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Über dieses Buch:

In einer finsteren Regennacht kehrt die Millionärstochter Catherine allein in ihre Wohnung zurück – und ahnt nicht, dass ihr Mörder dort bereits lauert … Als die Polizei sie grausam hingerichtet auffindet, deutet alles auf ein Verbrechen aus Eifersucht hin, denn der Täter hat das Wort »Flittchen« mit Lippenstift auf ihren Badezimmerspiegel geschrieben. Kommissar Hake von der Stockholmer Polizei muss schnell handeln, denn die einflussreiche Familie der Toten setzt seine Vorgesetzten unter Druck. Aber ist der Verlobte, der kein Alibi vorweisen kann, wirklich der Täter? Hake ermittelt weiter und stößt auf mehr und mehr dunkle Geheimnisse, die Catherine sorgsam gehütet hat. Der Kreis der Verdächtigen wächst – und schnell wird klar: Der Killer ist noch immer auf freiem Fuß … und Catherine nicht sein letztes Opfer!

Über den Autor:

Lars Bill Lundholm wurde als Drehbuchautor preisgekrönter schwedischer Film- und Fernsehproduktionen bekannt. Seine Bandbreite reicht von gefühlvollen Inselromanen bis hin zu spannungsgeladenen Kriminalromanen. Er lebt in Stockholm.

Lars Bill Lundholm veröffentlichte bei dotbooks bereits die Inselromane »Der Schärendoktor – Der erste Sommer« und »Der Schärendoktor – Herbstfest auf Saltö« und die beiden Stockholm-Krimis »Mord in Östermalm« und »Tod in Södermalm«.

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eBook-Neuausgabe September 2019

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Tödlicher Nordwind« bei RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und den angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2002 by Lars Bill Lundholm

Die schwedische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Östermalmsmorden« bei Forum, Stockholm.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2008 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der eBook-Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Oleksiy Mark

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95824-546-4

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Lars Bill Lundholm

Mord in Östermalm

Ein Stockholm-Krimi

Aus dem Schwedischen von Ulrike Nolte

dotbooks.

»Man sollte nie versuchen, seine Seele von Lügen reinzuwaschen. Damit bringt man so vieles andere zum Verschwinden, an das man nie gedacht hätte. Am Ende verliert man sich selbst und alles, was einem teuer ist.«

Hjalmar Söderberg, Doktor Glas

Kapitel 1

DER ERSTE MORD geschah in der Jungfrugatan im Stadtteil Östermalm, einem der vornehmsten Viertel von Stockholm. Auf der einen Seite endete die Straße an der spätbarocken Hedvig-Eleonora-Kirche mit ihrem kupferfarbenen Kuppeldach und dem imposanten schmiedeeisernen Gittertor. Am anderen Ende konnte man bei Sonnenschein das Grün der Alleebäume vom Valhallavägen schimmern sehen. Doch zum Zeitpunkt des Mordes regnete es, und die Baumwipfel erinnerten eher an schwarze Federbüschel.

Cathrine Haldeman-Spegel wickelte sich enger in ihren Mantel, als sie aus der Tür ihres Wohnhauses in die Jungfrugatan trat. Es war Montagabend, zehn vor neun. Gegen den Regen geduckt eilte sie zum Kiosk am Karlavägen, um Zigaretten und die Frauenzeitschrift Femina zu kaufen. In der aktuellen Ausgabe sollte es einen Bericht über den Künstler Gustav Rudberg geben. Cathrine liebte Landschaftsmalerei, besonders die Werke der Schonen-Maler. Die Bilder weckten in ihr eine Sehnsucht nach der unberührten Natur rund um Österlen, nach den Sommern ihrer Kindheit und einem sorglosen, beschützten Leben.

Vor dem Kiosk war eine Schlange, und Cathrine musste sich hinter zwei jungen Männern und einer Frau anstellen. Die Männer waren ungefähr in ihrem Alter, Mitte zwanzig, und trugen coole schwarze Jacken, schwarze Hosen und schwarze, spitz zulaufende Boots. Sie suchten Blickkontakt, aber Cathrine zeigte nicht das geringste Interesse. Nein, mit solchen Kindern gab sie sich nicht länger ab. In letzter Zeit fühlte sie sich bedeutend reifer als der Rest ihrer Generation. Ein wunderbar warmes Gefühl stieg in ihr auf, als sie an ihren neuen Liebhaber dachte, der so ... anders war. Sensibel und gleichzeitig unberechenbar. Nicht wie Peter. Das war überhaupt kein Vergleich. Allerdings war diese Beziehung riskant. Gefährlich. In mehr als einer Hinsicht. Doch Cathrine gefiel der Gedanke, sich an der Grenze des Erlaubten zu bewegen und vielleicht sogar darüber hinauszugehen.

Die Männer am Kiosk warfen ihr abwägende Blicke zu. Sie sahen eine junge Frau mit langem, braunem Haar, die tief in Gedanken versunken schien. Fast wirkte sie ein bisschen altmodisch mit ihren flachen Schuhen, dem Mantel und der Handtasche. Die Kleidung war allerdings elegant, gut geschnitten und von sichtbar teurer Qualität. Eine exklusive Uhr der Marke Patek Philipp schmückte ihr Handgelenk, und das Halstuch stammte von Hermès. Cathrine war keine klassische Schönheit, doch ihre scharf geschnittenen Augenbrauen gaben dem Gesicht einen dramatischen Ausdruck. Sie benutzte keinen Lippenstift. Den Männern kam sie vor wie ein typisches Oberklassenmädel. Gleichzeitig elegant und verschlossen.

»Eine Packung Marlboro Lights und eine Femina«, bestellte Cathrine, als sie an der Reihe war.

Der pickelige Verkäufer schob ihr die Zigaretten zu und beugte sich über einen Stapel Magazine. »Die Femina ist schon ausverkauft«, sagte er entschuldigend, »aber wir haben noch andere Frauenzeitschriften.«

»Danke, dann eben nicht.« Cathrine war enttäuscht. Sie hatte geplant, ihrem Geliebten die Rudberg-Bilder zu zeigen und davon zu erzählen, wie sie ihre Sommer an genau diesen Stränden verbracht und am Kap von Sandhammaren nach Muscheln und Treibgut gesucht hatte. Sie hatte darüber philosophieren wollen, wie sehr das Licht in Österlen dem in der französischen Provence ähnelte. Als sei der Himmel gerade frisch gewaschen, mit einem goldenen Schimmer am Horizont. Frustriert steckte sie die Zigaretten ein und trat aus dem Lichtschein des Kiosks ins Dunkel der Allee.

Die Männer schauten einander an. Ein letzter Flirtversuch hatte wahrscheinlich keinen Sinn. Hatte die Frau nicht einen Verlobungsring an der linken Hand getragen? Trotzdem folgten beide dem Impuls, ihr nachzuschauen, bis sie verschwunden war. Sie ähnelte in gewisser Weise einem Mannequin aus den Fünfzigerjahren: Halstuch, Nylonstrümpfe und ein Popeline-Mantel mit einem geknoteten Gürtel. Fehlte nur noch die Vespa, um das Bild zu vervollständigen. Die jungen Männer wechselten ein beeindrucktes Lächeln, vergaßen die Frau jedoch, sobald sie um die Ecke gebogen war. Sie konnten schließlich nicht ahnen, dass sie fast die Letzten waren, die Cathrine lebend gesehen hatten.

