CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

Das Haus ohne Tür

 

 

IM DUNKEL DER NACHT – KRIMIS AUS DER DDR, Band 2

 

 

 

Drei Novellen und eine Kurzgeschichte

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS HAUS OHNE TÜR von Arne Leonhardt 

SPÄTE RECHNUNG von Peter Niemann 

GESUCHT WIRD ERZSÉBET LABRÓ von János Fülöp  

KENNWORT LAUBENSPRINGER von Günter Teske 

ALARM IN DER NACHT von Kurt Letsche 

 

 

Das Buch

 

Der Band Das Haus ohne Tür, zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge, erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag und enthält die folgenden spannenden Krimi-Erzählungen: Das Haus ohne Tür von Arne Leonhardt (1966), Späte Rechnung von Peter Niemann (1981), Gesucht wird Erzsébet Labró von János Fülöp (1979), Kennwort Laubenspringer von Günter Teske (1965) und Alarm in der Nacht von Kurt Letsche (1966). 

  DAS HAUS OHNE TÜR von Arne Leonhardt

 

 

Es war 20 Uhr 10, als der graue EMW mit dem VP-Kennzeichen in schneller Fahrt in die Fasanenstraße einbog. Oberleutnant Gruhl, Leiter der Morduntersuchungskommission, registrierte diesen Zeitpunkt ganz automatisch. Die Meldung des Unfalles war 19 Uhr 50 eingegangen.

Sie hielten vor dem Hause Fasanenstraße 12 dicht hinter dem am Fußweg parkenden Rettungswagen. Vor dem Hauseingang stand trotz des Nieselregens eine Gruppe Menschen. Ein Mann in der grauen Uniform des Sanitätsdienstes ging auf die Kriminalisten zu.

»Es ist im ersten Stock, bei Lissner«, sagte er halblaut. »Der Arzt ist oben, aber es ist nichts mehr zu machen.«

Das Treppenhaus war nur schwach erleuchtet und roch muffig. Neben einer Tür ohne Namensschild führte eine ausgetretene Steintreppe nach oben. Im ersten Stock stand eine der Wohnungstüren halb offen, gedämpfte Stimmen waren zu hören.

Ein gnomenhaft aussehendes Männchen mit Brille und schütterem Haar füllte im Lichtschein einer Taschenlampe ein Formular aus. Es war der Arzt. Er drehte sich um und musterte die Eintretenden. »Ach, Sie sind es, Oberleutnant«, sagte er. »Ich schicke den Rettungswagen gerade wieder weg. Die Frau war sofort tot. Stromschlag, der elektrische Heizofen ist ihr in das Badewasser gefallen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Unfallort.« Er erhob sich, trat auf den Korridor hinaus und wies auf eine offenstehende Tür.

Oberleutnant Gruhl winkte Wachtmeister Nötzold und dem Fotografen zu, der im Korridor stand, mit Kamera, Blitzlicht und einem Koffer ausgerüstet. »Nehmen Sie den Unfallort auf«, befahl Gruhl. Nötzold und der Fotograf folgten dem Arzt ins Badezimmer.

Am Ende des Korridors stand ein Mann mit verstörtem Gesicht. Er trug Hausschuhe, in der Hand hielt er krampfhaft eine Taschenlampe. »Lissner, Klaus Lissner«, stieß er hervor, als ihn Oberleutnant Gruhl anblickte.

»Wo können wir ungestört sprechen?«, fragte Gruhl.

Klaus Lissner beleuchtete den Weg ins Wohnzimmer. Wie nach einer schweren Anstrengung ließ er sich dort in den Sessel fallen, legte die Taschenlampe auf den Tisch und griff nach einer Zigarette. Beim Anzünden brach er zwei Hölzer ab.

Oberleutnant Gruhl nahm ihm gegenüber Platz und zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Ich möchte Sie meines Mitgefühls für diesen tragischen Unfall versichern, Herr Lissner. Trotzdem muss ich einige Fragen an Sie richten. Die Verstorbene ist...«

»Margarete Halbach, meine Schwiegermutter.«

In diesem Augenblick flammte die Deckenbeleuchtung auf. »Meine Kollegen haben die Sicherung erneuert«, erklärte Oberleutnant Gruhl. Er begann zu notieren. »Wer gehört außer ihrer Schwiegermutter noch zur Familie?«

»Detlev und Steffen, meine Jungen, fünf und acht Jahre alt. Meine Frau starb vor vier Jahren, ein Verkehrsunfall.«

»Schildern Sie mir bitte ganz ausführlich den Verlauf des heutigen Abends.«

Klaus Lissner löschte die Taschenlampe und drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Es hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Ich kam heute gegen halb sechs nach Hause, mein Freund begleitete mich, Axel Trepte heißt er. Wir unterhielten uns hier im Wohnzimmer über den Bau seiner Garage. Ich will ihm dabei helfen. Er ist nach ungefähr einer Stunde wieder gegangen. Ich habe danach in dem Zimmer im Erdgeschoss Abendbrot gegessen, dabei Nachrichten und anschließend ein Hörspiel gehört. Es muss kurz nach halb acht gewesen sein, als plötzlich das Licht ausging. Ich nahm die Taschenlampe, sah oben in der Wohnung nach den Sicherungen und rief meine Schwiegermutter. Sie antwortete nicht, ich suchte nach ihr und fand sie schließlich im Badezimmer. Sie lag in der Wanne... tot. Bei unserer Nachbarin habe ich die Rettungsstelle angerufen.«

»Sie hielten sich demnach zur Zeit des Unfalles gar nicht in der Wohnung auf?«

Klaus Lissner sah den Oberleutnant schweigend an, als müsse er erst den Sinn dieser Frage ergründen. »In der Wohnung hier oben nicht, nein. Ich war in dem Zimmer im Erdgeschoss, gleich neben der Treppe, es gehört noch zur Wohnung. Sonst schlafen meine Jungen dort.«

»Sind Ihre Jungen jetzt nicht zu Hause?«

Klaus Lissner zögerte. Die Frage war ihm sichtlich unangenehm. »Ich habe die Jungen vor drei Tagen weggebracht, zu den Eltern von Fräulein Ermisch. Fräulein Ermisch und ich wollen heiraten. Deshalb bin ich auch in das Zimmer im Parterre gezogen, es gab in der letzten Zeit Zerwürfnisse zwischen meiner Schwiegermutter und mir.«

Oberleutnant Gruhl bedankte sich für die Auskünfte, steckte das Notizbuch ein und erhob sich. Er ging in das Badezimmer, einem mittelgroßen, grüngekachelten Raum. Die Tote war weggebracht worden, die Badewanne entleert; den Heizofen hatte einer der Kriminalisten mitgenommen. Von der Tragödie zeugten nur noch eine breite Wasserlache vor der Wanne und Frau Halbachs Kleider an einem Haken.

