütlands aus den Fluten stiegen.

Turid schien die Einzige an Bord zu sein, die ihre Ankunft in Limgard nicht herbeisehnte. Kurz huschte ihr Blick zu der hölzernen Truhe mit den verschlungenen Schnitzereien. Erst wenige Tage waren vergangen, seit Helga ihr geholfen hatte, Kleider und wenige Habseligkeiten zusammenzupacken. Alles was Turid besaß, beschränkte sich auf den Inhalt eben dieser Kiste.

Wehmut ergriff sie, als sie an den Tag ihrer Abfahrt dachte. Helga, ihre Kinderfrau, hatte sie lange und fest an ihr Herz gedrückt. Turid vermochte sich an keinen Tag zu erinnern, an dem Helga nicht um sie gewesen wäre. Es fiel ihr schwer, ihre engste Vertraute zurückzulassen. Und auch Helga hatte sichtlich mit ihren Gefühlen gekämpft: Lange schaute sie Turid an, strich sanft über ihre Wange und hauchte ihr schließlich einen Kuss auf die Stirn. Helga hatte kein Wort gesagt, vielleicht aus Angst, dass ihre brüchige Stimme die Tränen verriet, die sie nur mühsam zurückhielt.

Lange hatte Turid zurückgeschaut, als die Gullbringa im ersten Licht des Tages auslief. Hatte die verschlafenen Langhäuser betrachtet, über denen sich Rauchfahnen träge in die Morgenluft erhoben, den Anblick des Dunstes, der sich am Ufer des Fjordes kräuselte, in sich aufgesogen, und beobachtet, wie die kräftiger werdenden Sonnenstrahlen ihn mit sachten Fingern auseinanderzupften.

Nach und nach leerte sich der Steg des kleinen Anlegehafens, kehrte der Alltag allmählich in Dorsteinn ein. Helga war die Letzte, die dem Schiff des Jarls nachblickte. Langsam war sie, war Hordaland hinter ihnen verblasst, bis sich das Meer zu allen Seiten bis zum Horizont erstreckte. Tief. Rau. Unergründlich.

Doch wenn Turid nun sah, wie das Land, das noch am Morgen kaum mehr als ein dunstigblauer Schemen gewesen war, näher rückte, breitete sich ein Kribbeln in ihrer Magengegend aus. Leichter Schwindel ergriff sie, wenn sie daran dachte, was sie in Nordjütland erwartete. Seit sich die ersten Landmarken aus dem Morgennebel schälten, ergriff eine freudige Erregung die gesamte Mannschaft. Überdies bescherte Njörd ihnen günstige Winde, die die Segel der Gullbringa füllten und das Schiff über die See trieben.

Furchtlos wie immer hatte Halvdan den Steven ein Stück weit erklommen. Einen Arm um das Holz geschlungen stand er da, stolz und aufrecht, und sah voraus. In Kindertagen hatten sich die Geschwister oft um diesen Posten gebalgt, wenn ihr Vater sie mit auf Reisen nahm, als hofften sie, das Ziel um eine halbe Schiffslänge früher zu erreichen als der andere. Sie ließen sich Gischt in die vom Fahrtwind geröteten Gesichter wehen, beugten sich so weit nach vorn, wie sie es eben wagten. Beinahe war es so gewesen, als wären sie das Schiff, wenn das Wasser unter ihnen dahinzog. Immer hatte Halvdan dafür Sorge getragen, dass seine beiden jüngeren Geschwister nicht über Bord gingen. Nun beanspruchte er den Platz am Steven für sich. Alles an ihm – von seiner Haltung bis hin zu dem Kettenhemd, das er auf einem Raubzug erbeutet hatte und das seine stattliche Gestalt funkelnd umhüllte – verriet den Krieger.

Vaters ganzer Stolz, dachte Turid voller Bewunderung. Als ältester Sohn Eiriks war es wahrscheinlich, dass er ihm eines Tages ins Amt des Jarls nachfolgte.

Deshalb fiel das Los, eine Weile in Limgard zu leben, auf Turid. Wenn die Nornen am Schicksalsbrunnen zu Wurzeln der Weltenesche ein günstigeres Schicksal für Sturla, den Mittleren der drei, gesponnen hätten …

Ein Horn schallte über den Kattegatt. Das dumpfe Dröhnen ließ Turid wohlig erschaudern. Das Horn von Limgard.

Erneut klang ein erhabenes Schmettern über die See, brachte Bewegung in die Mannschaft der Gullbringa. Das Segel wurde gerefft. Die Fahrt verlangsamte sich. Die Männer nahmen ihre Plätze an den Rudern ein, bewegten das Schiff das letzte Stück des Weges allein mit der Kraft ihrer Arme.

Neugierig lehnte sich Turid über die Reling. Ein Dorf schmiegte sich in saftiges Grün. In einem Bogen öffnete sich das Ufer zur Mündung des Fjordes, der sich als funkelndes blaues Band weit ins Landesinnere schlängelte, bis er hinter einer Erhebung aus Turids Blickfeld verschwand. Begleitet vom Ächzen der Ruderstangen steuerten sie geradewegs auf den Hafen zu, hinter dem sie bereits einzelne Gebäude unterscheiden konnte. Angelockt vom Ruf des Hornes strömten mehr und mehr Menschen auf den freien Platz zwischen Anlegesteg und einem der Langhäuser, um die Gesandtschaft aus dem Norden zu empfangen.