Cathrine öffnete die Haustür, durchquerte die Eingangshalle und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Von der anderen Straßenseite beobachtete jemand ihre Rückkehr, aber sie bemerkte nichts davon. Sie dachte zu intensiv darüber nach, wie sie beim nächsten Treffen ihrem Freund imponieren könnte. Vielleicht sollte sie ihm erzählen, dass sie eine Nacht im Atelier des deutschen Malers Anselm Kiefer verbracht hatte. Heimlich hatte sie an seinen Farben geschnuppert und eine Tube von dem Gold-Ocker gestohlen, das er so reichlich benutzte. Die Erinnerung an seinen Assistenten brachte sie zum Lächeln. Er hatte lange, goldgelbe Fingernägel gehabt, und sie hatte sich den Rücken noch wochenlang mit Jod einreiben müssen.

Als der Aufzug sich endlich rasselnd bis zur dritten Etage gequält hatte, stieg Cathrine so schnell wie möglich aus. Jede Fahrt versetzte sie in Angst und Schrecken, und sie war erleichtert, der klaustrophobischen Enge der Kabine entkommen zu sein. Gleich darauf stand sie schon vor ihrer Wohnung und schloss auf, zögerte allerdings einen Moment, als sie unten in der Eingangshalle die Haustür zuschlagen hörte. Seltsam. Kein Geräusch von Schritten. Die Stille war bedrückend. Mit einem wachsamen Blick über die Schulter betrat sie ihre Wohnung und schloss sorgfältig hinter sich ab. In den letzten Wochen hatte sie das unbehagliche Gefühl gehabt, verfolgt zu werden.

Ihre nervöse Unruhe verschwand, sobald sie in der hellen, einladenden Wohnung stand. Sie sank auf einen Stuhl, zog die Schuhe aus und betrachtete das geschmackvoll möblierte Wohnzimmer, das so perfekt ihr Inneres widerspiegelte – eine elegante Mischung aus klassisch und modern, zwei hübsche Erkerfenster mit Blick auf die Jungfrugatan, und daneben ein minimalistisch gehaltenes Schlafzimmer aus hellem Holz, das Bett mit grauen Bezügen.

Nach einem kurzen Moment stand sie auf und stellte sich vor den Spiegel. Das Bild, das sich ihr bot, verbesserte ihre Laune noch mehr. Zwar war sie ein bisschen zu eckig in den Hüften, aber dieser Mangel an weiblichen Rundungen wurde durch die wohlgeformten Brüste wieder wettgemacht. Ihr Haar, bis vor Kurzem hennarot, war nun braun getönt und gab ihr eine gewisse Zeitlosigkeit, wie sie fand. Ja, ihr Aussehen war wirklich das Geringste ihrer Probleme.

Sie ging zum Plattenspieler und legte ein Stück von Mozart auf. Zerbrechliche Klänge erfüllten den Raum, und sie steckte sich genießerisch eine Zigarette an. Bequem zusammengekuschelt in einem der Erker blickte sie ins Herbstdunkel hinaus. Der Wind war stärker geworden, und der Regen peitschte gegen die Scheibe. Cathrine schaute zu dem Gebäude auf der anderen Straßenseite und bemerkte einen halbnackten Mann an einem der Fenster. Dann tauchte eine Frau mit nassem Haar und Bademantel auf. Sie begann, mit den Fingern über seinen Körper zu fahren, und ließ die Kleidung zu Boden gleiten. Der Mann legte seine Hand um eine ihrer Brüste. Cathrine starrte fasziniert auf die Szene und fühlte sich gegen ihren Willen erregt. Plötzlich drehte der Mann den Kopf ein Stück zur Seite und sah Cathrine direkt an. Er lächelte ihr verschwörerisch zu, während die Frau ihn auf den Oberkörper küsste und dann mit der Zunge seinen Bauch hinunterfuhr.

Cathrine wandte den Blick ab und zog die Vorhänge zu. Sie dachte an Peter. In der nächsten Woche hatte er mehrere Tage frei. Bis dahin musste sie sich entscheiden, was sie ihm sagen wollte. Würde er überhaupt etwas bemerken? Sie selbst hatte das Gefühl, dass sie sich auf schwer erklärbare Weise verändert hatte. Vielleicht war sie erwachsener geworden? Sollte sie einfach nur die Verlobung lösen und ihm mitteilen, dass es vorbei sei ... dass sie ihre Freiheit wollte ... und dass es nett gewesen sei, solange es gehalten habe? Oder sollte sie versuchen, ihm die Situation verständlich zu machen?

Als sie auch den Vorhang am zweiten Fenster zuziehen wollte, entdeckte sie direkt vor der Eingangstür einen dunkel lackierten Wagen, der dort noch nicht gestanden hatte, als sie zum Kiosk gegangen war – zumindest hatte sie ihn nicht bemerkt. Das Auto kam ihr bekannt vor, aber diesen Gedanken schlug sie sich schnell aus dem Kopf. Was für ein Unsinn, dachte sie. Das war einfach nicht möglich. Im Übrigen sahen die meisten Wagen ziemlich gleich aus, wenn man ihnen nachts aufs Dach schaute. Trotzdem konnte sie bei der Vorstellung, diese unangenehme Person sei vielleicht in nächster Nähe, einen nervösen Schauer nicht unterdrücken. Das Gefühl gefiel ihr gar nicht. Sie fand es schrecklich, unvorbereitet zu sein. Einen Moment lang dachte sie auch an ihr Tagebuch, das vor Kurzem verschwunden war. Möglicherweise gestohlen.

Plötzlich hörte sie ein , leises, schabendes Geräusch, das durch die Musik der Mozartplatte drang. Im spiegelnden Fensterglas sah sie zu ihrem Erstaunen, wie die Wohnungstür aufging und eine dunkle Gestalt hereinkam. Die Erscheinung stand einen Augenblick still, mit dem Licht aus dem Fahrstuhl im Rücken. Cathrine konnte das Gesicht nicht erkennen. Ihr lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Jetzt löste sich die Person aus dem Schatten und trat mit ein paar schnellen Schritten ins Wohnzimmer.

Cathrine wandte sich hastig herum, da sie etwas sagen wollte, und so traf der erste Messerstich sie direkt im Hals. Mit einem grässlich gurgelnden Geräusch taumelte sie rückwärts. Der zweite Hieb zerschnitt ihr die Wange, und der ganze Raum begann sich um sie zu drehen. Eine warme, schmierige Flüssigkeit lief ihr übers Kinn und tropfte auf ihren grünen Pullover. Bevor sie starb, dachte sie noch, dass Rot und Grün eine schlechte Farbkombination seien. Die Mischung sah immer so schmutzig aus. Die folgenden fünf Messerstiche spürte sie nicht mehr ...

