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Cover

Vorwort

Stellaris 61

Vorwort

»Der Schlüssel zur Versöhnung« von Roman Schleifer

Stellaris 62

Vorwort

»Die peinlichste Stunde des Konsul Gruner« von Thomas Frick

Stellaris 63

Vorwort

»Zirome« von Michael G. Rosenberg

Stellaris 64

Vorwort

»Fremde Welt« von Dieter Bohn

Stellaris 65

Vorwort

»Der Datent von Richese« von Ulf Fildebrandt

Stellaris 66

Vorwort

»Das Friedenslicht« von Roman Schleifer

Stellaris 67

Vorwort

»Das Buddelschiff« von Dieter Bohn

Stellaris 68

Vorwort

»Der schlafende Riese« von Olaf Brill.

Stellaris 69

Vorwort

»Thassaias Schiff« von Kai Hirdt

Stellaris 70

Vorwort

»Unter myranischer Flagge« von Madeleine Puljic

Impressum

 

Das Raumschiff STELLARIS lädt ein zu einer besonderen Reise in das Perryversum

 

Die STELLARIS ist ein besonderes Raumschiff: Seit vielen Jahren reist sie durch das Universum der PERRY RHODAN-Serie, bemannt von einer wechselnden Besatzung, unter wechselnder Leitung und mit wechselnden Zielen. Die Abenteuer, die ihre Besatzung und Passagiere erleben, sind Thema zahlreicher Geschichten ...

Unterschiedliche Autoren verfassten die Kurzgeschichten rings um das Raumschiff STELLARIS. Sie werden seit Jahren regelmäßig im Mittelteil der PERRY RHODAN-Hefte veröffentlicht – hier präsentieren wir die Folgen 61 bis 70 in einer Sammlung.

Mit dabei sind Kurzgeschichten von Roman Schleifer, Thomas Frick, Michael G. Rosenberg, Dieter Bohn, Ulf Fildebrandt, Olaf Brill, Kai Hirdt und Madeleine Puljic.

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Folge 61: »Der Schlüssel zur Versöhnung« von Roman Schleifer.

 

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Titelillustration: Till Mantel

Willkommen an Bord der img2.jpg

 

 

Ahoi vom Raumschiff STELLARIS!

 

Die STELLARIS ist ein Fracht- und Passagierraumschiff der Minerva-Klasse, das zwischen den Welten der bekannten Galaxis verkehrt. Der Kapitän ist ein junger Terraner namens Caliban May, die Chefmedikerin heißt Zhang Li, sie ist eine Halb-Akonin. Das Leben an Bord bietet alles, was Kultur und Technik des 16. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) hergeben.

Doch nicht überall im Weltraum herrscht Frieden. Gelegentlich reisen auch Diplomaten, Agenten und Soldaten mit, für die das Leben aus Kampf, Krieg und Entbehrungen besteht. Ihnen muss die STELLARIS vorkommen wie eine unwirkliche, wunderbare Welt. Werden sie sich dort zurechtfinden, erholen ... vielleicht sogar verlieben? Oder lauern auch hier Gefahren an jeder Ecke?

Roman Schleifer, der Autor der vorliegenden Geschichte, ist den PERRY RHODAN-Lesern kein Unbekannter: Er hat bereits vier Heftromane für die Miniserien PERRY RHODAN-Stardust und PERRY RHODAN-Terminus verfasst, und viele kennen den charmanten Wiener als leidenschaftlichen Con-Moderator oder aus den verschiedenen Foren und sozialen Netzwerken.

Bei STELLARIS war er fast von Anfang an dabei: Dies ist bereits sein zwölfter Beitrag zu unserer kleinen Kurzgeschichtenreihe.

Roman Schleifer ist so aktiv, dass wir gar nicht alles drucken können, was er schreibt. So hat er sogar ein paar weitere Geschichten geschrieben, die auf dem Raumschiff STELLARIS spielen. Diese sind in anderen Publikationen erschienen, zum Beispiel der »SOL«, dem Magazin der PERRY RHODAN-FanZentrale, dessen aktuelle Ausgabe einen Themenschwerpunkt zu »10 Jahre STELLARIS« enthält.

Mehr Infos im Netz unter www.prfz.de oder auf Facebook unter »PROC Community«. Übrigens gibt es auf Facebook sogar die »Raumschiff STELLARIS«-Gruppe.

»SOL«-Ausgabe 88 enthält auch eine STELLARIS-Geschichte, die gemeinsam mit »Der Schlüssel zur Versöhnung« ein kleines literarisches Experiment darstellt. Entwickelt wurden beide Storys von Roman Schleifer und Jörg Isenberg: Wie wäre es, haben sich die beiden Autoren gefragt, wenn wir zwei Geschichten schreiben, die mit der gleichen Ausgangslage beginnen, sich dann aber völlig unterschiedlich entwickeln?

So sind in beiden Storys die Funarier und die Urmer auf der STELLARIS unterwegs zu einer Friedenskonferenz, und was dann passiert ... nun, ihr könnt es selber lesen! Doch seid gewarnt: Je nachdem, wie die Würfel fallen, kann eine zuckersüße Geschichte auch mal ein böses Ende nehmen!

Dieses Gedankenspiel könnte man bestimmt auch auf andere literarische Werke übertragen: Was wäre wohl geschehen, wenn d'Artagnan zwar nach Paris gereist, dort aber nicht die drei Musketiere getroffen hätte? Oder wenn Perry und Bully auf der anderen Seite des Mondes gelandet wären?

Wie immer freuen wir uns, eure Meinung zur STELLARIS zu hören: Meldet euch in einem der Internet-Foren, auf Facebook oder schreibt an die PERRY RHODAN-Redaktion.

 

 

Allzeit gute Fahrt zu den Sternen

 

Ad astra

Euer

Olaf Brill

Folge 61

Der Schlüssel zur Versöhnung

von Roman Schleifer

 

»Kann ich dir helfen?«

Die Frage riss Chiakli Sohong aus den Gedanken. Irritiert blickte sie die Frau mit dem samtbraunen Teint und dem lächelnden Gesicht an und lugte zum Namensholo auf der Brust. »Ehrlich gesagt: Ja.«

Zhang Li musste soeben aus der Kantine gekommen sein, vor der Chiakli seit einigen Minuten grübelnd verharrte. Das entspannte Flair an Bord der STELLARIS verunsicherte sie und ließ sie an dem Geheimauftrag zweifeln.

