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Die Autoren

Dr. Mathias Lohmer, Psychoanalytiker (DPV/IPA), arbeitet als Berater und Coach am Institut für Psychodynamische Organisationsberatung München (IPOM) und M19-Manufaktur für Organisationsberatung.

Dr. Heidi Möller ist Professorin für Theorie und Methodik der Beratung an der Universität Kassel, Psychoanalytikerin, Coach, Organisationsberaterin und Supervisorin, u. a. wissenschaftliche Leiterin des postgradualen Studiengangs Coching, Organisationsberatung, Supervision (COS) (www.unikims/COS).

Mathias Lohmer Heidi Möller

Psychoanalyse in Organisationen

Einführung in die psychodynamische Organisationsberatung

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., aktualisierte Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036539-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036540-7

epub:    ISBN 978-3-17-036541-4

mobi:    ISBN 978-3-17-036542-1

Inhalt

 

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Vorwort zur zweiten Auflage
  3. Vorwort zur ersten Auflage
  4. Teil A – Grundlagen
  5. 1 Von der Couch in die Organisation
  6. Mathias Lohmer und Heidi Möller
  7. 1.1 Historische Entwicklung
  8. 1.2 Zentrale Konzepte
  9. 1.2.1 Gruppen- und Organisationsdynamik
  10. 1.2.2 Primäre Aufgabe, Angst und Abwehr
  11. 1.3 Die Psychodynamik von Führung und Gefolgschaft
  12. 1.4 Die Rolle der Struktur in Organisationen
  13. 1.5 Die Beziehung von Container und Contained in Organisationen
  14. 1.6 Fazit
  15. 2 Psychodynamische Organisationsberatung
  16. Mathias Lohmer und Heidi Möller
  17. 2.1 Die Modifikation psychoanalytischer Techniken in der Beratung von Organisationen
  18. 2.1.1 Die Arbeit mit dem Widerstand
  19. 2.1.2 Die Abstinenz in der psychodynamischen Organisationsberatung
  20. 2.1.3 Die Übertragung in der psychodynamischen Organisationsberatung
  21. 2.1.4 Unterschiedliche Interventionsmodi in der psychodynamischen Organisationsberatung
  22. 2.2 Fazit
  23. 3 Ethnopsychoanalytische Zugänge in der Beratung von Organisationen
  24. Heidi Möller
  25. 3.1 Zum Begriff der »Organisationskultur«
  26. 3.2 Zur Erfassung kollektiver Sinnsysteme
  27. 3.3 Die Haltung der Organisationsberater in der fremden Organisationskultur
  28. 3.3.1 Anleihen aus der Ethnopsychoanalyse
  29. 3.4 Selbstreflexivität
  30. 3.5 Der Enkulturationsprozess der Organisationsberater
  31. 3.6 Das »Gruppen-Ich« und das »Clangewissen«
  32. 3.7 Forschungsmethodologische Perspektiven
  33. 3.8 Tiefenhermeneutischer Zugang in der Organisationsdiagnostik
  34. 4 Die Dynamik des Wandels in Organisationen
  35. Heidi Möller
  36. 4.1 Persönlichkeitsmerkmale und Wandlungsprozesse
  37. 4.2 Zur Psychodynamik des Wandels
  38. 4.3 Maladaptive Copingmechanismen
  39. 4.3.1 Wege aus dem Dilemma
  40. 4.4 Zur Komplexität von Wandlungsprozessen am Beispiel der Universität
  41. Teil B – Beratungsfelder
  42. 5 Teamarbeit – Zur Psychodynamik psychosozialer Organisationen
  43. Mathias Lohmer
  44. 5.1 Die Krise der Zusammenarbeit in psychosozialen Organisationen
  45. 5.2 Teams und Organisationen als offene Systeme
  46. 5.3 Der Konflikt zwischen Stabilität und Veränderung
  47. 5.4 Organisationskultur und Primäraufgabe
  48. 5.5 Das Selbstmanagement in der Rolle
  49. 5.6 Teamarbeit: Partizipation und Vermeidung
  50. 5.7 Aggression, Macht und Kränkungsfurcht in psychosozialen Teams
  51. 5.8 Die Spaltungsdynamik von Team und Leitung
  52. 5.9 Fazit
  53. 6 Psychoanalytische Supervision
  54. Heidi Möller
  55. 6.1 Zur Rezeption in Deutschland
  56. 6.2 Zur Berufspolitik
  57. 6.3 Das Spannungsfeld zwischen Psychotherapie und Supervision
  58. 6.4 Zur Konzeption von Supervision
  59. 6.5 Psychoanalytische Teamsupervisionsansätze
  60. 6.5.1 Das Modell der Balint Gruppe
  61. 6.5.2 Die analytische Gruppenarbeit nach Foulkes
  62. 6.5.3 Das Modell des »Container-Contained« nach Bion
  63. 6.5.4 Neuere psychoanalytische Supervisionsansätze
  64. 6.6 Die Vorbereitung
  65. 6.7 Die Methodik psychoanalytischer Supervision
  66. 6.7.1 Die Technik psychoanalytischer Teamsupervision
  67. 6.8 Die Rolle des Supervisors
  68. 6.8.1 Der Supervisor als Lehrer
  69. 6.8.2 Der Supervisor als Leiter
  70. 6.9 Abschließende Wertung psychoanalytischer Zugänge zur Supervision
  71. 7 Psychoanalytisches Führungsverständnis
  72. Mathias Lohmer
  73. 7.1 Das Spannungsfeld von Sach- und Beziehungsorientierung
  74. 7.2 Die unbewusste Dimension von Führung
  75. 7.3 Die Containment-Funktion der Führung
  76. 8 Der Dialog im Coaching
  77. Heidi Möller
  78. 8.1 Zum Verhältnis von Profession und Wissenschaft
  79. 8.2 Der Stand der Forschung
  80. 8.3 Wie wird im Coaching gesprochen?
  81. 8.4 Die Bedeutung der Metapher
  82. 8.5 Life-Coaching
  83. 8.6 Coaching als Dialograum
  84. 9 Der Berater zwischen den Fronten: Die Dynamik von Vertrauen, Misstrauen und Containment in Organisationen
  85. Mathias Lohmer
  86. 9.1 Vertrauen als Grundbedingung für die Zusammenarbeit in Organisationen
  87. 9.2 Die Dynamik von Vertrauen, Misstrauen und Containment in Organisationen
  88. 9.3 Der Berater zwischen den Fronten: das Ringen um die Triangulierung
  89. 9.4 Die Krise als Chance: Systemkollaps, Groll und Realitätskontrolle
  90. 9.5 Containment als gemeinsame Leistung von Leitung und Team
  91. 9.6 Ungenügen und Omnipotenz: der Import der narzisstischen Patientendynamik
  92. 9.7 Fazit
  93. 10 Der Umgang mit Verwicklungen und Verstrickungen – Abstinenz, Containment und Verantwortung im Beratungsprozess
  94. Mathias Lohmer
  95. 10.1 Die Teilhabe des Beraters an der Organisation
  96. 10.2 Verwicklung, Verstrickung und Abstinenz
  97. 10.3 Containment im Beratungsprozess
  98. 10.4 Fazit
  99. Literatur
  100. Sachwortverzeichnis
  101. Personenverzeichnis