Kapitel 2

KOMMISSAR AXEL HAKE fuhr in seinem alten, klapprigen Citroën durch das Forstgebiet Tullinge, bog an einem schmalen Waldweg rechts ab und kam schließlich zu einem Schild, auf dem stand, hier habe Veterinärmedizinerin Julia Hake ihre Praxis. Er nahm den Fuß vom Gas und parkte auf dem Hof.

Das zweistöckige, rot gestrichene Holzhaus stand inmitten hoher Bäume, Heckenrosen und Wacholdersträucher. Gleich neben dem Hauptgebäude befand sich eine Scheune, deren unlackierte Balken von Wind und Wetter zu einer dunkelgrauen Bleifarbe gegerbt worden waren. Alles wirkte verwildert und machte einen fast unheimlichen Eindruck. Aber Hake kam es völlig natürlich vor, dass seine Schwester Julia sich an einem so einsamen, abweisenden Ort niedergelassen hatte. Sie mochte Menschen nicht besonders. Und ihre Tiere scherten sich nicht um Äußerlichkeiten und ästhetische Normen, wie sie immer sagte.

Axel Hake stieg aus dem Auto, griff nach seinem Gehstock und ging auf das Haus zu. Die Tür wurde geöffnet, und seine Schwester kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Sie trug zerschlissene Jeans, Sportschuhe und ein buntes Halstuch. Bei ihrem Anblick fühlte er eine überraschende Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Seine Schwester war einzigartig, ließ sich mit niemandem sonst vergleichen. Sie war eine groß gewachsene Frau mit langer Zottelmähne und einem vollen, aber schief sitzenden Mund. Die Nase war knubbelig, und das ganze Gesicht wirkte seltsam leblos, wie bei sehr alten, verblichenen Fotografien. Sie selbst fand, dass sie aussah wie eine Kindergartenzeichnung. Alles war zu groß oder zu klein geraten, nichts erschien besonders attraktiv. Mit Ausnahme der Augen. Eine wichtige Ausnahme, denn Julia Hakes Augen waren seegrasfarben, mit einem Hauch von Lindenblütengrün. Trotzdem lag es weniger an der Farbe, dass alle sofort in ihren Bann gezogen wurden, sondern an ihrem Ausdruck: intelligent, hellwach und mit einer Ironie, die nur darauf wartete, hervorzubrechen. Als beobachte Julia die Menschen um sich herum, die alle vergebens um ein wenig Seelenfrieden kämpften, und könne sich währenddessen ausschütten vor Lachen. Als habe sie etwas Entscheidendes begriffen, jedoch weder Zeit noch Lust, es der übrigen Welt zu erklären.

Hake öffnete nun den Kofferraum und holte einen Karton Rotwein heraus. Da er zum Tragen beide Hände benötigte, hängte er sich den Gehstock über den Arm. In den meisten Alltagssituationen kam er ganz gut zurecht. Nur dann und wann brauchte er eine zusätzliche Stütze.

»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte er, als sie zusammen ins Haus gingen. Er hinkte leicht, wenn auch kaum merklich.

Julia antwortete mit einem knappen Nicken und trat vor ihm in das unaufgeräumte Wohnzimmer. Obwohl sämtliche Wände mit Bücherregalen voll gestellt waren, lagen Berge von Romanen und Zeitschriften auf dem Fußboden verstreut. Auf dem Sofa lümmelten sich zwei Katzen und ein Hund, und auf dem altersfleckigen Tisch saß eine zahme Dohle. Sie drehte den Kopf, um das Bild des Besuchers in ihrem milchweißen Auge einzufangen.

Julia musterte ihren Bruder. Noch immer überraschte es sie manchmal, dass er nun ein erwachsener Mann war – und nicht länger der kleine Knirps, um den sie sich die ganze Kindheit hindurch gekümmert hatte und der mehr oder weniger von ihr abhängig gewesen war. Im fünften Schuljahr hatte ihm eine Schaukel die Nase gebrochen und seinem Gesicht Charakter verliehen. Jetzt glich er eher einem Preisboxer als einem Beamten der Kriminalpolizei. Er war untersetzt, hatte breite Schultern und kurz rasiertes Haar. Während sie seine hohen Wangenknochen und vollen Lippen studierte, dachte sie ohne Bitterkeit, dass er der Attraktivere von ihnen beiden war. Seine Augen waren grau und wachsam, aber in seinem Blick funkelte keine Ironie.

In vieler Hinsicht waren die zwei sehr gegensätzlich, doch vor allem waren sie Bruder und Schwester, und so dauerte es nie länger als ein paar Tage, bis sie voneinander hörten. Meistens war er derjenige, der anrief.

Axel Hake stellte den Wein auf den Tisch. »Ich hoffe, dieser Vorrat hält länger«, sagte er. »Schließlich habe ich den letzten Karton erst vor einer Woche abgeliefert. Hast du deinen Alkoholverbrauch etwa verdoppelt?«

Kaum waren die Worte heraus, wusste er die Antwort bereits. Er brauchte Julia nur anzuschauen. In ihren Augen glitzerte es, und sie grinste breit.

»Okay, wie heißt er?«, fragte Hake mit einer gequälten Grimasse.

»David«, entgegnete sie, und ihre Stimme bekam einen träumerischen Klang.

»Sieht es gut aus?«

»Na, was glaubst denn du?« Sie ging zu dem Karton und begann, Rotweinflaschen auszupacken.

Axel Hake glaubte es sofort. In ihren neununddreißig Lebensjahren war Julia ausschließlich mit Männern zusammen gewesen, die sehr attraktiv waren – und äußerst charakterlos. Schönheit war für sie der einzige Grund, sich zu verlieben. Vermutlich ein idiotisches Kriterium, aber was sollte man dagegen tun?

Julia hatte jedenfalls nicht vor, sich mit der Suche nach der psychischen Ursache abzuplagen. Am Anfang hatte sie versuchsweise auch andere Männertypen ausprobiert, doch daraus war nie etwas geworden. Also amüsierte sie sich eine Weile mit ihren Schönlingen, und wenn sie ihrer überdrüssig wurde, dann war die Trennung kein großes Drama. So war es jedes Mal. Sie hatte genug ... oder ihr Liebhaber hatte genug ... Hake hatte in den letzten zehn Jahren schon öfter eingreifen müssen, damit seine Schwester nicht misshandelt wurde. Julia selbst schien das kaum zu kümmern. Sie fand es interessant, wenn Männer die Beherrschung verloren, und betrachtete sie in solchen Fällen mit derselben Zärtlichkeit wie ein Pferd mit Sehnenschaden oder einen Hasen, dem der Fuchs ein Ohr abgebissen hat.