»Als ich letztes Jahr meinen Dienst angetreten habe«, sagte Zhang Li, »war ich auch desorientiert.« Durch die Lachfalten um ihre sichelförmigen Augen wirkte sie sympathisch. »Du bist Passagierin?«

»Eine der Funarierinnen unterwegs zur Friedenskonferenz zwischen den Urmern und uns«, bestätigte Chiakli, bemüht um eine feste Stimme.

Die Frau mit den vielen Sommersprossen hob in terranischer Manier den Daumen. »Eine gute Mission.« Sie drehte sich in Richtung des Speiseraums. »Essen oder trinken?«

Chiakli horchte in sich hinein. Hunger hatte sie keinen. »Ich weiß nicht, Zhang. Ist es nicht zu spät für einen Drink?«

Zhang Li lächelte. »Der Beginn der Nachtschicht eignet sich bestens für ein Getränk.« Sie nahm Chiakli am Unterarm und führte sie in die Kantine. »Und nenn mich bitte Li. Zhang ist mein Nachname.«

Von allen Seiten strömten unbekannte, exotische Gerüche auf Chiakli ein. Auch die Geräusche waren ihr fremd. Die Raumfahrer scherzten, lachten, diskutierten und gestikulierten. So viele fröhliche Lebewesen hatte sie noch nie in einem Raum gesehen.

Sie war ernste, versteinerte Gesichter gewohnt. In den Kriegsschiffen der Funarier schwiegen die Kameraden sich zumeist an. Und sofern sie doch einmal redeten, drehte sich alles um Kämpfe, Gefechte, Schlachten oder Verwundungen.

Dennoch bevorzugte sie funarische Raumer. Das Treiben an Bord der STELLARIS wirkte wie ein Schmierentheater: schön, kitschig und eben gespielt.

Es ist wie auf Rokat!

Die Stimmung erinnerte sie an ihre Kindheit auf dem Forschungsmond. Damals hatten ihre Eltern noch gelebt, die sie von den Kampfhandlungen ferngehalten hatten. Ihr Vater wäre mit der Familie sofort desertiert und hätte den Krieg hinter sich gelassen, doch ihre Mutter hatte ihn gezwungen zu bleiben.

Plötzlich spürte sie eine Sehnsucht nach dieser Zeit, in der sie unbekümmert gewesen war und keine Verantwortung getragen hatte. Schmerzhaft wurde ihr der Druck bewusst, der auf ihr lastete: Die Geheimmission musste erfolgreich sein! Zeitgleich schauderte sie, sobald sie an die Konsequenzen dachte.

Der Aufenthalt auf der STELLARIS hatte ihre Meinung ins Wanken gebracht. Sie war sich nicht mehr sicher, ob die Mission der richtige Weg für ihr Volk war.

»Willkommen am heiligen Gral.« Li tippte auf den Tresen. Sofort baute sich eine holografische Getränkekarte auf.

Chiakli rieb sich die Augen. Konnte sie wirklich aus 287 Cocktails wählen?

»Vinor!«, rief Li. »Kundschaft!«

Ein blonder Mann, der sich am anderen Ende der Bar mit einem Jülziish unterhielt, winkte ihnen zu. Auf Funar hätte ihm jede Frau nachgesehen – nicht nur einmal.

Li wandte sich zu ihr. »Ich übergebe dich in die professionellen Hände des besten Barkeepers der zivilen Flotte der LFG, Vinor Canube. Keine Ahnung, wie er es schafft, aber er findet immer das zu deiner Stimmung passende Getränk.« Sie tätschelte Chiaklis Schulter und deutete zum Ausgang. »Mich ruft die Pflicht.« Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und drehte sich um. »Ich bin übrigens die Bordmedikerin.«

Ein herber Geruch mit einem Schuss Vanille lenkte Chiakli ab. Vinor lehnte ihr gegenüber an der Bar. »Du bist eine der Friedensbotschafterinnen, nicht wahr?«

Sie starrte ihn an, konnte dem Blick der grauen Augen nicht ausweichen.

»Finde ich gut, dass ihr und die Urmer euch zu der Friedenskonferenz aufgerafft habt. Krieg ist so sinnlos.«

Sie suchte nach einer Antwort, wollte etwas Eloquentes sagen, doch die Art, wie er sie ansah, überlagerte alles und knipste ihr Denken aus.

»Womit kann ich dich beglücken?« Er tippte durch das Hologramm. »Ja, es sind zu viele.« Mit einer Wischbewegung desaktivierte er die Cocktailkarte. »Jeden Tag sage ich das zum Küchenchef, aber glaubst du, er hört auf mich?« Er zuckte mit den Achseln, beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre. Der Teint seiner Haut schimmerte in den Farben herbstlicher Blätter. »Aber keine Sorge, ich serviere dir den passenden Drink.«

Sie räusperte sich, vertrieb die Starre. Im ersten Reflex wollte sie ihm eine Abfuhr erteilen, doch was hatte sie zu verlieren? »Dann beeindrucke mich.«

Er lachte auf, tätschelte kurz ihre Hand. Seine Finger waren schmal und sauber, und die Haut fühlte sich weich an. Körperliche Arbeit war gewiss nicht sein Metier an Bord.

Vinor beugte sich weiter vor. »Du bist jung und schon im Auftrag deiner Regierung unterwegs, also hast du einiges auf dem Kasten. Du bist zielstrebig, stehst voll hinter deinen Vorhaben.« Seine Stimme wurde tiefer. »Gleichzeitig verbirgst du etwas.« Prüfend sah er sie an.

Chiakli erschrak. Wie hatte sie sich verraten?

»Ich weiß, was ich dir kredenze.« Er griff nach einer bauchigen Flasche und einem silbernen Behälter. »Ein Schuss ...«

Sie hörte nicht mehr zu, kämpfte immer noch mit dem Schrecken. Er konnte ihre Geheimmission unmöglich kennen, dazu war sie vom funarischen Flottenkommando zu raffiniert eingefädelt worden. Dennoch hatte er etwas bemerkt.

