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Carlos Caldera

Schwarzer September - der zweite Moselkrimi

 

Saga

1. Wuttis Ärger I

“Mensch, Fassen, Sie Hornochse! Wissen Sie überhaupt, was Sie da angerichtet haben? Blamiert bis auf die Knochen haben Sie uns! Das ganze Dezernat, das komplette Präsidium: eine einzige Lachnummer! Ist Ihnen das eigentlich klar?” Polizeipräsident (PP) Detlev Wuchtke, von Freunden Wutti genannt, war außer sich. Sein rundliches Pfirsischgesicht verzog sich zu einer blutunterlaufenen, säuerlichen Grimasse, während er den Kriminalhauptkommissar (KHK) Fritz Fassen in seinem Büro nach Strich und Faden zusammenstauchte. Wutti hatte allen Grund dazu, denn der erfahrene KHK Fassen hatte an diesem Vormittag eine große Dummheit begangen, ja, er hatte auf der ganzen Linie versagt. Für Wutti war es unfaßbar, was sich vor wenigen Stunden auf der westlichen Anhöhe der Stadt zugetragen hatte. KHK Fassen hatte zusammen mit Kriminaloberkommissar (KOK) Hans Greifer den angolanischen Flüchtling Rodolfo Lopez Rodriguez vom städtischen Gefängnis zum Köln-Wahner Flughafen bringen sollen, wo die Militärmaschine nach Luanda bereitstand. Die Polizisten hatten dafür die kürzeste Verbindung über die Bitburger Bundesstraße gewählt.

 

“Können Sie mir mal erklären, warum Sie überhaupt auf den Parkplatz gefahren sind und dort angehalten haben?” Wutti hatte sich lange noch nicht beruhigt. Er war stinksauer.

“Er müsse mal, hat er gesagt, sonst würde er in die Hose machen.”

‘Scheiße!’dachte Wutti.

“Hatte der in seiner Zelle nicht genug Zeit zum Pinkeln gehabt? Verdammter Hurensohn!”

Tatsächlich waren die drei Männer im VW-Transporter kaum zehn Minuten auf der Strecke gewesen, hatten gerade mal den halben Aufstieg zur Hohensonne zurückgelegt, als der Angolaner anfing zu quengeln. KHK Fassen, der Chauffeur, hatte sich eigentlich nicht darauf einlassen wollen. Aber KOK Greifer drängte ihn schließlich dazu anzuhalten. “Ich habe keinen Bock drauf, zwei Stunden in der Pisse von dem Stinker zu sitzen”, rief er dem Kollegen von der Rückbank her zu, auf der er neben dem Flüchtling Platz genommen hatte. “Fahr’ bitte auf den Parkplatz, ich paß’ auf ihn auf.”

KHK Fassen blieb in der Kabine, während KOK Greifer den Angolaner nach draußen begleitete.

Dann passierte das Malheur. Alles ging blitzschnell. Statt sich zu erleichtern, stürmte Rodolfo Rodriguez davon. In Windeseile war er im frühherbstlich gefärbten, unterholzreichen Mischwald verschwunden. KOK Greifer schlug Alarm und rannte hinterher, er rief zweimal den Namen des Flüchtigen, zog dann seine Dienstpistole und gab zwei Warnschüsse in die Luft ab. KHK Fassen sprang aus dem VW-Bus und nahm zusammen mit seinem Kollegen die Verfolgung auf. Im lianendurchzogenen Gestrüpp verhedderten sich die Beamten heillos, sie kamen schlecht voran. Bald schienen sie die Spur des Afrikaners verloren zu haben, nicht das leiseste Knacken des Geästs verriet ihn noch.

 

“Wissen Sie eigentlich, wieviele Jahre Öffentlichkeitsarbeit zum Teufel sind, Fassen, allein durch Ihre Schuld? Sie alleine tragen die Verantwortung, das dürfte Ihnen doch klar sein”, fuhr Wutti ungehalten fort.