»Du weißt, wie sehr die beiden hoffen, dass du sie mal besuchst«, sagte er, während er den Mantel aufhängte. Er setzte sich und stellte seine Gehhilfe in Reichweite. Hake benutzte einen einfachen, hölzernen Stock mit abgenutztem Griff, den er auf einem Flohmarkt in Paris gefunden hatte. Nie im Leben hätte er ihn gegen ein orthopädisches Modell ausgetauscht.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Julia. »Aber nun geht es nicht darum, was sie wollen, sondern was ich will. Okay?«

Hake zuckte mit den Schultern. »Du solltest lernen, zu verzeihen.«

Julia nickte mit einem Ansatz von Resignation. »Vielleicht werde ich ihm eines Tages verzeihen können«, meinte sie müde. »Vielleicht kann ich eines Tages an ihre Tür klopfen und sagen: Papa, du warst während meiner ganzen Kindheit ein echtes Arschloch. Du hast gesoffen und deine Frau geschlagen, doch ich vergebe dir.« Sie warf ihrem Bruder einen verärgerten Blick zu. »Das Schlimmste ist, dass er selbst überhaupt nicht begreift, was er uns angetan hat. Deshalb kommen Verständnis und Vergebung in seinem Vokabular gar nicht erst vor.«

Sie fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar und schaute an Hake vorbei. ›Und außerdem‹, dachte sie, ›ahnst du nicht einmal die Hälfte von dem, was er nach ein paar Tagen Sauftour angestellt hat, mein liebes Brüderchen.‹

»Okay, ich werde die beiden jedenfalls von dir grüßen. Weißt du eigentlich, wie alt er wird?«

»Achtundsechzig«, antwortete Julia mechanisch, trat in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. »Ich koche uns einen Kaffee.«

Hake betrachtete seine Schwester. Sie bewegte sich überraschend geschmeidig für ihre Körpergröße und wiegte sich beim Gehen in den Hüften, so dass ihr Gang an farbige Rockstars erinnerte. Sie schien in ihrem Inneren einen Schlagzeug-Beat zu hören, dessen Rhythmus ihr ganzer Körper dann folgen musste.

Der Hund sprang vom Sofa und lief ihr in die Küche nach. Julia warf ihm eine halb gegessene Brotscheibe zu. ›Natürlich, immer die Tiere‹, dachte Hake. Tiere waren der Mittelpunkt ihrer Welt. Das hatte schon in der Kindheit angefangen, als sie Frösche und Regenwürmer nach Hause brachte. Danach kamen streunende Katzen und verletzte Vögel. Jetzt, nach ihrer Ausbildung zur Veterinärin, drehte sich ihr gesamtes Leben um die Tiere. Außer natürlich, wenn sie sich ihren Männern widmete, den schönen und unberechenbaren.

»Wie geht es denn Siri?«, fragte Julia.

»Der gleiche Wildfang wie immer«, sagte er und lächelte bei dem Gedanken an seine Tochter. Sobald Siri zur Sprache kam, schmolz er einfach dahin. Sie war ein kleiner Wirbelwind mit klugen Augen und heftigem Temperament, und er liebte sie mehr, als er sagen konnte – oder zu sagen wagte.

»Und Hanna?«

Hake hob ausweichend die Schultern. Seine Beziehung zu Hanna, Siris Mutter, war für alle in seiner Umgebung ein Mysterium. Manchmal sogar für ihn selbst. Sie liebten einander und waren ein Paar, aber sie waren nie zusammengezogen. Hanna pflegte zu sagen, sie wolle den Geruch von Mord und Totschlag nicht in ihrer Wohnung haben. Sie verabscheute die Vorstellung, dass Hake direkt vom Leichenschauhaus in ihr Bett stieg. Zwar versuchte er, Toleranz für ihre Sichtweise aufzubringen, doch insgeheim fühlte er sich schrecklich unglücklich über dieses Arrangement. Seine Zweifel wurden durch das Unverständnis, das ihm von allen Seiten entgegenschlug, noch verstärkt.

Julia sah, wie seine Stimmung sank. Als er lediglich antwortete, alles sei wie immer, bohrte sie nicht weiter nach. »Ich habe Zimtrollen gebacken. Willst du welche?«

Axel Hake schaute auf die Uhr. In ein paar Stunden wurde er bei seinen Eltern erwartet, also war noch genügend Zeit. Er nickte.

Da klingelte das Telefon. Julia nahm den Hörer ab und lauschte eine Weile. »Nein, David. Nicht heute, aber morgen passt gut. Wann ich Feierabend habe? Die Praxis ist rund um die Uhr geöffnet, das weißt du doch. Jedenfalls meine ich mich zu erinnern, dass es längst nach acht war, als du Tapto das erste Mal vorbeigebracht hast. Eine Ausnahme?« Sie lachte sanft. »Na ja, vielleicht. Bis morgen.« Sie legte auf und betrachtete Hake mit einem nachdenklichen Blick. »Wann sollst du bei ihnen sein?«

»Ungefähr um sieben. Warum?«

»Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Es geht um David.«

»Probleme?«

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte vorsichtig.

»Okay, aber zuerst essen wir deine Zimtrollen, ja?«

Julia hatte sich gerade umgedreht und wollte in die Küche gehen, als das Telefon zum zweiten Mal klingelte. Sie meldete sich und reichte den Hörer an ihren Bruder weiter. »Für dich.«

Es war Kommissar Bolinder.

»Ich rufe an, weil du Bereitschaft hast«, erklärte sein Kollege sachlich und trocken wie immer. »Komm ins Präsidium. Wir haben einen Mord in Östermalm.«

Eine halbe Stunde später stieg Axel Hake aus seinem Citroën, passierte die Absperrung vor dem Haus und ging zum Tatort hinauf. In der Tür traf er Gerichtsmediziner Brandt.

»Der Tod ist vor zwei Tagen eingetreten«, informierte ihn Brandt und folgte Hake in die Wohnung. Gleich im Flur stand eine Frau Mitte fünfzig, die hysterisch den Nagel ihres kleinen Fingers mit den Zähnen bearbeitete. Sie hatte Blut an der Hand und am Unterarm.

»Die Mutter. Sie hat das Opfer gefunden«, sagte Brandt, als die Frau außer Hörweite war. »Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Wirkt bestimmt bald.«

Hake warf einen Blick auf die Mutter, die sich an die Wand lehnen musste, um nicht umzufallen. Die Tote war ganz hinten am Fenster in einer unnatürlichen Stellung zusammengesackt, ein Bein war unter den Körper gewinkelt. Jeder Tropfen Blut schien aus ihr herausgelaufen zu sein, denn um sie herum befand sich ein wahrer See aus schwarzer, geronnener Flüssigkeit. Hake blieb ein paar Meter entfernt stehen. In solchen Situationen drehte sich ihm der Magen um. Er konnte nie wirklich akzeptieren, dass ein Mensch – vor Kurzem noch voller Leben – jetzt statt zu tanzen oder zu rennen nur reglos auf dem Boden lag, mit gebrochenen Augen und stillem Herzen.

Kommissar Bolinder trat zu Hake. Er war ein großer, schlaksiger Mann mit gebeugten Schultern. Seine Lippen waren schmal, und ein Feuermal bedeckte die linke Wange. »Cathrine Haldeman-Spegel. Dreiundzwanzig Jahre. Studentin an der Kunstakademie. Wohnte allein, war aber mit einem Peter Severin verlobt. Er dient als Fähnrich in Strängnäs. Die Mutter hat ihn angerufen.«

»Haldeman-Spegel«, wiederholte Hake bedächtig.