Wachtmeister Nötzold stand am Fenster und musterte den Raum. Als er den Oberleutnant eintreten sah, fragte er ihn: »Wohin würdest du einen Heizofen stellen, wenn du hier baden wolltest und der Raum wäre dir zu kühl?«

Oberleutnant Gruhl schaute sich um. Die Badewanne hatte einen schmalen, gewölbten Rand, auf dem man nichts abstellen konnte. Außer einem niedrigen Schränkchen standen keine Möbel im Raum. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder stelle ich den Heizofen auf den Schrank da oder auf den Fußboden.«

Wachtmeister Nötzold nickte. »Ich überlege schon die ganze Zeit, wie der Heizofen vom Schrank oder auch vom Fußboden in die Wanne gekommen sein kann.«

Oberleutnant Gruhl sah sich nochmals um. Die Steckdose befand sich zwischen der Tür und dem Badeofen. »Vielleicht hat sie von der Wanne aus den Heizofen hochgenommen, um auf diese Art den Stecker aus der Dose zu ziehen«, mutmaßte er.

»Dazu ist die Schnur des Heizofens zu lang«, widersprach Wachtmeister Nötzold. »Sie hätte in diesem Fall an der Schnur gezogen und den Ofen stehengelassen.« Er griff nach seinem Mantel, den er auf einem Haken neben Frau Halbachs Kleider gehängt hatte. »Ich habe schon alles ausprobiert, Siegfried. Es gibt keine Möglichkeit, den Heizofen aus Versehen in die Wanne fallen zu lassen. Ich halte einen Unglücksfall für ausgeschlossen.«

»Also Selbstmord.« Es war nicht genau zu hören, ob Oberleutnant Gruhl diese Worte als Frage oder als Feststellung aussprach.

Wachtmeister Nötzold knöpfte den Mantel zu. »Das wäre erklärbar. Wir werden wohl erst mal die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten müssen.«

»Ein Mensch heizt einen Badeofen«, sagte Gruhl nachdenklich, »lässt die Wanne voll Wasser laufen, legt Seife, Schwamm und Handtuch zurecht und begeht dann Selbstmord. Eigenartig.«

 

Wachtmeister Nötzold saß am Schreibtisch seines Vorgesetzten. Er las zum wiederholten Male den Bericht des Arztes, in dem als Zeitpunkt für Frau Halbachs Tod die Zeit zwischen 19 Uhr 15 und 19 Uhr 45 angegeben wurde. Dieses »zwischen« störte ihn. Er war ein gründlicher Arbeiter, bei einem solch mysteriösen Todesfall wollte er den Zeitpunkt des Todes exakt, möglichst auf die Minute bestimmt haben.

Oberleutnant Gruhl kam ins Zimmer und warf achtlos die Tür hinter sich zu. Er blieb vor dem Schreibtisch stehen und überflog einen Zettel, den er in der Hand hielt. »Von der Daktyloskopie«, bemerkte er.

Nötzold nickte. »Das ging ja diesmal ziemlich flott.«

»Kein Wunder. Die Fingerabdrücke auf dem Heizofen sind noch nicht bestimmt, und der Stecker macht wenig Arbeit. Er enthält keine Fingerabdrücke.«

»Was denn?« Wachtmeister Nötzold sah den Oberleutnant entgeistert an.

»Es sind keine Fingerabdrücke auf dem Stecker; weder die der Frau Halbach noch andere. Demnach ist er gestern entweder mit Handschuhen in die Dose gesteckt oder nachträglich gesäubert worden.«

»Also auch kein Selbstmord!«

»Da ich keinen Selbstmörder kenne, der seine Fingerabdrücke beseitigt, nehme ich an, dass Frau Halbach ermordet wurde.«

Wachtmeister Nötzold schob den Arztbericht in die Mappe zurück und stand auf. »Und wie jetzt weiter?«

»Mach dich fertig und besorge einen Wagen, wir fahren zur Fasanenstraße. Ich rufe vorher noch die Redaktion der Zeit im Bild« an. Mal sehen, in welcher Nummer die Notiz über den Fall Nowack stand. Ich entsinne mich, dass die Schauspielerin Alice Nowack ebenfalls durch einen Stromschlag in der Badewanne starb. Eine seltsame Parallele!«

 

Wachtmeister Nötzold klingelte zum zweiten Male. In Lissners Wohnung rührte sich nichts. Schließlich wurde die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung geöffnet, und eine etwa dreißigjährige Frau trat in das Treppenhaus. »Herr Lissner ist heute zeitig weggegangen, er will im Betrieb freinehmen und einige Formalitäten wegen des Todesfalles erledigen«, erklärte sie. »Er wird aber bald zurückkommen.«

Oberleutnant Gruhl sah auf das Namensschild an der Tür. »Wir hätten gern einige Auskünfte von Ihnen, Frau Windisch, ist das jetzt möglich?«

Er zeigte der Frau seinen Dienstausweis.

Sie wurden in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer geführt. Gegenüber der Couch stand an einer freien Wand ein Fernsehgerät. Frau Windisch schickte ihre beiden Mädchen in die Küche und kam ins Wohnzimmer zurück.

»Sie kannten doch Frau Halbach«, begann Oberleutnant Gruhl im Plauderton, und Wachtmeister Nötzold bereitete sich zum Protokollieren vor.

Frau Windisch nickte. »Natürlich, Frau Halbach wohnt seit vier Jahren hier. Es war damals die einzige Lösung, als Herr Lissner mit den beiden Kindern plötzlich allein dastand.«

»Frau Halbach ist erst nach dran Tode ihrer Tochter eingezogen?«

»Ja, aber sie war auch vorher fast jeden Tag hier. Frau Lissner arbeitete als Telefonistin. Ihre Mutter versorgte den Haushalt und die Kinder.«

»Wie kamen Frau Halbach und Herr Lissner miteinander aus, seitdem sie zusammen wohnten?«

»Es war ein recht harmonisches Verhältnis, bis...« Frau Windisch blickte vor sich hin, unentschlossen, wie sie sich ausdrücken sollte. »Herr Lissner hat vor einem halben Jahr in seinem Betrieb eine Frau kennengelernt, Ermisch heißt sie wohl. Seitdem vertrugen sich Herr Lissner und seine Schwiegermutter nicht mehr.«

»Gab es wegen der Kinder Streit?«, fragte Oberleutnant Gruhl.

»Es gab um alles Streit. Wissen Sie, Frau Halbach hat vier Jahre lang die Kinder versorgt und erzogen wie eine Mutter, sie hat die Wirtschaft geführt, und nun sollte sie plötzlich alles aufgeben, die Kinder, den Haushalt, sollte sich mit einem Male einer fremden jungen Frau unterordnen.« Frau Windisch sah jetzt richtig empört aus. »Man lässt sich doch nicht mit einem Schlage alles aus der Hand nehmen.«

Oberleutnant Gruhl blickte zu Wachtmeister Nötzold hinüber, doch der schrieb mit unbewegtem Gesicht. »Es ist ja wohl auch verständlich, dass Herr Lissner wieder heiraten will'«, wandte Oberleutnant Gruhl vorsichtig ein.