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

 

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

 

Wir freuen uns, dass nach fünf Jahren nun die zweite Auflage des vorliegenden Bandes erscheint – er hat sich durch seine Konzepte, Anwendungsfelder und Praxisbeispiele als Kompendium für den State of the Art der psychodynamischen Beratungsarbeit mit Organisationen bewährt.

In dieser Einleitung wollen wir nun knapp die Entwicklungen markieren, die sich in den letzten fünf Jahren verstärkt haben bzw. hinzugekommen sind.

1              New Work, agiles Arbeiten und Digitalisierung

Das Erscheinen und die breite Rezeption des Buches »Reinventing Organizations – ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit« von Frederic Laloux (2015) markiert einen Wendepunkt in der allgemeinen Diskussion über Organisationsentwicklung und etablierte den Begriff »New Work« oder »Arbeiten 4.0«. Plötzlich konnten auch in einer breiteren Fachöffentlichkeit Organisationen als evolutionäre Systeme verstanden werden, die Selbstführung, Selbstorganisation und hierarchiearmes Entscheiden beinhalten sollten. Dies wurde an Beispielen von Start-ups, mittelständischen Unternehmen und »hidden champions« gezeigt, die sich auf den Weg gemacht hatten, die Art der Zusammenarbeit, Entscheidungsfindung und Produktion grundlegend zu ändern. Wie begierig dieser Ansatz von Beratern und Managern aufgegriffen wird, zeigt, dass die Bewältigung immer komplexerer Arbeitsorganisationen und Arbeitserfordernisse durch ein Mehr an Kontrolle und zentraler Steuerung nicht mehr zu leisten ist. Durch diese Entwicklung kam es zu einer Renaissance von Werten und Haltungen, die bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Begriff »Humanisierung der Arbeitswelt« diskutiert und z. B. im Experiment der »teilautonomen Arbeitsgruppen« (am bekanntesten bei Volvo in der Automobilindustrie) umgesetzt wurden. Nachdem diese Experimente zwar die Mitarbeiterzufriedenheit verbessern, in der relativ einfach strukturierten industriellen Fertigungsarbeit die Produktivität aber nicht maßgeblich erhöhen konnten, wurden sie nicht weitergeführt.

Der entscheidende neue Entwicklungsschub kam nun durch die exponentiell zunehmende Digitalisierung der Produktionsprozesse, angestoßen durch die spezifische Arbeitsweise der Software-Entwicklung. Die bisher übliche langfristige Entwicklung von Software erwies sich als nicht mehr praktikabel und wurde durch kurze iterative Entwicklungszyklen (»sprints«) mit regelmäßigen Reviews und sich daran anschließenden neuen Entwicklungsschritten abgelöst. Dieses »agile Arbeiten« umfasst aber nicht nur die iterativen, kurzen und ständig modifizierten Entwicklungsschritte, sondern auch die Art der Arbeitsorganisation: Um der Komplexität und Gleichzeitigkeit dieser Prozesse gerecht zu werden, braucht es eine andere Form der Organisation, in der unterschiedliche, aber vernetzte Projektgruppen selbstorganisiert, aber abgestimmt, hierarchiearm, aber in klar festgelegten Entscheidungsprozessen arbeiten (vgl. Scheller, 2017, Brandes et al., 2014, Plfäging et al., 2014, Foegen et al., 2015).

Wir können also sehen, wie erst durch ökonomische Notwendigkeit und eine klare produktionsgetriebene Dynamik in einem für die Gegenwart zentralen Bereich, dem der Digitalisierung, den »alten« Werten der Humanisierung der Arbeitswelt plötzlich wieder Dynamik verliehen wird!

Im Unterschied zur Diskussion der 70er Jahre wird die Frage der Führung und Zusammenarbeit nun aber systematischer und weniger ideologisch diskutiert (vgl. Schermuly, 2016). Hier spielt das Konzept der »kollegialen Führung« (z. B. Oestereich & Schröder, 2017) eine zentrale Rolle. Darunter versteht man die auf viele Kollegen dynamisch und dezentral verteilte Führungsarbeit anstelle von zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte. Auch Konzepte wie »Soziokratie« oder »Holokratie« (vgl. Oestereich & Schröder, 2017) mit ihrer Betonung einer konsensuellen Entscheidung gehören zu dieser Denkrichtung.

Was bedeutet diese Entwicklung nun für unseren Ansatz einer psychodynamischen Organisationsentwicklung?