Bolinder nickte. »Genau. Von der Finanzdynastie Haldeman-Spegel. Ihrem Vater gehört eines von diesen Risikokapitalunternehmen, die marode Firmen ausschlachten. Er hat sicherlich mehrere Millionen Kronen auf dem Konto. Außerdem sitzt er in verschiedenen Firmenvorständen und arbeitet als Sachverständiger für die Justizbehörde. Jurist aus Leidenschaft. Seine Brüder sind ähnlich reich: großer Waldbesitz, Stahl und Industrieunternehmen.«

»Verdammter Mist!« Hake erinnerte sich an einen Zeitungsartikel über diese Erfolgsfamilie. Die Worte »Geldadel« und »Industriebarone« tauchten vor seinem inneren Auge auf.

»Bei der Mordwaffe handelt es sich wahrscheinlich um ein Messer mit langer Klinge. Wir haben es nicht gefunden.«

»Sieben Stiche«, ergänzte Gerichtsmediziner Brandt.

Hake ging in die Hocke, den Gehstock in Reichweite, zog ein Paar Latexhandschuhe über und hob den Rock der Toten hoch. Er überzeugte sich, dass ihr Slip nicht zerrissen war, und streifte die Kleidung wieder herunter. »Stell fest, ob sie kürzlich Geschlechtsverkehr hatte«, sagte er zu Brandt.

›Ja, wofür hältst du mich eigentlich‹, dachte der Gerichtsmediziner beleidigt. Er hatte dreißig Jahre Berufserfahrung und in dieser Zeit viele Polizeibeamte kommen und gehen sehen. Nie hatte es Probleme mit der Zusammenarbeit gegeben. Außer bei Axel Hake. Da war es sofort zur Konfrontation gekommen. Brandt tat sich schwer mit dieser neuen Sorte von Kommissaren, die alles selbst in die Hand nehmen mussten. In jede Kleinigkeit mischten sie sich ein, als könnten sie niemandem sonst vertrauen. Hake erinnerte ihn an einen Wolfshund mit kaltem, lauerndem Blick.

»Und ob die Frau Aids hatte«, sagte Hake.

Jetzt verlor Brandt die Geduld. »Wozu soll das gut sein?«

Hake stand auf und zog Brandt ein Stück zur Seite, so dass niemand sie hörte. »Du hast doch die Mutter gesehen – mit dem Blut ihrer Tochter an Hand und Unterarmen? Jetzt ist sie da draußen und hat den Finger im Mund. Als Arzt dürften Sie wissen, dass Blut HIV überträgt?«

»Und was sollen wir tun, wenn sie sich infiziert hat?«, fragte Brandt aggressiv.

»Dann können wir zwar der Mutter nicht mehr helfen, aber vielleicht schläft sie immer noch mit ihrem Ehemann. Womöglich hat sie einen Beruf, bei dem sie andere anstecken kann. Das verstehen Sie doch sicher.«

Sie wurden von Bolinder unterbrochen, der Hake am Mantelärmel zog. »Hier rüber«, sagte er knapp und ging voran ins Badezimmer. Dort hing ein Spiegel, auf den große rote Buchstaben geschmiert waren. Hake betrachtete grübelnd das Wort, das jemand offenbar mit Lippenstift geschrieben hatte.

»Flittchen«, las er laut.

»Ziemlich krank«, meinte Bolinder.

Hake nickte. Trotzdem fühlte er sich wider Willen erleichtert, weil der Mörder wenigstens diese Spur hinterlassen hatte. Wenn schon die Tatwaffe nicht aufzufinden war ...

In einer Ecke des Wohnzimmers standen zwei Polizisten in Zivil. Der eine war Kriminalinspektor Oskar Lidman, ein dicklicher Mann über fünfzig, der an einem Streichholz kaute. Der zweite war Tobias Tobisson. Er war jünger, extrem sportlich und betrachtete seine Umgebung mit misstrauischem Blick.

Hake gesellte sich zu ihnen. »Am besten, du sprichst mit der Mutter, Lidman«, entschied er. »Und du befragst die Nachbarn, Tobisson.«

Beide nickten ohne große Begeisterung. Axel Hake ärgerte sich, dass niemand die Mutter aus der Wohnung geschafft hatte, obgleich das eigentlich zur Routine gehörte.

»Soll ich sofort anfangen?«, fragte Tobisson.

»Ja, warum nicht?« Hake drehte sich auf dem Absatz um und steuerte auf den Leiter der Kriminaltechnik zu. Er kannte Olle Sandstedt von früheren Fällen und wusste, dass der Mann mit dem furchigen Gesicht und fettigen Haar ein Meister seines Fachs war, der nichts dem Zufall überließ. Die Brillengläser ließen seine Augen unnatürlich klein wirken, aber seinem Blick entging nicht das Geringste.

»Hallo«, grüßte Hake. »Verdammte Schweinerei hier.«

Sandstedt nickte und schaute auf den schwarz verfärbten Fußboden rund um die Frau. ›Das Wort trifft es genau‹, dachte er.

Obwohl Axel Hake wusste, dass die Kriminaltechnik gute Arbeit leistete, wollte er den Tatort immer auch selbst untersuchen. Er sah sich aufmerksam im Zimmer um, ging dann zur Wohnungstür und prüfte den Rahmen. Einbruchsspuren waren nicht zu entdecken.

»Leiten Sie den Fall?«, fragte plötzlich eine angespannte Stimme. Hake wandte sich um und fand sich Auge in Auge mit der Mutter des Opfers wieder.

»Sieht so aus«, antwortete er.

»Sie war kein Flittchen, Herr Kommissar. Sie war ein gutes Mädchen aus einer anständigen Familie.«

»Da bin ich sicher«, sagte Hake.

Die Mutter musterte ihn genau. »Nein, sind Sie nicht. Das sehe ich Ihrem Gesicht an. Bestimmt sind Sie genauso zynisch wie alle anderen hier.«

»Tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erwecke. Aber ehrlich gesagt weiß ich nun einmal überhaupt nichts über Ihre Tochter.«

»Sie hatte keine Feinde, das Ganze muss ein schrecklicher Fehler sein. Jemand hat sie verwechselt.«

»Wir werden alle denkbaren Spuren verfolgen«, sagte Hake im besten Beamtenton.

»Sie war ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen«, redete die Mutter weiter auf ihn ein. »Mit viel Talent. Und einer großen Zukunft.« Sie schluchzte kurz. »Und jetzt ist sie nicht mehr da ...«

Hake schaute Lidman an und machte eine unauffällige Geste mit dem Kopf. Sein Kollege stellte sich jedoch blind, kaute weiter auf seinem Streichholz und unterhielt sich mit Tobisson.

»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um den Mörder zu finden«, tröstete Hake.

»Dadurch bekomme ich sie auch nicht zurück«, war die verzweifelte Antwort.

Am Ende erbarmte sich eine Kollegin und kümmerte sich um die völlig gebrochene Frau. Hake schritt zur Tür, drehte sich um und ließ die Szene in ihrer Gesamtheit auf sich wirken.

›Von hier ist der Scheißkerl also in die Wohnung gekommen‹, dachte er und betrachtete den Tatort. Ein Blitzlicht ging los, und plötzlich sah er die Tote in einem blendend weißen Schein, als sei sie für immer in diesem Augenblick eingefroren. Er würde dafür sorgen, dass ihre Mutter das Foto nicht zu sehen bekam. Niemand hatte es verdient, einen geliebten Menschen auf diese Weise in Erinnerung zu behalten.

Kommissar Hake holte sein Notizbuch heraus und begann konzentriert zu schreiben. Er versuchte grundsätzlich, seine ersten Eindrücke vom Tatort schriftlich festzuhalten. Gerüche, Stimmungen, zusammenhanglose Ideen. In diesem Fall war sein erster Gedanke, dass hier eine durchschnittliche junge Dame aus der Oberschicht gelebt hatte. Aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass etwas nicht ganz stimmte. Vielleicht war es die Brutalität, mit der sie umgebracht worden war. Auf gewisse Weise erwartete man in einer adretten Wohnung wie dieser, dass die Tote bleich und schön auf einem frisch bezogenen Bett lag, anstatt mit unberührter Unterwäsche in ihrem eigenen Blut zu sitzen. Vielleicht störte ihn auch, dass die Mutter sie als »gutes Mädchen« bezeichnet hatte, während die Schrift auf dem Spiegel das Gegenteil behauptete. Jedenfalls wollte Hake um jeden Preis feststellen, worin die Unstimmigkeiten bestanden. Denn er wusste, bei einem Mord und in der Liebe kann man immer nur für kurze Zeit lügen.

Kapitel 3

AM NÄCHSTEN MORGEN wachte Axel Hake mit dröhnenden Kopfschmerzen auf. So ging es ihm jedes Mal, wenn er seine Eltern besucht hatte. Bisher hatte er nicht herausfinden können, ob es an seinem Vater oder seiner Mutter lag. Wahrscheinlich an beiden zusammen. Sobald sie gleichzeitig im Raum waren, entstand eine unerklärliche Spannung. Hake bekam nie Kopfschmerzen, wenn er allein mit seinem Vater zum Angeln ging. Auch wenn er Siri mitnahm, um seine Mutter in der Konditorei zu treffen, fühlte er sich hinterher nicht schlechter als vorher. Nein, nur zu zweit ergaben die Eltern eine Mischung, die Hake vor jedem Besuch in Schweiß ausbrechen ließ.

Er duschte, zog den königsroten Morgenmantel über und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Abwesend blickte er aus dem Fenster, wo die Bäume des Pontonjär-Parks eine schwarze Kulisse bildeten. Draußen war es noch dunkel, und der Regen verwischte die Aussicht. Der Park wirkte verändert, nicht länger wie eine zurechtgestutzte Kulturlandschaft, sondern wie eine ungezähmte Waldwildnis vom Anbeginn der Zeiten. Im Hintergrund ragte uraltes Felsgestein auf, ein berghoher, düsterer Schatten.

Axel Hake streckte die Hand nach seinem Notizbuch aus und überflog die ersten Anmerkungen. In Großbuchstaben stand dort: Wiltenberg. Sein Mitarbeiter Tobisson hatte nach einer Stunde Nachbarschaftsbefragung angerufen und ihn gebeten, vorbeizukommen, um mit dem Ehepaar Wiltenberg zu sprechen. Die beiden lebten genau gegenüber von Cathrine Haldeman-Spegel auf derselben Etage. ›Ihre Wohnung ist sehr geräumig, eigentlich zu groß für ein kinderloses Paar Mitte dreißig‹, hatte Hake gedacht.

Der Mann hatte sich als Rickard Wiltenberg vorgestellt und genickt, als ihm das Foto von Cathrine gezeigt wurde.

»Ja, ich habe sie gesehen«, sagte er und warf einen Blick auf seine Ehefrau, eine kleine, schmale Person, die vorgebeugt auf der Sofakante saß und Kette rauchte. Sie schaute zurück und lächelte ihm zu.

»Um welche Uhrzeit war das?«, fragte Hake.

Wiltenberg zuckte mit den Schultern und strich sich durch das lange, dunkle, in der Mitte gescheitelte Haar. »Ich glaube, es war kurz nach neun, als wir ...?« Er blinzelte seiner Frau zu, und sie nickte zustimmend.

Die beiden waren Hake ein Rätsel. Die ganze Zeit forderten sie einander mit Blicken heraus und wechselten dieses spezielle kleine Lächeln. Ihr Zusammenspiel wirkte so intim, als sei der Kommissar unvermutet in ihr Schlafzimmer geplatzt. Vom ersten Moment an war ihm aufgefallen, dass sie sich ständig berührten, ständig Augenkontakt hielten. Dabei schienen sie ein sehr ungleiches Paar zu sein: Er war groß und elegant, um nicht zu sagen stattlich. Sie dagegen klein und plump, hatte winzige Brüste und ein nichtssagendes Äußeres. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sie in dieser Ehe das Kommando führte.

»Wo haben Sie die Frau gesehen?«

Wieder ein Blick. Ein verstecktes Lächeln.

»Sie stand am Fenster auf der anderen Straßenseite. Wir wohnen ungefähr auf gleicher Höhe.«

›Also war sie kurz nach neun noch am Leben‹, dachte Hake und machte eine Anmerkung in seinem Notizbuch. Später würde er von Brandt einen genaueren Todeszeitpunkt erfahren, aber das konnte dauern. Daher verließ sich der Kommissar lieber auf Zeugenaussagen. »Was hat sie getan? Konnten Sie Einzelheiten erkennen?«

Der Mann schüttelte den Kopf und schaute seine Frau, an. »Nein, ich war anderweitig beschäftigt.«

»Konnten Sie sehen, ob sie allein war?«

Der Mann überlegte. »Ich glaube schon. Sie hat eine Weile zu mir rübergestarrt, dann hat sie die Vorhänge zugezogen.«

»Hat sie das öfter getan?«

»Mich anstarren oder die Vorhänge zuziehen?«

»Lassen Sie die Witze!«, fuhr Tobisson dazwischen. Die Körpersprache des Paares irritierte ihn, und er konnte sich nicht länger zusammenreißen.

Hake warf Tobisson einen wütenden Blick zu. Man durfte einen Mann nicht im Beisein seiner Frau provozieren, sonst bekam man unter Garantie nichts mehr aus ihm heraus. »Ich meine; hat sie häufiger in Ihr Fenster gestarrt«, sagte Hake versöhnlich.

Der Mann saß nun schlaff und leicht zusammengesunken da, als habe er jedes Interesse an der Befragung verloren. »Nein. War vermutlich das erste Mal.«

Der Rest der Vernehmung lief schleppend. Die beiden wohnten seit fünf Jahren in dieser Gegend. Er leitete ein Reisebüro, und sie war Hausfrau. Hake fragte sich im Stillen, was sie den ganzen Tag allein in der großen Wohnung tat. Nur darauf warten, dass ihr Mann zum Abendessen zurückkam? Nun ja, vielleicht schaute er auch mittags auf ein Schäferstündchen vorbei.

Wiltenberg kannte Cathrine Haldeman-Spegel vom Sehen, war aber nie in ihrer Wohnung gewesen. Seine Frau ebenfalls nicht. In diesem Stadtteil kümmerte man sich um seine eigenen Angelegenheiten. Rein zufällig hatte Cathrine ihn am Fenster entdeckt und umgekehrt. Seine Ehefrau hatte an dem betreffenden Abend nicht einmal bemerkt, dass sie beobachtet wurden.

Nach einer Weile hatte Hake einsehen müssen, dass von diesem Paar nicht mehr zu erfahren war. Er hatte sich bedankt und war mit Tobisson im Schlepptau verschwunden.

»Was für ein Typ!«, beklagte sich Tobisson. »Ist sie seine Sexsklavin oder so was?«

Hake hatte nicht die Energie aufgebracht, Tobisson wegen seines unangebrachten Benehmens zusammenzustauchen. Also hatte er nur beiläufig gegrunzt, während sich sein Kollege über das Paar aufregte.

Axel Hake wollte nicht weiter über die Wiltenbergs nachdenken und blickte stattdessen wieder aus dem Fenster. Das Unwetter hatte an Stärke zugenommen, und das Modellsegelboot im Erkerfenster sah aus, als kämpfe es sich durch stürmische See. Hake schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, heiß und schwarz mit einem Löffel ungesalzener Butter, und belegte eine Schwarzbrotscheibe mit Roquefortkäse. Dieses Spezialrezept hatte er sich von einem Hafenarbeiter in Dünkirchen abgeschaut, als er zur Ausbildung bei der französischen Polizei gewesen war. Die Erinnerung ließ eine unbestimmte Sehnsucht nach Frankreich in ihm aufkommen, und er ging zur Stereoanlage, um eine CD einzulegen. Bald erfüllte Indochines »Le Basier« den Raum. Mit der Tasse in der Hand wanderte er durchs Zimmer, genoss die Musik und begann, sich ein bisschen besser zu fühlen.

Hier in seiner Wohnung benutzte er den Gehstock relativ selten. Falls das Bein nachgab, konnte er sich auf einen Stuhl oder den Tisch stützen. Und sogar wenn er auf die Nase fallen sollte, wäre das kein großes Drama. Er war sportlich und gelenkig, so dass er leicht wieder hochkam. Bei der Arbeit wollte er einen solchen Zwischenfall allerdings nicht riskieren. Zum Teil, weil seine Autorität darunter leiden würde, aber auch, weil er es schrecklich fand, wenn ihm dann Hilfe angeboten wurde. In solchen Momenten fühlte er sich wie ein Kleinkind.

Plötzlich merkte er, dass er die Zeit vergessen hatte, und sah auf die Uhr. Es war acht, und er musste zur Arbeit. Schnell zog er sich an: Schuhe von Timberland und ein grob gewirkter Anzug aus grau gesprenkelter irischer Wolle. Viele hielten ihn für einen Snob, weil er seine Kleidung beim Schneider anfertigen ließ. Seine Körperproportionen waren jedoch für Anzüge von der Stange nicht geschaffen. Entweder war die Hose zu lang oder die Jacke zu eng. Er betrachtete gedankenverloren sein Gesicht im Spiegel und erkannte etwas erschrocken, wie ausgebrannt er wirkte. Dabei hatte die Jagd nach dem Mörder noch gar nicht richtig begonnen. Wahrscheinlich hatte die angespannte Stimmung zwischen ihm und Hanna ihre Spuren hinterlassen. Ihre Beziehung befand sich in• einer heiklen Phase. Hake war überzeugt, dass sie einen Liebhaber hatte. Aber sie wischte seine Fragen mit der Behauptung fort, er sei krankhaft eifersüchtig.

Das Polizeipräsidium im Stadtteil Kungsholmen hatte ursprünglich aus einem einzigen Gebäude im Stil der Jahrhundertwende bestanden. Doch Ende der Sechzigerjahre hatte der Platz nicht mehr ausgereicht, und am Kronobergs-Park war zusätzlich ein riesiger Verwaltungskomplex entstanden, in dem alles nur Denkbare vom Untersuchungsgefängnis bis zum Fundbüro untergebracht war. Tausende von Menschen gingen hier zur Arbeit. Auf dem Gelände befanden sich sogar ein Schießstand und ein Schwimmbad. Hake war froh, dass seine Wohnung so nah am Präsidium lag. Trotzdem fuhr er grundsätzlich mit dem Auto, da er es vorzog, bei Außeneinsätzen anstatt eines Dienstfahrzeugs seinen eigenen Wagen zu benutzen. Die Pedale waren von einem Mechaniker umgebaut worden, so dass er sein Knie beim Schalten nicht belasten musste.

Hake bog in die Tiefgarage und stellte den Wagen auf seinen festen Platz. Dann nahm er den Fahrstuhl nach oben und ging in das Büro, das seiner Sonderkommission als Leitzentrale zugeteilt worden war. Dort angekommen, rief er als Erstes Lidman und Tobisson. Seine beiden Mitarbeiter waren eine Nummer für sich: Oskar Lidman hatte stets einen Zahnstocher oder ein Streichholz im Mund, seitdem er das Rauchen aufgegeben hatte. Ein weiterer Nebeneffekt waren zwanzig Kilo Übergewicht und heftige Stimmungsschwankungen. Am liebsten hätte Hake ihn ermuntert, wieder zum Tabak zu greifen. Tobisson war etwas leichter zu handhaben. Er war zwar die ganze Zeit stinkwütend, jedoch kein aufbrausender Choleriker.

Hake blätterte in seinem schwarzen Notizbuch, das liniert war und einen breiten Rand hatte. Von dieser Sorte verbrauchte er bei jeder Ermittlung ein gutes Dutzend. Vorne stand auf einem Stück Kreppklebeband: »Cathrine Haldeman-Spegel«.

»Okay«, begann Hake, »was gibt es Neues von der Kriminaltechnik?«

Lidman schlug seine Mappe auf, biss in ein Streichholz und fasste zusammen: »Die Kollegen arbeiten gerade die Telefonliste durch. Sie überprüfen, wen Cathrine Haldeman-Spegel angerufen hat und von wem sie angerufen wurde. Erfahrungsgemäß dürfte das eine Weile dauern.« Er blätterte weiter. »Ansonsten gibt es eine Menge Fingerabdrücke. Die Analyse wird auch ihre Zeit brauchen. Allerdings glaube ich nicht, dass viel dabei herauskommen wird.«

Hake hob die Augenbrauen.

»Die Spurensuche hat an einigen Stellen Abdrücke von Handschuhen gefunden, die vermutlich vom Mörder stammen«, fügte Lidman hinzu.

»Was heißt ›an einigen Stellen‹?«, fragte Hake sachlich.

»Zum Beispiel auf der Toilettenbrille. Sieht aus, als ob der Täter hinterher pinkeln war.«

»Oder vorher«, warf Tobisson ein.

»Nein«, sagte Hake, »auf jeden Fall danach.«

Tobisson schaute ihn fragend an.

»Sie muss schon tot gewesen sein. Sonst hätte sie sich bestimmt gefragt, warum jemand mit Handschuhen auf ihre Toilette geht«, erklärte Hake.

»Außerdem gibt es ähnliche Abdrücke am Lippenstift, den der Mörder benutzt hat«, fuhr Lidman fort.

»Ihr eigener?«

Lidman nickte, stand kurz auf, um seine Hose zurechtzuzupfen, und setzte sich wieder. »Die Analyse hat ergeben, dass der Lippenstift, mit dem der Täter ›Flittchen‹ an den Spiegel geschrieben hat, von der Firma Revlon stammt. Die Farbe heißt Maroon.« Er schaute zu seinen Kollegen. »Dieselbe Lippenstiftmarke befand sich im Badezimmer zwischen einigen anderen. Undeutliche Abdrücke, die vermutlich von einem Handschuh herrühren, war am ... wie zum Teufel heißt das Teil, in dem ein Lippenstift steckt? Kolben?«

Diese Frage konnte keiner von den anderen beantworten.

»Was hat Brandt gesagt?«, wandte sich Hake an Tobisson.

»Er ist mit der Obduktion noch nicht fertig, aber auf jeden Fall wurde sie nicht vergewaltigt. Das konnte er schon gestern Nacht feststellen.«

Kommissar Hake nickte. Er hatte gesehen, dass ihr Slip nicht zerrissen war, doch man konnte nie wissen. Es gab viele bizarre Kreaturen auf diesem seltsamen Planeten.

In den letzten zehn Jahren hatten sich die Sexualdelikte verdoppelt, während die Zahl der Morde in Stockholm auf gleichem Niveau geblieben war, nämlich etwas weniger als fünfzig pro Jahr.

Die Tür ging auf, und Polizeidirektor Seymour Rilke kam herein. Sofort saßen Lidman und Tobisson aufrechter auf ihren Stühlen. Lidman nahm sogar das Streichholz aus dem Mund.

»Ach, hallo«, sagte Hake wenig untertänig.

Sein Chef grüßte zurück und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Hake fand wie immer, dass der Mann dandyhaft und verweichlicht wirkte: zierliche Hände, makellose Garderobe, dunkelblauer Anzug, weißes Hemd und graphitfarbener Seidenschlips. Im Gegensatz zu ihm selbst war Rilke ein Bürokrat vom Scheitel bis zur Sohle. Vor seiner Ernennung zum Polizeidirektor hatte er als Sachkundiger fürs Justizministerium gearbeitet, was in Hakes Augen keine Empfehlung war. Innerlich schnaubte er jedes Mal, wenn Rilke verkündete, dass er sich als Kapitän eines gewaltigen Öltankers sah, der nur mit viel Zeit und Mühe manövriert werden konnte. Wenigstens hatte Rilke Talent darin, der Kripo die nötigen finanziellen Mittel zu besorgen. Aber von praktischer Polizeiarbeit hatte er noch immer keinen Schimmer. Hake verschwendete normalerweise keinen Gedanken daran, ob sein Chef ihm sympathisch war oder nicht. Solange Rilke sich aus den eigentlichen Ermittlungstätigkeiten heraushielt, war der Mann relativ harmlos.

»Wie geht es mit dem Fall voran, Hake?«, erkundigte sich der Polizeidirektor behutsam.

»Wir haben gerade erst angefangen.«

Rilke nickte nachdenklich, zupfte seine manschettengeschmückten Hemdsärmel zurecht und räusperte sich. »Sie müssen verstehen, Birger Haldeman-Spegel, der Vater der Ermordeten, ist ein Bekannter von mir. Er hat mich heute Morgen angerufen und wollte wissen ... na ja, wie die Ermittlung läuft. Die beiden hatten ein sehr enges Verhältnis. Ich meine, er und seine Tochter.«

»Dann richten Sie ihm aus, wenn sie wirklich so ein Herz und eine Seele gewesen wären, hätten wir ihren Tod wohl ein paar Tage früher entdeckt«, sagte Hake kalt.

»Das war jetzt aber unnötig«, meinte Rilke steif.

Hake musste ihm innerlich recht geben. Doch er verabscheute das verlogene Familienbild, das er bei seiner Arbeit ständig vorgesetzt bekam. Die Statistik bewies, dass sich vor allem Familienmitglieder gegenseitig umbrachten, und auch neun von zehn Sexualdelikten geschahen im trauten Heim. Der Täter war normalerweise ein Bekannter oder Verwandter, kein Perverser mit leerem Blick und schwarzem Regenmantel. Hake sah zu seinem Chef hoch. »Gut, sagen Sie ihm, dass wir uns melden werden, sobald wir Zeit haben«, entgegnete er und schrieb eine Anmerkung in sein Notizbuch.

»Gehen Sie ein bisschen behutsam vor«, mahnte Rilke. »Erstens hat er gerade seine Tochter verloren, und zweitens kann er uns eine Menge Ärger bereiten. Zumindest, falls es bei den Ermittlungen Probleme gibt. Wir stecken mitten in neuen Budget-Verhandlungen ... nun ja, Sie wissen schon.« Er zuckte mit den Schultern, als müsse jedermann bestens informiert sein, was das bedeutete.

»Nein«, sagte Tobisson. »Könnten Sie das erklären?«

Lidman warf ihm einen warnenden Blick zu.

Rilke räusperte sich erneut und musterte Tobisson mit kaltem Blick, bevor er sich wieder Hake zuwandte. »Also, Sie wissen jedenfalls, was ich meine«, sagte er und ging zur Tür. »Übrigens, ich habe Bolinder mit der Pressekonferenz beauftragt, damit Sie sich voll auf die Polizeiarbeit konzentrieren können. Das erscheint mir am sinnvollsten. Aber Sie müssen uns die ganze Zeit auf dem Laufenden halten. Das verstehen Sie doch sicher?«

Hake verstand nur zu gut. Er schaute seinem Chef hinterher, der durch die Tür verschwand, und dachte bissig, dass Rilke ruhig die Wahrheit hätte sagen können. Nämlich, dass er keine Pressebilder brauchen konnte, die einen Kommissar mit Stock zeigten. Weil das nun einmal nicht gut aussah. Rilke hatte (genau wie Hakes Mutter) genug Bemerkungen darüber fallen lassen, ob eine Gehhilfe wirklich nötig sei. Schließlich habe die medizinische Wissenschaft mit ihren Prothesen und Operationen wunderbare Fortschritte gemacht. Hake hatte seinen Chef darüber aufgeklärt, dass sein Bein gerade aufgrund eines chirurgischen Kunstfehlers nicht mehr belastbar war. Er würde die Ärzte kein zweites Mal an sich heranlassen.