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Hilja Müller

Philippinen

Ein Länderporträt

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2019

entspricht der 1. Druckauflage von September 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Reihengestaltung: Stephanie Raubach, Berlin

Umschlagfoto: Zwei sogenannte Jeepneys auf den Straßen

von Manila, 2012; © iStock

Lektorat: Philipp Kaufmann, Ch. Links Verlag

Karte: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-96289-066-7

eISBN 978-3-86284-465-4

Inhalt

Vorwort

Von der Schwierigkeit, ein Volk zu sein

Pinoys, Chinoys und noch viele mehr

Ethnische Minderheiten, nationaler Rassismus

It runs in the family

Die vom Müll leben

Chinoys – eine Klasse für sich

Personenkult auf Philippinisch

Familie und Geschlechterrollen – ein Spagat zwischen Tradition und Moderne

Familie ist alles

Frauen meistern viele Rollen

Filipinas mit Mut und Visionen

Männer und Machismo

Lola und Lolo – vom Ehrenplatz im Alter

Freunde fürs Leben

(Aber-)Glaube und Religion

Statthalter des Vatikan in Asien

Die Missionierung des Archipels

Teufelswerk im 21. Jahrhundert

Gottesdiener als Aufrührer und Vorkämpfer

Religionsfreiheit und Islam

Und dann sind da noch …

Wunderheiler und Geisterglaube

Fremdherrschaft und Demokratieversuche

Spanien bringt Siedler, Missionare und das Encomienda-System

Der Freiheitskampf der Filipinos

Geheimverhandlungen, Scheingefechte und viel Geld – Amerika verdrängt Spanien

Japanische Schreckensherrschaft und die Folgen

Die Unabhängigkeit

Diktatur und Revolution

Ein Neuanfang mit Schwächen

Der alte starke Mann

Nur ein Abschied auf Zeit

Licht und Schatten

Helden der Arbeit

Im Schatten des Wirtschaftswachstums

Korruption, Nepotismus und Bürokratie

Die Medien im Visier der Mächtigen

Und jetzt das – der IS im Süden

Zuckerbrot und Peitsche

Klima und Umwelt(sünden)

Leben am Taifungürtel

Unberechenbarer Feuerring

Bedrohung durch den Klimawandel

Umweltsünden im Paradies

Tourismus – Segen und Fluch zugleich

Bergbau – großer Reibach, kleiner Lohn

Da geht noch was: Erneuerbare Energien statt Kohlekraftwerke

Grüne Philippinen

Mabuhay – als Fremde(r) im Archipel

Reise ins Ungewisse

Backpacker, Taucher, Honeymooner

Bloß nicht hingucken

Und wie viele Jahre bleibt ihr?

Als Auswanderer auf die Philippinen

Hochgezogene Augenbrauen zur Begrüßung

Die unendliche Langsamkeit der Tropen

Die Kunst des Frohsinns

Spieglein, Spieglein an der Wand

Keine Angst

Ungeschriebene Gesetze

Nachwort

Anhang

Dank

Literatur, Zeitschriften, Filme

Basisdaten Philippinen

Karte

Die Autorin

Vorwort

Die Philippinen sind schwer zu fassen – bereits der Name deutet an, dass es sich nicht um ein homogenes Land handelt. Die Philippinen, das sind mehr als 7000 Inseln mit einer schnell wachsenden, ganz überwiegend jungen Bevölkerung. Langgestreckt liegt der Archipel zwischen dem südchinesischen Meer und dem Pazifik. Die knapp 106 Millionen Bewohner sind je nach Herkunftsinsel so unterschiedlich wie Nord- und Südeuropäer, Ethnologen haben 180 Sprachen und Dialekte gezählt. Mehr als 400 Jahre war das Land fremdbestimmt – Spanier, Amerikaner und Japaner hinterließen tiefe Spuren im Gefüge einer ohnehin nicht einheitlichen Nation. Im Süden, auf Mindanao, hat sich der Islam gehalten. Im Rest des Archipels dominiert die katholische Kirche. Wunderheiler müssen nie auf Kunden warten, für nahezu alles haben die Filipinos eine abergläubische Deutung parat.

Als ich meinen Herausgeber Ende 2001 über unser Vorhaben informierte, nach Manila umsiedeln zu wollen, reagierte er begeistert: »Sie werden dort leben wie eine Königin!«, freute sich der distinguierte Zeitungsmann. Wie sich herausstellte, hatte er als Kind selbst in der philippinischen Hauptstadt gelebt, und schwelgte in Erinnerungen an tropische Gärten und Haushaltshilfen. Mein Chefredakteur sah die Sache ganz anders: »Sie sind wohl verrückt geworden! Das ist doch viel zu gefährlich! Was wollen Sie denn da?« Sein Wissen über vermeintliche Gefahren, die in dem südostasiatischen Archipel lauerten, stammte nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus den Agenturmeldungen, die über seinen Tisch gingen.

