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Inhalt

Garçon

Probleme

Coco und Fleur

Der Gardian

Wild und gefährlich

Eric

Am Flamingosee

Ein Traum wird wahr

Henri de St. Ablon

Das können wir schon lange!

Der wilde Stier

Der Mann mit dem Schnurrbart

Holprige Fahrt

Eine Katze namens Belle

Ertappt!

Schlauer, als er aussieht

Ein sehr guter Vorschlag

Die Abrivado

Hector bricht aus

Mister Miller

Die Verfolgungsjagd

Garçon in Grün

Das Spiel ist aus

Der Stierkampf

Ein einfaches Reiterkunststück

Garçon

Bibi Blocksberg, die kleine Hexe aus Neustadt, öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf dünne, lavendelfarbene Vorhänge, durch die das Sonnenlicht ins Zimmer drang. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein weiteres Bett. Tinas roter Schopf war auf dem Kopfkissen zu sehen. Sie schlief noch wie ein Murmeltier.

Bibi erinnerte sich, wie sie gestern angekommen waren. Abends waren sie auf dem Flughafen von Arles gelandet. Arles ist eine Stadt in Südfrankreich, in einer Gegend, die Camargue heißt. Stephanie Taureaux und ihre Tochter Claire hatten sie vom Flughafen abgeholt. In einem klapprigen Jeep waren sie über Land gefahren. Es hatte schon gedämmert, deshalb hatte Bibi von der Landschaft nur wenig mitbekommen. Noch dazu war sie nach dem Flug furchtbar müde gewesen und schon im Auto immer wieder eingenickt.

Nun waren sie also hier: auf der Stier- und Pferdefarm von Stephanie Taureaux und ihrer Tochter Claire. Gleich nach der Ankunft hatte Claire ihnen ihr Zimmer gezeigt und nach einer kurzen Katzenwäsche waren Bibi und Tina sofort in ihre Betten gefallen und eingeschlafen. Was Bibi sich unter einer Stier- und Pferdefarm genau vorzustellen hatte, würde sie heute erst erfahren.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie setzte sich auf und sah Tina, die zu ihr hinüberblickte.

„Na, endlich wach, du Schlafmütze?“, fragte ihre Freundin und grinste sie an.

„Was heißt hier Schlafmütze!“, entgegnete Bibi gespielt beleidigt.

„Ich bin schon ewig wach. Ich hab mich bloß erinnert, wo wir eigentlich gelandet sind.“

„Na, in der Camargue“, erwiderte Tina. „Im Land der weißen Pferde.“

„Stimmt! Auf die Pferde bin ich echt schon total gespannt.“

„Und ich erst.“ Tina stieg aus dem Bett und streckte sich. „Los, gehen wir gleich mal zu Claire rüber!“

Sie verließen das Zimmer und standen auf einem gefliesten Flur, der sich unter ihren nackten Füßen angenehm kühl anfühlte. Claires Zimmer lag ihrem direkt gegenüber. Tina klopfte leise an die Holztür.

„Entrez“, ertönte es.

Tina kicherte. „Das ist Französisch und heißt: ‚Kommt rein.‘“

„Weiß ich“, erwiderte Bibi. Schließlich hatte sie Französisch in der Schule.

Sie traten ein.

„Guten Morgen“, sagte Claire. Sie sprach sehr gut Deutsch, was kein Wunder war, da ihre Mutter aus Deutschland stammte. Genau genommen kam Stephanie Taureaux sogar aus Falkenstein und war eine ehemalige Klassenkameradin von Tinas Mutter. Als junge Frau hatte sie Urlaub in der Camargue gemacht und sich Hals über Kopf in Louis Taureaux verliebt, einen Stier- und Pferdefarmer. Sie hatten geheiratet und eine Tochter bekommen. Doch dann war Louis Taureaux an einer seltenen Krankheit gestorben. Seitdem führte Stephanie die Farm alleine. Da es sehr einsam war, hatte sie Tinas Mutter und Tina eingeladen, die Ferien bei ihr zu verbringen. Frau Martin hatte aber zu viel zu tun, weshalb Tina mit Bibi hierhergekommen war.

Claire hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt und lächelte ihren Gästen entgegen. Sie hatte halblange braune Haare und war ungefähr in Bibis und Tinas Alter.

Die beiden sahen sich in dem Zimmer um. Es war sehr gemütlich eingerichtet und an den Wänden hingen viele Fotos. Sie zeigten alle nur ein einziges Motiv: ein weißes Pferd.

„Das ist Garçon“, sagte Claire. „Ist er nicht wunderschön?“

Claire wartete eine Antwort nicht ab. Plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus: „Garçon ist mein bester Freund. Er hat schon viele Preise gewonnen. Letztes Jahr ist er sogar zum schönsten Pferd der Camargue gewählt worden!“

Bibi und Tina konnten nur beeindruckt nicken: Garçon war wirklich wunderschön.

„Ich habe ihn bekommen, als er noch ein Fohlen war“, fügte Claire leise hinzu. „Mein Vater hat ihn mir geschenkt.“

Bibi und Tina wussten, dass Claires Vater vor zwei Jahren gestorben war. Umso verständlicher war es, dass Garçon ihr so viel bedeutete.