Der stämmige, durchtrainierte Ein-Meter-Neunzig-Mann Fritz Fassen hätte auf diese Art Belehrung gerne verzichten wollen, aber es machte wenig Sinn, dem Chef dies in seiner jetzigen Erregung zu sagen. Fassen spürte, wie es in dem Vorgesetzten brodelte. Es war ja nicht nur die Blamage der Flucht zu verkraften. Denn obwohl alle verfügbaren Streifenwagen zur Bitburger dirigiert worden waren, hatte der Angolaner nicht mehr lebend gefaßt werden können. Im Gegenteil, die herbeimobilisierten Beamten stöberten nach intensiver Durchkämmung des Geländes schließlich auf einem dicht mit Stauden bewachsenen Waldweg den völlig aufgelösten städtischen Oberförster Klaus Kaminski auf, der zunächst nur verworrene Angaben über eine Leiche machte, die er soeben entdeckt haben wollte. Auf gutes Zureden hin führte der Forstmann den Polizistentrupp dann in den Schatten einer mächtigen alten Edelkastanie. Dort lehnte die Leiche von Rodolfo Rodriguez, halb aufgerichtet, mit dem Rücken gegen die Wurzelanläufe der dicken Kastanie. Ein gespenstiges Szenario, niemand sagte etwas. Die Polizisten wanderten mit ihren Blicken nervös zwischen der Leiche und dem Forstbeamten hin und her. Dem Förster standen die Tränen in den Augen.

“Es war schon zu spät, als ich ihn abgeschnitten habe,” sagte er mit erstickter Stimme.

 

“Um 16 Uhr ist die Pressekonferenz, mein lieber Fassen. Haben Sie eine Idee, was ich den Leuten dann sagen soll?”

PP Wuchtke erwartete sicherlich keinen brauchbaren Rat von seinem Hauptkommissar. Und doch war er auf dessen Angaben angewiesen. Er war der einzige Zeuge, der zur Verfügung stand. KOK Greifer lag schwer verletzt im Krankenhaus, nicht vernehmungsfähig.

“Eines verstehe ich nicht, Kollege Fassen”, fuhr Wutti mit jetzt nachlassender Aggressivität fort. “Wie konnte der Rodriguez unseren Kollegen Greifer so zurichten, wo der doch mit Handschellen gesichert war?”

“Ich kann es Ihnen leider auch nicht sagen, Herr Präsident. Seine Hände waren ja wegen des Transports nicht auf dem Rücken zusammengeschellt, sondern vorne. Erst als Kollege Greifer schrie, habe ich überhaupt bemerkt, was passiert war”.

Für PP Wuchtke war das Verhalten beider Beamten unvorstellbar, eine Fahrlässigkeit unglaublichen Ausmaßes, ein grober Verstoß gegen alle Dienstvorschriften. Und er, Wuchtke, hätte es jetzt auszubaden, er würde in die Schußlinie geraten, die Presse würde unangenehme Fragen stellen. Er sah es schon kommen. Fürs Publikum würde er zur Witzfigur an der Spitze eines Dilettantenvereins, und für die Linken wäre er nun der Buhmann schlechthin. Durch den Tod des Flüchtlings war der Skandal, den allein schon seine Flucht darstellte, nicht mehr zu vertuschen. Es konnte jetzt nur noch um Schadensbegrenzung gehen. So sauer Wuchtke auch auf seine Beamten war, gegenüber der Öffentlichkeit mußte er sie in Schutz nehmen, er mußte sich vor sie stellen - bedingungslos. Es sind schließlich Leute, die immer das beste wollen für die Allgemeinheit, und sie sind bereit, ihren Kopf dafür hinzuhalten. Jawohl, nur so wäre die Verteidigung aufzubauen: gutgläubiger Polizeibeamter von gewalttätigem Flüchtling angegriffen und schwer verletzt. Das war es doch!