Turid war sicher, dass die Verzierungen aus Goldbeschlägen, die sich einmal um den Schiffsrumpf wanden, schon von weitem Eindruck auf die Schaulustigen machten, zumal wenn sie das Sonnenlicht warm und glänzend zurückwarfen. Ihnen verdankte das Schiff seinen Namen: Gullbringa. Goldbrust.

Mit Fug und Recht – und einem gewissen Stolz – konnte man behaupten, dass sie das prächtigste Schiff in Eiriks Flotte war und bei den Jarls an der norwegischen Westküste weithin bekannt. Sie war die Art Schiff, die man wählte, wenn man neue Bündner suchte oder alte Verbindungen auffrischen wollte.

Ein Schiff eines Königs würdig.

Sicheren Schrittes bahnte sich Halvdan einen Weg über die Planken, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.

»Schon aufgeregt, Schwesterchen?« Er streckte seinen Kopf in Turids Blickfeld. Sanft, aber bestimmt schob sie seine breite Gestalt zur Seite. »Du etwa?«

Lachend schüttelte der Nordmann den Kopf. »Thorgrim wird uns einen gebührenden Empfang bereiten. Und …« Er verstummte, blickte über die Schulter zum Bug, vor dem das Dorf am Horizont stetig näher rückte.

»Was und? Sag schon!«

Halvdans Miene war steinern, als er sich Turid zuwandte.

»Es sieht ganz danach aus, als fänden sich auch einige stattliche Krieger am Steg ein – und manche von ihnen sind gewiss im richtigen Alter, sich eine Frau zu nehmen.« Ein Grinsen erhellte sein Gesicht, als Turid die grünen Augen zu Schlitzen verengte und ihn zornig anfunkelte.

»Ich wollte es nur erwähnt wissen«, erklärte er und hob beschwichtigend die Hände. »Für einen Augenblick vergaß ich, dass dein Herz frostiger als der Fimbulwinter ist.«

Turid hob eine Augenbraue. »Tauen wird es wohl erst zu Ragnarök.«

»Wenn überhaupt«, setzte Halvdan nach.

»Solltest du nicht vor mir daran denken, dich zu vermählen?« Ihr Tonfall war herausfordernd, das Kinn trotzig gereckt.

Halvdan lachte. »Ich bin jung, Turid. Älter zwar als du, doch immer noch jung genug, um …«

»… dir ungestraft die Hörner abstoßen zu dürfen?«

Halvdan überlegte einen Wimpernschlag lang, ehe er nickte.

»Gut, dass mein Herz nicht so rasch entflammt wie deines.«

»Wenn du wüsstest, was dir entgeht«, wandte ihr Bruder ein. »Gegen ein kurzes, loderndes Feuer, das dein Innerstes verzehrt, ist nichts einzuwenden. Selbst wenn die Glut rasch erlischt.«

»Wenn jeder Mann diese Ansicht teilt, lobe ich mir mein Fimbulwinterherz.«

»Irgendwann wird es auch dir so ergehen, Turid. Und wenn dereinst deine Enkel auf deinem Schoß sitzen, wirst du dich an mich und dieses Gespräch erinnern und sagen: Der gute Halvdan hatte recht und ich habe mich geirrt.«

»Mit irgendwann meinst du gewiss zur Zeit von Ragnarök. Oder früher. Mein Herz könnte zu tauen beginnen, sobald du Vater Nachkommen schenkst.«

Auch wenn Halvdan Turid gern und unermüdlich daran erinnerte, dass sie sich allmählich um einen Mann kümmern sollte, waren die Sticheleien doch bloß Ausdruck seiner Sorge. Er wollte sie nicht allein sehen, ohne jemanden an ihrer Seite, der auf sie achtgab, für sie sorgte, wenn er selbst eine Familie gründete. Auch Eirik war es ein dringendes Anliegen, seine einzige Tochter versorgt zu wissen. Der Jarl ginge jedoch nie so weit, sie bloß der Politik wegen zu vermählen. Einige Männer – bewährte Krieger, wohlhabende Händler –, die sich durch eine Heirat in seine Sippe eine bessere Stellung erhofften, waren beim Jarl von Hordaland vorstellig geworden. Das alles scherte Eirik wenig. Ihn kümmerte nur, dass Turid glücklich war.

Und am glücklichsten bin ich allein.

»Ich denke«, erklärte Eirik, über den Zank seiner Kinder lachend, »dass es wohl kaum einen Mann gibt, der unsere Turid bändigen könnte.«

»Wahre Worte«, bestätigte Halvdan und stimmte in das Lachen seines Vaters ein, dass sein Kettenhemd leise klirrte.

»Und wenn schon«, entgegnete Turid achselzuckend und brachte die Männer umso lauter zum Lachen. »Ich bleibe dabei: Mein Frostherz kann höchstens durch deine Heirat erwärmt werden, Halvdan.«

»Vater, es ist hoffnungslos. Welcher Mann, der noch bei Sinnen ist, holt sich so ein Weib freiwillig auf den Hof?«

»Halvdan!« Turid versetzte ihm in gespielter Empörung einen Hieb gegen den Arm.