Die Reaktionen meiner Vorgesetzten spiegelten wider, welches Image die Philippinen auch heute noch in Deutschland haben. Tropenparadies für die einen, Land voller Widrigkeiten für die anderen. Und mittendrin dann wir, im Frühjahr 2002. Ein Paar Mitte 30, mit einer 20 Monate alten Tochter. Der Beruf meines Mannes hatte ihm ein Angebot beschert, das wir nach vielen Diskussionen annahmen. Wir kündigten unsere Jobs, sahen mit gemischten Gefühlen zu, wie sich unser Mobiliar auf die zweimonatige Reise nach Manila machte, und katapultierten uns heraus aus der vertrauten, soliden deutschen Welt. Es war kein lang gehegter Traum, der nach zähem Ringen in Erfüllung ging. Eher das Gebot, eine Chance zu ergreifen, die einem unversehens in den Schoß gefallen war. Und als eine Chance sahen wir es, trotz aller wohlgemeinten Warnungen. Für einige Jahre in Asien zu leben, jenem ebenso dynamischen wie vielfältigen Kontinent. In einem Inselreich, dessen offizielle Sprache Englisch ist, und dessen Bewohner bekannt sind für ihre Gastfreundschaft. Ein ideales Land für Asien-Einsteiger also.

Die ersten Monate waren dennoch voller Stolpersteine. Unvergessen der erste Tag unserer Haussuche. Der Makler zeigte uns einen großen Neubau, der kurz vor der Fertigstellung war. Wir wandelten durch viele Räume, lugten in Badezimmer und Küchen. Vom großen Balkon im zweiten Stock sah man auf einen prächtigen Garten und einen noch leeren Pool. »Und wie viele Familien sollen hier mal wohnen?«, fragte ich schließlich unbedarft. Ich wollte gern ganz oben wohnen, wegen des Balkons. »Ma’am?«, kam es vom Makler verwirrt zurück, »ich verstehe Ihre Frage nicht. Sie wären natürlich die einzigen Bewohner.« Mehrfamilienhäuser für gutbezahlte Ausländer, so etwas gab es schlicht nicht. Mein Herausgeber und seine Königin-Prophezeiung fielen mir ein. Am Ende unserer Suche war ein Apartment der moderatere Kompromiss.

Wir waren angekommen in unserem neuen Leben in Manila, diesem Millionen-Moloch, in dem Tag und Nacht das Leben brodelt. Statt trillernder Nachtigallen am Mainufer hörten wir jetzt Hähne in der Nachbarschaft krähen. Jahreszeiten wurden ersetzt durch gleichmäßig hohe Temperaturen, mal mehr, mal weniger schwül. Tages- und Nachtstunden hielten sich das ganze Jahr über nahezu dauerhaft die Waage. Die Hitze, die mit Menschen und Vehikeln aller Art vollgepackte Stadt, eine permanente Kakophonie bekannter und unbekannter Geräusche, Luftverschmutzung und die offenkundige Armut vieler Bewohner – Manila ist eine aufreibende Stadt, das lernten wir sehr schnell. Oft fiel mir die fassungslose Frage meines Chefredakteurs ein: »Was wollen Sie denn da?« Für mich war sie ein Antrieb, mich nicht abschrecken zu lassen von den Unbequemlichkeiten und der Fremdheit, die man als Mitteleuropäer in Südostasien empfinden kann. Zumindest, wenn man für mehr als drei Wochen Urlaub kommt.

Die Philippinen stehen vor großen Herausforderungen. Die sozialen Ungleichheiten sind groß und wachsen. Mächtige Familienclans haben seit der spanischen Kolonialzeit ungeheuren Reichtum angehäuft, während knapp ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Ein gnadenloser Präsident hat 2016 einen mörderischen Drogenkrieg entfesselt, der täglich mehr Opfer fordert. Das bescherte den Philippinen viele Schlagzeilen und verstärkte das negative Image, dass es »bei denen« gefährlich zugeht. Der Klimawandel trifft den Archipel schon heute stark und könnte ihn existenziell bedrohen. In den machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten China, den Vereinigten Staaten und Japan sowie anderen Nationen in der Region des südchinesischen Meeres kommt den Philippinen eine wichtige Rolle zu.

All diese Probleme gibt es natürlich, und nicht zu knapp. Aber es gibt auch die anderen, die schönen Seiten, die in jedem Reiseführer zu Recht gepriesen werden. Die ehrliche Neugier und warme Herzlichkeit vieler Menschen, ihre Lust zu feiern und zusammen Spaß zu haben. Den natürlichen Reichtum des Landes, unter und über Wasser. Die üppigen Gaben tropischer Fruchtbäume und verschwenderisch blühende Pflanzen. Als Ausländer, der die Philippinen begreifen will, muss man mitunter über seinen Schatten springen. Seit inzwischen zehn Jahren übe ich mich darin. So manches, was ich gesehen habe, hat mir missfallen. Doch häufiger gab es wundervolle Momente, die sich als einmalig einprägten.