PP Wuchtke erhob sich von seinem Schreibtisch, tat die zwei, drei Schritte, die ihn vom Fenster trennten und öffnete es. Frische Luft tat jetzt gut. Die Septembersonne blinzelte durch flaches Gewölk hindurch, die Atmosphäre war ruhig. Ein lauer Tag. Und noch knapp vier Stunden bis zum Spießrutenlauf. Aus KHK Fassen war jetzt nicht mehr viel herauszuholen, der sah recht fertig aus. Wutti schickte ihn nach Hause.

“Halten Sie sich abrufbereit, Fassen, und vor allen Dingen: keine Äußerungen gegen Dritte, weder Familie noch Journalisten, verstanden?”

“Jawohl, Herr Präsident. Aus mir bekommt keiner was raus.”

KHK Fritz Fassen verließ das Büro seines Chefs. Clara Weiß, die Sekretärin im Vorzimmer, war einigermaßen erstaunt über den schweigsamen Abgang des Hauptkommissars.

“Na, Herr Fassen, ‘ne Laus über die Leber gelaufen?”

“Nee, ‘n Kanake.”

PP Wuchtke wies seine Sekretärin via Sprechanlage an, drei Telefonate vorzubereiten und die Gespräche der Reihe nach durchzustellen. Wuchtke wollte mit den politisch Verantwortlichen der Stadt noch letzte Absprachen über eine gemeinsame Haltung gegenüber den Medien treffen. PP Wuchtke wünschte ausdrücklich, daß Oberbürgermeister (OB) Peti Leon und der städtische Dezernent für Ordnung, Dr. Jonas Smaso, an der Veranstaltung am Nachmittag teilnahmen. Sie könnten ihm zumindest den Rücken insofern freihalten, als sie erklärten, die geplante Abschiebung rechtlich sauber vorbereitet zu haben. Der Polizei wäre also aus den Vorfällen kein Strick zu drehen.

OB Leon hatte die Sache inzwischen hausintern zur Chefsache erklärt, sein formal zuständiger Dezernent, ein guter und besonders frommer Parteifreund, sollte aus der Schußlinie gehalten werden.

“Dem habe ich geraten, vorläufig unterzutauchen”, sagte Peti Leon zu Wuchtke, als die Telefonleitung stand. “Der ist ab gestern für vier Wochen in Urlaub. Keine Sorge, wir bekommen das schon hin, Herr Wuchtke.”

Daß der Oberbürgermeister ihn mit keinerlei Vorwürfen nervte, tat Wutti innerlich sehr gut. Etwas erleichtert ließ er sich anschließend das Gespräch mit Oberförster Kaminski rübersstellen.

“Schönen guten Tag, Herr Oberförster. Na, das muß ja heute früh ein schlimmer Moment für Sie gewesen sein. Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen für das Verhalten meiner Beamten.”

“Schon gut, Herr Präsident. Ihre Beamten konnten ja nichts dafür. So etwas ist ja für alle Beteiligten schlimm.”

Obwohl der Förster ausführlich vernommen worden war und das Protokoll bereits eine gute Stunde auf seinem Tisch lag, hakte Wuchtke nach.

“Herr Kaminski, ich habe Ihre Aussagen hier vorliegen. Demnach haben Sie gesagt, daß Sie einen Schuß gehört haben. Stimmt das?”

“Richtig. Zumindest nehme ich an, daß es ein Schuß war, denn ich bin davon aufgewacht. Sie verstehen, ich war auf Ansitz in ein kleines Nickerchen gefallen.”

Merkwürdig nur, daß im Bericht seiner Beamten gar kein Schuß vermerkt war, dachte Wuchtke.

“Vielleicht darf ich Sie fragen, welche Erklärung Sie dafür haben, daß der Herr Rodriguez so schnell an eine Schlinge kommen konnte, zumal er gefesselt war. Das würde mich sehr interessieren.”