Frau Windisch hob abwehrend die Hände. »Ich will doch gar nichts gegen Herrn Lissner und Fräulein Ermisch sagen, ich kann sie verstehen. Ich wäre auch nicht einverstanden, wenn ich mich in meiner Familie in der Erziehung der Kinder, in der Kleidung und all den vielen Dingen nach einer fremden Frau richten sollte.«

»Hat denn das Frau Halbach verlangt?«

Frau Windisch schüttelte den Kopf. »Verlangt wohl nicht, aber sie kümmerte und sorgte sich um alles in der Familie, und das war ihr Lebensinhalt, sie besaß nichts anderes. Sie hat jahrelang für diese Familie gearbeitet und fühlte sich nun abgeschoben.«

»Wie sollte denn das in der Familie Lissner jetzt weitergehen?«

»Herr Lissner hat einen Antrag auf Wohnungstausch gestellt, eine größere Wohnung für sich und eine kleinere für seine Schwiegermutter erbeten. Sie können sich denken, welcher Schlag das für Frau Halbach war. Noch vor einer Woche sagte sie mir, dass sie nicht umziehen würde, vorgestern aber war sie dann plötzlich einverstanden, weil ihr Schwiegersohn sie so hasserfüllt anblicke, dass sie sich vor ihm fürchte.«

»Hat das Frau Halbach so zu Ihnen gesagt?«

»Ja, das hat sie gesagt.«

Es war nach diesen Worten still im Wohnzimmer, nur Wachtmeister Nötzolds Stift raschelte noch über das Papier. Plötzlich waren im Treppenhaus deutlich Schritte zu hören, auf der Höhe des Zimmers verhielten sie.

»Herr Lissner kommt zurück«, erklärte Frau Windisch. »Man hört in diesem Zimmer jedes Geräusch von draußen, wir haben deshalb schon das Schlafzimmer nach hinten verlegt.«

»Haben Sie sich gestern Abend zwischen neunzehn und zwanzig Uhr hier im Wohnzimmer aufgehalten?«, fragte Oberleutnant Gruhl.

Frau Windisch überlegte. »Ich habe kurz vor der Sendung des Sandmännchens den Fernsehapparat für die Kinder eingeschaltet, das war so zehn Minuten vor sieben. Um diese Zeit hörte ich Herrn Lissner mit einem Bekannten nach unten gehen. Wir haben Abendbrot gegessen und halb acht die Aktuelle Kamera angesehen, ungefähr eine Viertelstunde später kam Herr Lissner, um nach dem Rettungsdienst zu telefonieren.«

»Hörten Sie ihn nicht vorher wieder nach oben kommen?«

Frau Windisch schüttelte den Kopf. »Während wir Abendbrot aßen, ist er nicht heraufgekommen. Nach halb acht haben wir es wohl überhört, der Fernseher lenkt doch ab.«

»Schade«, sagte Oberleutnant Gruhl zu Wachtmeister Nötzold.

 

Klaus Lissner zeigte weder Erstaunen noch Erschrecken, als er die Tür öffnete und die beiden Kriminalisten vor sich sah. Sein Gesicht war müde, beinahe ausdruckslos, unter den Augen lagen tiefe Schatten.

»Warten Sie bitte im Wohnzimmer«, sagte er, »ich will mich erst waschen.«

Oberleutnant Gruhl setzte sich in den Sessel am Tisch und gab Wachtmeister Nötzold Anweisungen. »Du siehst dich in der Wohnung um, während ich mit Herrn Lissner spreche. Suche vor allem die Illustrierte Zeit im Bild, Heft dreiunddreißig dieses Jahrgangs.«

»Zeit im Bild, Heft dreiunddreißig«, wiederholte Wachtmeister Nötzold mechanisch und blickte dabei wie in Gedanken an Oberleutnant Gruhl vorbei. »Sechs Minuten nach halb acht«, sagte er dann ohne jede Erklärung.

Oberleutnant Gruhl folgte verwundert dem Blick des Wachtmeisters und entdeckte an der Wand eine elektrische Uhr. Die Zeiger standen auf sechs Minuten nach halb acht.

»Sie ist gestern Abend stehengeblieben, als die Sicherungen durchschlugen, und nicht wieder angesprungen, nachdem die Sicherungen erneuert wurden«, kombinierte Wachtmeister Nötzold. »Demnach wäre neunzehn Uhr sechsunddreißig der genaue Zeitpunkt von Frau Halbachs Tod.«

»Vorausgesetzt, dass die Uhr wirklich erst gestern Abend stehenblieb«, wandte Oberleutnant Gruhl ein. »Und selbst wenn das der Fall war, ist noch nicht erwiesen, dass die Uhr auf die Minute genau ging.«

Klaus Lissner trat ins Zimmer, und bevor er etwas sagen konnte, fragte ihn Wachtmeister Nötzold: »Haben Sie genaue Zeit, Herr Lissner?«

Klaus Lissner schaute auf seine Armbanduhr und dann vergleichend nach der elektrischen Uhr an der Wand. »Bei mir ist es genau drei Viertel elf, die Uhr da drüben ist sicherlich gestern Abend stehengeblieben.«

»Sie sagen sicherlich«, können Sie sich nicht erinnern, ob die Uhr gestern noch lief, als Sie mit Ihrem Freund hier saßen?«

Klaus Lissner sah verwundert Oberleutnant Gruhl an. »Wahrscheinlich lief sie noch, ich habe jedenfalls nicht bemerkt, dass sie gestanden hätte.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn sich Wachtmeister Nötzold inzwischen im Zimmer umsieht, während wir uns unterhalten?«, fragte Oberleutnant Gruhl. »Vielleicht lassen sich noch Dinge finden, die den tragischen Vorfall klären helfen.«

»Bitte, sehen Sie sich alles an«, sagte Klaus Lissner mit einer Handbewegung zu Wachtmeister Nötzold. Dann wandte er sich an den Oberleutnant. »Ich war vorhin bei Doktor Wenke, wegen des Totenscheines. Er sagte mir, ich müsse mich um die Freigabe zur Bestattung an die Staatsanwaltschaft wenden und dort...«

»Deshalb will ich mit Ihnen sprechen«, unterbrach ihn Oberleutnant Gruhl. »Wir können Frau Halbach noch nicht zur Bestattung freigeben, Herr Lissner. Es gibt da einige Dinge, die einen Unfall fraglich erscheinen lassen.«

Klaus Lissner wurde plötzlich wachsbleich. »Sie meinen...«. Er schluckte heftig. »...hat sie Selbstmord begangen?«