In den humanistischen Werten, dem emanzipatorischen Menschenbild und der Betonung von Selbstwirksamkeit und Gestaltungsmöglichkeiten entspricht »New Work« in hohem Maße den Werten und dem Menschenbild einer psychoanalytisch orientierten Arbeit. In gewisser Weise gibt diese neue Orientierung unserer Arbeitsweise einen wichtigen Auftrieb. Durch unsere psychoanalytische Kenntnis der Ambivalenz und Dynamik von Gestaltungswunsch und Angst vor Veränderung, Abhängigkeit und Autonomie, Progression und Widerstand sehen wir die Umsetzung von Agilität und New Work allerdings als schwieriger und komplexer an, als die Vertreter dieser Richtungen es oft sehen. Deren Diskurs ist stark von der kognitiven Ebene bestimmt: Was ist sinnvoll, wie sollte die neue Art der Zusammenarbeit aussehen, eigentlich müssten alle darüber erfreut sein … wir hingegen wissen, dass die emotionalen und unbewussten Prozesse, Polarisierungen bei der Mitarbeiterschaft und halbherzigen Umsetzungen dem Neuen die Kraft nehmen und Prozesse von Macht und Mikropolitik mehr beachtet und bearbeitet werden müssen – ein weites Feld für die Kompetenzen der psychodynamischen Beratung!

2              Life Balance und der »war for talents«

Personaler und Führungskräfte stellen zunehmend verblüfft und besorgt fest, dass die oft als »Generation Y« oder »Generation 2000« (aufgrund der Geburt um die Jahrtausendwende) bezeichneten Mitarbeiter mit Anfang 20 bis Mitte 30 andere Werte und Vorstellungen von ihrer Life Balance (vgl. Lohmer, Sprenger & von Wahlert, 2018) haben als sie selbst. Anstelle einer hohen Leistungs-, Verdienst- und Karrieremotivation dominiert nun die Vorstellung einer ausgeglichenen Berufs- und Freizeitaufteilung. Die Familienorientierung ist auch bei Männern deutlich gewachsen, Überstunden werden – wenn überhaupt geleistet – lieber durch Freizeit als durch Geld ausgeglichen. Für die Wahl einer Arbeitsstelle sind geregelte Arbeitszeiten, wenig Reisezeiten, ein gutes Arbeitsumfeld, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, aber auch Sinnerleben und flache Hierarchien oft entscheidender als die Höhe des Gehalts. Da gut ausgebildete Fachkräfte sehr gesucht sind, hat sich der »war for talents« verschärft, und die Firmen müssen um die wählerischen und zum »Jobhopping« bereiten Mitarbeiter ganz anders konkurrieren.

Schon im Gefolge der Burnout-Diskussion in Unternehmen wurde deutlich, dass die bisherige Tendenz zu Arbeitsverdichtung und Arbeitsintensivierung nicht mehr unbegrenzt weitergehen kann. Die freieren Sozialisationsbedingungen der »Generation Y« erschweren die unhinterfragte Akzeptanz von Autorität und belastenden Arbeitsbedingungen und verlangen nach einem neuen Verständnis, wie die Aufteilung der Lebensbereiche in der Zukunft aussehen kann – hierfür ist natürlich auch die Diskussion über »New Work« relevant!

Was bedeutet diese Entwicklung für die psychodynamisch orientierte Organisationsberatung?

Das psychoanalytisch geprägte Verständnis des Zusammenhangs von Sozialisationsbedingungen, Generationendynamik und Persönlichkeitsentwicklung liefert einen ganz wesentlichen Beitrag, um das Aushandeln des gemeinsamen Arbeitens zwischen den Generationen und ihrem jeweiligen Kulturverständnis zu moderieren! Für die Entscheidungsträger bedeutet dies, andere Werte vorurteilsfreier zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Angebote zu machen, für die »Generation Y« bedeutet dies, die Rollen innerhalb des Arbeitsbereiches als wichtigen Identitätsbeitrag zu erleben und sich auch mit den Beschränkungen des Realitätsprinzips anfreunden zu können – was auch bedeuten kann, Leistungsspitzen zu tolerieren und Spannungs- und Frustrationstoleranz zu trainieren.

3              Mentalisieren als Managementaufgabe

Innerhalb der Diskussion über therapeutische Konzepte hat das Konzept der Mentalisierung (vgl. z. B. Taubner, 2015) eine wichtige Rolle eingenommen und wirkt nun auch in die Beratungsarbeit hinein. Mit Mentalisieren ist die Fähigkeit gemeint, die Perspektive des Gegenübers probeweise einnehmen zu können, aber auch sich selber gleichsam von außen sehen zu können. Damit ist etwas systematischer erfasst worden, was wir auch als »Perspektivwechsel« und »probeweise Identifikation mit dem Gegenüber« kennen. Angesichts der unter 1. und 2. beschriebenen Tendenzen der Entwicklung in Unternehmen wird verständlich, dass diese Fähigkeit, den anderen mitzudenken und sich in ihn hineinzuversetzen, immer zentraler für Leitungs- und Beratungs-Kompetenzen wird. Führungskräfte müssen gleichsam »weiblichere«, emotionalere Fertigkeiten entwickeln, um den Anforderungen von »New Work« und »Life Balance« gerecht zu werden.

Es ist augenfällig, dass hier eine Kernkompetenz der psychodynamischen Arbeit mit Menschen und Organisationen berührt wird. Die Kasseler Forschungsgruppe um Heidi Möller hat die Bedeutung von Mentalisierung für Führung, Coaching und Teamarbeit und Coaching beforscht (Taubner & Kotte, 2016, Goebel & Hinn, 2016). Es ist davon auszugehen, dass eine mentalisierende Führungskraft effektiver führt, weil sie sich implizit und explizit den Handlungen von sich selbst und anderen sinnverstehend zuwenden kann. Sie kann nicht nur Gefühle wahrnehmen, erkennen und identifizieren, sondern ihnen auch Namen geben (benennen). Mentalisieren hilft, die Bedeutung von Emotionen in Beziehungen zu begreifen. Eine mentalisierende Führungskraft kann zudem die Intensität der Gefühle steuern, sie verstärken, herabmindern oder aufrechterhalten – jeweils so, wie es die Führungssituation erfordert. Auch gelingt es, die Gefühle mitzuteilen, sie zur Grundlage der Kommunikation zu machen.

Mentalisieren und Führen

•  Die Führungskraft kann seinen eigenen Standpunkt auch relativieren und mit Abstand betrachten.

•  Wenn eine Führungskraft seinen Mitarbeiter mentalisiert, dann ist dieser empfänglicher für die Botschaften der Führungskraft.