Chiakli ärgerte sich, nicht auf Sori Xijora, ihre Führungsoffizierin, gehört zu haben. Sie hätte sich mit ihr in der Kabine verkriechen und den Kontakt zu den Terranern meiden sollen. Doch wie hätte sie ahnen können, auf solch einen Mann zu treffen?

»... und eine Prise ertrusischen Zimt«. Vinor warf weißes Pulver in den silbernen Behälter, verschloss und schüttelte ihn kräftig. Er fischte ein Glas unter dem Tresen hervor und goss die hellblaue Flüssigkeit ein, die mit schwarzen Querstreifen durchzogen war. »So geheimnisvoll wie du«, sagte er mit verschwörerischer Stimme und schob ihr den Drink zu.

Sie schnupperte. Es roch fruchtig süß mit einer Nuance Minze.

»Warte.« Er schnippte mit den Fingern. Die Flüssigkeit begann zu wallen. Pinkfarbener Rauch stieg auf, formte sich zu einem Fragezeichen.

»Wie hast du das gemacht?«

Vinors Blick wanderte an ihr vorbei und kehrte zu ihr zurück.

»Chiakli!« Etwas schlug gegen ihre Schulter. Sie zuckte zusammen. Ihre Führungsoffizierin klang alles andere als entspannt.

»Was darf ich dir bringen?« Vinors eben noch mitfühlende und warme Stimme klang härter und distanzierter.

»Nichts. Wir haben einiges zu besprechen, da ist Alkohol kontraproduktiv.«

»Ich serviere auch Antialkoholisches.« Er lächelte kalt. »Wenn es sich nicht vermeiden lässt.«

Sori Xijora klopfte Chiakli erneut auf die Schulter. »Wir gehen!«

Mit einem entschuldigenden Blick erhob sich Chiakli. »Ich koste den Cocktail ein anderes Mal.«

»Du kannst ihn in die Kabine mitnehmen«, sagte er.

»Im Fall des Falles bestellen wir über den Kabinenservo«, kam ihr Sori zuvor. Die Offizierin legte den Arm um Chiakli und dirigierte sie zurück zur Kabine.

 

*

 

Kaum hatte sich das Schott geschlossen, baute sich Sori vor ihr auf.

»Bist du total übergeschnappt?« Auf ihren Wangen entstanden gesprenkelte rote Flecken. Ihre Wut schwappte wie ein Schwall heißer Luft zu Chiakli über.

Instinktiv trat Chiakli einen Schritt von der »Bulldogge« weg. »Ich ... ich war nur in der Kantine.«

Sie ärgerte sich im selben Moment, dass sie kuschte. Der jahrelange militärische Drill wirkte, obwohl Sori sie mit den Bevormundungen seit dem ersten Aufeinandertreffen nervte. Diese Spezialeinheitenmitglieder hielten sich für etwas Besseres.

»Du warst an der Bar!« Soris Wut strahlte wie Hitze. »Wir müssen unsichtbar bleiben, dürfen keinen Verdacht erregen.«

Sollte sie sich wehren und Sori die Meinung sagen? Ihr Vater hätte genickt, während ihre Mutter den Kopf geschüttelt hätte.

Die Offizierin kam näher. »Die Terraner wittern überall Verrat und Hinterhalt.«

»Die Unsterblichen sicher«, entgegnete Chiakli, »aber nicht das Fußvolk. Außerdem sind das zivile Raumfahrer und weder Soldaten noch Geheimdienstagenten.«

»Und wenn sich ein Urmer eingeschlichen hat?«

»Du bist paranoid!«

Sori ballte die Finger zu Fäusten. »Im Gegensatz zu dir war ich im Kampf!«

»Geht das wieder los!« Chiakli warf die Arme hoch. »Ich als Techniker bin keine richtige Soldatin«, äffte sie den Tonfall nach.

Sori schnaufte. »Ja, und deshalb war ich dagegen, dich zu präparieren«, sagte sie mit einer gefährlich ruhigen Stimme.

»So ein Pech aber auch, dass deine Meinung dem Oberkommando nicht wichtig genug war. Schon blöd, so eine Hierarchie.« Chiakli wusste, dass sie nur die Notlösung war und den »Job« ihrer DNS zu verdanken hatte. Mit ihrer Vorgängerin, die im Kampf gefallen war, hätte die ebenfalls präparierte Sori sicher besser harmoniert.

»Willst du mich provozieren?«, fragte die Offizierin prompt.

»Ich will meine Ruhe!« Sicherheitshalber ging Chiakli in Richtung des Esstisches. So wütend wie Sori war, schadete es nicht, außer Reichweite ihrer Fäuste zu sein. »Ich bin nicht einmal der Empfehlung des Kapitäns zum Besuch des Diskussionsabends gefolgt.«

»Dessen Kopf steckt im Linearraum. Bietet uns Gespräche mit der Besatzung an, um über Frieden zu reden. Pah! Die Terraner gehören zu den kriegerischsten Völkern der Galaxis.«

»So gesehen müsstest du dich mit ihnen gut verstehen.«

Sori kam auf sie zu. Diesmal eindeutig in kampfbereiter Pose. Chiakli sah sich bereits am Boden liegen. Sie rückte zurück, stieß aber nach ein paar Schritten gegen die Wand.

»Ich stehe hundertprozentig hinter der Mission, trage dasselbe Risiko wie du«, beeilte sie sich zu sagen und hoffte, dass die Unsicherheit in ihrer Stimme nicht zu hören war.

Die Offizierin schwieg, blickte sie skeptisch an. Ihr Misstrauen war greifbar.

»Die Urmer haben meine Eltern getötet.« Chiakli bemühte sich um eine feste Stimme. »Die von ihnen initiierten Friedensverhandlungen sind ihre einzige Chance, nicht gegen uns zu verlieren.« Sie steigerte sich in die Argumentation der Politiker hinein. »Der Krieg darf nur einen Ausgang haben: die Auslöschung der Urmer!«

»Brav auswendig gelernt.« Sori musterte ihr Gesicht, als fände sie dort die Antwort, ob sie es ehrlich meinte. »Du bleibst in der Kabine! Verstanden?«

Chiakli kniff die Augen zusammen.

Sori kam so nah, dass Chiakli ihren Atem spürte. »Hast du mich verstanden, Sergeant?«

»Ja«, murmelte Chiakli und war froh, ohne körperliche Blessuren davongekommen zu sein. Prompt meldete sich ihre Unsicherheit zurück: Sollte sie die Mission zu Ende bringen?

»Lauter!«

»Ja!« Diesmal schleuderte Chiakli das Wort geradezu heraus.

 

*

 

Am nächsten Tag zappte Chiakli gelangweilt durch die Trivid-Serien der Bordbibliothek. Bislang hatte sie keiner der Trailer angesprochen. Also versuchte sie es bei den Krimis. Sie öffnete diese Rubrik und studierte die Filmbewertungen der Besatzungsmitglieder, als der Kabinenservo einen Besucher meldete.

Erstaunt sah Chiakli in das Holobild der Türsensorik, das ihr Vinor zeigte. Sie rieb sich den Nasenrücken und öffnete das Schott.

Vinor deutete in Richtung des Korridors. »Ich hole dich ab.«

Chiakli runzelte die Stirn. »Wozu?«

»Lass dich überraschen.«

Sie rang mit sich. Einerseits war sie neugierig, ob sie ihn dazu brachte, hinter die unwirkliche und übertriebene »Das Leben ist schön«-Fassade der STELLARIS zu blicken, andererseits fürchtete sie sich davor, dass die Zeit mit Vinor sie aufwühlte.

»Keine Sorge wegen Sori. Sie ist die nächsten Stunden mit Bürokratie beschäftigt.«

»Woher ...?«

Sein verschmitztes Lächeln blieb. »Ich habe Erfahrung mit bescheuerten Vorgesetzten. Und ihr Auftritt in der Bar sprach für sich.«

»Um mich freizuspielen, hast du die Erste Offizierin Valia da Cataro um ein Gespräch mit Sori gebeten?«

»Exakt!« Vinor zwinkerte ihr zu. »Um ein extrem bürokratisches sogar.«

Chiakli biss sich auf die Lippen. Falls er etwas vorhatte, was ihr nicht gefiel, würde er sich über ihre Wehrhaftigkeit wundern.

Während sie durch den Korridor gingen, roch sie Reinigungsmittel. Und tatsächlich schrubbte vor dem Antigravschacht ein Servoroboter den Boden. Im Antigrav schwebten sie abwärts und verließen den Schacht vier Ebenen tiefer. Immer wieder begegneten ihnen Besatzungsmitglieder, manche konzentriert und eilig, andere fröhlich und entspannt.

Obwohl das Bild ihr unwirklich vorkam, erinnerte es sie an ihre Kindheit. Chiakli schämte sich, weil sie in den letzten fünfzehn Jahren so wenig an ihre Eltern gedacht hatte. Der ewig gleiche Trott hatte sie abgestumpft: aufstehen, Gefechtseinsatz, Adrenalinausstoß, Maschinen warten, schlafen, Albträume.

Ein weiteres Besatzungsmitglied kam ihnen entgegen, grinste zuerst sie, dann Vinor an. Da war sie wieder, diese unwirkliche idyllische Atmosphäre. Sie war einfach zu perfekt, konnte nicht wahr sein. Warum spielten ihr die Terraner etwas vor? Wollten sie die Funarier für die Urmer gefügig machen?

Sie musste die Wahrheit herausfinden, durfte sich von Vinor nicht einlullen lassen.

Nach der nächsten Gangbiegung erstreckte sich ein Raum, in dem Bäume und Sträucher auf einer Wiese wuchsen.

»Das Hydroponium«, sagte Vinor.

Vor dem Schott musste sich ein Energievorhang befinden, denn die Luft flimmerte leicht. Es kitzelte, während sie hindurchtraten. Von allen Seiten strömten Naturgerüche auf sie ein. Es roch nach Moos, nach frisch geschnittenem Gras, Holz und Blumen.

Die Terraner haben ein Biotop an Bord – wie skurril!

Vinor inhalierte lautstark und steuerte auf einen sandigen Pfad zu, der in einen Wald führte. Tiergeräusche rollten auf sie zu. Balzgequake vermischte sich mit Drohknurren, Gezwitscher mit Geheul.

Chiakli stoppte. »War das ein Wolf?«

»Diese Frage können dir nur der Bordrechner oder Kolrey beantworten. Aber die Positronik schweigt, und der Zarghuner wedelt nur geheimnisvoll mit dem Rezeptorast. Es laufen Wetten, ob wir jemals erfahren, was im Hydroponium echt und was simuliert ist.«

»Seltsame Bräuche habt ihr.« Innerlich zweifelte sie am Verstand der Terraner. Sie waren wirklich so durchgeknallt wie ihr Ruf, wenn sie Tiere an Bord nahmen. Es war ein weiteres Indiz, dass es nicht mit rechten Dingen zuging.

Sie erreichten eine Lichtung, die ein Fluss teilte. Vinor streifte die Schuhe ab, schlug die Hosenbeine hoch und tauchte einen Fuß ins Wasser.

»Angenehm warm.«

Zögernd näherte sie sich. Der Fluss war so klar, dass sie den steinigen Grund sah. Kleine schwarze, längliche Objekte zischten zwischen den Steinen hin und her. »Ihr habt Fische?«

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Hinten gibt es einen Angelplatz.«

Sie sparte sich einen Kommentar. »Warum hast du mich hergelotst?«

»Ich habe mich schlaugemacht. Ihr führt den Bruderkrieg seit achtundfünfzig Jahren, lebt hauptsächlich in euren Raumern, und euer Heimatplanet ist eine einzige Waffen- und Schlachtschifffabrik.« Er vollführte eine ausholende Armbewegung. »Das hier ist Abwechslung.«

»Du hast recht. Es erinnert mich ...« Sie stockte, weil ihre Kindheit auflebte. Sie unterdrückte den Impuls, ihm davon zu erzählen. Ihr Schicksal ging ihn nichts an.

Vinor drehte sich zum Wasser und planschte mit dem Fuß darin. »Bevor ich vergesse ...« Barfüßig ging er hinter eines der Gebüsche und kehrte mit einem Korb zurück. Nachdem sie am Ufer Platz genommen hatten, holte er den Cocktail vom Vortag heraus. Hoffentlich hatte er ihn frisch gemixt. »Eine alte terranische Regel besagt, wer den ersten Cocktail verschmäht, streut Unglück.« Er hielt ihr das Glas hin.

Soris mahnende Worte fielen ihr ein. Meinte er es ehrlich, oder wollte er ihr Vertrauen gewinnen, um sie auszuhorchen? Falls ja, ging er zu plump vor.

»Du flunkerst!« Sie schob die skeptischen Gedanken beiseite.

»Willst du es darauf ankommen lassen?« Er zog den Drink weg und hielt ihn ihr wieder hin.

»Wo ist der Rauch?«

Er schnippte mit den Fingern. Prompt wallte die hellblaue Flüssigkeit auf, und es qualmte. Wie am Vortag formte der pinkfarbene Rauch ein Fragezeichen.

Chiakli lachte, nahm das Glas und nippte an dem Getränk. Es schmeckte nach Stachelbeeren mit einem Schuss Vanille und viel Alkohol. Sie nickte anerkennend. »Du verstehst dein Handwerk.«

»Wenigstens eines.« Er grinste. Erneut griff er in den Korb, legte ein Tuch auf den Boden und breitete darauf verschiedene Speisen aus. »Spezialitäten aus der Milchstraße.« Während er das Essen platzierte, nannte er ihr die Herkunft. »Arkon, Ertrus, Terra, Gatas.«

Sie zeigte auf eine faustgroße, stachelige grüne Kugel. »Woraus besteht das?«

»Mein Tipp: einfach kosten! Meist ist es besser, man weiß nicht, was hinter dem Essen der einzelnen Völker steckt.«

»Warum macht mich dieser Satz nervös?«

»Weil das normal ist, wenn man der Gefahr ins Antlitz blickt.« Seine Stimme klang verschwörerisch.

Während er einige der Speisen mit einem Messer zerteilte, versteckte sie sich hinter einem tiefen Schluck und beobachtete ihn. Neben den schmalen Fingern gefielen ihr die Lachfalten, die sich unter den Augen statt seitlich eingegraben hatten.

Vinor verwirrte sie. Er war anders als die Männer, die sie kannte. Noch nie hatte ein Mann mit ihr einfach so Zeit verbracht und ihr als Draufgabe ein Essen serviert. Die Funarier agierten pragmatisch. Zwischenmenschliches kostete Zeit. Also kamen sie rasch zur Sache.

Chiakli konnte sich nicht erinnern, jemals entspannt mit einem Mann geplaudert zu haben. Es ging entweder um Kampf oder Entspannung durch Sex. Die Person dahinter oder der Charakter waren uninteressant. Wären die Funarier in Friedenszeiten auch wie die Terraner?

Ihr Vater hatte das behauptet, hatte ihr immer wieder von der Zeit vor dem Krieg erzählt. Für sie hatte sich das alles unrealistisch angehört, fast wie ein Märchen. Doch nun erlebte sie es selbst – und konnte es nicht glauben.

Sie kaute auf der Unterlippe.

Vermutlich war ihre Skepsis unnötig. Andererseits war es an Bord einfach zu entspannt und zu perfekt. Alles wirkte ... ja, inszeniert. Vielleicht waren die Terraner doch von den Urmern bezahlt worden und spielten den Funariern die heile Welt vor, um sie für die Konferenz zu beeinflussen.

Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger über den Rand des Glases und musterte Vinor.

Er legte das Messer beiseite. »Bedien dich!«

Sie nahm ein Stück terranischen Trüffelkäse, weil er am harmlosesten aussah. Vorsichtig biss sie hinein. Er schmeckte würzig, frisch und ein wenig nach Blumenduft.

»Du bist kein Frontschwein, oder?«

Erstaunt sah Chiakli auf. »Was hat mich verraten?«

»Deine Körpersprache ist nicht so hart und zackig wie jene der Soldaten.«

Er hatte recht. Sori bewegte sich anders als sie. »Ich bin Technikerin auf einem Kampfraumschiff.«

»Wie hältst du das aus?«

»Was meinst du?«

»Ich kenne Krieg nur aus dem Geschichtsunterricht und stelle ihn mir schrecklich vor. Die Angst, im Kampf zu sterben.« Er schüttelte sich.

Chiakli dachte nach. Eigentlich müsste sie ihm antworten, dass er keine zwei Minuten überleben würde. Aber wer wollte das schon hören?

»Klar«, sagte er, »hier auf der STELLARIS ist man auch nicht vor dem Tod gefeit. Ein technischer Fehler, und wir zerfasern trotz mehrfacher Redundanz im Linearraum. Das blenden wir aus, weil wir glauben, die Technik zu beherrschen. Aber im Krieg beeinflusst du nur bedingt, wie lange der Schutzschirm den feindlichen Salven standhält. Das würde mich zermürben.«

»Vermutlich glauben wir ebenfalls, die Technik zu beherrschen.«

»Allein bei dem Gedanken an ein Gefecht kriege ich Gänsehaut und möchte flüchten.«

»Anfangs habe ich mich übergeben, doch mittlerweile blende ich die Angst aus.«

Warum erzählte sie ihm das?

Sie horchte in sich hinein, während er einen flachen Stein nahm und ihn über die Wasseroberfläche hüpfen ließ. Trotz all der Skepsis schwang die Saite stärker, die bereits durch seinen Anblick in der Kantine angeschlagen hatte. Er war harmlos, konnte kein Spion sein. Während sie das nächste Stück Trüffelkäse nahm, warf er einen weiteren Stein über das Wasser.

»Themenwechsel«, schlug er vor, »sonst ertränke ich mich ob des Themas im Fluss. Was willst du nach dem Friedensabkommen machen?«

Sie sah ihn an. Natürlich konnte sie ihm nicht verraten, dass es wegen ihrer und Soris Mission keinen Frieden geben würde. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Schließ die Augen und fabuliere drauflos. Gedanken sind frei.«

Denselben Satz hatte ihr Vater auch gesagt. Nachdenklich schaute sie Vinor an.

Er schwieg, schien zu fühlen, dass sie Zeit brauchte.

Sollte sie vor ihm wirklich so tun als ob?

Sori würde sie für verrückt erklären und ihr Hochverrat unterstellen. Ihr Vater würde sagen, dass sie auf den vernünftigen Weg umgeschwenkt war. »Ich habe keine Ahnung.«

»Ich würde eine Bar eröffnen.«

Sie lachte. »Was auch sonst?«

»Und deine Kameradin, die dich aus der Bar gezerrt hat, würde ich nicht bedienen.« Er räusperte sich. »Warum ist sie so verkrampft?«

Chiakli seufzte. »Spezialeinheit.«

»Verstehe. Denkt, sie ist etwas Besseres.«

»Ich wünschte, ich könnte sie ruhigstellen.«

Er blickte sie an, zögerte.

»Was?«, fragte sie.

Vinor fuhr sich über das Gesicht. »Ich kann dir vertrauen, oder?«

Sie runzelte die Stirn. »Klar.«

»Ich lege mein Schicksal in deine Hände. Falls das auffliegt, werfen sie mich aus der STELLARIS.« Er zog ein Fläschchen mit weißem Pulver aus der Hosentasche. »Etwas davon in das Morgengetränk, und sie verschläft den Tag.«

Der Gedanke war verlockend und abstoßend zugleich. Sie konnte doch nicht ihre Vorgesetzte hintergehen.

»Nur, wenn du mir eine weitere Abwechslung bietest«, hörte sie sich sagen. Mit dem Pulver hatte er ihre letzten Zweifel ausgeräumt. Er war nie und nimmer ein Spion.

»Oh, du forderst mich heraus.« Er warf ihr das Fläschchen zu. »Da fällt mir garantiert etwas ein.« Ein Vibrieren unterbrach ihn. Hektisch sah er auf das Armbandkom. »Du musst zurück! Valia hat Sori soeben verabschiedet!«

Vor ihr entstand ein blauer, holografischer Navigationspfeil, der in Richtung des Pfades schwebte und wieder zu ihrem Bauch zurückkehrte. Ohne Abschiedsworte rannte sie los.

 

*

 

Chiakli sprintete durch die Gänge, überholte dabei einmal sogar den blauen Navigationspfeil. Abgehetzt erreichte sie die Kabine, wartete endlos, bis der Türservo sie identifizierte, erlitt fast einen Herzinfarkt, als sie aus dem angrenzenden Korridor Schritte hörte, und feuerte gedanklich das Kabinenschott an, weil es sich nach oben quälte.

In der Kabine warf sie sich auf die Couch. »Servo, starte einen Krimi von der Mitte und serviere mir ein Bier – das Glas halb voll.« Sie legte die Beine auf den Tisch und zwang sich, ruhig zu atmen.

Ein Hologramm mit dem Film baute sich auf, und ein kleiner Roboter stellte das Bier auf den Tisch; erst dann glitt das Schott auf.

»Wie war's?«, fragte Chiakli und bemühte sich um eine gelangweilte Aussprache.

»Die Terraner sind dämliche Bürokraten.« Soris Blick wanderte von Chiakli zum Holo und zurück. Sie ging in die Kochnische und holte sich einen Saft. »Worum geht's?«

»Ist ein Krimi«, antwortete Chiakli und bemerkte mit Entsetzen, dass auf dem halb geleerten Bierglas ihr Mundabdruck fehlte.

»Was hast du sonst noch getan?« Die Stimme klang lauernd.

Verdammt! Sori vermutet etwas!

»Ein wenig recherchiert.« Sie nahm einen Schluck aus dem Bierglas. »Technikkram.«

Sori blieb vor dem Tisch stehen, wippte auf den Zehen und erzeugte eine lange, unterkühlte Stille. »Hast du schon etwas gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf. Sori setzte sich zu ihr und deutete auf das Shirt. »Und woher stammt das?«

Chiakli blickte an sich hinab, erschrak. Auf dem Shirt klebte ein Stück Trüffelkäse.

»Du warst wieder außerhalb der Kabine.« Sori sprach ruhig, fast gelassen. Dennoch hörte Chiakli den gefährlichen Unterton. »Vermutlich hast du dich mit dem Typen aus der Bar getroffen.«

»Ich ...«

»Du ignorierst meine Befehle, hintergehst mich und triffst dich mit einem potenziellen Feind.«

»Das ist lächerlich. Warum soll Vinor ein Spion sein?«

»Kannst du es ausschließen?«

Vinor war einfach zu nett, um ein Urmer zu sein. »Ich habe mich erkundigt. Er arbeitet seit einem Jahr an Bord.«

»Das ist kein Argument.«

Chiakli lachte auf. »Du glaubst, die Urmer planen ein Jahr im Voraus?«

»Unsere Planung reicht auch drei Jahre zurück.«

»So lange arbeiten wir daran?«

»Glaubst du, wir erstellen so ein Virus, das nur Urmer tötet, innerhalb einer Woche?« Sori schüttelte den Kopf. »Außerdem ging die Friedenskonferenz von den Urmern aus. Wer weiß, was sie bezwecken.«

»Sie haben erkannt, dass sie uns militärisch unterlegen sind«, sagte Chiakli im beschwichtigenden Ton eines Mädchens, das seiner lästigen Mutter versprach, die Finger von den gefährlichen Jungs zu lassen.

»Oh, wir glauben der Propaganda!« Sori leerte das Glas. »Servo, blockiere das Schott und öffne es erst auf meinen Befehl.«

»Negativ«, meldete sich eine flauschige Frauenstimme. »Diesen Wunsch muss ich aus Sicherheitsgründen ablehnen. Außerdem spricht die Buchung von gleichberechtigten Passagieren.«

»Damit aktiviert sich Plan B: Ich weiche dir nicht mehr von der Seite.«

»Dann freue ich mich auf die Hygienekabine.«

Kurz sah es danach aus, als wollte sich Sori auf sie stürzen. Doch sie lehnte sich in der Couch zurück. »Servo, Neustart des Films.«

 

*

 

Ein holografischer Navigationspfeil, diesmal hellgrün, brachte Chiakli zum Freizeitdeck. Lächelnd lehnte Vinor im Eingangsbereich, in der Hand den Cocktailshaker.

»Dein Pulver bewirkt Wunder.« Trotz des schlechten Gewissens hatte sie Sori sicherheitshalber zwei Löffel in den Morgentee gerührt. Nur so konnte sie in Ruhe eine Entscheidung wegen der Mission treffen.

Vinor deutete zum offenen Schott. »Nach Euch, Edelste.«

Sie verbeugte sich und betrat den Spa-Bereich. Sanfte Musik lud zum Entspannen ein. Rauch stieg von abbrennenden Räucherstäbchen auf. Sie tränkten die Luft mit dem Geruch von Holz und Kräutern. Chiakli wollte die Augen schließen und abschalten.

Eine kleine Servoeinheit verhinderte es. »Folgt mir!«

Der kegelförmige Roboter schwebte zu einem Schott, hinter dem sich zwei Massagebetten versteckten.

»Die Umkleidekabinen findest du drüben«, erläuterte Vinor. »Für danach habe ich einen Cocktail vorbereitet.«

Vier Minuten später lag Chiakli auf der Liege und stöhnte. Die Greifarme des robotischen Masseurs waren einfach göttlich. Er knetete, streichelte, rieb, drückte und kreiste über Stellen des Rückens, die so davor noch nie berührt worden waren. Das Öl, das er auf ihrer Haut verteilte, sorgte für eine kuschelige Wärme. Ihre Gedanken entspannten sich; die Verunsicherung, die in ihr kreiste, wurde leiser, blieb aber als dezentes Hintergrundrauschen bestehen.

Chiakli seufzte und kostete den seltenen Moment aus. »Das war eine sensationelle Idee. So wohl habe ich mich zuletzt als Kind gefühlt.« Sie stockte.

Die Unsicherheit war zurück. Dieses Leben an Bord der STELLARIS konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Selbst wenn, Frieden konnte sich nicht so auswirken. Es musste auch Schattenseiten geben, die vor ihr verheimlicht wurden. Außer ... die funarische Regierung hatte sie mit den Parolen des gerechten Krieges belogen.

Verärgert schob sie die Bedenken beiseite. Das alles war zu schön, um es durch negative Gedanken zu zerstören.

Vinor räusperte sich. »Du hast angedeutet, dass du eine etwas andere Kindheit hattest.«

Der kurze Anflug von Entspannung verflüchtigte sich. Sie wischte den Schweiß über den Augenbrauen ab. »Meine Eltern waren Wissenschaftler. Wir lebten auf einem Forschungsmond und hatten relative Ruhe vom Militär.«

»So wie du das letzte Wort ausgesprochen hast, bist du kein großer Soldatenfreund.«

»Sie sind eigen, denken in Hierarchien, lieben Uniformismus und hassen Individualität.« Sie schloss die Augen. »Ich bin anders aufgewachsen.«

»Und warum bist du Friedensbotschafterin geworden?«

»Ich wurde nominiert, um den Durchschnittsbürger zu repräsentieren.«

»Wer wagt es, dich als Durchschnitt zu bezeichnen?«

Sie lachte. Er war wirklich süß.

»Woran haben deine Eltern geforscht?«

»Waffenentwicklung.«

»Oh.«

»Meine Mutter hatte kein Problem damit, aber mein Vater hat mit dem Schicksal gehadert.«

»Haben sie deinen Vater zum Dienst gezwungen?«, fragte Vinor.

»Nicht das Militär, sondern meine Mutter.« Der Roboter knetete die Pobacken und rüttelte die Oberschenkelmuskeln. »Er wollte abhauen, aber nicht ohne sie. Und sie war immer schon überzeugend.«

»Du warst hin- und hergerissen«, brachte Vinor es auf den Punkt.

»Durch das Militär kannte ich nur eine Seite. Ich hasse die Urmer. Sie haben meine Eltern ermordet!«

»Wie?«

»Sie haben den Mond angegriffen, die flüchtenden Schiffe zerstört und alle Rettungsboote vernichtet.«

»Wirklich? Sie haben auf Rettungsboote geschossen?« Ungläubig schüttelte er den Kopf.

Sie nickte. Der Hass auf den Feind war zurück und überlagerte alles. Die Vernichtung der Urmer führte rascher und effizienter zum Frieden als jede Konferenz.

»Schrecklich, wenn Lebewesen derart grausam sind. Aber ihr seid auf dem richtigen Weg. Vergebung ist der Schlüssel zur Versöhnung.«

 

*

 

Auf dem halben Weg zur Kabine verabschiedete sich Vinor von ihr. Sein Dienst begann in einer Stunde. Nachdenklich wartete sie, bis er im Korridor verschwunden war. Der Satz mit der Vergebung wirkte nach. Konnte sie den Urmern verzeihen und ein neues Leben beginnen? Vielleicht noch heute?

Ihr Vater drängte sich in die Überlegungen. Sie saßen im Garten der Forschungsstation, dem Hydroponium der STELLARIS ähnlich, nur ohne Tiere. Es war drei Tage nach ihrem zwölften Geburtstag und eine Woche, bevor die Urmer den Mond zerstören würden.

»Täubchen«, sagte ihr Vater, »das Leben ist zu kurz, um es mit Krieg zu verschwenden.« Er starrte durch die Panzerplastkuppel in die Schwärze des Alls. »Dort draußen sind mehr Kriege geführt worden und mehr Lebewesen gestorben, als es Sonnen gibt.« Er seufzte. »Und wofür? Für das Ego Einzelner, für die Aufrechterhaltung einer Meinung oder aufgrund von Missverständnissen.«

»Und warum kämpfen die Urmer gegen uns?«

»Es gibt kein sie gegen uns, wir gegen sie.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Urm ist unsere Kolonie. Sie sind wir, wir sind sie. Umso tragischer, dass wir uns gegenseitig niedermetzeln.«

»Aber warum?«

»Die Urmer wollen eigenständig sein, und unsere Regierung ist dagegen.«

»Und warum?«

»Macht und Idiotie!«

»Phyra sagt, die Urmer sind böse.«

»Vergiss die Lehrerin, sie verbreitet nur Propaganda.«

»Was ist Propaganda?«

»Die Lüge der Regierenden, um die Masse in ihrem Sinn zu beeinflussen.« Er schnippte einen Fussel von der Hose. »Krieg, Täubchen, Krieg und das Militär reduzieren dich aufs Funktionieren. Du hast zu gehorchen, hast dein Leben für eine abstrakte Sache zu opfern. Im Frieden jedoch kannst du dich entfalten, kannst tun, was dir Spaß macht.«

»Aber ich tue, was mir Spaß macht – meistens zumindest«, schränkte sie ein, als sie an den Unterricht dachte.

»Unser Leben hier spiegelt nicht das Leben der Funarier wider. Wir haben Glück.« Er drehte sich zu ihr. »Irgendwann wird unser Glück enden, und wir reihen uns in die Kriegsmaschinerie ein.« Nachdenklich verzog er die Lippen. »Täubchen, du musst mir versprechen, dass du bei der ersten Gelegenheit abhaust, egal, was andere Funarier dazu sagen. Rede nicht mit ihnen, sondern flüchte.« Er streichelte ihre Wange. »Vor allem begehe nicht meinen Fehler, aus Liebe zu bleiben und zu hoffen, dass dein Partner sich ändert.«

Damals hatte sie ihn nicht verstanden. Und nach der Rettung hatte das Militär dafür gesorgt, dass sie keinen Gedanken an die Vergangenheit und ihre Eltern verschwendete. Sie blieb stehen, sank zu Boden und lehnte sich gegen die Wand.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine flauschige Stimme, die aus dem Nichts kam.

»Ich muss nur nachdenken«, antwortete sie der Bordpositronik. Chiakli tauchte in ihr bisheriges Leben ein, erkannte Zusammenhänge, sah Abhängigkeiten und wie sie sich daraus lösen konnte. Am Ende blieben zwei Fragen.

Sollte sie so weitermachen wie bisher?

Sollte sie die Friedenskonferenz wie geplant sabotieren, oder sollte sie desertieren?

Fragen, von denen sie wusste, wie ihr Vater sie beantwortet hätte.

 

*

 

Chiakli erwachte schweißgebadet. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Der Magen rebellierte, und sie fühlte sich schlapp.

Hatte sie das Abendessen nicht vertragen, oder war es Vinors Cocktail?

Als sie sich aufsetzte, begann ihr Kopf zu pochen und dröhnte vom Haaransatz bis zu den Augenbrauen. Zusätzlich schellte ein fiepender Ton durch die Kabine, der ihre Kopfschmerzen verschlimmerte. Der Ton sollte Sori aufzuwecken. Doch die Offizierin, die neben ihr lag, bewegte sich nicht. Mit einem mulmigen Gefühl sah sie ihre Vorgesetzte an.

»Sori?«, fragte sie zaghaft.

Die Soldatin reagierte nicht.

Ein Tsunami aus Angst und Sorge schwappte mitten durch Chiaklis Herz und donnerte in ihren Bauch. Sori lag immer noch in derselben Stellung im Bett wie am Vortag.

Hatte sie ihr zu viel des Pulvers in den Tee gemischt?

Panisch rüttelte sie Sori an der Schulter.

Keine Reaktion.

Chiakli schloss die Augen, kämpfte gegen die Vorahnung. Zögernd legte sie die Finger an Soris Hals und fühlte den Puls. Als sie nichts spürte, drückte sie stärker zu.

Nein! Nein! Nein!

Verdammt, sie hätte auf ihr schlechtes Gewissen hören und Vinors Pulver wegschütten sollen. Ein Gefühl der Verzweiflung überschwemmte sie.

»Verbindung zu Vinor Canube!«, befahl sie dem Bordrechner. Das Hologramm zeigte ihn mit nacktem Oberkörper und einem Handtuch um die Hüfte.

»Komm sofort in meine Kabine!«, rief sie.

»Ist das nicht ein wenig verfrüht?«

Jetzt nervte seine charmant-witzige Art. »Es ist ernst!«

Schlagartig wich der Schalk aus ihm. »Was ist passiert?«

»Komm einfach her!« Ihre Stimme überschlug sich.

»Ich bin auf dem Weg!«

Während sie wartete, kehrten die Schmerzen im Magen zurück. Es war, als würde ihr jemand ein Messer in die Gedärme rammen, ein paar Sekunden warten und umdrehen. Ihr wurde übel. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie die Hygienekabine und erbrach sich.

Nachdem sie mit wackeligen Beinen zurück in den Hauptraum getorkelt war, meldete der Servo, dass Vinor vor der Tür stand.

»Sori hat keinen Puls!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Du musst ...« Ein Magenkrampf unterbrach sie.

Während sie sich auf der Couch abstützte, ging Vinor zum Bett. Er legte zwei Finger an Soris Halsschlagader.

Chiakli stöhnte. Ihr Magen schien sich nach außen zu stülpen. Sie sank zu Boden, kauerte sich zusammen und presste die Hände an den Bauch.

»Hol ...« Wie hieß diese Medikerin? »Hilfe.«

Vinor antwortete nicht, sondern setzte sich zu ihr auf den Boden. »Sori ist tot.«

Lag Triumph in seiner Stimme?

Chiakli wollte etwas sagen, fand aber keine Kraft dazu. Die Übelkeit wurde stärker, die Magenkrämpfe heftiger. Die Augenlider fielen zu ... sie konnte sie nicht mehr offen halten. Etwas explodierte in ihrem Magen, entfachte ein Feuer, dessen Flammen immer höher leckten.

»Servo, verständige Zhang Li!«, befahl Vinor und summte eine Melodie.

Entsetzt erkannte Chiakli darin die Hymne Urms.