Letztlich hatten beide recht, mein Herausgeber ebenso wie mein Chefredakteur. Und zwischen den beiden Extremen finden sich die Philippinen in all ihrer verwirrenden, wunderbaren, auch anstrengenden Vielschichtigkeit. Mein Versuch wird es sein, in diesem Buch einige Facetten begreifbarer zu machen. Dabei würde ich mir nicht anmaßen, Land und Leute umfassend zu verstehen. Ich glaube, dass ich sehr viel beobachtet und gelernt habe. Dass mich meine Arbeit an Orte gebracht hat, die andere Ausländer wohl nicht aufsuchen würden. Die vielen Gespräche mit Filipinos aus allen Schichten haben mich im Kern begreifen lassen, was die Philippinen und ihre Bewohner ausmacht. Eine Annäherung an die Philippinen ist möglich und sie entfacht die Neugier auf diese Inselwelt und seine Bewohner immer wieder aufs Neue. Vielleicht wird das auch bei Ihnen so sein. Es wäre schön, denn die Philippinen sind es wert, entdeckt zu werden.

Von der Schwierigkeit, ein Volk zu sein

Pinoys, Chinoys und noch viele mehr

Die Philippinen sind ein ganz besonderes Land. Es lässt sich nicht vergleichen mit den Regionen in Europa, Zentralasien oder den USA. Was nicht nur daran liegt, dass die Philippinen im Gegensatz zu jenen Staaten ein tropisches Entwicklungsland mit kolonialer Vergangenheit sind. Vielmehr ist der zweitgrößte Archipel unseres Planeten, der sich auf einer Länge von 1850 Kilometer zwischen dem Pazifik im Osten und dem Südchinesischen Meer und der Sulu-See im Westen erstreckt, von einer faszinierenden Vielfalt. Im Laufe der Jahre war ich in den wundersamen Kordilleren Nord-Luzons unterwegs, habe Vulkane bestiegen, bin durch die fruchtbaren Ebenen Luzons gereist oder in Regenwäldern von Moskitos zerstochen worden. Von den europäisch anmutenden Dünenlandschaften bei Laoag war ich überrascht, die pulverfeinen Strände Palawans oder Boracays haben die von Reiseführern hochgesteckten Erwartungen durchaus erfüllt. Die atemberaubende Unterwasserwelt hat mich in den Visayas ebenso in den Bann gezogen wie vor Mindoro oder Mindanao.

Doch sind es nicht nur die mannigfachen Landschaften, die außerordentlichen Vegetationszonen und die exotische Flora und Fauna, die die Philippinen so außergewöhnlich machen. Es sind in erster Linie die Menschen, die sich auf etwa 2000 der 7641 Inseln angesiedelt haben. Denn der Archipel wird keinesfalls von einer homogenen Nation bewohnt, sondern von äußerst unterschiedlichen Volksgruppen. Es sind die Nachfahren alt- und jungmalaiischer Einwanderer, in deren Ahnentafeln indische, arabische oder chinesische Händler, spanische Kolonialherren sowie amerikanische und japanische Besetzer auftauchen können. Um die 100 ethnische Gruppen, so schätzen Fachleute, sollen heute in dem südostasiatischen Inselstaat leben. Es mag daher nicht verwundern, dass die Bewohner der majestätischen Reisterrassen und abgelegenen Täler in Nord-Luzon in etwa so viel mit ihren Landsleuten auf den weit im Süden des Archipels gelegenen Sulu-Inseln gemein haben wie Skandinavier mit Südeuropäern. Sprache, Religion, Kultur, Tradition – die Unterschiede manifestieren sich auf vielerlei Art.

Dennoch gibt es einen Sammelbegriff für die etwa 106 Millionen Bewohner der philippinischen Inselgruppen. Oder um genau zu sein, gibt es mehrere, wie ich nach anfänglicher Verwirrung verstand: Im offiziellen, englischen Sprachgebrauch heißen sie Filipinos. Sie selbst bezeichnen sich aber als Pilipinos oder abgekürzt als Pinoys – in der zweiten Landessprache Tagalog kommt der Buchstabe F nicht vor und wird durch ein P ersetzt. Geht es um Frauen, so heißen sie Pilipinas oder Pinays. Kommt das Gespräch auf die Nachfahren der chinesischen Einwanderer, ist von Chinoys beziehungsweise Chinays die Rede, chinesische Pinoys oder Pinays eben.

Diese unterschiedlichen Bezeichnungen für ein- und dasselbe Volk sind indes nur die Spitze des Eisbergs. Das Abstammungsund Zugehörigkeitsdurcheinander spiegelt sich in der Vielfalt der in der Inselwelt benutzten Sprachen wider: Das statistische Amt der Philippinen listet 180 auf, darunter sind allerlei Dialekte, die nur noch von wenigen Tausend Menschen gesprochen werden. Die größte Sprachgruppe mit einem Anteil von knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung sind demnach die Tagalog, die vor allem auf Zentral- und Südluzon, auf Mindoro und Marinduque leben. Etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung spricht Cebuano oder Bisayan, sie sind auf den Visayas-Inseln Cebu, Bohol, Leyte und der westlichen Inselgruppe Palawan ansässig. Die Fünf-ProzentMarke überspringen die Ilokano auf Zentral- und Nordluzon, die Ilonggo auf Panay, Guimaras, Teilen von Negros und Palawan und die Bikol, die den Süden Luzons, Masbate, Romblon und Cataduanes bevölkern.