•  Der Mitarbeiter versteht auf diese Weise besser, was die Führungskraft vermittelt.

•  Die Mentalisierung der Führungskraft fördert auch die Mentalisierung des Mitarbeiters gegenüber der Führungskraft und gegenüber seinen Kollegen.

•  Die Führungskraft entwickelt Neugier darauf, welche Gedanken, Gefühle und Motive bei dem Gegenüber vorhanden sind, die deren Verhalten zu Grunde liegen.

•  Die Führungskraft kann die Modi der mentalen Befindlichkeiten im eigenen Selbst erleben und muss sie nicht auf andere verallgemeinern.

Die Fähigkeit zur Mentalisierung, also die Wahrnehmungs- und Affektverarbeitung ist bei Individuen je nach ihrer Sozialisationsgeschichte unterschiedlich ausgeprägt. Für viele Coachinganlässe ist ein mentalisierungsbasiertes Coaching (Goebel & Hinn, 2016) angezeigt. Das ist vor allem der Fall, wenn es um interpersonelle Probleme geht.

Fazit

Die aktuellen Entwicklungen geben der psychodynamischen Organisationsberatung einen neuen Aufschwung – und der Leser wird mit den Konzepten, die er in diesem kompakten Band vorfindet, gut ausgerüstet, um mit einem psychodynamischen Verständnis kompetent führen und beraten zu können!

Im Mai 2019, München und Kassel

Mathias Lohmer und Heidi Möller

Empfohlene Literatur

 

Brandes, U., Gemmer, P., Koscheck, H. & Schültken, L. (2014). Management Y: Agile, Scrum, Design Thinking & Co.: So gelingt der Wandel zur attraktiven und zukunftsfähigen Organisation. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Foegen, M., Meyser, A., Gansser, C., Croome, D., Raak, C. Battenfeld, J. et al. (2015). Der ultimative Scrum Guide. Darmstadt: wibas.

Goebel, A. & Hinn, D. (2016). Die Bedeutung des Mentalisierungskonzepts für das Coaching. Organisationsberatung Supervision Coaching 23 (1): 24–42.

Kotte, S. & Taubner, S. (2016). Mentalisierung in der Teamsupervision. Organisationsberatung Supervision Coaching, 23 (1): 75-89.

Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Franz Vahlen.

Lohmer, M., Sprenger, B. & von Wahlert, J. (2018). Gesundes Führen. Life-Balance versus Burnout in Unternehmen (2. erweiterte Auflage). Stuttgart: Schattauer.

Oestereich, B. & Schröder, C. (2017). Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Franz Vahlen.

Pfläging, N. (2014). Organisation für Komplexität: Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht. München: Redline.

Scheller, T. (2017). Auf dem Weg zur agilen Organisation. Wie Sie Ihr Unternehmen dynamischer, flexibler und leistungsfähiger gestalten. München: Franz Vahlen.

Schermuly, C. (2016). New Work – Gute Arbeit gestalten: Psychologisches Empowerment von Mitarbeitern. Freiburg: Haufe-Lexware.

Taubner, S. (2016). Konzept Mentalisieren. Eine Einführung in Forschung und Praxis (2. Auflage). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Vorwort zur ersten Auflage

 

 

 

Wir, die Autoren des Bandes »Psychoanalyse in Organisationen. Einführung in die psychodynamische Organisationsberatung«, Mathias Lohmer und Heidi Möller, sind Psychoanalytiker1. Seit mehr als 20 Jahren beraten wir Organisationen aus dem Profitbereich, Verwaltungssysteme, Einrichtungen des Gesundheitswesens, Schulen, Universitäten und psychosoziale Dienstleister. Dies tun wir vor dem Hintergrund unserer psychoanalytischen Grundhaltung und Identität. Um der Komplexität organisationalen Handelns gerecht zu werden, bedarf es jedoch mehr als den rein psychoanalytischen Wissensbeständen. Wir nutzen soziologische Rollenkonzepte, Mikro- und Makrosoziologie, arbeits- und organisationspsychologisches Wissen, Erkenntnisse aus der Klinischen Psychologie, der Sozialpsychologie, der Allgemeinen Psychologie, die pädagogische Psychologie des Lernens, Organisations- und Managementtheorien aus der Betriebswirtschaftslehre u. v. m.

Dennoch gehen wir davon aus, dass die psychodynamische Organisationsberatung ihre ganz eigene Handschrift trägt. Dieser Band versucht die USP (unique selling proposition), also das Alleinstellungsmerkmal Psychodynamischer Beratung von komplexen Systemen herauszuarbeiten. Was unterscheidet uns von den anderen zahlreichen Beratungsangeboten der nahezu unüberschaubar gewordenen Beratungslandschaft?

1              Die systematische Nutzung von Übertragungs- Gegenübertragungsphänomenen als Diagnostikum in der Beratung

Die subjektive Verfasstheit der Berater gilt als Königsweg der Erkenntnis in der psychodynamischen Organisationsberatung. Unsere Befindlichkeit in der Kontaktaufnahme zu einem zu beratenden System und die spezielle Art der Beziehungsgestaltung werden von uns aufmerksam verfolgt und sind für uns wesentliche Anhaltspunkte zur Klärung der Frage: »Was ist los in dieser Organisation?« Wir gehen davon aus, dass gerade zu Beginn eines Beratungsprozesses vieles, was in der Organisation geschieht, noch nicht versprachlicht werden kann, sich sehr wohl aber in der Beziehungsgestaltung zwischen Beraterin und Klientin vorbewusst artikuliert. Wir nutzen uns selbst als Resonanzkörper für unbewusste Organisationsdynamiken. Das setzt voraus, das wir über eine hohe Sinnerfassungskapazität verfügen. In der psychoanalytischen Theorie unterscheiden wir die konkordante und die komplementäre Gegenübertragung (Racker, 2002). Im konkordanten Gegenübertragungsmodus identifiziert sich der Coach mit der Coachee. Im komplementären Gegenübertragungsmodus hingegen identifiziert er sich mit den signifikanten Interaktionspartnern in Biographie und aktueller Lebenswelt.