Die Frage schien den Förster leicht zu irritieren, er zögerte mit einer Antwort. Als ihm die Brisanz seiner Frage bewußt wurde, beeilte sich Wutti zu ergänzen, “Verzeihen Sie, Herr Kaminsski, verstehen Sie die Frage bitte nicht falsch. Sie stehen natürlich unter keinerlei Verdacht. Da seien Sie ganz unbesorgt. Mich interessiert nur, ob Sie es für möglich halten, daß ein durch Handschellen gehandikapter Mensch sich in wenigen Minuten eine funktionsfähige Schlinge aus Naturmaterialien anfertigen und fängig machen kann.”

“Nun ja, freilich braucht es eine gewisse Geschicklichkeit”, entgegnete der Förster, nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte. “Aber grundsätzlich gibt es am Gläsgesberg eine Unmenge Waldreben aller Größen, die sich dafür eignen.” PP Wuchtke schien zufrieden mit der Antwort. Ohne den Ergebnissen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und der Obduktion der Leiche vorgreifen zu wollen, erschien ihm die Selbstmordversion als die einzig logische, und es war zudem die für alle Betroffenen vorteilhafteste. Ob er sie bereits heute der Presse niet- und nagelfest würde präsentieren können?

“Sie sagten aus, Herr Kaminski, daß sich Rodriguez an der neunten Leitersprosse erhängt habe. Es war die Leiter, die zu ihrer Sitzkanzel hochführt..."

“Genau.”

“Wissen Sie zufällig, wieviel Sprossen die Leiter insgesamt hat?”

“Na, ...wenn ich schätze, ich würde sagen, etwa 20.”

Auf halber Höhe also, folgerte Wuchtke. Da müßte der Kaminski doch eigentlich was gemerkt haben... Aber er wollte ihn jetzt nicht noch einmal in Verlegenheit bringen, weitergehende Verhöre wären Sache der Staatsanwaltschaft.

“Ach, Herr Kaminski, bevor ich’s vergesse. Ich wollte Sie noch fragen, ob Ihnen heute Vormittag eine dritte Person in Tatortnähe begegnet ist, jemand außer Ihnen und meinen Beamten, meine ich?”

Der Förster räusperte sich,er schien an etwas zu würgen, vielleicht war es auch nur Asthma.

“Nicht, daß ich wüßte”, sagte er etwas gequält. Eigentlich hätte Wutti das etwas präziser gehabt, überzeugender. Dennoch, er fügte das Nein des Försters handschriftlich in die Kopie des ersten Vernehmungsprotokolls ein, das ihm vorlag. Komisch, dachte er, daß seine Beamten diese Frage gar nicht gestellt hatten.

“Recht herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit, Herr Kaminski. Und wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, möchte ich Sie bitten, mich umgehend anzurufen.”

“Gut, mache ich, Herr Präsident. Auf Wiedersehen.” “Wiederhören, Herr Kaminski. Und nichts für ungut.”

PP Wuchtke überlegte kurz, ob er sich nicht das Mittagessen ins Büro kommen lassen sollte, um die knappe Zeit bis zur Pressekonferenz optimal zu nutzen. Doch dann entschied er, wie gewohnt nach Hause zu fahren, in die Gartenstadt draußen, jenen grünen Stadtteil oberhalb des Citykessels, wo die Atemluft noch eine Wohltat war. Eine Stunde abschalten in privater Atmosphäre bei Frau Lena und Dackel Moritz war noch immer die beste Medizin in heiklen Situationen. Und die kamen zum Glück nicht sehr häufig vor in der kleinen Großstadt an der Mosel. Ein, zwei Morde im Jahr; drei, vier gewöhnliche Banküberfälle, das zählte schon zu den Highlights. Die Raubüberfälle endeten meist ohne Personenschäden, allein die Aufklärungsrate war noch leicht beunruhigend. Nein, insgesamt hatte Wuchtke keinen schweren Stand.