„Das sind tolle Fotos“, sagte Tina. Sie beugte sich vor, um sie genauer zu betrachten. „Besonders das hier mit dem Sonnenuntergang.“

Sie deutete auf ein Foto, wo Garçon in der Abenddämmerung vor einem See zu sehen war.

„Ich fotografiere gern“, sagte Claire. „Das Bild habe ich am Flamingosee aufgenommen. Wenn ihr Lust habt, können wir morgen einen Ausflug dorthin machen. Aber erst einmal gibt es Frühstück, einverstanden?“

„Super!“, antwortete Bibi. „Wir brauchen nur noch fünf Minuten!“

Schließlich waren sie und Tina noch im Schlafanzug.

„Lasst euch Zeit!“, rief Claire lachend. „Wenn ihr so weit seid, sagt einfach Bescheid, dann gehen wir zusammen runter!“

Probleme

Etwa zehn Minuten später betraten Bibi, Tina und Claire die Küche. Stephanie Taureaux hatte bereits den Tisch gedeckt. Claires Mutter hatte die gleichen braunen Haare wie ihre Tochter, allerdings fielen sie ihr bis weit über die Schultern. „Ihr kommt genau richtig. Das Frühstück ist gleich fertig.“

Auch in der Küche hingen viele gerahmte Fotos, wie ihnen auffiel. Die meisten waren schwarz-weiß und ziemlich alt. Darauf waren weiß gekleidete Männer in einer Arena mit Stieren zu sehen. Bibi und Tina warfen sich einen kurzen Blick zu. Nach allem, was sie über Stierkampf wussten, waren sie nicht unbedingt Freunde davon. Doch hier in der Camargue schienen Stierkämpfe üblich zu sein.

„Setzt euch!“ Auf dem Tisch standen knuspriges, in Scheiben geschnittenes Baguette, verschiedene Sorten Marmelade und Butterkekse. Die Mädchen bedienten sich.

„Können wir eigentlich heute schon ausreiten?“, fragte Bibi.

Stephanie lachte: „Erst einmal müsst ihr euch Pferde fangen.“

„Stehen die nicht einfach bei euch im Stall?“, wunderte sich Tina.

Claire kicherte. „Die meisten von denen haben noch nie einen Stall von innen gesehen.“

„Unsere Pferde sind eigentlich das ganze Jahr über draußen“, erklärte Stephanie Taureaux. „Bis zu ihrem dritten Lebensjahr leben sie mit ihrer Herde zusammen. Danach werden einige von ihnen eingefangen und langsam angeritten. Die Gardians achten dabei besonders darauf, welche Pferde für die Arbeit mit den Stieren geeignet sind. Aber wenn sie nicht für die Arbeit gebraucht werden, leben sie einfach draußen bei ihrer Herde.“

„Gardians? Das sind doch die Rinder- und Pferdehirten hier in der Camargue, oder?“, fragte Tina jetzt nach. Sie hatte während des Fluges lange in ihrem Reiseführer gelesen.

„Genau“, sagte Claire und nickte. „Ohne Gardians läuft hier gar nichts. Zurzeit haben wir aber ziemliche Probleme mit ihnen.“

„Was denn für Probleme?“ fragte Tina, während sie an einem Butterkeks knabberte.

„Na ja, irgendwie will keiner mehr für uns arbeiten.“

„Und wieso nicht?“, fragte Bibi.

„Es geht hier ziemlich traditionell zu“, erklärte Stephanie. „Einer Frau trauen sie nicht zu, eine Pferde- und Stierfarm zu führen, schon gar nicht einer Fremden. Wer es hier schaffen will, der muss sich wirklich durchbeißen können.“

Auf einmal machte sie ein fast verzweifeltes Gesicht.

„Maman, was ist denn?“, fragte Claire. „Ist etwas passiert?“

Stephanie zögerte kurz.

„Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen. Aber ...“

Seufzend erhob sie sich. Sie nahm einen Briefumschlag vom Küchenbuffet.

„Das war heute in der Post“, sagte sie zu ihrer Tochter. „Ein Brief vom Marquis.“

„Vom Marquis? Was will der denn von uns?“

„Er will uns hier weghaben“, erwiderte Stephanie.

„Was!“ Claire schrie erschrocken auf.

„Der Marquis? Wer ist denn das?“, mischte Bibi sich ein.

Stephanie erklärte die Sache jetzt genauer. Der Marquis hieß eigentlich Marquis Henri de St. Ablon. Er war ein Adeliger und der nächste Nachbar der Familie Taureaux. Er lebte in etwa zehn Kilometer Entfernung von ihnen. Ihm gehörte das Land, auf dem die Stier- und Pferdefarm von Stephanie Taureaux lag.

„Und was schreibt er?“, fragte Claire.

„Dass er den Pachtvertrag nur verlängert, wenn wir 20 Prozent mehr bezahlen“, erwiderte Stephanie.

„Aber das können wir doch nicht, oder?“

Stephanie schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen! Wir kommen sowieso kaum über die Runden.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Claire.