Psychodynamische Organisationsberater achten höchst sensibel auf ihre emotionale und leibliche Befindlichkeit. Sie nehmen Phantasien und Assoziationen ernst, die sie im Laufe der Beratungsprozesse entwickeln. Damit wird der Person der Beraterin sicher ein höherer Stellenwert beigemessen, als dies in verschiedenen anderen Beratungszugängen der Fall ist (image Kap. 2).

Fallbeispiel

In zahlreichen Coachings mit Führungskräften aus einer großen Behörde gerate ich jeweils in einen immensen Druck, in der Beratung schnell zu sein und ganz viele Themen erfolgreich zu behandeln. Häufiges Thema in den Beratungen ist eine nicht gelungene Work-Life-Balance, und die Coachees wollen an ihrem Zeitmanagement arbeiten. In konkordanter Gegenübertragung nehme ich das Tempo der Klienten auf, mir gelingt eine Einfühlung in deren Arbeitsalltag und ich kann mich – nach dem Verstehen dieser Befindlichkeit als Gegenübertragungsphänomen – aus dieser affektiven und leiblichen Befindlichkeit befreien. In der Konsequenz auf der Interventionsebene heißt dies, mich dem Wunsch nach Zeitoptimierung der Klienten zu entziehen. Auf diese Weise kann es gelingen, an die Allmachtsphantasien zu gelangen. Die Illusion, der die Klienten folgen ist die, dass sie alles nur richtig machen müssen und sich mehr noch anstrengen, um all den Anforderungen nach Übersollerfüllung nachzukommen. Üblich in dieser Behörde ist nämlich nicht eine Zufriedenheit mit einer 100 %-Zielerreichung, sondern unter 130 %-Sollwert sind sie allesamt unglücklich. Keinem der Klienten gelang bisher die Hinterfragung dieser Orientierungsgröße. Sicher räumen die Kunden ein, an einem zu hohen Maß an Perfektionismus zu leiden, da sind sie selbstkritisch. Ohne jedoch an der inneren Überzeugung zu arbeiten, dass es ihnen potenziell gelingen könnte, alles perfekt und über Soll zu erledigen, würde jede Maßnahme eines optimierten Zeitmanagements scheitern. Die Allmachtsphantasie, über keinerlei Grenzen im Leistungsbereich zu verfügen, muss im Coaching angegangen werden, sonst schlagen die Interventionen fehl. Nur in der Anerkennung von eigenen Grenzen kann die Abgrenzung von überhöhten Ansprüchen erfolgen.

Hintergrund dieser Dynamik auf der organisationalen Ebene ist die Geschichte der Institution. Lange in der Öffentlichkeit gescholten und in Frage gestellt, nahm sie sich Steuerungsstrategien aus dem Business zum Vorbild, ohne auf die Sinnhaftigkeit dieser Analogiebildung zu achten. Im Modus des »Höher-Schneller-Weiter«, mit Hilfe maximaler Adaption von Managementprinzipien aus bestimmten Wirtschaftssparten, sollte der organisationale Selbstwert korrigiert werden. Diese narzisstische Problematik spiegelte sich in den Seelen der Mitarbeiter und Führungskräfte.

Die Gegenübertragungsanalyse ist zunächst einmal ein diagnostischer Zugang. Das szenische Verstehen (Lorenzer, 2006) hilft uns in der Erkenntnisgewinnung. Szenisches Verstehen bedeutet das Verstehen von Interaktionsprozessen, es soll entschlüsselt werden, wie die Coachee die Beraterin in ihre täglichen Szenen in der Arbeitswelt einbindet. Die Coach steht dabei also nicht in Distanz zu der Szene, sondern muss sich auf das Spiel der Kunden einlassen. Die Kundin bringt in die Szene abgewehrte Erlebnisse ein. Sie agiert durch einen Wiederholungszwang ständig mit dem gleichen Muster. Aufgabe der Coach ist es nun, die ursprüngliche Szene bewusst zu machen und zu rekonstruieren. Lorenzer formuliert es für den Therapieprozess folgendermaßen: »Der Analytiker steht nicht in beschaulicher Distanz zum Patienten, um sich – wie aus einer Theaterloge – dessen Drama anzusehen. Er muss sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muss selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil« (1974, S. 138). Die technische Frage des Umgangs mit diesen Phänomenen, die Frage ob wir unsere Wahrnehmungen veröffentlichen und dem zu beratenden System zur Verfügung stellen, und vor allem wann wir dies tun, – die berühmte Frage des Kairos also – ist abhängig von den jeweiligen Beratungskontrakten und den Zielen, die die jeweilige Beratung verfolgt. Bei der Frage, in welcher Form wir dies tun, ist sicherlich Taktgefühl gefragt (Buchholz, 2012). Die beraterische Prämisse ist es, die Gegenübertragungsphänomene in nicht kränkender, offener Form, die zum Weiterdenken einlädt, zur Verfügung zu stellen.

Gegenübertragungsphänomene sind keine Wahrheiten. Erst wenn die Klienten diese ratifizieren, ihnen das Verständnis der Phänomene für ihre Arbeit weiterhilft und sie mit ihnen ins konstruktive Problemlösen gelangen, haben sie ihre Funktion der Nützlichkeit für den hermeneutischen Prozess erfüllt.

2              Die Analyse kollektiver Abwehrmechanismen

Kollektive (oder psychosoziale) Abwehrmechanismen in Organisationen wie die der Bagatellisierung, der Dramatisierung, der Verleugnung, der Idealisierung und Entwertung, der Affektisolierung, der Emotionalisierung oder Rationalisierung, wie sie sich uns in der jeweiligen Organisation darstellen, müssen wir zunächst gewahr werden. Neben der Wahrnehmung der spezifischen Abwehrkonstellation gilt es sie zusammen mit dem zu beratenden System auf ihre Funktionalität hin zu überprüfen. So ist die Affektisolierung einer Chirurgin bei der Operation einer Patientin sicher sinnvoll, bei der Überbringung einer todbringenden Diagnose ist sie es nicht. Die Beratung hat zum Ziel, Abwehrmechanismen abzumildern und rigide Formen aufzuweichen, um den Organisationsmitgliedern situativ angemessenes Verhalten zu ermöglichen. Die wiederum technische Frage der Thematisierung organisationaler Abwehrprozesse ist eine beraterische Entscheidung über die situative Angemessenheit. So kann es in Krisensituationen sinnvoll sein, die Abwehr zu stabilisieren, in anderen Fällen nützlich sein, die Abwehr zu senken, um der Organisation eine Weitung ihrer Deutungs- und Handlungsmuster zu ermöglichen (image Kap. 1).

3              Das Nutzen von Widerstandsphänomenen als Kommunikationsangebot

Widerstandsphänomene in Organisationen wie die hohe Fluktuation der Mitarbeiter, ein hoher Krankenstand, die innere Kündigung, ein Klima der Verweigerung, u. v. m. sind für uns Herausforderung, mit dem zu beratenden System den Ängsten auf den Grund zu gehen. Im Beratungsprozess werden die Widerstandsphänomene für die Beteiligten erlebbar und können in Sprache übersetzt werden. Unsere Haltung dabei ist die der Gelassenheit und Selbstverständlichkeit: Es gibt keine Veränderung ohne Widerstand! Changeprozesse ohne Widerstandphänomene sind für uns eher Anlass der Beunruhigung. Denn Veränderungen, die abgenickt und hingenommen werden, können keine Schubkraft entwickeln. Wir versuchen mit den zu beratenen Organisationen, die im Widerstand enthaltene Botschaft zu entschlüsseln und das hilflose »Nein« in einen konstruktiven Dialog zu überführen. Bedenken und Ängste können wertvolle Korrekturen der Entwicklungsrichtung einer Organisation anzeigen und werden als wertvolle Beiträge erachtet (image  Kap. 2 und 4).

4              Der eigene wertegetriebene Standpunkt

Pychodynamische Organisationsberater beziehen Standpunkt und verweigern sich einer systemischen Beliebigkeit. Wir scheuen uns nicht, auch »unmoderne« Fragen wie die nach der Humanisierung der Arbeitswelt zu stellen. Wir wagen ein radikales Infragestellen von Leitbildern wie der reinen Wettbewerbsorientierung und streben in unserem Tun einen emanzipatorischen Prozess aller Beteiligten an. Auch arbeitspolitische Fragen werden von uns nicht außen vor gelassen: untertarifliche Bezahlung, Überlastung von Mitarbeitern, ein Zuwenig an Partizipation werden von uns benannt. Dabei sind wir stets an Triangulierung orientiert, d. h. wir verbünden uns weder mit den Vorgesetzten und Auftraggebern, noch gehen wir ein Bündnis mit der Belegschaft ein und rufen zur Subversion auf (image Kap. 8).

Die Ergebnisoffenheit von Beratungsprozessen bedeutet einen Dialograum zu gestalten, in dem Werte, die das Handeln der Beteiligten unterlegen, in einen gemeinsamen Diskurs kommen. Wertrationales oder zweckrationales Tun und unterschiedliche Standpunkte der Akteure werden von uns sichtbar gemacht, um Entscheidungen in Organisationen vorzubereiten.

5              Psychodynamische Berater sind der eigenen Verstrickung gegenüber furchtlos

In unserer Beratungsarbeit wagen wir uns sehr wohl weit vor, gehen mal mit der einen, mal mit der anderen Subgruppe der Organisation innerlich mit. Wir lassen uns involvieren, um genauer und tiefer zu verstehen. Wir trauen uns zu, nach Phasen der inneren Verstrickung wieder in die distanzierte Analyse dessen, was mit uns geschehen ist, zu gelangen, um dem zu beratenden System diejenigen Aspekte mitzuteilen, die aus den kollektiven Bewusstseinsprozessen ausgeschlossen sind. Dazu bedarf es einer hohen Spannungs- und Ambiguitätstoleranz. Wir arbeiten stets zugleich innen (mit den Seelen der Organisationsmitglieder) und außen (mit den Strukturen der Organisation), verlassen den externen Standpunkt nicht, gehen aber dennoch in die Identifikation mit den unterschiedlichen Beteiligten. Das Oszillieren zwischen Involviertheit und Distanznahme macht unsere Beratungstechnik aus (image Kap. 10).

6              Gegen eine überzogene »Tool-Orientierung« in der Beratung

In vielen Beratungskonzepten finden wir eine starke Tool-Orientierung (im schlimmsten Fall werden Übung an Übung gereiht). Nun ist gegen Methodenvielfalt und -reichtum sicher nichts einzuwenden. Sehr wohl aber gegen ein Beratungsverständnis, das in einer Aneinanderreihung von Tools besteht. Es scheint ein Bedarf nach Erlebnisreichtum zu bestehen, wahre Feuerwerke an erlebnisaktivierenden Methoden werden gezündet, es soll »was los sein«. Aber entspricht dies einem psychodynamischen Beratungsverständnis? Uns geht es vielmehr um das Gegenteil, eine gute Entschleunigung, so dass die Affekte, die im Arbeitsalltag nur allzu oft nahezu narkotisiert sind, eine Chance haben, wahrgenommen zu werden. Wir tragen damit dazu bei, dass Wahrnehmung und Reflexion entstehen können, denn nur ein hohes Maß an Bewusstheit über die äußere und innere Realität kann die Grundlage einer sorgsamen Modifikation eigener Deutungs- und Handlungsmuster sein. So braucht es auch Zeit, die eigenen mentalen Modelle, die jemanden leiten, kennenzulernen, sie auf ihre Funktion hin zu überprüfen und ggf. zu modifizieren. Ein methodisches Feuerwerk setzt manchmal nur eine organisationale Aufgeregtheit fort, Beratung wird zum Event. Geht es im Beratungsprozess nicht oft darum, genau diese Muster aufzulösen? Sicherlich geben gerade Anfängern die Methoden zunächst einmal Sicherheit. Es besteht aber eine Gefahr darin, dass Methoden an die Stelle von wirklichem In-Kontakt-Treten mit den Beratungsklienten treten, dass Methoden zu Abwehrzwecken missbraucht werden. Lieber etwas »machen«, als die Tristesse, die Verzweiflung, die Destruktivität mancher organisationaler Realität zu spüren (image Kap. 8).

7              Psychodynamische Berater haben langwierige Selbsterfahrungsprozesse hinter sich

Um qualitativ gut zu beraten, braucht es die Reflexion der eigenen organisationalen Sozialisation. Wie sieht mein Verhältnis zu Macht und Einflussnahme aus? Was sind die vorbewussten Motive zur Berufswahl Berater (Stippler & Möller, 2010)? Sollte Pühl (mündl. Mitteilung) recht haben, sind es oft die eigenen Wünsche nach Partizipation an der Macht der Ratsuchenden, die Berater auf der unbewussten Ebene zur Wahl eben dieses Berufes motivieren. Sie verweigern die eigene Führungsrolle und entlehnen sich Dominanz durch den Status ihrer Klientel (je hierarchisch höher desto besser). Es geht uns nicht darum, diese Motive zu denunzieren. Diese Fragen sollten jedoch einer Reflexion unterzogen werden. Ebenso sieht es mit dem Verhältnis zur Organisation aus. Folgen wir Gehlen (2009), so ist eine Organisation in ihrer psychischen Funktion ein janusgesichtiges Geschöpf: sie gibt zugleich Sicherheit und ist Bedrängnis. Die Motivation zur Ausbildung zum Berater ist oft genug die, dieser Bedrängnis für sich selbst zu entkommen. Aber welche Folgen hat eine solche Motivation für die Beratungsprozesse, wenn sie nicht bewusstseinsfähig gemacht werden? Um beraterische Abstinenz (image  Kap. 2 und 10) zu erreichen, muss die Beraterin ihre eigene »Organisationsgeschichte« mit allen Ambivalenzen ausreichend reflektiert haben. Um ausreichende Beziehungsfähigkeit zu erlangen, um Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene nutzen zu können, müssen wir unser Erleben und unsere automatisierten Reaktionsbereitschaften kennengelernt und unsere blinden Flecke minimiert haben.

8              Permanente Supervision als Voraussetzung der Qualitätssicherung in der Beratung

Psychodynamische Berater stellen ihre Beratungsarbeit immer wieder zur Disposition. In Intervision- oder Supervisiongruppen lassen wir uns in die Karten schauen, nutzen die Balintschen Spiegelphänomene im Kollegenkreis, um den zu beratenden Systemen die Gelegenheit zu geben, sich im Beratersystem zu spiegeln. Kollegiale Konfrontationen minimieren unsere eigene Abwehr und ergänzen durch Perspektiverweiterung. Neben der Affektkalibrierung, die in der Arbeit mit hochkomplexen Systemen immer wieder von Nöten ist, um wildes Agieren zu vermeiden, dienen kollegiale Beratungen unserm lebenslangen Lernen und unserer Persönlichkeitsentwicklung über die Förderung selbstreflexiver Prozesse. Eine sichere Bindung zur Beraterin kann von unseren Auftraggebern nur dann entstehen, wenn wir selbst sicher in unserer beraterischen Identität sind und durch Fremdfeedback gesichert sind (image Kap. 10).

9              Unsere Basis ist eine psychoanalytische Persönlichkeitstheorie

Das psychoanalytische Modell der Persönlichkeit ist grundsätzlich konflikthaft angelegt. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen ist eine Geschichte der Konflikte: Trieb und Abwehr, Über-Ich und Es, Natur und Kultur, u. v. m. So sind wir psychoanalytische Berater in keiner Weise erstaunt, wenn dem Beratungsangebot Supervision oder Coaching mit Ambivalenzen begegnet wird. Die Rolle der Ratsuchenden ist eine ersehnte und eine abgewehrte. So sehr jemand sich Hilfe wünscht, die Tatsache, Rat zu brauchen, kränkt auch. So sehr sich jemand Feedback von außen erhofft, es ängstigt auch. So sehr jemand blinde Flecken entdecken mag, sie will sie auch nicht wahrhaben. Gerade Klienten, die von ihren Vorgesetzten oder Personalentwicklungsabteilungen geschickt werden, reagieren oft mit Skepsis: Soll ich umerzogen werden? Bin ich so, wie ich bin, nicht recht? Sie kommen zwar zur Sitzung, da sie den Konflikt, das Angebot auszuschlagen, nicht riskieren wollen, aber ihre Ambivalenz färbt die Beratung. Mit der psychoanalytischen Haltung, dass wir alle stets »zwei Seelen« in unserer Brust tragen, wollen und gleichzeitig nicht wollen, kann mit der Ambivalenz in aller Gelassenheit gearbeitet werden (image Kap. 1).

Fallbeispiel

Die Geschäftsführerin eines großen psychosozialen Dienstleistungsunternehmens kommt auf Anraten des Vorstandes zur Beratung. Sie verschiebt häufig Termine und es gelingt ihr in den Sitzungen nicht recht, eine Prägnanz in ihren Beratungsanliegen herzustellen. Die vermutete Ambivalenz zu übergehen, würde zu einer »Als-ob-Beratung« führen. Die Haltung der Coach, dass »gemischte Gefühle« eher üblich, denn außergewöhnlich sind, kann zur Herstellung eines inneren commitments führen.

Von einer grundsätzlichen Konflikthaftigkeit auch der Führungsaufgabe auszugehen ist eine recht nützliche Haltung. Neben den zahlreichen Dilemmata (vgl. Neuberger, 2002) der Führungskräfte zwischen Eingehen auf den Einzelfall versus Gleichbehandlung aller, Innenorientierung ins Unternehmen und zu den Mitarbeitern versus Außenvertretung der Organisation, bis hin zum berühmten »Fordern und Fördern«, die den Führungsalltag prägen, ist auch die Rolle selbst oft ambivalent besetzt.

Fallbeispiel

Eine Führungskraft reibt sich auf, den Wünschen und Erwartungen sowohl der Mitarbeiter als auch ihrer Vorgesetzten zu genügen. Aber immer mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung wird eingeklagt. Sie bemerkte gar nicht, dass sie von einem reaktiven Modus zerfressen wurde. Es mag an der spezifischen Ausgestaltung der Führungsrolle als gute, immerfort nur spendende Mutter liegen, dass die kooperierenden Menschen im Unternehmen sich langsam zu kleinen Nimmersatts entwickelten.