»Grob und ungehobelt bist du auch noch«, murmelte er und zer­zauste ihr liebevoll das Haar. Dann entfernte er sich, gönnte Vater und Tochter ein letztes Gespräch, ehe die Betriebsamkeit des limgarder Hofes und die Verpflichtungen eines Jarls Eirik für sich beanspruchten.

Gemeinsam schauten die beiden auf den Kattegatt hinaus, den die kräftigen Ruderschläge aufwühlten.

Ich werde sie vermissen, Vater und Halvdan und Helga.

»Weißt du, warum ich dich nach Nordjütland schicke?« Eiriks Frage linderte die Wehmut, die Turid zu übermannen drohte, ein wenig.

»Als Zeichen des Vertrauens.«

Eirik nickte. Ein ernster Zug lag um die Mundwinkel des Jarls. »Und damit du lernst.«

Fragend blickte sie zu ihm hoch. Der nahende Lebenswinter überzog bereits einige Strähnen seines dunklen Haares mit Raureif. Sanft legte er seine große Hand auf die ihre, als er mit Blick auf den Horizont erklärte: »Manch einer wirft mir vor, dass ich meinen Kindern die strenge Hand, mit der ich Hordaland führe, nur selten habe angedeihen lassen.«

»Sei nicht so hart mit dir, Vater.« Seine Worte verwunderten Turid, wusste sie doch, dass Eirik nur auf die Meinung weniger etwas gab.

Er lachte kurz auf. »In gewisser Hinsicht haben sie Recht.« Eirik verstummte. In seine sonst so entschlossen funkelnden Augen schlich sich ein betrübter Ausdruck, während ihn seine Gedanken von Bord der Gullbringa trugen.

»Was denken diese Männer denn, was ich noch zu lernen habe?« Turid war sich sicher, wer ihrem Vater diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. »Du hast uns alles beigebracht, was wir zum Leben brauchen: Fischen, Reiten, Jagen, wie man Axt und Schwert führt und im Kampf einen kühlen Kopf bewahrt. Du hast uns gelehrt, besonnen zu sein, gütig, die Götter zu ehren und ihnen für das zu danken, was sie uns gewähren. Halvdan, Sturla und mir – uns fehlte es an nichts.«

»Doch, das hat es, Turid.« Er lächelte traurig. »Euch hat eine Mutter gefehlt.«

Turid schluckte. Einen Herzschlag lang schloss sie die Augen. Das Gesicht einer Frau mit einem liebevollen Lächeln blitzte in ihren Gedanken auf. Das Antlitz ihrer Mutter, das Turid nur aus Eiriks seltenen Erzählungen kannte, in denen er die Erinnerung an sie lebendig hielt.

Die Götter spielen ein gar grausames Spiel.

In eben jener Nacht, in der sie dem Jarl eine Tochter schenkten, raubten sie ihm mit unnachgiebiger Hand sein Weib.

»Aber Helga …« Turid verstummte.

»Helga tat ihr Möglichstes, aber auch sie konnte den Einfluss deiner Brüder auf dich nicht mindern. Dass dir der weibliche Einfluss in deiner Kindheit weitestgehend gefehlt hat, ist oft mehr als deutlich.« Seine Stimme war voller Zuneigung und nahm seinen Worten die Schärfe. »Ich danke den Göttern jeden Tag, dass sie mir mit der Tochter auch einen dritten Sohn geschenkt haben.« Er lachte, drückte ihre Hand. Auch Turid schmunzelte.

Sein dritter Sohn. Ein interessanter Gedanke.

»Also stimmt, was Halvdan gesagt hat: Nur ein Wahnsinniger nimmt sich ein Mannsweib wie mich zur Frau.«

»Kein wahnsinniger Mann, nein. Ein Mann, der selbstbewusst genug ist, neben einer Frau wie dir zu bestehen.«

Bis ich dem begegne, vergeht die Welt im Ragnarök, dachte sie bei sich.

»Du bist mir gut geraten«, erklärte Eirik plötzlich und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Du bist genau wie deine Mutter. Eigensinnig und stur. Sie wäre stolz auf die junge Frau, die du heute bist. Ich bin es ebenso. Nicht viele wagen es, Björn herumzukommandieren.«

Schmunzelnd schaute Turid zu dem Krieger, auf den Halvdan gerade einredete. Björn war kein Mann vieler Worte. Auf den ersten Blick mochte er mürrisch und abweisend scheinen, doch wenn man sich die Mühe machte, ihn kennenzulernen und seine raue Schale anzukratzen, zeigte er sich als verlässlicher Freund.

Eine Erinnerung drängte sich in ihr Bewusstsein: Kaum vier Sommer alt saß sie auf den breiten Schultern des Nordmannes, der durchs Langhaus galoppierte – Helga ihm hinterher, die Hände besorgt über dem Kopf zusammengeschlagen.

»Hild, Thorgrims Gemahlin, wird gut für dich sorgen und dich unter ihre Fittiche nehmen«, erklärte Eirik schließlich. Beinahe schien es Turid, als rede er gegen seinen eigenen Abschiedsschmerz an.

Sicherlich wird sie mir zeigen, wie sich eine anständige Frau zu verhalten hat.