»Wir haben noch kein klares Bild des Vorganges.«

»Selbstmord«, wiederholte Klaus Lissner tonlos, »ich hätte das nie für möglich gehalten.« Er sah eine Weile vor sich hin, dann begann er auf einmal zu reden, hastig und eindringlich, als müsse er sich vor dem Oberleutnant rechtfertigen. »Ich wollte wegziehen von hier, mit den Kindern, ein Mann vom Wohnungsamt hat sich deswegen vor einer Woche die Zimmer angesehen. Seitdem sprach meine Schwiegermutter überhaupt nicht mehr mit mir. Detlev fragte mich eines Abends, warum die Tante Inge nicht mehr kommen dürfe, und Steffen sagte zu mir, wir sollen doch die Oma nicht fort jagen. Die Jungen bedrückte dieser Zustand. Steffens Lehrer fragte mich auch schon, warum der Junge in letzter Zeit in der Schule so still und unkonzentriert sei. Ich konnte nicht mehr bis zum Umzug warten. Vor drei Tagen habe ich die Jungen zu Fräulein Ermischs Eltern gebracht. Ich sehe jetzt noch das enttäuschte Gesicht meiner Schwiegermutter, aber sagen Sie, Herr Oberleutnant, was sollte ich anderes tun?«

Diese Frage galt nicht dem Oberleutnant und Kriminalisten, sie war an den Menschen Siegfried Gruhl gerichtet. »Ich glaube, Sie haben richtig gehandelt in den Dingen, die Sie mir eben erzählten«, sagte er. »Trotzdem musste auch Frau Halbach geholfen werden. Sie brauchte vor allem eine Aufgabe außerhalb der Familie, die sie ausfüllen konnte.«

»Ich habe deswegen mit dem Kaderleiter meines Betriebes gesprochen. Ich arbeite im Schleifscheibenwerk. Sie ist aber nicht hingegangen.« Klaus Lissner zuckte ratlos die Schultern. »Sie war schon sechsundfünfzig Jahre alt und ist noch nie berufstätig gewesen, früher war das ja anders.«

»Hatte Ihre Schwiegermutter sonst noch nahe Verwandte, Kinder oder Geschwister?«

»Nein, ein Bruder von ihr ist gestorben, meine Frau war ihr einziges Kind.«

Wachtmeister Nötzold kam vom Schreibtisch herüber und legte einen länglichen Kassenzettel vor Oberleutnant Gruhl auf den Tisch. »PGH Elektrik« stand am Kopf des Zettels, darunter handgeschrieben: Heizofen rep. - Spirale erneuert - gepr. Das Datum lautete deutlich lesbar auf den 11. Oktober.

»Der Heizofen wurde erst vor drei Tagen von einer Reparatur abgeholt«, bemerkte Oberleutnant Gruhl beiläufig.

»Ja, meine Schwiegermutter hatte mich gebeten, ihn in Ordnung bringen zu lassen.«

»Sie haben ihn selbst hingeschafft und auch wieder abgeholt?«

»Ja.«

Oberleutnant Gruhl schaute auf den Zettel. »Die Produktionsgenossenschaft befindet sich in einem ganz anderen Stadtteil als ihr Betrieb. Sind Sie da zweimal nach ihrer Arbeitszeit hingefahren?«

»Es war umständlich, aber ich wollte mich nicht noch wegen des Heizofens streiten.«

»Ich werde die Rechnung mitnehmen«, sagte Oberleutnant Gruhl und schob den Zettel in sein Notizbuch. »Wachtmeister Nötzold möchte sich jetzt mal in der Küche umsehen, vielleicht können wir...«

»Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Ihnen die Wohnung zur Verfügung steht«, unterbrach Klaus Lissner ärgerlich.

Wachtmeister Nötzold verließ das Zimmer. Oberleutnant Gruhl blätterte in seinem Notizbuch. »Ich wiederhole noch einmal ihre gestrigen Angaben, Herr Lissner. Sie unterhielten sich in diesem Zimmer mit Ihrem Bekannten, Herrn Trepte, von siebzehn Uhr dreißig bis gegen achtzehn Uhr dreißig. Als Herr Trepte gegangen war, aßen Sie in dem separaten Zimmer Abendbrot, hörten Nachrichten und ein Hörspiel. Plötzlich verlöschte das Licht, sie gingen nach oben, fanden Ihre Schwiegermutter tot im Badezimmer und riefen von der Wohnung der Familie Windisch den Rettungsdienst an.«

»So war es«, bestätigte Klaus Lissner.

»Wie hieß denn das Hörspiel?«

Lissner überlegte einen Augenblick, »Das Haus mit, nein Das Haus ohne Tür

»Ein komischer Titel.«

»Es handelte sich um einen älteren Mann und seine Frau, die sich in vielen Jahren ein eigenes Häuschen auf bau ten, um darin geruhsam und abgeschieden zu leben. Gerade mit dieser Ruhe und Abgeschiedenheit kamen sie dann nicht zurecht. Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausging, ich hörte ja nur einen Teil der Sendung.«

»An Ihrer Wohnungstür ist ein Sicherheitsschloss«, sagte Oberleutnant Gruhl ohne jede Verbindung zu seiner letzten Frage. »Wie viele Schlüssel gibt es dazu?«

Klaus Lissner machte die scheinbar wahllose Fragerei des Oberleutnants nervös. »Zwei, einen besitze ich, der andere gehörte meiner Schwiegermutter, und der hängt draußen am Schlüsselbrett.«

Oberleutnant Gruhl stand auf und steckte das Notizbuch ein. »Das wäre erst mal alles, Herr Lissner. Im Laufe des Nachmittags wird ein Kollege von uns kommen und sich das Türschloss ansehen.«

»Was hat denn das Türschloss mit einem Selbstmord zu tun?«, fragte Klaus Lissner. »Ihre Untersuchungen erscheinen mir sehr eigenartig.«

 

 

»Zum Präsidium«, sagte Oberleutnant Gruhl. Der Fahrer des Dienstwagens legte den Gang ein. Wachtmeister Nötzold zog einen Bogen Papier aus der Aktentasche und klappe ihn auseinander. »Bitte, die gewünschte Zeit im Bild, Heft dreiunddreißig.«

»Wo hast du sie gefunden?«

»Im Küchenbüfett.«

»Lagen da noch andere Zeitschriften?«

»Nein, nur diese. Sechs Nummern der Zeit im Bild steckten in einem Ständer im Flur. Ich habe sie alle mitgebracht.« Oberleutnant Gruhl blätterte die Illustrierte auf, wobei er nur die dünnen Kanten der Seiten berührte. Er wies auf eine kleine Notiz unter dem Porträt einer jungen Frau. »Da, lies mal!«