All das wusste ich aus Büchern, die ich vor unserer Ankunft in Manila gelesen hatte. Es war ein wenig einschüchternd, denn außer Deutsch, verschüttetem Schul-Französisch und Grundstudium-Spanisch hatte ich nur leicht poliertes Englisch in meinem Sprachköcher. Doch die Reiseführer hatten auch in einem anderen Punkt Recht, wie ich schnell erleichtert feststellte: Das Sprach-Potpourri des Archipels offenbart sich in der Hauptstadt nicht, was es zwar weniger spannend, das Einleben aber deutlich leichter macht.

Die Metropole wird von der landesweit größten Volksgruppe der Tagalog dominiert, deren Idiom seit 1937 auch offiziell Nationalsprache ist. Und – welch Glück für einen westlichen Neuankömmling! – Englisch ist seit der amerikanischen Kolonialzeit die Lingua Franca. »Mach dir gar nicht erst die Mühe, Tagalog zu lernen«, riet mir kurz nach meiner Ankunft eine wohlmeinende Ausländerin mit mehrjähriger Philippinenerfahrung, »sobald du auf eine der Inseln fährst, sprechen die Leute dort lieber ihren eigenen Dialekt. Mit Englisch kommst du irgendwie immer durch.«

Ethnische Minderheiten, nationaler Rassismus

Eine Erfahrung, die bereits darauf hindeutet, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist im sonnigen Inselparadies. Denn anstatt ihre kulturelle Vielfalt zu schätzen und zu schützen, äußern sich viele Filipinos desinteressiert oder abfällig über die ethnischen Minderheiten im Lande. Die per Gesetz verordnete Spracheinheit reicht nicht aus, um aus diesem Vielvölkerstaat eine homogene Gemeinschaft zu machen. Im Gegenteil, bereits seit den spanischen Eroberern, die die Philippinen mehr als 300 Jahre lang dominierten, werden die Ureinwohner des Archipels verachtet und diskriminiert, in der Regel zumindest ignoriert.

Mehrere Dutzend Stämme leben verteilt auf den Inseln, sie halten an den Traditionen, Gebräuchen und Dialekten ihrer Vorfahren fest, ihr Glaube basiert oft auf animistischen Ritualen oder einer tief verwurzelten Ahnenverehrung. Mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung sollen ethnischen Minderheiten angehören, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die kriegerischen Igorot leben in den Kordilleren Luzons, die sanften Mangyan verstecken sich in den dichten Bergwäldern Mindoros, stolze T’boli finden sich auf Mindanao, während die Badjao als kundige Seenomaden unter sich bleiben. Die kleinwüchsigen, scheuen Negritos, Nachfahren der ersten Einwanderer, leben im ganzen Archipel verteilt. Trotz aller Unterschiede eint die ethnischen Minderheiten, deren Zahl immerhin bei 14 Millionen liegen soll, von ihren »modernen« Landsleuten ausgegrenzt zu werden. Bis auf wenige, individuelle Ausnahmen fristen sie ein Dasein am äußersten Rand der philippinischen Gesellschaft.

Während meiner regelmäßigen Besuche auf der Insel Mindoro beobachte ich es immer wieder: In der Abenddämmerung, wenn die Boote der zahlreichen Tauchressorts wieder vertäut sind und die lokalen Fischer ihr Tagewerk lange beendet haben, tauchen scheue Gestalten scheinbar aus dem Nichts auf. Im Schlick einer Mangrovenbucht suchen sie nach Muscheln oder fangen kleine Fische im seichten Wasser. Was sie an Essbarem finden, kommt in mitgebrachte Plastiktüten. Sie gehen jedem Kontakt aus dem Weg. Am liebsten, so scheint es, wären sie unsichtbar. Mein vom Steg gerufenes »Hello, how are you?« wird nur mit einem kurzen, vorsichtigen Seitenblick beantwortet.

»Das ist kein Wunder«, meint Ewald Dinter, »diese Menschen haben allen Grund, misstrauisch zu sein.« Seit mehr als 30 Jahren lebt der Pater der Steyler Missionare bei den Ureinwohnern Mindoros, den Mangyanen. Genauer gesagt, bei den Hanunóo, einem der acht Stämme dieser Volksgruppe. Mangyan, das bedeutet Mensch. Doch von ihren Landsleuten werden die Mangyanen behandelt wie Untermenschen, Ewald Dinter kennt deren Nöte sehr genau. Früher hätten die Ureinwohner an den Küsten Mindoros gelebt, erzählt er, doch sich dort ansiedelnde Filipinos hätten die Mangyan mittels Gewalt oder Betrug von ihrem Land vertrieben. »Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich in die unwegsamen Bergwälder zurückzuziehen, wo das Überleben schwer ist«, wie der Deutsche aus eigener Erfahrung weiß.