Ihre Zweifel behielt sie für sich. Auch wenn sie noch immer nicht wusste, ob sie sich darüber freuen sollte, einige Zeit an Jarl Thorgrims Hof zu verbringen, hoffte sie, dass etwas Gutes aus dem Aufenthalt in Nordjütland erwuchs.

»Jarl, wir sind fast da«, gab Björn ihnen Bescheid. Eirik schenkte Turid ein Lächeln, das sie tapfer erwiderte. Mit einer Geste bedeutete er ihr voranzugehen. Eirik nahm seinen Platz am hinteren Ende des Schiffes ein, Halvdan stand erhobenen Hauptes zu seiner Rechten, Turid zu seiner Linken, als die Gullbringa erhaben auf den Steg zu glitt.

Thorgrim

 

Die Gullbringa erzitterte, als der lange Schiffskörper gegen den Steg stieß. Mit geübten Handgriffen befestigten die Männer die schweren Taue.

Turid staunte jedes Mal aufs Neue, wie reibungslos die flinken Handgriffe der Mannschaft aufeinander abgestimmt waren. Sie warf ihrem Vater einen raschen Seitenblick zu. Eirik beobachtete das Treiben gelassen. Die Schultern gestrafft und das Haupt erhoben blickte er ruhig zu der Gruppe von Menschen, die sich am Ende des Steges versammelt hatte, sobald der erste Hornstoß die Ankunft der Gullbringa ankündigte.

Als mache es ihm nichts aus, dass alle Augen auf ihn gerichtet sind.

Unweigerlich musste sie an die Könige und Jarls denken, welche die Skalden in ihren Liedern besangen. Durfte sie Helgas Erzählungen Glauben schenken, war Jarl Thorgrim von Limgard ein Mann von ähnlichem Format.

»Turid?«

Irritiert schaute sie sich um, benötigte einen Augenblick, bis sie verstand, dass Halvdan sie angesprochen hatte.

»Wir gehen von Bord.«

»Komme«, murmelte sie, zupfte noch einmal den Umhang zurecht und strich sich das bodenlange Leinenkleid sowie den Kittel glatt, den sie darüber trug. Meine Hosen vermisse ich schon jetzt.

Tief schöpfte Turid Atem, richtete sich auf, dann folgte sie der hoch aufgeschossenen Gestalt ihres Bruders.

Über eine Planke gelangte sie von Bord der Gullbringa auf den Steg. Ein feiner Schleier aus Gischt hatte sich auf die Bohle gelegt, machte das Holz unter ihren Füßen glitschig. Turid setzte ihre Schritte mit Bedacht, wusste, dass der ein oder andere Limgarder sie beo­bachtete.

Stumm dankte sie den Göttern, als sie sicher auf dem Steg stand, wo die Mannschaft bereits damit begann, die Gullbringa abzuladen.

Halvdan zwinkerte ihr verschwörerisch zu, beinahe als spüre er ihre Anspannung. Nebeneinander folgten die Geschwister dem Jarl. Das Holz pochte dumpf unter seinen Stiefeln.

Turid heftete den Blick auf einen Punkt zwischen Eiriks Schulterblättern. Sie bemühte sich, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu unterdrücken, das langsam höher zu steigen und ihren Kopf mit Schwindel zu füllen drohte. Lieber hätte sie sich einer Horde Bewaffneter gegenüber gesehen, als sich auf dem ihr verhassten Feld der Politik zu bewegen. Man sagte Turid nach, nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten – eine Eigenschaft, die ihr nicht immer zu Gute kam.

Unvermittelt blieb Eirik stehen. Hätte Halvdan nicht rasch nach ihrem Handgelenk gegriffen, Turid wäre in ihren Vater hineingelaufen. Sie hatten Thorgrim erreicht. Ihr Bruder warf ihr einen fragenden Blick zu, als wollte er sagen: Wo bist du nur mit deinen Gedanken?

Angespannte Stille lag über der Begegnung der beiden Jarls. Eine Stille, die vor Erwartungen summte. Von den unzähligen Malen, bei denen andere Jarls Eirik ihre Aufwartung gemacht hatten, wusste Turid, dass es sich ihr Vater zur Gewohnheit gemacht hatte, dem anderen eine Weile lang schweigend in die Augen zu schauen, als könne er so dessen Absichten erkennen. Am liebsten hätte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, um über Eiriks Schulter hinweg einen Blick auf den Nordjütländer zu erhaschen, von dem Helga ihr so viel berichtet hatte.

»Jarl Eirik!« Eine Stimme, heller als Turid sie sich vorgestellt hatte, zerriss die Stille. Unverhohlene Freude schwang in den Worten.

»Jarl Thorgrim!« Eirik neigte leicht das Haupt. »Hild.«

Dann fielen sie sich in die Arme, klopften sich überschwänglich und von herzhaftem Lachen geschüttelt auf den Rücken, dass es von ihren Lederharnischen dumpf widerhallte.

Eine besondere Freundschaft verband die Männer, die sich auf einer Víking kennengelernt hatten. Eine Freundschaft, die sie über Länder und Meere hinweg verband. Auch als ihre Wege sich trennten, beide zum Titel des Jarls führten, spannen die Nornen das Schicksal so, dass sich die Lebensfäden der beiden noch oft kreuzten.

»Wie lang ist es her, alter Freund? Wie lang?« Thorgrim schob den anderen auf Armeslänge von sich, doch Turid konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen. Ernst bemerkte er: »Du bist alt geworden.«

»Gleichfalls, Thorgrim. Doch sei gewiss: Mit dir nehme ich es immer noch auf.« Das hustende Lachen des Nordjütländers hallte über den Kattegatt.

»Das glaube ich gern.« Er klopfte seinem alten Freund auf die Schulter. »Und wer ist der stattliche junge Mann dort, der dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«

»Das«, entgegnete Eirik und drehte sich halb herum, »ist mein ältester Sohn Halvdan.« Dieser trat vor, um Thorgrim und seiner Gemahlin vorstellig zu werden, und ihr Vater ging ein Stück zur Seite, so dass er Turid einen ersten Blick auf den fremden Jarl erhaschen ließ.

Helga hat nicht übertrieben. Der Jarl von Limgard besaß eine einschüchternde Erscheinung. Es war weniger seine Größe – weder war er zu groß, noch zu klein geraten – sondern vielmehr eine Ausstrahlung von Stärke, die ihn umgab. Er schien der geborene Anführer.

»Und das hübsche junge Mädchen mit dem abwesenden Blick?«

Mit dem Zeigefinger winkte der Jarl sie zu sich heran. Sein Gesicht verriet Entschlossenheit und Stärke. Ein Eindruck, den die Augenklappe, die er über dem linken Auge trug, verstärkte. Er hatte es auf einer Víking verloren – und um ein Haar noch weit mehr, wären Eirik und Halveig nicht zur rechten Zeit zur Stelle gewesen.

Er räusperte sich vernehmlich. Leise lachend schüttelte Halvdan den Kopf.

Selbstsicher, doch mit wild pochendem Herzen und zugeschnürter Kehle trat Turid vor, verneigte sich leicht. »Jarl Thorgrim.«

Unerschrocken hielt sie seinem Blick stand, in dem sich Erkennen und Wehmut spiegelten.

»Du musst Turid sein. Ich habe …«, er suchte nach geeigneten Worten, »… einiges über dich gehört.«

»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete sie, das Kinn vorgestreckt. »Ich von dir ebenso.«

Thorgrim Einauge lachte sein hustendes Lachen und zwinkerte ihr zu.

»Dies ist meine Gemahlin Hild.«

Turid wandte sich der zierlichen Frau an der Seite des breitschultrigen Kriegers zu und verneigte sich erneut.

»Willkommen in Limgard, Turid.« Hild neigte das Haupt. Ihre Züge waren von sanfter Anmut, die Augen strahlend blau und von milden Fältchen umgeben, die ihrem Blick umso mehr Wärme verliehen. Ein dünner Silberreif hielt ihr golden glänzendes Haar zurück.

»Du hast ein hübsches Gesicht«, bemerkte Hild lächelnd. Sie wechselte einen raschen Blick mit Eirik. Mehr musste sie gar nicht sagen. Turid wusste auch so, was die andere dachte. Ich sehe Mutter so ähnlich.

»Komm, Turid«, meinte sie dann und schüttelte den Kopf, als versuche sie, ihre trüben Gedanken abzuschütteln wie ein streunender Hund lästige Flöhe.

Mit einem gewinnenden Lächeln, das von Herzen kam, hakte sie sich bei Turid unter und nahm sie mit sich.

»Sorg dich nicht, Liebes«, raunte sie ihr zu, während die Schaulustigen respektvoll vor ihnen zurückwichen. »Dir wird es hier an Nichts mangeln.«

Die Männer blieben am Steg zurück, in ein Gespräch vertieft, das sie später, wenn die Themen bedeutender wurden und nicht länger für jedes neugierige Ohr bestimmt waren, ins Langhaus des Jarls verlegen würden.

Eben dieses betrat Turid nun durch das weit geöffnete Tor. Gedankenversunken glitten ihre Finger im Vorübergehen über das Schnitzwerk an den Türpfosten. Wie oft ihre Mutter Halveig wohl hier vorbeigegangen war? Gewiss hatte sie sich häufig hier aufgehalten.

Kaum, dass sie den ersten Schritt auf die Dielen gesetzt hatte, schlug ihr die Hitze des Langfeuers entgegen. Es verlief in einer mittigen Rinne von einem Ende der Methalle bis zum anderen und füllte diese mit wohliger Wärme. Erst jetzt bemerkte Turid, wie tief ihr Wind und Feuchtigkeit, denen sie an Bord der Gullbringa ausgeliefert gewesen war, in die Knochen gedrungen waren.

»Willkommen in unserem Heim«, erklärte Hild strahlend und löste sich von ihr, »das auch dir in nächster Zeit ein Zuhause sein wird.«

Fast wie an Vaters Hof, stellte sie fest, als sie weiter in den Raum trat. Über die gesamte Länge der Halle befanden sich niedrige Podeste entlang der Wände, die zum Verweilen einluden oder eine Lagerstatt für die Nacht boten. Teppiche und Felle hingen an den Wänden.

»Üblicherweise verbringen wir Frauen unsere Tage hier und weben Segeltuch für die Schiffe oder Stoffe für Gewänder«, erklärte Hild, »aber nun …«

Turid wusste, was sie meinte. Tische und Bänke, die man bereits für das Festmahl zu Ehren des Jarls von Hordaland herbeigeholt hatte, füllten das Langhaus. Eine junge Frau, kaum älter als Turid, deckte Becher und Holzteller ein. Kurz hielt sie in der Arbeit inne, als sie die Fremde bemerkte, und schenkte ihr ein scheues, aber warmes Lächeln.

Turid hörte kaum hin, was Hild ihr erzählte. Es ging um Gelage, die sie hier abhielten, hohen Besuch, den sie in diesen Hallen empfangen hatten, doch ihre Gedanken kreisten um die junge Frau.

»… und bald werden wir erneut einen Grund zum Feiern haben, wenn unsere Männer von der Víking zurückkehren.«

Hild schaute sie erwartungsvoll an.

Sag was, dummes Ding, schalt Turid sich stumm.

»Solche Ereignisse feiern wir zuhause auch. Also am Hof in Dorsteinn.« Sie biss sich auf die Zunge, doch Hild lächelte mild.

»Komm, ich zeig dir dein Lager.« Nur ein dünnes Weidengeflecht trennte den Raum, in den die Gemahlin des Jarls sie nun führte, von der Halle. Je nachdem, wie Turid den Kopf wandte, konnte sie durch die Lücken einen Blick auf das Geschehen auf der anderen Seite erhaschen. Weitere kleine Kammern waren durch ähnliche Wände oder Vorhänge aus schweren Stoffen abgetrennt.

»Hier wirst du schlafen«, bemerkte Hild zufrieden, als sie Turid zu einem der hinteren Räume führte, der eine einfache Lagerstatt beherbergte.

»Ich werde veranlassen, dass man dir deine Sachen bringt. Ruh dich bis zum Essen aus, es ist gewiss nicht wenig, was da heute auf dich einstürzt.« Verständnis lag im Blick der Blonden, dann wandte sie sich zum Gehen. »Weißt du«, bemerkte sie über die Schulter gewandt, »du ähnelst ihr sehr, deiner Mutter.« Erinnerungen huschten über Hilds Züge.

»Das sagt Vater auch, aber … er spricht nicht gern von ihr.«

Die andere nickte verstehend.

»Wie … wie war sie?«, wagte Turid schließlich zu fragen. So viel Helga ihr auch erzählt hatte – Hild kannte ihre Mutter aus der Zeit vor Eirik, bevor sie Limgard verlassen hatte und nach Hordaland ging.

Die Gemahlin des Jarls schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Stolz. Stur. Thorgrim erzählte mir einst, sie habe ihn an eine Walküre erinnert, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Das dachte ich auch, als ich sie sah.«

Turid presste die Lippen zu einem Strich. Vater zuliebe verließ sie ihre Heimat.

Sie wusste nur Weniges über Halveig, denn Eirik sprach nicht oft von ihr. Eine Schildmaid sei sie gewesen, stamme aus einem Dorf in der Nähe von Limgard. Eine enge Freundin Thorgrims – irgendwann Gemahlin des Jarls Eirik von Hordaland. Doch wie sie sich kennen und lieben gelernt hatten, hatte Vater niemandem erzählt.

»Ich kannte sie gut«, meinte Hild sanft. »Deshalb weiß ich, dass sie ihre Freude an der mutigen, jungen Frau hätte, die ich nun vor mir sehe.«

Dankbar drückte Turid ihre Hand. »Hild, es … ist wirklich schön hier«, sagte sie rasch mit einer Spur Verlegenheit in der Stimme. »Ich bin dir dankbar, dass du mich so freundlich empfängst.«

»Liebend gern, Turid. Du bist Thorgrim und mir mehr als herzlich willkommen und ich hoffe, dass du dich rasch einlebst«, sagte Hild und ließ sie allein.

Turid sank auf ihr Lager und barg das Gesicht in den Händen. Die Limgarder Männer waren also unterwegs. Ein Dorf voller Frauen wartete auf Turid. Ihr Magen zog sich zusammen. Schon immer war es ihr leichter gefallen, mit Männern zurechtzukommen als mit Frauen. In Dorsteinn waren es neben Helga fast ausschließlich wortkarge Krieger, mit denen sie Umgang pflegte. Es war ihr zuwider, das eine zu sagen, aber etwas anderes zu meinen, wie Weiber es für gewöhnlich taten. Manchmal wünschte sie sich etwas mehr des besonderen Geschicks ihres Vaters, der immer zu wissen schien, wie er jeden Menschen behandeln musste.

Nimm dich zusammen, Turid Eiriksdóttir. Für deinen Vater – und für Hild!

Die Gemahlin des Jarls strahlte solch eine herzliche Wärme aus, dass es Turid selbst warm ums Herz wurde, obwohl die Götter es nicht immer gut mit Hild gemeint hatten. Ihre Verbindung mit Thorgrim war nicht mit einem Erben gesegnet worden. Einige Kinder hatte sie tot geboren, die beiden, die durchkamen, hatte Odin auf Víking vor der Zeit in seine Hallen gerufen.

Die Geräusche aus dem Nebenraum wurden stetig lauter, während Turid ihren Gedanken nachhing. Erneut erschien Hild vor ihr.

»Ist es Zeit für die Feier?«

Hild nickte und streckte ihr die Hand entgegen, welche sie mit einem Lächeln ergriff.

Vielstimmiges Murmeln, unterbrochen von gelegentlichem Gelächter, erfüllte den Hauptraum, der vor Leben summte. Unter den zahlreichen Männern und Frauen, an denen vorbei Hild sie zur Tafel des Jarls führte, entdeckte Turid neben Björn einige bekannte Gesichter von der Gullbringa.

Die Stimmung im Langhaus war ausgelassen. Man feierte nicht nur den Besuch eines alten Verbündeten, sondern auch die Erneuerung der Freundschaft der beiden Dörfer, die durchs Meer getrennt und doch miteinander verbunden waren.

Als Zeichen dieser Zusammengehörigkeit bleibe ich hier, in Thorgrims Obhut … und damit ich lerne.

Turids Laune hellte sich schlagartig auf, als sie Halvdan entdeckte. Die Wangen gerötet, schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln und hob den Becher zum Gruß.

»Du musst wissen, Eirik, ein Teil der Männer ist zur Zeit noch auf Raubzug.« Thorgrims Stimme verriet seinen Stolz, als Hild und Turid ihre Plätze an der Tafel einnahmen. »Und einige von ihnen«, er senkte die Stimme, obwohl seine Worte im Lärm des Langhauses ohnehin kaum zu vernehmen waren, »erscheinen vielversprechend, was meine Nach…«, er unterbrach sich. »Lassen wir das. Trübe Gedanken haben an einem Abend wie diesem nichts verloren. Nicht, wo wir uns so lang nicht gesehen haben.«

Er winkte die junge Frau heran, die Turid während der Vorbereitungen zum Fest gesehen hatte, und ließ sie seinen Becher auffüllen. Der Jarl erhob sich – und mit einem Mal verstummten Gespräche und Gelächter.

»Freunde, lasst uns trinken. Auf unseren Bund mit Hordaland und auf Jarl Eirik.« Er wandte sich dem Dorsteinner zu: »Möge Odin dir ein langes Leben gewähren, alter Freund!« Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Becher, während sein Wunsch vielstimmig wiederholt wurde.

Herb rann das Starkbier Turids Kehle herab. Ja, dachte sie, hier kann ich es eine Weile aushalten.

Odin geweiht

 

Rorik tauchte unter dem Axthieb seines Gegners weg, der ihn nur knapp verfehlte. Sein dunkles Haar klebte ihm in der Stirn, wo sich Schweiß mit dem Blut der Erschlagenen mischte. Kräftig trommelte sein Herz gegen Rippen und die darüber liegende Lederjacke, die ihn vor leichteren Hieben schützte.

Mit einem wütenden Brüllen fuhr der Mann herum, funkelte Rorik aus zu Schlitzen verengten Augen an.

»Hast wohl noch immer nicht genug, was?«, brummte er und wog die Streitaxt in der Hand.

Sein Gegenüber warf ihm Worte in einer fremden Zunge entgegen, deren Sinn spätestens dann klar wurde, als er ihm vor die Füße spuckte.

Gemächlich lockerte Rorik seine Nackenmuskulatur, ging federnd in die Knie, Schild und Axt zur Seite gestreckt, und offenbarte dem anderen seine Brust.

Na komm schon. Er leckte sich über die Lippen. Salz und Metall füllten seinen Mund. Worauf wartest du?

Wie ein wütender Bulle stürmte der Mann auf ihn los, die Axt mit beiden Händen hoch über den Kopf erhoben.

So ist’s gut.

Im letzten Augenblick wich Rorik mit einer leichten Drehung zur Seite aus. Seine Axt beschrieb einen blitzenden Bogen, durchtrennte Muskeln und Sehnen, als sie dem Angreifer in die Kniekehle fuhr. Brüllend sank dieser nieder. Ein weiterer Axthieb und sein jämmerliches Wimmern verstummte.

»Tapfer, wirklich«, murmelte Rorik, »doch töricht.« Hätte er nicht zu den Waffen gegriffen …

Rorik wusste nur zu gut, dass er ebenso gehandelt hätte, wäre sein schlimmster Albtraum über See gekommen, hätte seinen Hof und seine Sippe bedroht.

Das Klirren von Metall, das auf Metall traf, erfüllte die Luft. Einige Schritte entfernt verstrickten die Bewohner des Küstendorfes Roriks Gefährten noch immer in ein Handgemenge. Dieser Ort war das letzte Ziel ihres Raubzugs entlang der Küste, ehe sie wieder nach Hause segelten. In dem Durcheinander von glänzenden Äxten und hölzernen Schilden glaubte Rorik, Sveins blonden Haarschopf auszumachen.

Grimmig lächelnd überwand er die kurze Distanz, die sein mutiger Gegner ihn von den anderen fortgetrieben hatte. Mit einem Aufschrei warf er sich in die Flanke der Dorfbewohner. Seine Axt sang, als sie das Blut eines weiteren Mannes zu kosten bekam.

Im Rausch wütete Rorik unter den Fremden, deren Gesichter für ihn zu einer ununterscheidbaren Masse verschmolzen. Bis er in ein Antlitz blickte, blutjung, die Augen schreckensweit.

Thor, dem Kerl wächst nicht mal der erste Bartflaum!

Roriks Zögern verleitete den Jungen zu einem ungestümen Angriff. Überrascht musste er einen Fuß weichen, fing den Hieb mit dem Axtschaft ab. Geistesgegenwärtig riss Rorik den Holzschild hoch, rammte den metallen gefassten Rand unter das Kinn seines Gegners. Der Unterkiefer brach mit einem lauten Knacken.

Benommen ging der Jüngling in die Knie und Rorik beendete seine Qualen. Schon wirbelte er herum, als er den Luftzug eines herabfahrenden Hiebes im Nacken spürte. Leblos kippte ein Dörfler zur Seite.

»Gern geschehen«, rief Svein über den Lärm des Kampfes hinweg. Gesicht und Bart des Blonden waren rot von Blut, sein Grinsen beinahe wahnsinnig.

Rorik erhielt keine Gelegenheit, ihm zu danken. Der nächste Mann, der für die Sicherheit seiner Liebsten stritt, bedrängte ihn.

Erst nach einer Weile, als kein weiterer Gegner auftauchte, ließ Rorik die Waffen sinken.

Sein Brustkorb hob und senkte sich unter schnellen Atemzügen, während er den Blick über das Schlachtfeld schweifen ließ.

Unter den Gefallenen, die wie achtlos weggeworfene Holzfiguren auf dem Feld lagen, machte er vereinzelt auch Kameraden aus. Männer, mit denen er noch am Morgen gescherzt hatte. Mit denen er aufgewachsen war. Wäre Svein nicht gewesen, würde ich nun mit ihnen in Valhalla speisen.

Die Gesichter seiner Kameraden, die mit leerem Blick in den wolkenlosen Himmel starrten, mahnten Rorik, dass auch er sterblich war. Raben ließen sich zwischen den Gefallenen nieder, begannen sich krächzend um die fettesten Brocken zu streiten, wenngleich sie an diesem Tag genügend Nahrung finden würden.

Gewiss sind Hugin und Munin, Odins Raben, unter ihnen, geben den Männern mit den Walküren Geleit nach Valhalla. Wir alle haben unser Leben dem Kriegsgott geweiht.

»Tapfere Krieger«, bemerkte Svein, als er neben Rorik trat. Geronnenes Blut klebte in seinem blonden Bart und den buschigen Brauen, überzog sein Gesicht mit einem rotbraunen Muster, gleich einer Maske, die seinen Zügen einen umso wilderen Ausdruck verlieh.

Rorik schüttelte den Kopf, verscheuchte seine trüben Gedanken.

Erst der Rausch, dann die Reue? Konnte es denn wirklich Reue sein, was er empfand? Vielmehr erinnerte ihn jeder Kampf, jeder Gefallene an die Gunst der Nornen, die ein weiteres Mal entschieden hatten, seinen Lebensfaden noch nicht zu durchtrennen.

Er wollte etwas sagen, sich bedanken, doch Svein kam ihm zuvor: »Schon gut.« Bis in den Tod haben wir uns als Jungen am Fjord geschworen. Freundschaftlich stieß er Rorik mit dem Ellenbogen in die Seite. »Du weißt genau, dass ich dich nicht einfach in den Tod gehen lassen würde.«

»Gleichfalls«, entgegnete er und stimmte in das Lachen seines Freundes ein. Schon seit Kindertagen waren die beiden unzertrennlich.

»Thorgrim wird mächtig stolz auf uns sein. Wir haben reiche Beute gemacht«, bemerkte Rorik, als sie sich vom Schlachtfeld entfernten, den Tod und die Raben hinter sich ließen.

»Einauge? Ist das dein Ernst?« Svein lachte. »Bevor ich auch nur einen Gedanken daran verschwende, ob der Jarl zufrieden sein wird, kommen mir ganz andere Dinge in den Sinn.« Ein fiebriges Funkeln trat in seine blauen Augen, als er mit einem verschwörerischen Zwinkern meinte: »Ich freue mich schon auf die Limgarder Frauen.«

»Svein. Immer nur das eine im Kopf.« Rorik lachte dröhnend.

»Wird das jemals anders sein?«, meinte eine Stimme hinter ihnen, so tief und rau wie das Meer. Die Nordmänner wandten sich um, ließen Hakon in ihre Mitte treten. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen sah der Schiffsführer zum Horizont, wo in der Ferne ihr Boot lag. Sie hatten die Windpferd nach der Landung mit Hilfe von Stämmen in ein kleines Wäldchen gezogen, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen, während die Männer aus Limgard einen Vorstoß ins Landesinnere wagten.

»Heute Nacht bleiben wir auf einem der verlassenen Höfe und morgen machen wir uns auf den Rückweg.«

Hakon nahm einen Schluck aus dem Trinkschlauch, den er mit irgendeinem Gebräu aufgefüllt hatte, das ihm wohl am Morgen auf einem der Höfe in die Hände gefallen war, ehe die Dorfbewohner die Fremden bemerkt und ihre Verteidigung formiert hatten.

»Vier unserer Männer hat Odin zu sich gerufen«, meinte er, als er den Trinkschlauch an Svein weiterreichte.

»Gute Männer«, erklärte dieser und nahm einen Schluck.

»Und nun speisen und feiern sie an Odins Tafel mit ihren Ahnen.« Rorik hob den Schlauch gen Himmel, prostete seinen Kameraden zu.

Wir werden uns wiedersehen Männer, dachte er.