»Ein tragischer Unfall riss die bekannte Schauspielerin Alice Nowack aus ihrem glanzvollen Beginn in der neuen Theatersaison. Alice Nowack hatte beim Baden auf den Rand der Wanne einen elektrischen Heizofen gestellt, der ins Wasser stürzte und sie durch elektrischen Schlag sofort tötete. Das Theater und der Film erleiden durch den Tod der jungen Darstellerin einen großen Verlust...«

»Die Sache kenne ich«, murmelte Wachtmeister Nötzold. »Wer hat mir denn davon erzählt?«

»Genosse Dröge leitete die Untersuchungen«, sagte der Fahrer, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Ich habe die MUK damals zur Wohnung der Nowack gefahren.«

»Richtig, Dröge erzählte mir das. Die Notiz in der Illustrierten kannte ich allerdings nicht.«

»Mir fiel sie sofort ein, als ich gestern den Tatbestand erfuhr«, sagte Oberleutnant Gruhl. »Ich war überzeugt, dass wir die Zeitschrift finden würden.«

»Du meinst, dass diese Notiz die Idee geliefert hat?«

»Genau das. Diese Art der Tötung ist so ausgefallen, dass schwerlich ein Täter von selbst darauf kommt. Dabei hat diese Methode zwei große Vorteile: einmal wirkt sie schnell, ohne großen Aufwand und sicher tödlich, zum anderen lässt sich die Tat recht einleuchtend als Unfall darstellen.«

»Wenn die Wanne nicht gerade einen gewölbten Rand hat und vom Stecker die Fingerabdrücke verschwinden!«

Oberleutnant Gruhl gab die Illustrierte dem Wachtmeister zurück. »Bring alles zur Daktyloskopie, auch die sechs Nummern aus dem Ständer. Eine merkwürdige Sache. Warum lag das Heft dreiunddreißig im Küchenbüfett? Hat der Täter die Idee wirklich aus dieser Zeitschrift? Und wer kommt für die Tat in Betracht?«

»Ich meine, unsere Auswahl ist da gar nicht so groß. Wer wusste, dass Frau Halbach baden wollte? Klaus Lissner. Wer hatte Zutritt zur Wohnung? Klaus Lissner. Wer wusste vom Vorhandensein eines Heizofens? Klaus Lissner. Wer hat ein Tatmotiv? Eventuell Fräulein Ermisch, auf jeden Fall aber auch wieder Klaus Lissner. Und eben dieser Klaus Lissner besitzt für die Tatzeit kein Alibi.«

»Einspruch! Dass Frau Halbach baden wollte, konnte zum Beispiel auch Herr Trepte wissen, vielleicht hatte er es bei seinem Besuch erfahren. Und ein Tatmotiv müssen nicht unbedingt nur Klaus Lissner und Fräulein Ermisch haben, möglicherweise hat es eine dritte Person, die wir noch nicht in die Ermittlungen einbezogen haben.«

»Einspruch lässt sich immer erheben«, brummte Wachtmeister Nötzold verdrossen. »Fest steht jedenfalls, dass der Täter Frau Halbach kannte, dass er sich ausgezeichnet in der Wohnung zurechtfand und wusste, um welche Zeit Frau Halbach badete. Er kam nach Frau Windischs Aussage erst nach neunzehn Uhr dreißig, also zum richtigen Zeitpunkt.«

Oberleutnant Gruhl winkte ab. »Ohne exakte Feststellung der Tatzeit wird uns Frau Windischs Beobachtung gar nichts nützen.« Er sah im Rückspiegel das grienende Gesicht des Fahrers. Der Mann feixte natürlich über ihre krampfhaften Kombinationen. »Hören wir auf, Seifenblasen steigen zu lassen«, sagte er ärgerlich. »Du wirst dann sofort die PGH Elektrik aufsuchen und anschließend dieses Fräulein Ermisch, ich unterhalte mich mit Herrn Trepte. Am Nachmittag, sagen wir gegen sechzehn Uhr, werten wir bei mir im Zimmer aus. Hoffentlich bringt jeder etwas Neues mit.«

Wachtmeister Nötzold sah auf die Uhr. »Gut, gegen sechzehn Uhr. Du gestattest aber, dass ich jetzt erst mal in die Kantine essen gehe.«

Oberleutnant Gruhl seufzte. »Ich brauchte einen Romandetektiv als Mitarbeiter, die haben nie Hunger, die sind Tag und Nacht nur auf der Jagd. Da du aber nie ein solcher Detektiv wirst, darfst du ruhig erst dein Schnitzel essen.«

 

Wachtmeister Nötzold hatte sein Mittagessen in aller Eile eingenommen, und es ärgerte ihn nun, dass er bereits fünf Minuten im Laden der PGH Elektrik stand, ohne dass jemand von seiner Anwesenheit Notiz nahm. Ein Verkäufer in weißem Kittel bemühte sich, die Fehlerursache für die elektrische Spielzeuglokomotive eines Kunden zu finden, und wurde von einer jungen Verkäuferin dabei durch eifrige Ratschläge unterstützt. Die Lokomotive stand brummend auf einem Schienenstück und war trotz aller Bastelei nicht bereit, sich ohne Anschieben in Bewegung zu setzen. Die Untersuchungen konnten noch einige Zeit andauern. Wachtmeister Nötzold räusperte sich zunächst und trommelte mit den Fingern auf die Ladentafel, dann fragte er: »Hätten Sie mal einen Augenblick Zeit für mich?«

Die Verkäuferin kam herüber. »Sie wünschen?«

Wachtmeister Nötzold hielt ihr wortlos seinen Dienstausweis hin und schob ihr die Rechnung zu. »Ich komme wegen dieser Rechnung.«

Sie blickte auf den Zettel. Ihr Gesicht überzog sich mit einem dunklen Rot. »Ich habe die Rechnung selbst ausgeschrieben. Ist damit etwas nicht in Ordnung? Stimmt der Preis nicht?« Sie begann die angeführten Posten nachzurechnen.

»Es geht nicht um den Preis. Wir interessieren uns für den Kunden. Können Sie sich erinnern, wer dieses Gerät bei Ihnen abgeholt hat?«

Das Mädchen dachte angestrengt nach, ihr war anzumerken, dass sie die nachlässige Bedienung gern durch eine präzise Antwort ausgeglichen hätte. »Man erinnert sich bei den vielen Kunden schlecht an einen einzelnen. Vielleicht können Sie mir einige Anhaltspunkte geben.«

Wachtmeister Nötzold nützte eine Aussage nichts, wenn er sie erst vorsagen musste. »Gerade diese Anhaltspunkte sind es, die wir suchen. Ich möchte den Geschäftsführer sprechen.«

Das Mädchen verschwand durch eine Tür und kam gleich darauf zurück, von einem korpulenten Mann begleitet. »Kommen Sie bitte mit, Herr Kommissar«, sagte er leise und geleitete Wachtmeister Nötzold in einen engen Büroraum. »Es handelt sich um eine Rechnung, wie ich hörte?«

Wachtmeister Nötzold gab ihm den Kassenzettel. »Ich möchte wissen, was an dem von ihnen reparierten Heizofen defekt gewesen ist.«

Der Mann wühlte aufgeregt in einem Stapel Hefter und begann in einem davon zu blättern. »Hier ist es.« Er schob den Reparaturbericht Wachtmeister Nötzold zu und las, über dessen Schulter gebeugt, vor: »Heizofenspirale erneuert, fünf Meter Kabel erneuert, Gerät geprüft.«

»Das von dem Kabel steht aber nicht auf dem Kassenzettel«, wandte Wachtmeister Nötzold ein.