Ihre Mutter hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Wir werden schon eine Lösung finden“, sagte sie. Sie lächelte angestrengt. „Jedenfalls solltet ihr euch die Ferien davon nicht vermiesen lassen.“

„Wir könnten diesem Marquis ja mal ein bisschen auf den Zahn fühlen“, schlug Tina vor.

„Nein, bitte nicht“, sagte Stephanie sofort. „Ich muss dafür selbst eine Lösung finden.“

„Aber was denn für eine Lösung, Maman?“, fragte Claire wieder.

„In drei Tagen beginnt das Fest der Pferde und Stiere in St. Ablon“, erwiderte Stephanie. „Vielleicht gewinnen Hector und Garçon einen Preis. Dann sieht die Sache schon wieder anders aus. Vielleicht begreift der Marquis dann, dass auch Fremde gute Pferde- und Stierzüchter sein können.“

„Hector ist nämlich unser bester Kampfstier“, erklärte Claire mit Blick auf Bibi und Tina.

„Kampfstier?“, wiederholte Bibi.

„Na ja“, meinte Claire trocken. „Die züchten wir hier.“

Tina machte ein ziemlich erschrockenes Gesicht: „Äh ... Und diese Kampfstiere leben auf der Farm?“

„Natürlich nicht!“ Claire lachte. „Dafür sind die viel zu wild! Unsere Stiere leben genauso frei wie die Pferde. Um sie einzufangen, brauchen wir ebenfalls die Gardians.“

„Zum Glück hilft uns wenigstens Frédéric noch“, sagte Stephanie. „Er hat schon bei uns gearbeitet, als mein Mann noch lebte. Er ist eine treue Seele und lässt uns bestimmt nicht im Stich. Aber wenn wir Frédéric nicht hätten, wüsste ich wirklich nicht, was wir machen sollten.“

„Wie wär‘s, wenn wir uns jetzt die Pferde anschauen?“, fragte Claire, um abzulenken.

„Das wäre toll!“, rief Bibi. Sie konnte es kaum erwarten, endlich zu den Pferden zu kommen.

Stephanie lächelte: „Na los, raus mit euch! Ich räume hier schon auf!“

Die Mädchen sprangen auf und stürmten aus der Küche.

Coco und Fleur

Hinter dem Haus lag die riesige Koppel. Neun weiße Pferde weideten darauf. Die Mädchen lehnten am Zaun und beobachteten sie eine Weile. „Garçon ist auch dabei. Soll ich ihn euch mal zeigen?“, fragte Claire. Sie legte Mittelfinger und Daumen zusammen, steckte beide Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff hören.

„Wow! Du kannst gut pfeifen“, meinte Tina bewundernd.

„Hab ich von Maman gelernt“, sagte Claire. „Sie kann das noch viel besser als ich.“

Einer der Schimmel hatte seinen Kopf gehoben und trabte auf sie zu.

„Das ist Garçon“, sagte Claire mit seligem Lächeln.

Der Hengst blieb ein paar Meter vom Zaun entfernt stehen, doch als Claire ihm die Hand hinstreckte, kam er ganz heran. Sie streichelte ihm über die Nüstern und Garçon schnaubte leise.

„Er ist wirklich wunderschön!“, sagte Tina.

„Nicht wahr!“ Claire strahlte. „Bestimmt wird er auch dieses Jahr wieder zum schönsten Pferd der Camargue gewählt. Alphonse Lupin, der größte Pferdehändler von St. Ablon, wollte ihn uns sogar abkaufen. Aber Maman hat zum Glück abgelehnt.“

Sie schmiegte ihre Wange an den Kopf des Pferdes.

„Dürfen wir ihn auch mal streicheln?“, fragte Tina.

„Ihr könnt es versuchen“, lachte Claire.

Tina streckte ihre Hand aus, doch da wieherte Garçon unwillig und wich ein paar Schritte zurück. „Er lässt sich nicht von jedem streicheln“, sagte Claire. „Er muss euch erst noch ein bisschen kennenlernen. Aber keine Sorge, wir finden schon Pferde für euch. Wollen wir?“

Die drei kletterten über den Koppelzaun und gingen langsam auf die kleine Herde zu.

„Zwei der Pferde werden beim Fest der Pferde und Stiere in St. Ablon gebraucht“, sagte Claire. „Sie laufen bei der Abrivado mit.“

„Abrivado? Was ist das?“, fragte Bibi.

„So nennt man den Zug der Pferde und Stiere zur Stadt“, sagte Claire. „Die Tiere werden erst auf einem Platz vor der Stadt gesammelt und dann alle nach St. Ablon getrieben. Hunderte von Pferden und Stieren, stellt euch das vor!“ Claires Augen leuchteten vor Begeisterung. „Das wird ein Spektakel, kann ich euch sagen!“

Sie hatten sich der Herde jetzt bis auf wenige Schritte genähert.

Bibi und Tina nahmen die Tiere genauer in Augenschein. Abgesehen von Garçon befand sich nur ein einziger Hengst auf der Weide, der jedoch etwas abseits graste.