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Hans Wolfgang Kölmel

CHARITÉ 91

Schritte in eine neue Zeit

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Erste Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Fotos Frontispiz und S. 5: Hans Wolfgang Kölmel
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-199-2
eISBN 978-3-95510-208-1

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Inhalt

Prolog

Erster Besuch

Weg zum Schloss

Direktoren und Leiter

Die Zelle

Neues Arbeitszimmer

Die Sekretärin

Erste Vorlesung

Vorstellung bei Kollegen

Telefon

Neuropathologie

Krisen

Zweite Vorlesung

Das Labor

Auf den Stationen

Epilog

Prolog

Wir hatten mit zwei befreundeten Familien die Villa in Friedenau von Herrn Mandelbaum erstanden, der nach dem Verkauf sogleich nach Israel zurückgekehrt war. Es handelte sich um ein freistehendes Haus im Stil eines späten Friedrich Schinkel mit zisternenförmigem Flachdach. Abrissreif, aber erhaltenswert.

Mein Vater meinte: »Ich unterstütze euch. Aber eins weiß ich, das wird alles mal russisch.« Zwei Jahre zuvor war das links daneben stehende Haus im gleichen Stil, Friedenauer Erstbebauung, der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Einem praktischen Neubau im Sichtbetondekor, auf offenen Carports aufgesetzt, hatte es weichen müssen. Kein schöner Anblick. Besser gesagt: ein Schandfleck.

Von diesem Schandfleck abgesehen, sollten für uns etliche gute Jahre im behütet bürgerlichen Friedenau folgen. Morgens flüssig ohne Stau über die Stadtautobahn in die Klinik im Westend und abends nach Hause, möglichst nicht zu spät, damit noch Zeit für die Familie blieb. Einkauf bei Edeka, samstags auf den Markt am Breslauer Platz oder zur Nikolaischen Buchhandlung und gelegentlich ein Schwätzchen über Neuigkeiten beim Bilderbär. Und am Wochenende mit den Kindern vielleicht in ein Museum oder auf eines der vielen Stadtfeste, am liebsten zu dem vor dem Bethanien.

Aber irgendwann, genau konnten wir das später nicht mehr festmachen, schlug die Stimmung um. Nach den etwa fünfzehn Jahren West-Berlin nistete sich zunehmend ein an Missmut und Überdruss grenzendes Gefühl ein. Oder genauer: Wir hatten genug von der Stadt. Hätte man uns gefragt, wie wir denn darauf gekommen wären, hätten wir nicht sagen können, woran es lag. Die Mauer, die uns umgab, war es jedenfalls nicht. An die hatten wir uns gewöhnt. Westberlin war auch viel zu groß, als dass man, wie in Westdeutschland immer gewitzelt wurde, ständig gegen sie gestoßen wäre. Aber in der Stadt hatte sich so wenig verändert.

Nicht zu übersehen war, dass die Bevölkerung alterte. Die Kraft der Instandbesetzer-Szene, die wir mehrmals mit Nachtdienst unterstützt hatten, war längst verloren. Ein Großteil der Häuserfassaden graute weiter vor sich hin. Die demütigenden Schikanen an den Grenzen störten immer mehr. Und erst recht dieser lästige Weg über die Transitstrecken. Und wehe, es erwischte uns unterwegs eine Panne. Aus Sorge hatten wir unsere Familienkutsche regelmäßig und für sichtbare Summen transittauglich inspizieren lassen. Auch wurde eine entsprechende Versicherung abgeschlossen, falls wir tatsächlich eine Panne haben sollten. Es nervte die Notwendigkeit, mit dem Flugzeug die Stadt verlassen zu müssen, wenn wir die Verwandten besuchen oder eines der üblichen Ferienziele erreichen wollten.

Gewiss konnte Kreuzberg bisweilen fast eine Reise in die Türkei ersetzen. Solche Nachmittage, wenn an jeder Ecke türkisch gesprochen wurde, türkische Musik zu hören war, es nach Kardamom, Kreuzkümmel und Koriander roch, waren ein Erlebnis. Aber auf Dauer reichte das nicht mehr aus als Ersatz für eine Ferienreise ans Mittelmeer.

Und nach Ostberlin oder in die DDR zu fahren – einzureisen, wie es bei unseren Brüdern und Schwestern im Osten hieß –, das hatten wir inzwischen aufgegeben oder zumindest stark reduziert. Die Landschaft mit ihren verträumten Dörfern, ihren Wäldern und Seen war gewiss schön. Aber die gerade für uns Westberliner aufwendigen Formalitäten, der Mindestumtausch, das sogenannte Eintrittsgeld, die ständige Angst, etwas Verbotenes zu tun, die fehlenden Unterkünfte und das bescheidene Essen ließen die Lust auf dieses Reiseziel sinken.

Und dann brachte ein Erlebnis das Fass endgültig zum Überlaufen. Wir kamen mit dreien unserer Kinder gleichermaßen erholt wie abgespannt von einer Ferienreise aus Italien zurück. Die letzten 200 Kilometer Transitweg von Hirschberg nach Berlin waren noch einmal eine Herausforderung gewesen. Bloß nicht schneller als hundert fahren. Ich war ziemlich erschöpft. Beim Grenzübergang Dreilinden die übliche Prozedur, das Ziel Westberlin unmittelbar vor Augen mit dem Funkturm als Symbol der Freiheit. Jetzt möglichst die richtige Wagenkolonne finden, damit nicht unnötig Zeit verloren ging.

»Die Papiere bitte!« Diesmal ohne sächsischen Zungenschlag.

Es wurde ungewöhnlich lange kontrolliert, unsere Ungeduld wuchs. Dann hieß es plötzlich: »Bitte rechts ranfahren.«

Ach du liebe Zeit! Hatten wir irgendetwas falsch gemacht? Waren wir zu schnell gefahren? Wir wollten doch nur noch nach Hause.

»Wie viele Personen sind Sie?«

»Das sehen Sie doch, fünf.«

»Warten Sie bitte! Verbleiben Sie in Ihrem PKW!«

Es dauerte eine halbe Stunde. Dann folgte die Erklärung: »Wir haben hier vier Transitscheine, Sie sind aber zu fünft im PKW.«

»Ja und, was soll das heißen?«

»Ganz einfach, jemand befindet sich illegal in Ihrem Wagen.«

Unsere Erklärung, dass wir zu fünft die Grenze passiert, zu fünft die Transitstrecke durchquert und kein einziges Mal angehalten hatten, stieß nur auf pures Misstrauen. Wieder warteten wir eine halbe Stunde. Und was die Situation unnötig verschärfen konnte, ich hatte genug, mir platzte der Kragen, ich fing laut an zu brüllen: »Wenn Ihre Leute dort unten nicht richtig zählen, was können wir dafür!«

»Jetzt beruhigen Sie sich bitte und setzen sich wieder in Ihren PKW«, wurde ich daraufhin zurechtgewiesen. »Bitte nennen Sie und die Kinder jeweils Ihre Namen!«

Wir taten wie verlangt. Alle hatten den gleichen Familiennamen. Ratlosigkeit. Wieder waren fünfzehn Minuten vergangen. Inzwischen summierte sich das auf fast zwei Stunden, die Dämmerung kündigte sich an.

Schließlich hieß es: »Fahren Sie weiter!«

Diese Schikane hatte uns den Rest gegeben. Bloß weg!

Nur wenige Wochen später sollten sich die Ereignisse überschlagen. Mit der plötzlichen, völlig unerwarteten Öffnung der Mauer, einer Möglichkeit, die wir als Westberliner schon aus Gründen der seelischen Gesundheit gänzlich ausgeblendet hatten, wurden unsere Entschlüsse und die fast bis zur endgültigen Reife gediehene Entscheidung, Berlin für immer zu verlassen, von Grund auf erschüttert. Vielleicht sollten wir alles noch einmal überdenken, vielleicht doch in Berlin bleiben?

In dieser Spannung verloren wir die Zeit aus den Augen, ja schauten lieber und wie gebannt auf die zunehmende Durchlässigkeit der Mauer, wollten unbedingt Augenzeugen sein beim Herausheben ihrer ersten Segmente, freuten uns fast täglich über das schier Unglaubliche der Wiedervereinigung. Keiner der Deutschen aus dem Westen, am wenigsten die tief unten im gesättigten Baden, wo wir herkamen, in Schwaben oder Bayern, konnte wohl nachempfinden, was der Fall der Mauer gerade für die Berliner, selbst für uns Neu-Berliner, bedeutete.

So war uns das Zeitgefühl abhandengekommen. Und zugegeben, auch die Notwendigkeit, mich um eine Arbeitsstelle außerhalb des Klinikums der Freien Universität zu bemühen, hatte ich aus den Augen verloren. Dabei wäre es an der Zeit, ja sogar dringend geboten gewesen. Mein Anstellungsvertrag war, wie bei vielen anderen Kollegen und trotz meiner Position als Oberarzt und meiner Stellung als Professor, zeitlich befristet. Und diese Frist war bis auf einen bedrohlichen Rest von etwa einem Jahr zusammengeschmolzen.

Nachdem ich kurz vor dem Mauerfall für ein Jahr die Neurologische Klinik an zwei Standorten Westberlins – Charlottenburg und Wedding – kommissarisch geleitetet hatte, übernahm der aus München kommende, ordentlich gewählte neue Ordinarius, Professor W., die Geschäfte. Meine Bewerbung auf diesen Posten war nicht infrage gekommen, da es sich um eine sogenannte Hausberufung gehandelt hätte. Hausberufungen waren nicht erwünscht.

Nach dem Amtsantritt des neuen Chefs, wir waren uns aus früheren Zeiten bekannt, einigten wir uns, um unnötigen Konflikten vorzubeugen. Er führte die Amtsgeschäfte vom Klinikum Charlottenburg aus, der Stammklinik. Ich begrenzte meinen Arbeitsbereich auf den Weddinger Teil des Klinikums am Augustenburger Platz, dem Rudolf-Virchow-Klinikum. Dort, im Wedding, erwartete mich auch Arbeit und Verantwortung genug.

Dann sollte ein entscheidender Tag kommen. Die oberflächlich geführte und weniger dem Wohl der Patienten als vielmehr der Demonstration dienende Krankenvisite, die zusammen mit dem neuen Chef, falls der sich für abkömmlich hielt, jeden Donnerstag stattfand, war gerade beendet. Wir traten gemeinsam auf den Balkon eines Besprechungszimmers. Überraschend nahm er mich zur Seite. Ich war noch damit beschäftigt, über sein süßliches Herrenparfüm mit dieser aufdringlichen Sillage nachzudenken, als er begann: »Wenn wir gerade so zusammen sind, möchte ich Ihnen versichern, dass Sie sich hier keine Sorgen machen müssen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass Sie so lange unter Vertrag bleiben, bis Sie eine für Sie wirklich geeignete neue Arbeitsstelle gefunden haben.«

Jetzt legte er ungewöhnlich vertraulich seinen schweren Arm um meine Schultern. Ein Schwall moschusdurchtränkter Luft verschlug mir den Atem. Ich war sprachlos, kurz setzte mein Denken aus. Dann fühlte ich, wie mir trotz der angeblich frohen Botschaft frostig, wie mir übel wurde. Aus früheren Erfahrungen klüger geworden, wusste ich, dass das nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Nur allzu deutlich war zu spüren, wie hier geheuchelt wurde. Jetzt erst wurde mir vor Augen geführt, wie unsicher die Zukunft meines Arbeitsplatzes war.

Und tatsächlich. Am späten Abend desselben Tages, als ich nach der Arbeit gerade zu Hause angekommen war, klingelte das Telefon. Meine ehemalige Sekretärin war am Apparat, sie hätte es schon zweimal versucht. Sie müsse mir das jetzt unbedingt noch sagen, sonst könne sie keinen ruhigen Schlaf finden. Ihr neuer Chef, Professor W., habe sie heute Nachmittag an die Verwaltung des Klinikums schreiben lassen, dass für mich keinesfalls eine Verlängerung des Anstellungsvertrages infrage käme.

Aha, so war das also! Ich hatte es mir fast gedacht. Damit hatte die Sekretärin möglicherweise ihren Nachtschlaf gerettet, der meine war jedoch dahin. Ich rechnete: Noch etwa zwölf Monate läuft mein Vertrag, dann stehe ich, wenn es schlecht kommen sollte, auf der Straße. Meine rechtliche Situation mal außer Acht gelassen. In jedem Fall blieb mir wenig Zeit, um nach einer zuverlässigen Veränderung zu suchen.

Zu der Zeit konnte ich noch nicht wissen, dass die gerechte Strafe für solche und andere Gemeinheiten folgen würde, was die von ihm ausgehende Gefahr für mich abmildern und schließlich sogar vollkommen auflösen würde. Kaum ein Jahr später sollte eine seiner jungen Patientinnen endlich den Mut gefasst haben, ihn wegen allzu großer körperlicher Nähe anzuzeigen. Die Universität versuchte, den Skandal aus berechtigter Sorge vor Imageschäden unter der Decke zu halten. So erfuhr die Öffentlichkeit fast nichts davon. Genaueres wollte auch ich nicht wissen. Ihn aber sollte es seine Stelle kosten.

Inzwischen hatte sich noch Folgendes zugetragen. Bei der Suche nach einer neuen Stelle hatte ich endlich Erfolg gehabt. Ich befand mich in der Phase der Endverhandlung eines Arbeitsvertrages mit dem Verwaltungsleiter einer Westberliner Klinik.

»Kommen Sie doch mit Ihrer Frau und Ihren Kindern vorbei. Dann können die auch mal den neuen Arbeitsplatz von Papa kennenlernen«, bot er an. Wir kamen. Die Kinder wurden an getrenntem Tisch mit einer übergroßen Eisbombe ruhiggestellt. Die Verhandlungen zogen sich hin, das Eis war inzwischen verspeist. Da kam mein fünfjähriger Sohn, ungeduldig geworden, an unseren Tisch und sagte doch tatsächlich: »Papa, jetzt lass uns doch mal endlich gehen. Du willst doch sowieso nicht hierher.« Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. Kindermund. Widerspruch hoffnungslos. Zwei Tage später erreichte mich ein Telefonat. Absage. Man sei doch zu dem Schluss gekommen, ich hätte keine ernsten Absichten, die angebotene Stelle anzunehmen. So kann es kommen!

Erster Besuch

»Zurückbleiben!« Türen schlugen zu. 16. April 1991, 9.50 Uhr. Ich saß in Fahrtrichtung auf einer der blankpolierten Holzbänke der S-Bahn, Linie 1, die von Wannsee kommend das Zentrum der Stadt in Richtung Norden bis nach Frohnau durchquert. Seit einigen Monaten machte sie auch an einzelnen, notdürftig wieder instand gesetzten Bahnhöfen Ostberlins Halt. Das war, man wollte es kaum glauben, nach dem erst wenige Monate zurückliegenden Fall der Mauer zwischen Ost und West wieder möglich. Ja, das konnte geradezu ein Gefühl des Glücks auslösen.

Ich träumte mich aus dem Fenster. Sah auf die Fassaden der Häuser, die Vorgärten, die Mülltonnen, die kahlen Brandmauern, sah auf leergezogene Fabriken, einen Gaskessel, einen Spielplatz, einen Friedhof. Durch den Kopf schwirrten Vorstellungen, was mir jetzt wohl bevorstehen würde. Ich hatte einen Gesprächstermin beim Dekan der Charité in Ostberlin.

Einen Tag zuvor war in den Zeitungen die Meldung erschienen, dass die Arbeitslosigkeit in den Neuen Bundesländern, so hieß die ehemalige DDR nun nach der sogenannten Wiedervereinigung, auf über zwei Millionen ansteigen werde. Eine kaum vorstellbare Zahl. Wäre doch denkbar, dass auch ich für diesen sozialen Notstand verantwortlich gemacht würde, wenn ich an der Charité nach einem Arbeitsplatz fragen, ihn möglicherweise übernehmen und damit einem anderen wegnehmen würde? Dann dachte ich an die blühenden Landschaften, die versprochenen, die in immer weitere Ferne rückten.

Aber der Reihe nach.

Es muss Ende Januar 1991 gewesen sein, als ich zufällig im Berliner Tagesspiegel auf einen Artikel stieß, der mich aufmerksam werden ließ. Dort klagte jemand über den anhaltenden Exodus von Ärzten in der ehemaligen DDR, berichtete auch davon, dass man händeringend nach Ärzten aus dem Westen suchte, die vorübergehend oder auch für länger Leitungspositionen übernehmen könnten. War dieser Artikel für mich geschrieben worden? Bot sich hier etwa eine Gelegenheit, mich aus meiner misslichen Lage möglichst schnell und möglichst unauffällig zu befreien? Und ohne mich gleich von Berlin verabschieden zu müssen?

Nach einigem Hin und Her schrieb ich am 16. Februar 1991, ermutigt von Familie und Freunden, mich auf diesen Zeitungsartikel berufend, einen Brief, direkt, und warum auch nicht, an Herrn Erhardt adressiert, den Senator für Wissenschaft und Forschung von Berlin. Ein Hardliner, wie es hieß, der wenige Wochen zuvor, aus dem Schwäbischen kommend, auf diese Stelle berufen worden war: »Ich würde mich als Neurologe bereithalten, meine Erfahrungen, die ich im Westen gesammelt, im Osten weiterzugeben.« Das war sicher etwas einfach gedacht und ebenso einfach ausgedrückt. Es entsprach aber dem, was ich gemeint hatte. Es entsprang keinem Hochmut, keinem Gefühl westlicher Überlegenheit. Es war allein die Reaktion auf den besagten Zeitungsartikel, aber gewiss auch die Lust auf ein Abenteuer.

Einen bestimmten Ort im Osten, der mir für meinen möglichen Einsatz vorschwebte, hatte ich vorsichtshalber nicht angegeben, wenngleich ich natürlich an die Charité gedacht hatte. Nicht etwa, weil es sich um die weltberühmte Charité handelte, sondern ganz einfach, weil diese Klinik von unserer Wohnung per S-Bahn ohne Umsteigen leicht zu erreichen war.

Und kaum zu glauben, wie schnell in diesem Fall die Berliner Bürokratie reagierte. Zu meiner Überraschung erhielt ich schon zwei Wochen später Antwort und sollte nur wenige Wochen darauf zu einem Vorstellungsgespräch bei einem Professor Mau erscheinen, dem Dekan der medizinischen Fakultät der Charité.

Was eher als harmloser, für mich unwirklicher Spaß, vielleicht auch als Mutprobe gedacht war, wurde plötzlich Realität. Wollte ich das wirklich? Würde ich mich mit solch einer Aufgabe nicht völlig übernehmen?

Für die vereinbarte Vorstellung zog ich das weiße, knitterfreie Hemd an, wählte eine Hose mit Bügelfalte, das dunkelblaue Jackett, knotete im Windsor-Stil die rote, gestrickte Krawatte, zog die schwarzen Lederschuhe an, die mit den Löchern in der aufgedoppelten Kappe, und warf den hellen, der Mode entsprechend weit über die Knie fallenden Sommermantel über. Die übliche Kleidung für ein Vorstellungsgespräch. Dass ich mich damit wie einer aus dem Westen kostümiert hatte und entsprechend auch auffallen würde, sowie ich den Osten Berlins betreten hatte, darauf kam ich erst später.

So saß ich also in der S-Bahn Richtung Norden, Bahnhof Schöneberg, Yorckstraße und so weiter, um zur Charité zu kommen. Noch ohne Halt rauschte die Bahn im Nord-Süd-Tunnel durch den Bahnhof Potsdamer Platz, den Geisterbahnhof. