THE CAVERN – DAS GRAUEN AUS DER TIEFE 

Alister Hodge

 

Übersetzt von Tina Lohse

 





This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com
Title: THE CAVERN. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

 

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: THE CAVERN
Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Tina Lohse
Lektorat: Astrid Pfister

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-465-4

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.





für Lee

 

Kapitel 1

 

Das Seil rutschte mit einem lauten Surren durch Jims Karabiner, als er sich an der Felswand abseilte und sich ein letztes Mal abstieß, bevor er am Boden neben seiner Frau zum Stehen kam. Die uralten Kalksteinwände, die ihn umgaben, fühlten sich kalt und trocken unter seinen Fingern an. Er richtete seinen Blick auf die Öffnung des Trichters, die sich dreißig Meter über ihnen befand. Der nahezu perfekte Kreis aus blauem Himmel war vor knapp drei Wochen von einem Farmer im australischen Outback entdeckt worden und stellte den einzigen bekannten Zugang zu diesem Höhlensystem dar. Die zwanzig Meter breite Doline war entstanden, als die Decke einer Kalksteinhöhle eingestürzt war und den Weg in eine bis dahin verborgene Welt freigegeben hatte, unberührt vom menschlichen Auge.

Jim klinkte seinen Klettergurt aus und suchte im Dunkeln nach seiner Frau. Er entdeckte Beth am anderen Ende des Hauptgewölbes, als sie mit ihrer Taschenlampe in einen Tunnel leuchtete, der nach Süden hin abzweigte. Er zog den Reißverschluss seines Overalls hoch, um sich gegen die kühle unterirdische Luft zu wappnen, und suchte sich einen Weg über den mit Geröll übersäten Boden.

Beths Augen leuchteten, als sie sich ihm zuwandte. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir die Allerersten sind, die diese Höhle erforschen!«

»Ein verdammt teures Privileg«, murmelte Jim, der die zweitausend Dollar, die er Mr. Anastas für den Zutritt zu dessen Land gezahlt hatte, immer noch nicht verschmerzt hatte.

»Lass gut sein, Schatz, ich hätte auch das Dreifache gezahlt.«

Jims Kiefer verkrampfte sich für einen Moment, bis er sich zwang, auszuatmen und sich zu entspannen. Es gab nun kein Zurück mehr. Er hatte den Zustand von Anastas’ Schafen bemerkt und er wusste, dass sein Geld bereits fort war, vermutlich investiert in Futter für sein von der Dürre geplagtes Vieh.

»Okay, kein Wort mehr von Geld.« Er setzte seinen Rucksack ab und stellte ihn vor seine Füße, womit er eine kleine Staubwolke aufwirbelte. »Aber bevor wir weitergehen, machen wir noch einen letzten Sicherheitscheck. Solange wir nur zu zweit sind, können wir uns keinen Unfall erlauben.«

Beth reagierte mit einem ungeduldigen Schnauben darauf und wartete, während er ihre Ausrüstung systematisch durchging. Beide trugen alte State-Emergency-Service-Overalls. Jims Rucksack enthielt außerdem den Großteil ihrer Sachen, einschließlich der Kletterseile und einer Ersatzlampe.

Er zog ein Stück wasserfestes Karopapier aus seinem Ärmel und markierte darauf ihre Einstiegsposition nebst einer Richtungsangabe seines Kompasses, dann zog er den Riemen seines Helms fest und nahm sich einen Moment Zeit, um sich die Felsformationen einzuprägen. »Welchen Weg möchtest du nehmen?«

Seine Frau leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die zwei abzweigenden Tunnel hinein, bevor sie sich für den rechten entschied. »Diesen hier, denke ich.«

Beth ging voran und schlängelte sich zwischen den großen Felsbrocken hindurch, die von der Decke gebrochen waren. Der Durchgang hatte ein stetes Gefälle, die unebene Decke nur wenige Zentimeter über ihren Köpfen war bald nur noch hüfthoch, gefolgt von einigen sehr engen Stellen.

An Abzweigungen im Tunnel stapelte Jim Steinmännchen auf, nichts weiter als drei Steine übereinander, um den Rückweg zu markieren. Er blieb kurz stehen, um einen Schluck Wasser zu trinken, während Beth auf einem Felsen Platz nahm. Ohne das Echo ihrer Schritte, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde, erschien ihr Atem unnatürlich laut; die Stille lag schwer und fast greifbar in der Luft. Zum ersten Mal auf einer Höhlenexpedition verspürte Jim einen Anflug von Klaustrophobie. Falls er Mist baute und sich verirrte, würde diese Höhle zu ihrer Grabkammer werden.

Als er gerade seine Wasserflasche wegpackte, nahm er ein neues Geräusch wahr. Er berührte Beth am Arm. »Hörst du das?«

Ein fernes Klopfen drang in regelmäßigen Abständen zu ihnen hinauf.

Beth strengte ihre Ohren an, doch ihr Gesichtsausdruck blieb unbesorgt. »Tropfendes Wasser vielleicht?«

»Hm, das glaube ich nicht.« Er legte seinen Kopf auf die Seite, um besser lauschen zu können. »Klingt eher nach Schritten. Eigenartig.«

Beth riss mit gespieltem Erstaunen ihre Augen auf. »Vielleicht ist es eine dieser Kreaturen, von denen der Barbesitzer gesprochen hat. Wie hießen die noch mal?«

Jim schmunzelte, als er an den gestrigen Abend zurückdachte. »Ich glaube, er nannte es Minenmutter.« Der alte Kerl hatte schon tüchtig einen sitzen gehabt, als er auf die schaurigen Gemälde des stadteigenen mythischen Monsters hingewiesen und sie davor gewarnt hatte, die Höhle zu erkunden. Einzelheiten waren auf den Bildern kaum zu erkennen gewesen. Es waren die grausamen grünen Augen gewesen, die in den Schatten leuchteten, die Jim die Haare zu Berge stehen gelassen hatte.

»Hat es den Minenarbeitern nicht geholfen, Opale zu finden oder etwas in der Art?«

»Nö, er meinte, am ehesten schlitzt es einem die Kehle auf.«

»Mir gefällt meine Variante der Geschichte besser«, sagte Beth. Sie machte einen Schritt in den Tunnel hinein, bevor sie über ihre Schulter blickte. »Warum finden wir nicht heraus, woher dieses Geräusch kommt? Falls es tropfendes Wasser ist, führt es uns vielleicht zu einem Wasserlauf.«

Jim zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«

Er warf einen Blick über seine Schulter und leuchtete den Tunnel mit seiner Lampe ab. Aus irgendeinem irrationalen Grund wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Doch da nichts Ungewöhnliches zu sehen war, unterdrückte er sein wachsendes Unwohlsein und ging weiter, der Lichtstrahl seiner Helmlampe als grelles Weiß an der Felswand. Die von Steinen am Boden geworfenen Schatten, tanzten vor ihm, als sie mit ihren Lampen voranschritten.

Ein paar Meter weiter teilte sich der Tunnel. Das Paar blieb kurz stehen, um nach dem Geräusch zu lauschen, bis es dessen Ursprung deutlicher ausmachen konnte. Beth ging eilig weiter und das Klopfgeräusch beschleunigte sich für einen Moment, als applaudiere es ihrer Entscheidung. Das Paar setzte den Weg durch das immer komplexer werdende Labyrinth fort, Biegung für Biegung, Abzweigung für Abzweigung.

Beth blieb irgendwann stehen und legte einen Finger an die Felswand. »Hier ist es feucht. Wir müssen nah am Wasser sein.«

Das Klickern kleiner Steine ertönte hinter ihnen. Neugierig ließ Jim Beth für einen Moment allein und ging zurück, um herauszufinden, was das Geräusch verursacht hatte. An der letzten Weggabelung blieb er plötzlich stehen. Das kleine Steinmännchen, das er zur Markierung des Weges aufgestapelt hatte, war fort. Er leuchtete mit seiner Lampe in beide Richtungen auf der Suche nach Fußabdrücken oder anderen Hinweisen darauf, welchen Weg sie gekommen waren, aber ohne Erfolg, der Staub am Boden war unberührt. Scheiße. Beide Optionen kamen ihm absolut gleich vor, und solange seine Frau sich nicht erinnerte, woher sie gekommen waren, würde wohl der Zufall entscheiden müssen.

Jim holte seine Frau eilig ein. »Babe, wir haben ein Problem«, erklärte er mit einem Hauch von Nervosität in der Stimme, trotz seiner Bemühungen, unbesorgt zu klingen. Das Letzte, was sie nun gebrauchen konnten, war Panik und noch mehr Orientierungslosigkeit.

»Das letzte Steinmännchen, das ich gebaut habe, ist weg, der Tunnel ist wie leer gefegt.«

Verdutzt hob Beth eine Augenbraue. »Das ist unmöglich. Wir sind schließlich die Einzigen hier unten, wie kann das sein?«

»Ich hab keinen Schimmer, aber das ändert nichts daran, dass es sich in Luft aufgelöst hat.«

»Na ja, du hast doch wie immer unseren Weg und die Koordinaten auf Papier festgehalten, oder nicht? Wir halten uns einfach daran, um zurückzufinden. Alles gut.«

»Ja, das wird schon«, sagte Jim, weil er nicht den Mut hatte, zuzugeben, dass er seine Aufzeichnungen vernachlässigt hatte, seit sie dem Geräusch hinterherjagten.

Sie hörten jetzt ganz in der Nähe Wasserklänge und Beth wandte sich dem Geräusch zu. »Das klingt nach einem richtigen Gewässer. Könnte der See sein, auf den wir gehofft haben. Lass uns noch eine Ecke checken, und wenn da nichts ist, gehen wir erst mal zurück. Was sagst du dazu?«

Jim fühlte sich nicht in der Lage zu widersprechen und folgte seiner Frau schweigend. Sie war vernünftig, rastete nicht aus und eine weitere Biegung würde wohl kaum den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Als er um die Ecke trat und seine Frau anrempelte, klappte seine Kinnlade herunter und sein Herz schlug vor Aufregung ganz wild. Über ihnen wölbte sich die Decke, wie eine Kathedralenkuppel über dem unterirdischen Raum. Gewaltige Stalaktiten hingen in Trauben herab, weiße, kristalline Ablagerungen schimmerten wie Kronleuchter im Schein der Lampen. An manchen Stellen trafen sich die Stalagmiten, die aus dem Boden wuchsen, mit den herabhängenden Stalaktiten und formten imposante Säulen. Sie hatten etwas Großartiges entdeckt.

Etwa zwanzig Meter weiter begann das Wasser. Jim schritt voran, alle Gedanken an ihre prekäre Situation waren verpufft. Er tauchte einen Finger in das Nass und kostete davon … es war nicht salzig. Der See war klar, die Oberfläche glatt wie Glas und erlaubte ihm einen Blick auf den Grund, der sanft abfiel.

Erstaunt sah sich Beth mit offenem Mund in dem riesigen Raum um. »Das ist es, Babe. Wir haben etwas absolut Wunderbares entdeckt.«

»Als Entdecker haben wir das Namensrecht. Wie willst du es nennen?«

Beth fuhr mit dem Strahl ihrer Taschenlampe die Weite des Raums ab und ihr Blick blieb an den mächtigen Stalaktiten hängen, die an manchen Stellen die Wasseroberfläche küssten.

»Mit der Gewölbedecke da oben wirkt es fast wie eine Kirche – und die Säulen rundherum, als würden sie die Eingänge zu kleineren, privaten Kapellen oder Nischen bewachen«, sagte sie. »Nennen wir es doch den Tempel.« Erwartungsvoll drehte sie sich zu ihm um, um seine Reaktion zu betrachten. »Was hältst du davon?«

Jim probierte den Namen aus und fand, dass er zu der Stelle passte. Er war auch der Meinung, dass der Höhle etwas Mystisches anhaftete. »Gefällt mir. Solange wir dem Tempelgott kein Opfer darbringen müssen«, sagte er mit einem kurzen Lachen.

Beth sah ihn einen Moment lang streng an, als wolle sie prüfen, ob er sich über ihren Vorschlag lustig machte.

»Nein, Schatz, ich mag den Namen wirklich, ich schwöre es«, sagte Jim und hob beschwichtigend seine Hände. »Aber wir sollten uns langsam mal ranhalten und ein paar Fotos machen, bevor wir wieder zurückgehen. Die Jungs vom Club werden bestimmt grün vor Neid sein!«

Beths Miene hellte sich daraufhin auf und sie half ihm dabei, ein kleines Stativ und die SR-Kamera aus seinem Rucksack zu kramen. Sie stellten drei Lampen auf, um die Decke und den Mittelteil zu beleuchten, bevor Jim schließlich ein paar Aufnahmen machte.

 

Während Jim mit der visuellen Dokumentation ihres Fundes beschäftigt war, schlenderte Beth näher ans Wasser heran. Es schien nicht tiefer als oberschenkelhoch zu sein, bis der Grund nach zwanzig Metern plötzlich abfiel. Der Boden bestand aus feinem Sedimentstaub und vereinzelten Steinen, ähnlich dem Boden in den trockenen Höhlenabschnitten. Mit ein bisschen Glück ging der Tempel unter Wasser weiter und bot ihnen ein submarines Höhlensystem, das es anschließend zu erkunden galt.

Sie seufzte bei dem Gedanken daran, andere zur Unterstützung herbringen zu müssen. Allein das Herankarren der Taucherausrüstung bedurfte einiger Helfer, von der ganzen Koordination einmal abgesehen – und das lief zwangsläufig auf eine größere Gruppe hinaus. Höhlentauchen war grundsätzlich gefährlich. Sie wusste, dass ihre Einstellung zwar etwas lockerer war, verglichen mit einigen Leuten der australischen Caving-Gemeinschaft, aber falls man vorhatte, am Ende eines Tauchgangs noch am Leben zu sein, musste man die Sicherheit unter Wasser stets ernst nehmen.

Eine Bewegung am Rande ihres Blickfelds erregte nun ihre Aufmerksamkeit. Zwanzig Meter vom Ufer entfernt, breiteten sich in konzentrischen Kreisen kleine Wellen aus. Da war etwas im Wasser! Beth hob ihre Taschenlampe, um einen genaueren Blick auf die Schatten werfen zu können, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie eine rosafarbene Kindernase unter der Wasseroberfläche verschwand. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Die Geräusche, denen sie gefolgt waren, konnten doch keine Schritte gewesen sein, oder?

Sie traute ihren Augen nicht und wartete, bis die Wellen verschwunden waren. Adrenalin wurde freigegeben und ihr Herzschlag raste. Da war es schon wieder! Dort, wo der See tiefer wurde, sah sie das Kind erneut, nur ein Gesicht, der Rest des Körpers verdeckt von Silt und Stein am Grund. Ihre Brust zog sich vor Angst zusammen und ihre Atmung war nun schnell und flach.

Warum zur Hölle war ein Kind allein hier unten?

Sie erstarrte, während sie mit ihrer Unentschlossenheit kämpfte. Beths Bauchgefühl schrie sie an, davonzurennen, jede Faser ihres Körpers forderte sie zum Rückzug auf. Sie schluckte schwer und konzentrierte sich wieder auf das Gesicht des Kindes, um ihre eigene Angst ignorieren und handeln zu können. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn, aber sie musste doch etwas unternehmen.

»Jim! Da ist ein Kind im Wasser.« Sie begann, ihren schweren Overall abzustreifen, um sich tauchbereit zu machen.

»Ein was bitte?« Jims Gesicht war nahezu weiß, als er die Kamera ablegte und zu ihr lief.

»Ein Kind – da drüben«, sagte sie und zeigte auf das Wasser. »Es ist gerade erst untergegangen, wir können es noch retten, wenn wir uns beeilen.«

»Aber wir haben keine Taucherausrüstung dabei. Was, wenn es dort eine Strömung gibt? Wenn du runtergezogen wirst, bist du tot. Tu das bitte nicht«, flehte Jim sie an.

»Sei nicht so ein Feigling«, antwortete sie abwertend. »Hol eines von den Kletterseilen, das binde ich mir um. Falls was schiefgeht, ziehst du mich einfach wieder raus. Schnell!«

Die Worte trafen Jim wie eine Ohrfeige und er hastete los, um eine Seilpuppe aus seinem Rucksack zu holen. Jim band ihr den Strick um die Taille und fort war sie.

Beth watete hastig hinein und zog eine Spur wallender Sandstaubwolken durch das kristallklare Wasser, das sich daraufhin in eine undurchsichtige Brühe verwandelte. Ab Hüfttiefe begann sie zu schwimmen und sich mit kräftigen Beinschlägen voranzutreiben. Als sie an der richtigen Stelle zu sein glaubte, holte sie tief Luft und tauchte unter.

In zwei Metern Tiefe konnte sie den Jungen sehen. Das Kind sah nicht älter aus als sechs Jahre. Er hatte kurz geschorenes Haar und seine Gesichtshaut schimmerte blass und bläulich. Mit ganzer Kraft quälte sie sich tiefer, um das Kind an die Oberfläche bringen zu können, bevor es bleibende Hirnschäden erlitt. Sie kannte die Statistiken. Bereits nach fünf Minuten ohne Luftzufuhr begannen die Gehirnzellen abzusterben und Beth war wild entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen.

Als sie nur noch eine Armlänge entfernt war, öffneten sich plötzlich seine Augen. Doch irgendetwas stimmte an dem Bild nicht und sie hielt mitten in der Schwimmbewegung inne. Die Pupillen des Kindes flatterten, als sich sein Blick auf sie richtete, und verlängerten sich dann zu reptilienartigen Schlitzen. Die Iris und das Weiße des Augapfels wurden leuchtend grün. Die Lippen wurden gefletscht und entblößten einen Satz nadelspitzer Zähne. Beth hing starr vor Entsetzen im Wasser. Das Gesicht des Biests verformte sich noch weiter, Mund und Kiefer wurden länger, die Haut verdunkelte sich immer mehr zu einem satten Schwarz, als es die Tarnung komplett aufgab, die sie ins Wasser gelockt hatte.

Luftblasen schossen aus ihrem Mund, als sie anfing zu schreien. Beth fühlte ein kräftiges Zerren des Seils um ihre Mitte, das sie in Richtung Oberfläche zog. Der Bann war gebrochen, ihre Brust brannte mit dem Verlangen nach Sauerstoff und sie strampelte angestrengt mit den Beinen, um dem Monster unter sich zu entkommen.

Jim ließ das Seil laufen, während er zusah, wie seine Frau fieberhaft davonschwamm und schließlich unter der Wasseroberfläche verschwand. Er zwang sich, ruhig zu atmen und seine eigene Angst zu unterdrücken. Das alles machte doch überhaupt keinen Sinn. Wenn ein Kind vermisst würde, wäre doch bestimmt die ganze Stadt in Aufruhr, um es finden …

Ein weiterer Gedanke kam ihm in den Sinn … Luft. Er verfluchte seine eigene Dummheit. So weit unter der Erde und bei so schlechter Belüftung war es nicht unwahrscheinlich, dass der Sauerstoffgehalt in der Luft verringert war und zu verminderten Denkleistungen führte. Halluzinationen waren dann nicht mehr fern. In diesem Fall musste er seine Frau so schnell wie möglich aus dem Wasser holen.

Jim stemmte einen Fuß in den Sand und fing an, das Seil einzuholen, um seine Frau zurück an Land zu befördern.

Beth schwamm dem Licht entgegen, ihre rechte Hand stieß durch die Oberfläche. Nach einem panischen Blick legte sie einen schnellen Kraulschlag hin, für den ihre mit Adrenalin überfluteten Muskeln jedes bisschen Kraft aktivierten. Ihre Knie schlugen gegen Steine, als das Wasser flacher wurde, und sie stolperte über den festen Grund. Beth machte gerade einen Schritt nach vorn, als etwas ihr Bein festhielt und sie zurückzerrte. Mit vor Schreck weit aufgerissenem Mund starrte Beth hinab und musste feststellen, dass die Kreatur sie eingeholt hatte. Schwarze, knochige Finger umklammerten ihren Knöchel wie ein Schraubstock. Die Klauen durchdrangen ihre Haut und versanken tief in ihr, während sie vor Schmerz laut schrie.

Das Seil zerrte brutal von hinten an ihr, als Jim versuchte, sie an Land zu ziehen. Die Seilschlaufe rutschte bis unter ihre Arme, während sich ihr Mann und das Biest einen barbarischen Kampf um Beths Körper lieferten. Sie bekam keine Luft mehr, als sich das Seil wie ein Ring aus Feuer um ihren Rumpf presste und mit jedem Ruck eine ihrer Rippen brach. Beth sah hilflos dabei zu, als die obere Hälfte der Kreatur sich aus dem Wasser erhob. Sie hatte ein aalartiges Maul, bestückt mit ringförmigen Reihen nadelspitzer Zähne. Eine lange Zunge schnellte jetzt hervor und schmeckte die Luft. Über dem fürchterlichen Schlund leuchteten vier grüne Augen mit elliptischen Pupillen und blinzelten unabhängig voneinander.

Bedingt durch die heftige Gegenwehr standen sehnige Muskeln an den vorderen Gliedmaßen und dem Rumpf hervor. Ein schlangenartiger Schwanz, der durch das Wasser peitschte, verlieh ihm offenbar noch zusätzliche Kraft. Das Seil erschlaffte, die Kreatur musste es Jim aus den Händen gerissen haben. Mit unbändiger Kraft zog es Beth in eine Umarmung. Zwei Riechschlitze über dem Maul bebten, als es sich zu ihrem Hals hinunterbeugte und schnupperte. Ein leises Wimmern entfuhr Beth und ihre entleerende Blase sorgte für ein warmes Gefühl an ihren Beinen. Der Kopf hob sich, reptilienartige Augen starrten sie eindringlich an. Plötzlich klappten zwei Hautfalten am Hals des Wesens wie bei einer Kobra heraus, es stieß einen schrillen Schrei aus und saugte sich an ihrem Gesicht fest.

Beth konnte nur entsetzt aufschreien, als rasiermesserscharfe Zähne in ihre Wange drangen und das Gewebe mühelos zerteilten. Sie wehrte sich gegen das Biest, war aber aufgrund ihrer festgeklemmten Arme absolut hilflos. Die vergeblichen Schreie ihres Mannes, die ihren eigenen glichen, nahm sie nur noch am Rande wahr. Die Klauen öffneten gewaltsam ihren Mund und der hervorschnellende Kiefer zwängte sich an ihren Zähnen vorbei, umschloss ihre Zunge und riss sie mit einem Ruck heraus. Blut schoss in ihren Mund, während das Biest seine Trophäe herunterschlang; es floss ihre Kehle herab in ihren Magen und rann in ihre Lunge, als sie einatmete. Ihr Magen rebellierte und sie übergab sich, ein blutroter Strom schoss aus ihrem Mund und ergoss sich über ihre Brust und die Haut ihres Mörders.

 

Jim betrachtete das Geschehen entsetzt und fassungslos. Aus seinen vom Tauziehen zerschundenen Händen sickerte Blut. Beths Augen traten hervor, als die Kreatur sich in das Fleisch zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter grub. Jim tastete seinen Gürtel ab und suchte dort nach dem Messer, das er beim Höhlenwandern immer bei sich hatte.

Seine Frau erschauderte in der tödlichen Umarmung, ihr Mund flehte lautlos, ihre Augen starrten ins Leere. Jim stürmte ins Wasser, das Messer in der Hand, sämtliche Gedanken an seine eigene Sicherheit ausgelöscht, durch den Drang, seiner Frau zu helfen. Als das Monster seinen geräuschvollen Anmarsch bemerkte, hob es den Kopf und ließ mit einem schmatzenden Geräusch von Beths Hals ab. Ein frischer Blutstrahl spritzte aus der tiefen Wunde und Beths Gesichtszüge erschlafften. Die Kreatur löste ihre Umklammerung und Beth verschwand tot unter der Wasseroberfläche.

 

Frische Beute war zugegen.

Jim hielt inne, als die Kreatur ihn plötzlich ins Visier nahm. Sie glitt auf ihn zu, den Kopf über Wasser, die grünen Augen auf ihn fixiert. Der kräftige Schwanz peitschte hin und her und trieb das Wesen mit enormer Kraft voran. Jim hob mit zitternder Hand sein Messer.

Als das Wesen in Reichweite war, zielte er auf den Hals und stach zu, doch es wich seiner unbeholfenen Attacke mühelos aus und vergrub stattdessen seine Zähne in seinem Handgelenk, was seine Sehnen auf einen Schlag durchtrennte. Jim schrie vor Schmerz und Schreck auf, als seine schlaffen, nutzlosen Finger das Messer fallen ließen. Er versuchte zurückzuweichen und an Land zu fliehen, aber es hatte bereits seinen Schwanz um seine Beine gewickelt wie ein Stahlband. Das Maul löste sich von seinem Handgelenk und aus seiner Schlagader sprudelte Blut hervor.

Die Lampen am Ufer beleuchteten die Kreatur, als sie sich vor Jim aufrichtete und mit gespreizten Hautlappen hypnotisierend hin und her wiegte. Blitzschnell schlug sie zu und nadelartige Zähne pflückten sein Auge mit einer flinken Bewegung aus seiner rechten Augenhöhle. Er schrie, als sein Augapfel vor seinem verbleibenden Auge zerkaut und verschlungen wurde, der Schmerz wie ein glühender Schürhaken in seinem Gehirn. Knöcherne Klauen umklammerten sein Gesicht und mit der neu geschaffenen Öffnung als Ansatzpunkt begann das Wesen sein Mahl. Als Jim verzweifelt zappelte, tauchte eine lange Daumenkralle tiefer in die leere Augenhöhle hinein, stieß durch die dünne Knochenwand und landete in seinem Gehirn.

 

Kapitel 2

 

Ellie beugte sich über den Bildschirm des Bootssonars und ihr von Salz geküsstes Haar umspielte ihre Schultern, als sie die Darstellung des Riffs unter sich studierte. »Okay, ich glaube, wir sind an der richtigen Stelle. Anker los!«

Sam wuchtete daraufhin einen schweren, vierarmigen Stahlanker über den Bug. Er klatschte durch die Dünungswellen und verschwand in der Tiefe, eine Spur von Luftblasen hinter sich her ziehend. Augenblicke später spannte sich die Kette, als der Anker Halt fand und das Boot am Bug herumschwenkte. Da dies nun erledigt war, schlüpfte Sam an der kleinen Kajüte vorbei und betrat den hinteren Bereich, der mit zwei schmalen Sitzbänken ausgestattet war. Ihre Ausrüstung stapelte sich in der Mitte.

Mit dem Boot in stabiler Position verließ Ellie das Steuer und nahm hinten Platz, um ihre eigene Ausrüstung vorzubereiten. Sie trug einen langärmligen Taucheranzug, der den Blick auf ihren limettengrünen Bikini preisgab, bis sie den Reißverschluss bis oben hin hochzog. Dunkles, schokoladenbraunes Haar wehte leicht gelockt um ihre Schultern. Für den Tauchgang band sie es mit geübter Hand zusammen und flocht es anschließend zu einem langen Zopf, wobei sie ihm einen fragenden Blick zuwarf.

»Alles in Ordnung? Du kommst mir irgendwie ruhiger vor als sonst.«

»Sorry, hatte keine tolle Schicht heute Morgen«, sagte Sam, überrascht, dass sie ihn so leicht durchschaut hatte.

Ellie widmete ihm nun ihre volle Aufmerksamkeit. »Was ist denn passiert? Ist jemand gestorben?«

Sam nickte. »Ja, ein Kind.«

Als Rettungsassistent des Ambulanzdienstes von New South Wales war sein Team wie immer als Erstes an der Unfallstelle gewesen. Wenn er seine Augen schloss, konnte er immer noch den kleinen, toten Körper in dem riesigen Krankenhausbett sehen. Winzige, dünne Arme, blass und kraftlos. Die Augen trüb und blind, die Hornhaut bereits am Austrocknen.

»Ein Badeunfall. Das arme Kerlchen war erst fünf Jahre alt.«

Ellie hob vor Schreck eine Hand an ihren Mund.

»Sein älterer Bruder hat ihn gefunden, mit dem Gesicht nach unten im Familienpool. Der Junge hat sein Bestes getan, hat ihn rausgezogen und sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen, aber es war bereits zu spät.«

»Oh mein Gott, das ist ja furchtbar«, erwiderte Ellie. Sie beugte sich zu ihm und drückte seine Schulter. »Wie geht’s dir jetzt damit?«

Sam holte tief Luft und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. »Schluss damit, ich will dich nicht auch noch belasten.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe schließlich versprochen, mit dir Tauchen zu gehen, also legen wir los.«

»Bist du dir sicher?«

Dieses Mal war sein Lächeln echt. »Ja.«

»Okay.« Sie hob ein Paar Taucherflossen und reichte sie hinüber. »Wenn es ein Tauchziel gibt, das dich endlich restlos überzeugen wird, dann ist es dieses hier. Das Riff unter uns ist eines der besten rund um Sydney. Haufenweise Fische und wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht sogar ein paar Sandtigerhaie.« Ihre Augen strahlten, während ein begeistertes Lächeln ihr Gesicht erhellte.

»Fantastisch.« Er versuchte, etwas Begeisterung in seine Stimme zu legen.

»Sam, wir müssen das heute nicht machen. Angesichts der morgigen Höhlentour sollten wir wahrscheinlich sowieso lieber unsere Ausrüstung ein letztes Mal gründlich checken.«

Er schaute abrupt auf und merkte, wie sie ihn mit Sorgenfältchen in den Augenwinkeln musterte.

»Hey, ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht machen will.«

Halb schmunzelnd sagte sie: »Es steht dir aber ins Gesicht geschrieben. Ich weiß, dass du einen schweren Tag hattest, aber jedes Mal, wenn du mit mir Tauchen gehst, ist es ziemlich offensichtlich, dass du es hasst unter Wasser zu sein.«

Sam verzog das Gesicht. »Das hast du gemerkt?«

Ellie biss sich auf die Unterlippe, als sie nickte.

»Okay, ich gebe es ja zu, ich bekomme immer Platzangst wie nur sonst was, wenn ich da unten bin«, seufzte er. »Ich weiß aber, dass es vollkommen unbegründet ist, also werde ich mich dieser dummen Angst so lange stellen, bis ich sie überwunden habe.«

»Warum die ganze Mühe, wenn’s dir sowieso keinen Spaß macht? Du musst mir nichts beweisen, erst recht nicht, nachdem ich dich klettern gesehen habe.« Ellie überprüfte noch einmal ihre Gasflasche und das Tragegeschirr, während sie sprach. »Um Himmels willen, letztes Wochenende hast du in neunzig Metern Höhe in der freien Luft herumgebaumelt, und das nur an zwei Fingern. Seil oder nicht, das würde ich mich nie im Leben trauen.«

Durch das Felsenklettern hatten sie sich vor vier Monaten überhaupt erst kennengelernt. Ellie war seiner Gruppe für eine Vorstiegs-Tour in den Blue Mountains beigetreten. Sam hatte sich von ihrem ansteckenden Lächeln sofort angezogen gefühlt und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Seitdem verbrachten sie den Großteil ihrer freien Zeit miteinander. Er hatte schon bald festgestellt, dass Ellies ausgeprägter Sinn für Abenteuer sich nicht nur auf Felsenklettern beschränkte. Sie hatte außerdem ein Faible dafür, beim Höhlenwandern durch die Eingeweide der Erde zu kriechen. Ellie und ihr Bruder waren sogar zwei der besten Höhlentaucher des ganzen Bundesstaates.

»Es ist nicht nur die Platzangst. Ich weiß, du liebst das Tauchen über alles, deshalb möchte ich in der Lage sein, diese Seite an dir zu verstehen und ein paar dieser Erlebnisse mit dir teilen zu können.«

Ellie grinste. »Komm her, du Teddybär.« Sie beugte sich vor und küsste ihn. »Versuch’ einfach, dich zu entspannen und das Ganze zu genießen. Vergiss das Wasser und achte lieber auf die Schönheit um dich herum. Es ist immerhin eine komplette Welt, die die meisten Menschen niemals zu Gesicht bekommen.«

»Okay, ich versuch’s.«

Das Paar traf nun ihre letzten Vorbereitungen für den Tauchgang. Sie legten diverse Ausrüstungsteile an, bis sie schließlich mit Taucherflossen an den Füßen und Gasflaschen auf den Rücken am Rand des Boots saßen. Mit dem Atemregler locker zwischen die Zähne geklemmt, holte Sam noch mal tief Luft. Ellie gab ihm ein OK-Zeichen und nachdem er es erwidert hatte, ließ sie sich rückwärts ins Wasser fallen. Nach kurzem Zögern folgte Sam ihr.

Durch den Schock des kalten Wassers stockte ihm für einen Moment der Atem und er trat an der Oberfläche Wasser, bis er sich akklimatisiert hatte. Ellie dümpelte derweil geduldig neben ihm. Eine sanfte Dünung drückte Sam mit dem Rücken gegen das Boot.

»Alles okay?«

Sam nickte. Ellie schenkte ihm ein letztes Grinsen, bevor sie den Atemregler in den Mund nahm, abtauchte und unter der Wasseroberfläche verschwand. Sam atmete noch mal tief durch und folgte ihr.

Er blieb dicht hinter ihr, als sie auf den Grund zuhielt. Die Sicht war nicht die Beste, sie war auf etwa zehn Meter reduziert. Alles, was Sam sehen konnte, war leeres, dunkles Blau in alle Richtungen. Er konzentrierte sich wieder auf Ellie, die jetzt etwas Vorsprung gewonnen hatte und direkt auf das Riff zusteuerte, das nun langsam unter ihnen im Dunst zum Vorschein kam.

Sam achtete darauf, gleichmäßig mit den Flossen zu schlagen und ruhig zu atmen, um Luft zu sparen. Die Strömung war stärker, als er erwartet hatte, und zwang ihn dazu, immer fester zu treten, um auf Linie bleiben zu können.

Plötzlich schmetterte etwas gegen seinen Rücken, er verspürte einen festen Schlag gegen seine Flasche, was ihn mit der Kraft eines Rammbocks vorwärts katapultierte. Sein Atemregler rutschte aus seinem Mund.

Was zur Hölle war das denn gewesen?

Sein von Adrenalin durchströmtes Herz raste. War er gerade von einem Hai geschubst worden? Er stellte seine Schwimmbewegungen sofort ein und schwebte im Wasser, wobei er versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu schauen. Bei dem Aufprall war etwas Wasser in seine Tauchermaske gelangt und füllte nun das untere Drittel. Er konnte deshalb weder Ellie, noch das Riff sehen und die Strömung hatte ihn vermutlich schon ein ganzes Stück weit weggetragen.

Er sah hinter sich, wieder zur Seite … nichts.

Dann entdeckte er plötzlich eine schnelle Bewegung … etwas Großes, Schwarzes.

Scheiße.

Sam wollte hinterherschwimmen, verlor den Schatten aber in der blauen Dunkelheit aus den Augen. Seine Brust brannte vor lauter Verlangen, zu atmen. Er angelte nach dem Schlauch des Atemreglers und zog ihn zu sich. Als er darauf biss und hektisch einatmete, inhalierte er allerdings versehentlich etwas Wasser und musste heftig husten.

Das Bild seines toten Patienten erschien jetzt vor seinem inneren Auge. Die weiße Haut, die schlaffen Muskeln, die trüben, leblosen Augen. Ertrunken. Beklemmung machte sich in ihm breit, als sich sein Atem unweigerlich beschleunigte. Er musste an die Oberfläche. Sofort!

Er trat so hart, wie er nur konnte, angetrieben von purer Furcht. Augenblicke später durchstieß sein Kopf die Oberfläche. Er spuckte den Regler aus und atmete hektisch ein und aus, bis der nächste Hustenanfall eintrat. Er sah sich hastig um, bis er endlich, vierzig Meter zu seiner Rechten, ihr Boot entdeckte. Unbeirrbar schwamm er darauf zu und bemühte sich dabei um geschmeidige Bewegungen, trotz seines Drangs, das Wasser so schnell wie möglich zu verlassen. Bei jedem Schlag wartete er darauf, dass sich rasiermesserscharfe Zähne in sein Bein gruben und ihn wieder in die Tiefe zogen.

Doch nichts geschah.

Als er das Bootsheck erreichte, streifte er die Flossen ab, warf sie über den Rand und kletterte hastig die Leiter hinauf. Er setzte seine Gasflaschen ab und ließ sich auf eine der Bänke sinken, wo er nach Luft schnappte und darauf wartete, dass seine Herzfrequenz wieder sank. Aus dem Augenwinkel konnte er jetzt eine Bewegung an der Wasseroberfläche seitlich des Bootes ausmachen.

Ein Strudel im Wasser.

Er stand auf und suchte die Oberfläche ab, denn die Sorge um Ellies Sicherheit stand nun an vorderster Stelle für ihn. Während er das Wasser absuchte, steckte ein Seehund den Kopf aus dem Nass und glänzende, schwarze Augen betrachteten ihn mit einem, wie Sam fand, schelmischen Ausdruck.

»Du freches, kleines Stück«, murmelte Sam, als ihm klar wurde, dass es vermutlich der Seehund gewesen war, der ihn spielerisch geschubst hatte.

Das laute Geräusch eines Atemreglers kündigte kurz darauf Ellies Erscheinen an der Wasseroberfläche an. Sie ließ das Atemgerät fallen, schob ihre Tauchermaske bis zu ihrer Stirn hoch und schaute Sam verwirrt an.

»Alles in Ordnung?«

Sam fühlte, wie Hitze in seine Wangen stieg, weil ihm nun klar war, dass er ganz umsonst in Panik geraten war. »Ja, ich hab’s geschafft, Wasser einzuatmen. Fühlte sich an, als müsste ich mir die Eingeweide raushusten.«

Ellie erklomm das Bootsheck und begann, ihre Ausrüstung abzulegen. »Heute ist offensichtlich nicht der richtige Tag für einen Tauchgang. Wie wär’s, wenn wir zurückfahren und gemütlich ein paar Bierchen trinken, bevor die anderen kommen?«

 

***

 

Mit einem Ellbogen auf die Bar gestützt, warf Sam den Kopf zurück und leerte den letzten Rest seines Glases. Er spülte das Bier in seinem Mund umher, bevor er hinunterschluckte, und stellte das leere Glas dann auf einen Bierdeckel. Ellie hatte gerade eine Textnachricht bekommen, dass die Leute, die sie treffen wollten, nun angekommen waren, und war losgegangen, um sie zu suchen.

»Willst du noch eines?«, fragte der Barmann.

Sam zählte die Gläser zusammen, die er bereits vernichtet hatte, seit sie den Pub betreten hatten. Die Drinks verschwanden heute noch schneller als üblich.

»Ja klar, warum nicht.«

Sam reichte seine Kreditkarte rüber, als zwei Pacific-Ale-Flaschen vor ihm auftauchten.

Eine leichte Hand landete auf seiner Schulter. »Wir haben einen Tisch drüben in der Ecke. Komm mit, ich stelle dir die Gang vor«, sagte Ellie lächelnd.

Sie wartete, bis er von seinem Barhocker gerutscht war, ging voraus und schlängelte sich durch die Menschenmenge bis zu einer Sitzecke am anderen Ende des Pubs. Zwei Kerle und eine Frau saßen um den Tisch herum. Einer der Männer hatte einen ähnlichen Teint und fast die gleiche Gesichtsform wie Ellie und Sam vermutete deshalb, dass dies ihr Bruder war.

»Das ist mein Freund Sam«, sagte Ellie.

Sam war überrascht, weil sie diesen Titel zum allerersten Mal verwendete und ihn dann auch noch so betonte. Er sah sie mit fragend erhobener Augenbraue und einem halben Lächeln von der Seite an. Ellie grinste zurück und zuckte mit den Schultern. Dann wandte sie sich wieder den Leuten am Tisch zu. »Sam ist Rettungsassistent und da wir es hier mit einer komplett unerforschten Höhle zu tun haben, hielt ich medizinische Unterstützung für eine gute Idee.« Sie stellte ihm nun alle Anwesenden vor, angefangen bei dem rothaarigen Mann, der so viele Sommersprossen hatte, dass sie beinahe zu einer einzigen Masse verschmolzen. »Das ist Aaron, er hat mir so ziemlich alles beigebracht, was ich weiß.«

Aaron nickte. »Jup, sie schuldet mir echt was.«

Ellie verdrehte die Augen. »Auf die Gefahr hin, sein sowieso schon überdimensioniertes Ego zum Platzen zu bringen, muss ich sagen, dass er wirklich eine gewaltige Menge an Erfahrung mitbringt. Es gibt in Australien kaum jemanden, der so viele Höhlen erforscht hat oder ihm im Höhlentauchen das Wasser reichen kann. Als Nächstes wäre da mein Bruder, Max.«

Sam beugte sich vor, um die angebotene Hand zu schütteln, und musste sich beherrschen, nicht das Gesicht zu verziehen, als seine Hand dabei fast zerquetscht wurde. Max hielt seinem Blick ausdruckslos stand, bevor er sich wieder auf seinem Stuhl niederließ.

»Max scheint zu denken, dass er meine Beziehungen absegnen darf, aber da er mein kleiner Bruder ist, wird er seine Meinung schön für sich behalten«, sagte Ellie und warf ihm einen strengen Blick zu.

Sam betrachtete Max, während der seine Schwester ansah. So klein kam er ihm gar nicht vor. Er war gebaut wie ein Rugby-Stürmer, hatte ein enorm breites Kreuz und Sam wäre nicht überrascht gewesen, wenn Max mehr als eins-achtzig groß war.

»Max unterrichtet die sechste Klasse an der hiesigen Schule, aber er weiß genug, um sich unter der Erde nützlich zu machen. Zu guter Letzt hätten wir noch Frida. Wir arbeiten zusammen an der Uni und sie ist eine angesehene Biologin mit Schwerpunkt Höhlen-Ökosysteme.«

»Nicht halb so angesehen wie Ellie unter den Geologen«, erwiderte Frida mit einem schüchternen Lächeln. Sie gab ihm einen warmen, festen Händedruck. »Schön, dass du mit dabei bist, Sam.«

»Man weiß schließlich nie, was für eine Scheiße auf einen in einem neuen Höhlensystem zukommt, da ist es durchaus beruhigend, einen ausgebildeten Sani zur Hand zur haben«, meinte Aaron. Kurz danach zog er eine Landkarte aus seinem Rucksack, schob ein paar Gläser beiseite und breitete die Karte auf dem Tisch aus.

»Nun, da die Vorstellungsrunde vorbei ist, können wir doch direkt loslegen, oder nicht?«

Ellie und Sam zogen Stühle heran und nahmen ebenfalls Platz. Die Karte zeigte die Umgebung eines Ortes namens Pintalba im Westen von New South Wales. Mit einem roten Marker machte Aaron ein kleines Kreuz, etwa fünfzehn Kilometer südwestlich des Stadtzentrums.

»An dieser Stelle befindet sich unsere Höhle, unter einer privaten Schaffarm, die einem Kerl namens Shane Anastas gehört. Das System ist komplett unberührt, unerforscht von …«

»Ich dachte, ein Pärchen wäre letzten Monat reingegangen?«, warf Frida ein.

Ellie, Max und Aaron warfen ihr ernste Blicke zu.

»Wir wissen nicht genau, was mit diesen Leuten passiert ist. Offiziell gelten sie als vermisst«, sagte Aaron. »Anastas hat zwar bestätigt, dass sie ihn für den Zugang zu seinem Land und der Höhle bezahlt haben, aber es gab an der Stelle nicht die geringste Spur von ihrem Equipment. Im Bericht der örtlichen Polizei hieß es, dass es auch keine Hinweise darauf gab, dass sie jemals da waren.«

»Sie sind extra nach Pintalba gefahren, um die Höhle zu erforschen, und haben sich dann plötzlich in Luft aufgelöst? Das kommt mir aber sehr suspekt vor«, meinte Frida.

»Willst du nun mitkommen oder nicht?«, murmelte Aaron, dem gerade eindeutig die Geduld ausging. »Wir haben hier die einmalige Gelegenheit, als Erste dieses neue System zu erkunden. Falls wir da unten Beweise finden, die es widerlegen, habe ich nichts dagegen, aus unserem Trip eine Bergungsaktion zu machen. Doch weiß Gott, so lange hält es da unten niemand lebend aus.« Er seufzte. »Können wir jetzt wieder zurück zum Thema kommen?«

Frida presste ihre Lippen aufeinander, nickte aber und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.