Er hat eingewilligt, mich mitzunehmen zu einer kleinen Ansiedlung im Hinterland. Der Weg führt steil bergauf, weg von der schmalen Küstenstraße. Zunächst ist er noch mit Zementplatten belegt, danach gibt es nur noch einen ausgetretenen Pfad. Es ist schwül und heiß, Moskitos sirren um uns herum. Nach einer Dreiviertelstunde tauchen die ersten kleinen Hütten auf, sie sind aus Holz, Bambus und Palmwedeln gebaut. Hühner picken im Staub, dünne Hunde stromern herum, eine Kinderschar lugt scheu aus einer Hütte. Ich fühle mich fehl am Platz: zu groß, zu gut angezogen, zu fremd. Ewald Dinter beruhigt die Mangyanen, die vorsichtige bis abweisende Blicke in meine Richtung werfen. Ich sei nur zu Besuch und hätte keine bösen Pläne, sagt er in der Stammessprache. Einige Frauen sitzen vor den Hütten und flechten Korbwaren, es ist ihre einzige regelmäßige Einkommensquelle. Aber beim Verkauf der delikat gemusterten Schalen, Untersetzer und Behälter werden sie häufig betrogen. Geschäftstüchtige Filipinos erstehen das langlebige Kunsthandwerk zu einem Spottpreis und machen beim Wiederverkauf in den Urlauberorten Mindoros oder der Hauptstadt Manila einen Riesengewinn.

»Die Filipinos haben keinen Respekt vor den Mangyanen, sie halten sie für dumme Tölpel aus dem Urwald«, ärgert sich Dinter. Der über 80-jährige Priester hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Ureinwohnern Mindoros zu helfen. In den vergangenen Jahrzehnten konnte er viele Initiativen erfolgreich vorantreiben. Eine Säule seines Programms ist Bildung – der Deutsche baute mit Spendengeldern Schulen und schuf ein Erwachsenenbildungsprogramm. Nicht wenige seiner Schützlinge schaffen es dank Stipendien tatsächlich zur Universität oder an weiterführende Schulen, sie kehren als Lehrer oder Krankenpfleger nach Mindoro zurück. Filipinos, die so wenig für Mindoros Ureinwohner übrighaben, nehmen dies mit Staunen auf – als der erste Mangyan im Jahr 2000 sein Anwaltsdiplom erhielt, war das den nationalen Medien dicke Schlagzeilen wert.

Im Herbst 2018 kam ich bei einer kurzen Wanderung wieder mal durch eine Mangyan-Siedlung. Obgleich Jahre vergangen waren seit dem Besuch in einem anderen Mangyan-Dorf mit Ewald Dinter an meiner Seite, war es in vielerlei Hinsicht ein Déjà-vu: Die Hütten armselig, kein Strom, Wasser tröpfelte aus einem Schlauch. Es roch stark nach Rauch, eine alte Frau kochte auf einem Holzfeuer. Auf meinen Gruß nickte sie mit dem Kopf. Dünn gerubbelte Wäsche hing auf einer zwischen Palmen gespannten Leine. Drei Jungen beäugten mich, getrieben von Neugier, gebremst von Scheu. Hierher verirren sich kaum mal Touristen, auch wenn die Urlauberhochburgen Sabang und Puerto Galera nur eine knappe Stunde Fußmarsch entfernt sind.

Etwas weiter oben am Hang ragen die Dächer weiterer Behausungen aus dem Grün des Bergwaldes. Dort treffe ich auf eine Gruppe Mangyan-Frauen und kleine Kinder, die löchrige Hemdchen und Shorts tragen. Ich frage, ob sie mir ihre Korbwaren zeigen können. Die Verständigung ist schwierig, bis eine junge Mangyan auftaucht. Ihre Kleidung – Jeans und T-Shirt – ebenso wie ihre selbstbewusste Haltung und ihre Englischkenntnisse machen sie sofort zur Verhandlungsführerin. Offenbar kennt sie die Preise, die man von Ausländern verlangen kann. Es wird ein guter Tag für die Frauen, in meinem Beutel verschwinden eine Reihe ihrer ebenso schönen wie nützlichen Korbwaren. Auch ich freue mich, denn die urban gekleidete und selbstsicher auftretende junge Frau hat womöglich in einer von Pater Dinters Schulen das Rüstzeug dafür erlernt, in beiden Welten zu Hause zu sein, in jener ihres Stammes ebenso wie in jener der modernen Filipinos.

Es sind zaghafte Schritte, mit denen die Bemühungen um eine gleichberechtigte Stellung der indigenen Völker vorankommen, wie Senatorin Loren Legarda nicht müde wird zu betonen. Die Politikerin, die sich seit vielen Jahren mit Vehemenz für die Rechte der ethnischen Minderheiten einsetzt, forderte 2017 in einer Rede: »Die philippinischen Ureinwohner sind der Inbegriff unserer Traditionen, unserer Fertigkeiten und unserer Kreativität. Wir müssen sie in die Lage versetzen, dass sie unerlässliche und produktive Mitglieder unserer Gesellschaft werden können.« Vorerst wird dies nur Wunschdenken bleiben. Die seit der spanischen Kolonialzeit übliche abschätzige Haltung gegenüber ihren indigenen Landsleuten ist im Handeln und Denken der Filipinos auch im 21. Jahrhundert noch tief verwurzelt.