Gerade Frauen reagieren in Ermangelung guter weiblicher Führungsmodelle (vgl. Möller, 1995) regressiv, d. h. sie suchen für die Ausgestaltung der Führungsrolle nach Rollenkonserven, die ihnen vertraut sind: die Mutter, die Schwester, die Freundin, die Verführerin und verlassen damit ihre Professionalität. Die Anteile der Führungskraft im Sinne der Unterstützung müssen aber zu gleichen Teilen auch mit dem fordernden Aspekt balanciert werden, um wirksam zu sein.

Psychodynamische Beratung kann vor dem Hintergrund einer emotional sicheren Beziehung persönliche Konfliktlagen, Rollen- und Organisationskonflikte reflektieren helfen und dadurch die reflexive Kompetenz unserer Beratungskunden erweitern, die als Grundvoraussetzung erfolgreichen Führens gilt (vgl. Greif, 2008).

10            Die Verschränkungen des Entwicklungswegs des Einzelnen mit dem Entwicklungsweg der Organisation

Ebenso wie Menschen durchlaufen auch Organisationen unterschiedliche Entwicklungsstadien (vgl. Glasl & Lievegoed, 2011). In der Pionierphase herrscht Aufbruchstimmung, wenig Aufgabendifferenzierung, denn alle machen alles. Die Belegschaft ist euphorisiert und hoch motiviert. In der Differenzierungsphase hingegen wird vieles verregelt und systematisiert. Die Organisation beschäftigt sich mit sich selbst, etabliert neue Steuerungsstrukturen, verwissenschaftlicht sich, kontrolliert und standardisiert. Die Aufbruchstimmung weicht leicht depressiver Verstimmtheit der Organisationsmitglieder. Erst in der Integrationsphase kann es gelingen, die Vorteile des Beginns mit den notwendigen Formalisierungen späterer Entwicklung in eine gelungene Balance zu bringen. Zwischen den einzelnen Entwicklungsphasen der Organisation kommt es zu Krisen. Es wäre fatal, die Niedergeschlagenheit von Mitarbeitern z. B. im Übergang von der Pionier- in die Differenzierungsphase zu pathologisieren. Psychodynamische Beratung bedeutet, das Innen und Außen der Organisation miteinander zu verschränken. Affekte der Organisationsmitglieder werden stets zunächst auf ihren organisationalen-strukturellen Begründungszusammenhang hin untersucht (image Kap. 4).

Fazit: Die Rolle der eigenen Emotion für den Beratungsprozess

Bisher ist deutlich geworden, dass psychodynamische Beratung mit der systemischen Beratung, die die Prozessberatung als Ansatz vor allem dominiert, den Blick auf systemische Interdependenzen, die Komplexität von Veränderungsprozessen und die breite Einbeziehung des Kundensystems gemeinsam hat. Es ist aber auch deutlich geworden, dass die psychodynamische Beratung dem noch die Rolle der eigenen Emotionalität hinzufügt – sei es der Gesichtspunkt von Übertragung und Gegenübertragung, der von Angst und Abwehr im System oder die Rhythmen von Entwicklung mit Veränderung und Konsolidierung. Die Orientierung an der grundsätzlichen Konflikthaftigkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens hilft uns zudem, dem emotionalen Aufruhr, wie er in Organisationen vorzufinden ist, angemessen zu begegnen. Schließlich hilft die psychodynamische Haltung in besonderer Weise dabei, sich im Kräftefeld von Organisationen souverän zu bewegen und die Verwicklung im Beratungssystem unaufgeregt aber hartnäckig zu bemerken und aufzulösen – zum Wohle des Kunden und des Beraters!

Wir danken Katrin Oellerich, Fiona Hayes und Carla Albrecht für die sorgsame Unterstützung bei der Durchsicht des Manuskripts.

 

Mathias Lohmer und Heidi Möller

München und Kassel, im November 2013

1     Die Autoren, eine Psychoanalytikerin und ein Psychoanalytiker, und der Verlag haben sich in diesem Werk im Hinblick auf die »Genderfrage«, wohlwissend um die (zum Teil guten) Argumente für eine geschlechtsneutrale bzw. -umfassende Schreibweise, zugunsten einer lesefreundlichen Praxis entschieden. Diese besteht darin, im laufenden Text im Singular die weibliche und männliche Form regelmäßig abzuwechseln. Sofern nicht aus dem Kontext deutlich werdend sind dabei stets beide Geschlechter gemeint. Im Plural wird auf die in der Fachliteratur weiterhin am stärksten verbreitete Praxis, für beide Geschlechter die (scheinbar) männliche Form zu wählen, zurückgegriffen.

 

 

 

Teil A – Grundlagen

1          Von der Couch in die Organisation

 

 

 

Einführung

Unbewusste Prozesse spielen für die Arbeit in Organisationen eine ebenso große Rolle wie für jeden Einzelnen. Während psychosoziale Abwehrmechanismen in sozialen Systemen einerseits ihre Mitglieder gegen unbewusste Ängste schützen, führen sie häufig dazu, dass Organisationen in ihren Prozessen und Strukturen rigide, veränderungsresistent und unproduktiv werden. Aufbauend auf jüngeren Erkenntnissen der Gruppen- und Organisationsdynamik setzt die psychodynamische Organisationsberatung unter Rückbezug auf moderne psychoanalytische Konzepte an, um das Verständnis für die Interaktionen zwischen Gruppenprozessen, Führungsrollen, Aufgaben und strukturellen Bedingungen zu erweitern. Auf diese Art wird den Mitgliedern oder Mitarbeitern eine Annäherung an zugrundeliegende unbewusste Prozesse in Profit- und Non-Profit-Organisationen ermöglicht und es können Ansatzpunkte aufgezeigt werden, Konflikte zu verstehen sowie funktionaleren Strukturen entgegen zu arbeiten.

Lernziele