»Fräulein Laskov hat das nicht einzeln auf geführt, der Preis dafür steht hinter Heizofen repariert. Eigentlich gehörte das Kabel gar nicht mit zum Auftrag, die Isolierung war aber an mehreren Stellen brüchig und teilweise mit Leukoplast überklebt worden. Ich habe das Gerät selbst entgegengenommen und darauf bestanden, dass das Kabel erneuert wird. Frauen flicken immer an elektrischen Geräten rum, und schließlich ist das Malheur da.«

»Wieso Frauen?«, fragte Wachtmeister Nötzold verdutzt.

»Na, es war doch eine Frau, die den Heizofen brachte.«

»Das können Sie mit Bestimmtheit sagen?«

»Aber sicher. Sie war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, modern gekleidet und recht energisch. Ihre Augen waren ein wenig schräg gestellt, es sah immer aus, als würde sie einen spöttisch ansehen. Ich habe ihr noch einen Vortrag gehalten über die Pflege elektrischer Geräte.«

Wachtmeister Nötzold notierte diese Angaben. »Sie können sich erstaunlich gut an diese Kundin erinnern.«

»Ich bediene nur hin und wieder mal im Laden.« Der Mann blinzelte Wachtmeister Nötzold verschmitzt zu. »Und dann sehen sich wohl alle Männer junge Frauen auch immer besonders aufmerksam an.«

Von diesem Argument überzeugt, verabschiedete sich Wachtmeister Nötzold. Er ließ sich quer durch die Stadt fahren. Vor dem Tor des VEB Schleifscheibenwerkes stieg er aus.

Er ging auf das Pförtnerhäuschen zu und blieb einige Schritte vor dem Schiebefenster überlegend stehen. Es war nicht klug, sich beim Pförtner als Kriminalist auszuweisen, das würde sich sofort im Betrieb herumsprechen. Er wollte Fräulein Ermisch aber auch nicht als privater Bekannter am Tor erwarten. Zum Glück entsann er sich eines schon früher angewandten Tricks. Er klopfte an die Scheibe und erklärte einer älteren, resolut aussehenden Frau: »Ich möchte Herrn Lissner und Fräulein Ermisch abholen. Wann ist die Arbeitszeit beendet?«

»Die Frühschicht geht bis vierzehn Uhr dreißig. Herr Lissner ist aber heute nicht im Betrieb.«

»Ach, schade.« Wachtmeister Nötzold mimte die Enttäuschung nicht ungeschickt.

»Fräulein Ermisch wird in zehn Minuten kommen, wenn Sie warten wollen.«

»Ich kenne Fräulein Ermisch noch nicht, vielleicht können Sie mich nachher auf sie aufmerksam machen«, bat Wachtmeister Nötzold.

»Selbstverständlich.« Die Pförtnersfrau schob das Fenster zurück und beugte sich heraus. »Herr Lissner war heute früh nur auf eine halbe Stunde da und hat freigenommen, seine Schwiegermutter ist nämlich gestern gestorben.«

»Das ist ja ein harter Schlag.«

»Und ob!« Das Mitteilungsbedürfnis der Frau war nicht mehr zu bremsen. Sie begann sich ausführlich über die Tragik eines alleinstehenden Mannes mit Kindern auszulassen.

Wachtmeister Nötzold war heilfroh, dass er nicht seinen Dienstausweis vorgezeigt hatte. Er wartete, bis sich die ersten Arbeiter des Betriebes dem Tor näherten. Die Pförtnersfrau musste jetzt auf die vorgezeigten Werkausweise achten und hatte keine Zeit für Mitteilungen. Nach einer Weile rief sie: »Dort kommt Fräulein Ermisch!«

Durch das Tor schritt eine junge Frau, schlank, mit einem hellen Mantel bekleidet, eine Kollegmappe unter dem Arm. Wachtmeister Nötzold trat auf sie zu. »Guten Tag, Fräulein Ermisch. Ich muss Sie einige Minuten sprechen.«

Sie blieb stehen und musterte ihn. »Sie sind von der Polizei.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Sie haben uns erwartet?«

»Ja, wenn auch nicht gerade jetzt und hier.«

»Wir könnten im Imbissraum da drüben eine Tasse Kaffee trinken«, schlug Wachtmeister Nötzold vor.

Inge Ermisch schaute nach der Uhr über dem Werktor. »Viel Zeit habe ich nicht. Ich muss Punkt vier unsere Jungen vom Kindergarten abholen.«

Wachtmeister Nötzold gefiel, wie sie unsere Jungen sagte. »Ich werde Sie im Wagen bis zum Kindergarten mitnehmen«, schlug er ihr vor.

Sie lächelte ein wenig. »Wenn Kriminalisten auch Kavaliere sind, bin ich einverstanden.«

Sie setzten sich im Imbissraum an einen schmalen Seitentisch, Wachtmeister Nötzold holte zwei Tassen Kaffee von Büfett.

»Also fragen Sie!«, sagte Inge Ermisch, als er neben ihr Platz genommen hatte.

Nötzold machte in Gedanken dem Geschäftsführer der PGH Elektrik ein Kompliment. Der hatte seine Kundin treffend charakterisiert, die junge Frau war wirklich energisch und zielstrebig. Das angegebene Alter stimmte ebenso wie die moderne Kleidung und die ein wenig schräg gestellten Augen, die immer spöttisch zu blicken schienen.

»Wollten Sie mich etwas fragen, oder soll ich Sie unterhalten?«, erkundigte sich Inge Ermisch, als ihr Gegenüber schweigend im Kaffee rührte.