Doch das war nicht immer so gewesen. Als Wutti vor fünf Jahren das Amt von seinem glücklosen Vorgänger übernahm, lagen die Image werte für die Polizei am Boden, Korruption war an der Tagesordnung. Es liefen mehrere einschlägige Prozesse gegen Beamte, die Verstrickungen ins Rotlichtmilieu waren wochenlang in beschämender Breite durch die Medien gegangen. Die Aufklärungsquote bei Allerweltsdelikten war miserabel im Landesvergleich. Obwohl Wuchtke sehr gut um den Misthaufen Bescheid wußte, der ihm anvertraut werden würde, zögerte er nicht eine Sekunde, als ihm das Angebot des Ministerpräsidenten für das Amt angetragen wurde. Detlev Wuchtke war schon immer ein ehrgeiziger Beamte gewesen, der sich zeitlebens hohe Ziele setzte, immer wollte er hoch hinaus, und mit 33 Jahren Polizeipräsident - das konnte sich fürwahr sehen lassen. Spätestens mit 40 wollte er Minister sein, zumindest Staatssekretär, denn das Parteibuch stimmte inzwischen auch. Und beim Ministerpräsidenten hätte er einen Stein im Brett, davon war er überzeugt. Nur noch zwei Jahre trennten ihn von diesem Ziel, und die Aussichten, es tatsächlich zu erreichen, standen nicht schlecht. In fünf Jahren hatte er es auf wundersame Weise geschafft, sein Präsidium aus den Negativschlagzeilen herauszuholen. Die Prozeßserie kam zum Erliegen, einige Beamte wurden strafversetzt, andere geschaßt. Wutti führte einen neuen Führungsstil ein, er wertete die Pressearbeit auf, stellte mit Frau Dr. Nora Schmitt eine hochqualifizierte Fachkraft ein, die Erfahrungen als Redakteurin bei verschiedenen Tageszeitungen und Magazinen mitbrachte. Er selbst, Wutti, hielt direkten Kontakt mit den Journalisten seiner Stadt, er wurde zum regelmäßigen Gast in deren Stammkneipen. Er blieb nie lange, aber lange genug, um sich in gute Erinnerung zu bringen. Wutti nutzte fortan jede sich bietende Gelegenheit, verdiente Mitarbeiter pressewirksam zu ehren. Und nachdem er Ruhe ins Präsidium und in die Fachdezernate gebracht hatte, stieg plötzlich die Aufklärungsquote seines Hauses beachtlich an, und nun lag sie schon fast über dem Landesschnitt. Außerdem war das Rotlichtmilieu unter Kontrolle, ein Verdienst seiner Vertrauensbeamten, die dort fruchtbare U-Boot-Tätigkeit verrichteten. Und schließlich war sogar die Drogenszene halbwegs im Griff, auch wenn hier die Zahlen recht spekulativ blieben.

Aber alles in allem lag Wutti im Soll, und am kommenden Freitagabend wollte er ein weiteres Mosaiksteinchen legen, um seinen Karriereträumen Bodenhaftung zu verleihen. Die Moselparkhalle, die größte der Stadt, schien gerade ausreichend zu sein, um all die Gäste und Ehrengäste für die größte Polizeigala des Jahrzehnts im Lande aufzunehmen. Das gigantische Fest wurde schon seit Wochen fieberhaft geplant. Ein Doppeljubiläum stand an: 5 Jahre Wutti - 50 Jahre Polizeipräsidium. Selbstverständlich würde der Ministerpräsident samt Innen- und Justizminister (übrigens einer der Posten, auf die Wutti ein Auge geworfen hatte) anwesend sein, dazu der Regierungspräsident, der Oberbürgermeister samt seinen Dezernenten, eine endlose Reihe von Honoratioren aus der gesamten Provinz, ja, sogar der Bischof hatte versprochen, der Einladung “sehr gerne” zu folgen. Regionale und überregionale Spitzenkünstler hatten ihre Auftritte angekündigt, zum Teil wollten sie sogar ohne Gage auftreten. Alles lief bestens...