It runs in the family

Ganz am oberen Ende der gesellschaftlichen Hierarchie finden sich einige Dutzend Familien, deren Vorfahren zumeist schon während der spanischen Kolonialzeit die Fundamente für die heutigen Imperien dieser sehr kleinen Oberschicht geschaffen hatten. Die Clans der Ayalas, Cojuangcos, Lopez’, Tans, Sys oder Aboitiz’ – um nur ein paar zu nennen – besitzen riesige Ländereien, kontrollieren ganze Wirtschaftszweige und spielen auch in der Politik, aktiv oder passiv, eine gewichtige Rolle. Kaum anderswo in Südostasien klafft die Schere zwischen arm und reich, mächtig und unterdrückt, so weit auseinander wie auf den Philippinen. Den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung sollen mehr als 50 Prozent der Vermögenswerte des Landes gehören.

Im Jahr 2019 finden sich 17 philippinische Milliardäre auf der Forbes-Liste der weltweit reichsten Menschen, viele davon haben chinesische Nachnamen. Als Mitteleuropäer reibt man sich verwundert die Augen ob des extravaganten Lebensstils der Oberklasse in einem Land, in dem etwa ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Es wird jedes aus HollywoodFilmen bekannte Klischee bedient: Selbst in den von Mauern umgebenen und von Wachleuten rund um die Uhr beschützten »Villages« der Hauptstadt, in denen sich Diplomaten, Leute mit sehr guten Einkommen oder vermögende Familien ein Haus leisten können, fallen die pompösen – zum Teil aber auch furchtbar kitschigen – von großen tropischen Gärten umgebenen Villen der Oligarchen auf. Im Hof steht oft ein ganzer Fuhrpark von schweren Straßenkreuzern und flotten Flitzern, gern Made in Germany. So kann das Fahrverbot, mit dem jedes Fahrzeug in der Hauptstadt einen Tag pro Woche belegt ist – eine vergebliche Maßnahme, um die schlechte Luftqualität in der Metropole zu verbessern – umgangen werden. Um die prächtigen Anwesen und das Wohlergehen der Bewohner bemühen sich eine ganze Schar von Angestellten: Bodyguards, Fahrer, Haushaltshilfen, Köchinnen, Kindermädchen, Gärtner und Poolboys.

Der Nachwuchs der Superreichen geht auf die besten Schulen des Landes und studiert gern an den prestigeträchtigsten Universitäten in den USA. Von klein auf führen die Kinder der Oberschicht ein Leben im Überfluss, in dem Geld keine Rolle spielt. Zu ihren Geburtstagen laden sie nicht nur gute Freunde ein, sondern gleich den ganzen Jahrgang ihrer Schule. So kamen auch wir in Kontakt mit dieser Welt. Unsere Kinder besuchten eine internationale Schule und wurden ab und an zu einer solchen Megaparty im Disneystil eingeladen.

Zur Bespaßung der oft mehr als 100 Grundschüler standen typischerweise Clowns, Akrobaten und Zauberer bereit. An einem guten Dutzend Essständen konnten sich die kleinen Gäste nach Lust und Laune selbst versorgen – begeistert stopften sie sich mit Burgern, Pizza, Spaghetti, Eis, Kuchen und Donuts voll. Eine kleine Armee von Kindermädchen, sogenannten Yayas, kümmerte sich um die aufgedrehten Partybesucher, die auf Trampolinen oder aufblasbaren Rutschburgen etwas Energie abließen. Am Ende des Spektakels gab es dann sogenannte giveaways, Abschiedsgeschenke. Immer haben diese den Wert des von uns besorgten Geburtstagspräsents überstiegen. Gastgeber, die besonders auftrumpfen wollten, gaben den Kleinen einen neuen besten Freund mit nach Hause: Eine Freundin schickte mir einst eine aufgeregte SMS: »Hilfe, wir haben gerade einen Dalmatiner-Welpen bekommen!« Wir hatten da mehr Glück: Außer einem Plastikbeutel voller kleiner Fische sind uns lebende Geschenke erspart geblieben.

Es steht außer Frage, dass die extreme Ungleichheit auf den Philippinen auf absehbare Zeit bestehen bleiben wird. Auch wenn einzelne Mitglieder der mächtigen Clans ihren Namen und ihre Ressourcen nutzen, um sich engagiert als Umweltschützer oder Menschenrechtler einzusetzen. Auch wenn einige Familien Stiftungen unterhalten, durch die zum Beispiel großzügig Geld in die Ausbildung benachteiligter Kinder fließt. Am System einer Drei-Klassen-Pyramide, deren Sockel eine sehr breite arme Schicht bildet, auf der eine schmale, allmählich wachsende Mittelschicht sitzt, die von einer kleinen Spitze der Reichen und Mächtigen gekrönt ist, wird sich nichts ändern.