Wachtmeister Nötzold unterdrückte ein Lächeln. »Gut, fangen wir an. Wann erfuhren Sie von Frau Halbachs Tod?«

»Heute Morgen. Herr Lissner war kurz im Betrieb, um sich für den heutigen Tag freizunehmen.«

»Haben Sie zu Hause Telefon?«

»Nein, Herr Lissner hätte mich sonst sofort angerufen.«

»Vorausgesetzt, Sie waren zu Hause.«

»Ich war zu Hause.«

»Bei Ihren Eltern und den Kindern?«

»Meine Eltern gingen nach achtzehn Uhr zu Verwandten und kamen erst nach zweiundzwanzig Uhr zurück. Die Kinder habe ich wie üblich um neunzehn Uhr zu Bett gebracht.«

»Sie waren also ab neunzehn Uhr allein in der Wohnung?«

»Ja. Finden Sie das außergewöhnlich?«

»Herr Lissner und Sie wollen heiraten, Herr Lissner sitzt ab neunzehn Uhr allein in seinem Zimmer und Sie ab neunzehn Uhr allein in der Wohnung Ihrer Eltern. Logisch wäre doch eigentlich, wenn Herr Lissner Sie besucht hätte?«

Inge Ermisch blickte jetzt unverhohlen spöttisch. »Sie können sich zwar nicht vorstellen, dass eine berufstätige Frau mit zwei Kindern abends auch mal etwas zu tun hat, aber es ist so. Außerdem besitzt Herr Lissner so viel Takt, dass es ihm albern erschiene, die Abwesenheit meiner Eltern sofort zu einem ausgedehnten Besuch zu nutzen.«

»Na hören Sie mal!«, protestierte Wachtmeister Nötzold. »Sie wollen heiraten und haben schon die beiden Jungen bei sich zu Hause, da...«

»Da werden wir noch oft genug zusammen sein, das denken wir auch«, unterbrach ihn Inge Ermisch.

Wachtmeister Nötzold gab es auf, diese für seine Begriffe eigenartige Begründung zu attackieren. »Hat Herr Lissner Ihnen gesagt, auf welche Weise Frau Halbach ums Leben kam?«

»Er sagte mir, dass der Heizofen in das Badewasser gefallen sei.«

»Gehörte dieser Heizofen Herrn Lissner oder Frau Halbach?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Schließlich ist ein Heizofen kein Wertobjekt, um das man sich streiten könnte.«

»Sie wissen aber, dass ein Heizofen vorhanden war?«

»Das weiß ich, da ich ihn erst vor einigen Tagen für Herrn Lissner zur Reparatur brachte.«

»Herr Lissner hatte Sie gebeten, das Gerät für ihn abzugeben?«

»Ich hatte vormittags dienstlich in der Stadt zu tun und nahm das Gerät mit, weil der Laden an meinem Wege lag.«

»Gut.« Wachtmeister Nötzold schrieb sich diese Angabe auf und überlegte, wie er die nächste Frage formulieren solle. »Wie nahmen Sie die Nachricht von Frau Halbachs Tod auf?«

»Ich weiß, was Sie jetzt hören wollen«, sagte Inge Ermisch leise. »Aber ich werde Ihnen keine Trauer und Erschütterung Vorspielen. Frau Halbach sah in mir einen Eindringling in ihr Leben. Ich konnte ihr nicht helfen, denn ich wollte mein Leben und meine Beziehungen zu den Kindern nicht Frau Halbachs Ansichten und Gewohnheiten unterordnen.«

Wachtmeister Nötzold hatte sein Notizbuch eingesteckt. Dass diese selbstbewusste und energische junge Frau sich von niemandem in ihre Lebensführung hineinreden lassen würde, stand außer Zweifel. Aber war das ein Grund für die gewaltsame Lösung, wie sie gestern Abend geschah?

»Haben Sie noch andere Fragen?«

»Nein, Fräulein Ermisch. Wir fahren jetzt zum Kindergarten.« Sie griff nach ihrer Kollegmappe und legte ein Markstück auf den Tisch. »Ihre Dienststelle hat keine Ursache, für mich Spesen aufzuwenden.«

 

Oberleutnant Gruhl ließ sich im Schleifscheibenwerk von einem Angestellten des Betriebsschutzes zur Montagehalle III führen, in der Axel Trepte als Meister arbeitete. Trepte, ein vierschrötiger Mann mit einem grauen Overall bekleidet, das Gesicht eckig, wie aus Holz geschnitzt, stand in der spärlich ausgestatteten Meisterstube. Zwischen den Zähnen hielt er eine Tabakpfeife, die er auch nicht aus dem Mund nahm, als Oberleutnant Gruhl sich vorstellte und auswies.

»Setzen Sie sich.« Axel Treptes Stimme hatte etwas von dem Wummern und Dröhnen an sich, das aus der Werkhalle hereindrang.

Oberleutnant Gruhl hielt es für richtig, mit diesem Manne klar und ohne Umschweife zu reden. »Ich komme wegen Ihres gestrigen Besuches bei Herrn Lissner. Frau Halbach ist gestern Abend kurz nach Ihrem Weggang tödlich verunglückt.«

Axel Trepte nahm nun doch die Pfeife aus dem Mund und nickte. »Ich weiß, Klaus rief mich heute an. Er wollte eigentlich am Abend zu mir kommen.«

»Bitte sagen Sie mir zunächst einiges über Ihre Beziehungen zur Familie Lissner.«

Axel Trepte faltete die Hände auf dem Tisch und dachte eine Weile schweigend nach. Man merkte, dass er es von seiner Arbeit her gewohnt war, jeden Handgriff und jedes Wort vorher genau zu überprüfen. Endlich sah er auf. »Ich bin mit Klaus Lissner zur Schule gegangen. Vor sechs Jahren trafen wir wieder zusammen und schlossen Freundschaft. Klaus Lissner ist ein fleißiger, ehrlicher und zuverlässiger Mensch, seine Frau und seine Schwiegermutter waren genauso. Mit Fräulein Ermisch war ich erst zweimal zusammen, aber sie ist mir sympathisch, und ich bin sicher, dass sie gut zu Klaus passt. Frau Halbach hatte sich seit der Bekanntschaft Klaus Lissners mit Fräulein Ermisch sehr verändert. Sie lebte für die Familie, fühlte sich aber durch die neue Frau ausgestoßen und war verbittert und feindselig geworden. Erst gestern sagte sie mir, dass es Herrn Lissner nicht gelingen werde, sein Glück auf ihrem Unglück aufzubauen. Ich habe in diesen Auseinandersetzungen keine Partei ergriffen. Ich fürchte mich nicht vor einer Entscheidung, aber in dem Falle der Familie Lissner gab es für einen Außenstehenden nichts zu entscheiden.«

Oberleutnant Gruhl genügte diese Einschätzung. Sie wiederholte im Wesentlichen das, was auch Frau Windisch schon ausgesagt hatte. Neu war nur die Wiedergabe der Worte von Frau Halbach, die zum ersten Male auch ihre feindselige Einstellung zu ihrem Schwiegersohn belegten. »Wie lange hielten Sie sich gestern bei Herrn Lissner auf?«, fragte Oberleutnant Gruhl weiter.

Axel Trepte überlegte wieder gründlich. »Wir haben uns in der Stadt getroffen und sind dann zu ihm gegangen, es muss so gegen halb sechs gewesen sein. Achtzehn Uhr fünfundvierzig bin ich aufgebrochen und mit dem Bus nach Hause gefahren.«

»Wissen Sie die Zeit so genau?«

»Auf die Minute«, sagte Axel Trepte überzeugt. »Mein Bus fuhr achtzehn Uhr fünfundfünfzig ab Fucikplatz; ich wollte ihn nicht verpassen, aber auch nicht unnötig im Regen warten. Deshalb ging ich Punkt achtzehn Uhr fünfundvierzig weg.«

»Auf welche Uhr achteten Sie?«

Axel Trepte sah den Oberleutnant verwundert an, dann schob er den linken Ärmel hoch und wies auf seine Armbanduhr. »Auf die da. Ich habe sie noch mit der Uhr im Zimmer verglichen, sie stimmten beide überein.«

Oberleutnant Gruhl hatte sich eine Zigarette anzünden wollen, hielt sie aber jetzt achtlos und vergessen zwischen den Fingern. »Erinnern Sie sich bitte genau! Was für eine Uhr war das im Zimmer und wo befand sie sich?«

Der vierschrötige Meister rieb sich die Nase und starrte auf die Tischplatte. »Es war Lissners elektrische Uhr, aber wie sie aussieht... so genau...«

»Das genügt schon. Wir meinen beide dieselbe. Sie wissen also sicher, dass diese Uhr gestern noch lief und mit Ihrer Armbanduhr übereinstimmte?«

»Das weiß ich ganz sicher.«

Jetzt war es Oberleutnant Gruhl, der in Nachdenken versank. Es dauerte so lange, dass Axel Trepte schon ungeduldig mit seiner Pfeife zu hantieren begann, da sagte Gruhl: »Es gibt natürlich keine Garantie, dass Ihre Uhr und damit auch die im Zimmer wirklich genau gingen.«

»Doch, die gibt es«, widersprach Trepte. »Ich habe auf dem Fucikplatz die Uhr noch einmal mit der großen Normaluhr verglichen, und da stimmte die Zeit auch überein.«

»Das ist Präzision!« Oberleutnant Gruhl zeigte auf das Telefon. »Darf ich mal?« Er wartete kaum das Nicken ab und begann schon zu wählen.

»Bitte den Genossen Petzold von der Einsatzgruppe zwo. - Hier Oberleutnant Gruhl. Sie waren doch in Ihrem früheren Beruf Uhrmacher, Genosse Petzold? - Ausgezeichnet. Ich habe einen SOS-Auftrag, mit ihrem Chef spreche ich später. - Ja, sofort. Fasanenstraße zwölf. Eine elektrische Uhr im Wohnzimmer untersuchen. Graben Sie alle Ihre Kenntnisse aus, Lupe und Werkzeug mitnehmen. Stellen Sie fest, ob die Uhr bei einem Kurzschluss stehenbleiben und nicht wieder anspringen kann, ob weiterhin die Zeiger nachträglich verdreht wurden. - Natürlich, schriftliches Gutachten. Noch bis heute Abend, meine ganze weitere Arbeit hängt davon ab. - Ich bin im Präsidium. - Hals- und Beinbruch!«

Oberleutnant Gruhl legte den Hörer auf und wandte sich wieder an Axel Trepte.

»Jetzt habe ich nur noch eine Frage an Sie, Herr Trepte. Hatten Sie gestern den Eindruck, dass Herr Lissner noch Besuch erwartete?«

»Nein, gar nicht. Klaus Lissner kam mit nach unten, er wollte sich in seinem Zimmer umziehen und dann eine Rundfunksendung hören, ich weiß aber nicht...«

»Das Hörspiel Das Haus ohne Tür wollte er hören, er sagte es uns.« Oberleutnant Gruhl griff nach dem Hut und der Aktentasche. »Vielen Dank für Ihre Angaben, Herr Trepte. Ich finde den Weg zum Ausgang allein. Auf Wiedersehen.«

 

Als Wachtmeister Nötzold in das Zimmer seines Vorgesetzten zurückkam, hatte Oberleutnant Gruhl die Protokolle der Aussagen von Inge Ermisch und dem Geschäftsführer der PGH Elektrik bereits zur Seite geschoben. Nötzold wies mit einer Kopfbewegung auf die Protokolle. »Da sind doch allerhand Neuigkeiten drin, finde ich.«

Der Oberleutnant brummelte vieldeutig: »Du meinst die Geschichte mit dem Heizofen?«

»Genau das. Inge Ermisch brachte das Gerät zur Reparatur. Warum hat uns Klaus Lissner das nicht gesagt? Er behauptete doch, den Heizofen selbst weggeschafft und auch wieder abgeholt zu haben.«

»Er wird uns erklären, dass er an diese Einzelheit nicht gedacht hat.«

»Na gut, auf jede Frage lässt sich eine Antwort finden.« Wachtmeister Nötzold war ein wenig verärgert über die Tatsache, dass Oberleutnant Gruhl seinen Feststellungen sehr wenig Interesse entgegenbrachte. »Die Inge Ermisch kann ab neunzehn Uhr ebenfalls kein Alibi vorweisen. Ihre Begründung dafür, dass sie den Abend nicht mit Klaus Lissner verbrachte, scheint mir recht zweifelhaft.«

Oberleutnant Gruhl zuckte die Schultern. »Alibi hin, Alibi her. Sag mir lieber, ob du dieser Inge Ermisch zutraust, dass sie Frau Halbach vorsätzlich durch einen elektrischen Schlag tötete?«

»Meine Meinung wird den Fall nicht aufklären«, bemerkte Nötzold ärgerlich. »Ich will deine Frage aber trotzdem beantworten. Ich glaube nicht, dass Inge Ermisch die Tat begangen oder überhaupt etwas damit zu tun hat. Dazu macht sie mir einen zu beherrschten und klugen Eindruck. Warum sollte sie eigentlich Frau Halbach umbringen? Klaus Lissner will sie heiraten, sie hat bereits die Kinder bei sich, und das Wohnungsamt hat den beantragten Wohnungstausch zugesagt. Für sie ist alles in Ordnung, ein Gewaltakt wäre völlig sinnlos und würde ihre Zukunft nur gefährden.«

»Gut, gut!« Oberleutnant Gruhl nickte. »Und welchen Nutzen hätte Klaus Lissner von der Tat? Eine Affekthandlung wäre noch erklärlich, ein vorsätzlicher Mord aber genauso unlogisch und sinnlos wie bei Fräulein Ermisch.«

Wachtmeister Nötzold dachte nach. »Wir haben uns durch die gespannten Beziehungen in der Familie Lissner blenden lassen«, gab er zu. »Genau gesehen haben weder Klaus Lissner noch Fräulein Ermisch ein Tatmotiv, wenigstens nicht nach dem, was wir bisher wissen.«