Und jetzt der Fall Rodriguez! Er paßte wie die Faust aufs Auge in diese festliche Zeit. Detlev Wuchtke hätte seinen KHK Fassen ohrfeigen können, soviel Dummheit war eigentlich unverzeihlich.

Doch jetzt erst einmal abschalten, ein gutes kleines Stündchen vergessen, entspannen, nach Hause fahren, mit der Frau gemütlich speisen, danach fünf Minuten für die Zeitung, zehn Minuten aufs Ohr, dann mit Moritz eine Runde Gassi. Um 14 Uhr würde er sich mit Frau Dr. Schmitt treffen, um letzte Feinheiten vor der Pressekonferenz auszutarieren.

2. Coitus interruptus

Für Oberförster Klaus Kaminski, ein Mann in den besten Jahren, leichter Bauchansatz, eine ansehliche Frau, zwei gesunde, fast erwachsene Töchter, war die Welt an diesem Dienstagmorgen im September eine runde Sache, das Leben war ihm eine Wonne. Er verließ das Forsthaus am Stadtrand wie gewöhnlich kurz nach acht. Mit dem extra für den Dienstgebrauch höhergelegten Golf fuhr er Richtung Westen. Daß ihm heute das Herz etwas stärker pochte als üblich, lag an einem besonderen Termin, denn an Stelle von Holzfällern und -händlern erwartete ihn heute eine hübsche junge Frau. Es war Uschi, Uschi Geiger, seine Liebste, sie kam direkt nach seiner Frau. Uschi Geiger, eine 23jährige Blondine. Sie hatte etwas. Förster Kaminski kannte sie seit dem Frühjahr. Sie trafen sich regelmäßig, im Schnitt etwa einmal in der Woche. Uschi gab sich als Studentin aus, Klaus Kaminski hatte keinerlei Veranlassung, daran zu zweifeln.

Der geländegängige Volkswagen näherte sich jetzt der Parkanlage, Kaminski schaltete in den zweiten Gang zurück. Das letzte Wegstück war nicht mehr befestigt, der Wagen holperte über Kieselsteine, in Kaminski regte sich etwas. Er fieberte. Da sah er sie. Sie stand vor der Bank, es war mild. Sie trug einen dottergelben Mini, darunter sah er ihre sonnenverwöhnten, ranken, langen Beine. Der schneeweiße Top verhüllte die zwei Kugeln in Brusthöhe nur notdürftig, er gab ihnen eher noch eine zusätzliche Betonung. Ihr langes Haar flatterte offen im Wind. Eine Sonnenbrille verdeckte ihre kleinen, himmelblauen Augen, ein winziges, braunes Ledertäschchen baumelte an ihrem Körper. Sie lächelte.

Förster Kaminski war verliebt in Uschi Geigers Körper, er genoß ihn, es war wie eine Sucht. Und sie war lieb zu ihm, er gab sich großzügig, sie verlangte nichts, er steckte ihr immer einen Umschlag. Ihre Treffen dauerten selten mehr als eine Stunde, fern der Öffentlichkeit. Sie machten es fast immer auf der Kanzel da droben, jenem gut ausgebauten Jagdsitz im üppig wuchernden Mischwald am Gläsgesberg.

Kaminski stellte den Golf in der Regel am Rande des unwegsamen Waldstücks ab. Um der Beobachtung durch versprengte Wanderer zu entgehen, ging er über den versteckten Pirschpfad alleine voraus, Uschi folgte im Abstand von wenigen Minuten, ein eingespieltes Ritual. Meist hatte er die Gasheizung schon in Gang gebracht, wenn sie die Kanzelhöhe erreichte. Es war die ideale Nische für das Geschäft, getarnt als Jagdsitz in jenem kleinen Waldbezirk, den Förster Kaminski als Eigenjagd von der Stadt gepachtet hatte. Hier war er nicht nur der von Amts wegen zuständige Förster, hier war er darüberhinaus Jagdchef, Burgherr und Platzhirsch in persona. Derbestens isolierte, geräumige Innenraum der Kanzel reichte aus, um alle Glieder gut auszustrecken und zur Geltung kommen zu lassen. Es war ein Komfort wie bei Muttern, nur noch etwas kuscheliger. Die seitlich hochklappbare, angorakatzenfellbespannte Latexmatratze bedeckte den Raum in der Horizontalen fast zur Hälfte, die Katalytplatte sorgte für wohlige Wärme, die durch dicke Lagen von Schafwolle in Boden, Wänden und der Decke im Raum gehalten wurde. Über dem aufkippbaren, schmalen Sichtfenster zur Wildfütterung hin hing ein kleines Toilettenschränkchen mit den notwendigsten Verkehrsutensilien. Für alle Fälle hielt Kaminski darin auch eine Notration Zigaretten verschiedener Marken, Zündhölzer, Piccoloflaschen, Schokoladenriegel, Himbeergeist und After Eight-Doubletten vor. Denn Förster Kaminski liebte die Gemütlichkeit, er war ein Gemütsmensch - und auch ein Genießer.

Auch heute morgen, als er den Golf unter dem breit aufgefä cherten Holunderbusch abstellte, war Kaminski ganz auf Liebe eingestellt. Zärtlich strich er Uschi mit der rechten über die bloßen, weichen Schenkel und küßte sie flüchtig auf die Wange, bevor er die Fahrertür öffnete.

“Bis gleich, mein Uschilein, und denk bitte dran aufzupassen, daß dir niemand folgt.”

 

Das war immer der kritischste Moment der ganzen Aktion, nämlich unerkannt auf die Kanzel zu kommen. Der Förster hatte stets ein wenig Bammel im Augenblick der Annäherung an die Leiter, die zu seinem Liebesnest hochführte. Zwar hatte er den Pirschpfad gut getarnt seitlich der Wendestelle des Waldwegs angelegt, so daß er ungeübten Augen nie auffallen würde. Dennoch sorgten die zweihundert Meter Fußweg stets für Herzklappern, eine Unruhe, die sich erst wieder allmählich legte, wenn Kaminski nach Uschis Ankunft die Tür von innen verriegelt hatte.

“Heute siehst du wieder super aus, Uschi. Darf ich dir das sagen?”

“Oh, danke, Kläuschen. Alles hart erkämpft.”

Obwohl es für die Jahreszeit noch sehr mild war, hatte Kaminski die Gasfeuerung auf die höchste Stufe gestellt. Er liebte die Hitze in solchen Momenten. Uschi warf sich auf die bereits installierte Matratze, sie versank im Katzenfell. Dann zog sie die Beine an und nästelte an ihren Schuhen. Trotz des schwachen Lichts, das durch das schmale Fenster nach innen drang, stellte Kaminski befriedigt fest, daß Uschi mal wieder keinen Schlüpfer anhatte. Ihr dotterfarbener Minirock war fast bis an die Hüfte hochgerutscht.

“Au weia, sieht das geil aus!” entfuhr es ihm begeistert. Sie lächelte neckig, warf die Schuhe unter das Matratzengestell und streckte sich auf dem Rücken liegend flach aus. Der gelbe Stoff verdeckte jetzt wieder einen Teil des Schamhaares.

“Bist du auch schön geil drauf, Alterchen?” lockte sie den Förster.

“Aber klar doch, Uschilein. Ich brenne daruf, das weiß du doch, mein kleines Flämmchen.”

“Ich bin kein kleines Flämmchen, Schätzchen, ich bin ein Riesenfeuer. Du wirst dich noch an mir verbrennen, mein Dickerchen.”

“Ach du, mein Lustmäulchen. Ich könnte dich vernaschen.”

“Probier’ s doch, Väterchen.”

Kaminski war mit zitternden Händen an seinen Diensthemdknöpfen beschäftigt. Uschi griff ihm unvermittelt an den Hosenschlitz, Kaminski jauchzte.