Dafür sorgt auch die politische Einflussnahme, die der Oberschicht sicher ist. Denn politische Ämter, ob auf lokaler oder nationaler Ebene, werden auf den Philippinen quasi vererbt. Tritt ein Familienmitglied ab, steht ein anderes bereit, die freiwerdende Position zu übernehmen. Qualifikationen spielen kaum eine Rolle, Geld schon eher. Denn mit wenigen Pesos lassen sich in den Armenvierteln problemlos Stimmen kaufen – der einfachste Weg, auf den Philippinen Wahlen zu gewinnen. Die Demokratie des Inselstaates wird wie vieles andere bestimmt von Korruption und Kungelei, und so ist es kein Wunder, dass die Geschicke des Landes seit Generationen von den gleichen Familien gelenkt werden.

Und wer mal in große Fußstapfen treten soll, wird früh darauf vorbereitet. Es war wieder eine jener Kindergeburtstagsfeiern, zelebriert wurde der 6. Geburtstag des Enkels eines früheren Präsidenten der Philippinen. Höhepunkt des Nachmittages war ein Video, in dem populäre Persönlichkeiten dem Zweitklässler bestätigten, was für ein schlaues Kerlchen er sei. Und dass er sicher das Zeug dazu habe, einst die Philippinen zu regieren. Sollten die Vorhersagen wahr werden, bleibt zu hoffen, dass er seinen Job besser machen wird als der Opa. Der ist nämlich wegen allzu offenkundiger Selbstbereicherung den Präsidentenjob vorzeitig losgeworden.

Die vom Müll leben

Auf der Heimfahrt von diesem Großereignis hielten wir bei Rot an einer Kreuzung. Im Nu kamen kleine, zerlumpte Gestalten angelaufen, klopften in der Hoffnung auf einige Pesos an unsere Autofenster und pressten ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben. Sie mochten im selben Alter sein wie das Geburtstagskind, dem gerade eine goldene Zukunft prognostiziert worden war. Doch welche Zukunft haben die Millionen Familien, die auf der Schattenseite dieses Tropenlandes leben? Die ehrliche Antwort ist: eine sehr düstere.

Die von den philippinischen Behörden und internationalen Organisationen veröffentlichten Zahlen, wonach je nach Quelle etwa ein Viertel der Bevölkerung, das heißt, an die 26 Millionen Filipinos, in bitterer Armut lebt, sind bedrückend. Und arm sein auf den Philippinen bedeutet für die Menschen, pro Tag mit etwa einem Euro zu überleben. Sie müssen ohne Strom- und Wasseranschluss auskommen, hausen in kleinen Hütten aus Holz, Pappe, Plastik und Wellblech. Ihre Mahlzeiten bestehen in erster Linie aus Reis, die Kinder müssen schon sehr jung zum Unterhalt der Familie beitragen.

Der Kreislauf des Elends ist kaum zu durchbrechen: Bildung, Jobs, Gesundheits- und Altersversorgung – es mangelt an allem für die Habenichtse. Besonders prekär ist die Situation auf dem Land, am größten ist das Elend allerdings in den muslimisch dominierten Gegenden Mindanaos: Zwei Drittel der Bevölkerung leben hier unter oder an der Armutsgrenze. Aber auch andere Regionen auf Mindanao sowie der Süden Luzons und die Visayas-Inseln sind von deutlich höherer Armut betroffen als die Hauptstadt oder Zentralluzon. Die meisten Menschen sind dort auf Selbstversorgung angewiesen, Jobs sind äußerst rar, die Löhne deutlich geringer als in Manila. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die großen Städte ziehen. Die wenigsten haben indes Fortune und finden eine Beschäftigung als Bedienung oder auf dem Bau. Der Großteil der Landflüchtlinge landet in den stetig wuchernden Slums der Metropolen. In der Hauptstadt wird jeder Quadratmeter Boden besiedelt, in der Regel illegal und in unheilvollen Gebieten. An den Rändern von Flüssen und Kanälen, aus denen bei jedem tropischen Schauer in der Regenzeit stinkendes Wasser über die Ufer tritt und sich durch die Armengebiete wälzt. Am Fuße steiler Abhänge, deren Erdmassen nach Regen und Sturm abrutschen und Hütten unter sich begraben. Neben lauten, mehrspurigen Straßen oder in unmittelbarer Nähe eines Flughafens, wo das Dröhnen der Maschinen jedes Gespräch unmöglich macht. Oder neben einer Müllkippe.

Wer in Manila in ein Taxi steigt, und als Fahrtziel eine Adresse im Stadtteil Tondo nennt, darf sich auf eine Warnung, wenn nicht eine Weigerung des Fahrers einstellen. Denn große Teile Tondos, jenes Viertels am Nordhafen der Hauptstadt, sind ein Epizentrum urbanen Elends. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, ihre Wellblechhüttchen türmen sich grotesk auf- und nebeneinander, die verwinkelten Wege sind entweder staubig oder verwandeln sich nach Regenfällen für Tage in übelriechenden Morast. Es stinkt vom nahen Wasserlauf, der nur noch eine Brühe voller Fäkalien und Unrat ist. Und es stinkt von der nebenan liegenden Müllhalde, deren ausströmende Gase die Gesundheit der Anwohner gefährden. Dennoch sind die qualmenden Abfallhaufen die größte Einnahmequelle in der Gegend.

Ein Gebiet in Tondo nennt sich »Happyland« – doch Grund zum Glücklichsein haben die Einwohner hier wenig. Denn tatsächlich ist der Name ein Wortspiel: hapilan heißt in der Sprache der Visayas Müllhalde. Gleich daneben liegt »Aroma« – irgendjemand muss einen besonderen Sinn für Humor gehabt haben, als er sich den Namen ausgedacht hat. Die ganze Gegend war früher dominiert von »Smokey Mountain«, der größten Müllhalde der Hauptstadt. Als sie 1995 geschlossen wurde, bauten die Behörden auf dem planierten Gelände temporäre Unterkünfte für die Slumbewohner. Mehr als 20 Jahre später gibt es die nur als Übergangslösung erdachte Siedlung noch immer. Die Menschen sind geblieben, wo sollen sie auch hin? Hier finden sie ein wenn auch minimales Auskommen, denn der Müll ist zurückgekommen.

Wie Ameisen auf ihrem Hügel sind Menschen hier unermüdlich damit beschäftigt, mit einem Stock im Abfall der Millionenstadt zu stochern. Sie suchen nach recyclebaren Dingen wie Papier, Flaschen oder Schrott, für die es bei einem sogenannten Junk Shop einige Pesos gibt. Oder nach dem Höchstgewinn, etwas Essbarem. Das wiederverwerten sie entweder selbst oder verkaufen es als pagpag, übrig gebliebenes Essen, das grob gereinigt und nochmal gekocht oder gebraten wird. Etliche der Müllsortierer sind Kinder, die mithelfen müssen, die vielköpfige Familie zu ernähren. Zur Schule gehen viele hier nur ab und zu, der Überlebenskampf ist notwendiger als Bildung.

Dabei ist Bildung die einzige Chance, dem Elend des Slums zu entkommen. Und da die Kinder nicht zur Schule kommen, muss die Schule eben zu den Kindern kommen. Die Philippine Christian Foundation tat genau das und baute 2006 aus ausgedienten Schiffscontainern eine Schule neben Müllhalden. Groß genug, um 1000 Kinder aus den ärmsten Familien der Umgebung zu unterrichten.

Ein Trip nach Tondo ist für jeden, der noch nicht dort gewesen ist, eine emotionale Begegnung mit dem Leben, das so viele Filipinos im Schlund der Hauptstadt meistern müssen. Ich bin da keine Ausnahme: Als ich 2008 das erste Mal auf holprigen Straßen durch Manilas größtes Slumgebiet fuhr und schließlich mit Kleiderbeuteln im Arm die Containerschule betrat, war ich von Scham und Wut erfüllt. Scham darüber, dass es mir so offenkundig blendend ging, gesund und gut ernährt stand ich da im Hof der Containerschule. Wie ein Voyeur der übelsten Sorte fühlte ich mich, gänzlich hilflos angesichts des Elends, das ich auf dem Weg gesehen hatte und das sich hier präsentierte. Um mich herum tobten ausgelassen Kinder jeden Alters, magere Körper in gespendeten Kleidern. Einige trugen abgelegte Uniformen mit den Wappen teurer Privatschulen. Nichts hätte deutlicher machen können: In diesem Land leben unzählige Menschen, die von Geburt an kaum eine Chance haben. Im Gegensatz zu Nachbarländern wie Thailand oder Malaysia, in denen die soziale Ungleichheit in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist, geht die Schere auf den Philippinen immer weiter auseinander. Weil Armut auf den Philippinen wie eine Krankheit ist, für die es keine Heilung gibt. Weil sich der Staat nicht ausreichend um die Benachteiligten bemüht. Weil diese Kinder jenen, die auf den Philippinen Einfluss, Macht und Geld haben, lästig sind wie Schmeißfliegen.

In mir keimte eine vielleicht naive Wut über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Doch bevor sich die Gedanken fertig formen konnten, wurde ich von allen Seiten bedrängt. »Wie heißt du?«, »Wo kommst du her?«, »Wie alt bist du?«, prasselten die Fragen auf mich ein. Diese Kinder, die von Hunger, Hautekzemen und faulenden Zähnen geplagt wurden, strahlten mich an, lachten über mein fremdartiges Aussehen, waren unbändig in ihrer Neugier. Dabei wussten sie, dass ich wieder verschwinden würde in jene Welt, zu der sie keinen Zutritt hatten.

So viel Ausgelassenheit und Lebensfreude in tiefstem Elend zu erleben – das war wohl eine meiner bewegendsten Erfahrungen auf den Philippinen gewesen. Doch sie warf auch grundlegende Fragen auf: Warum gerät dieses Land nicht aus den Fugen, obwohl Menschen in so geringer Distanz zueinander und doch in völlig unterschiedlichen Welten leben? Wie erklärt sich die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, die etwas an der erbärmlichen Situation von Millionen Landsleuten ändern könnten? Wo bleibt die Barmherzigkeit in diesem christlichen Land? All die Eindrücke und Fragen tobten durch meinen Kopf, nachdem ich die Containerschule verlassen hatte. Ein gutes Jahrzehnt später suche ich weiterhin nach Antworten, während die Slums von Manila unablässig wachsen.

Chinoys – eine Klasse für sich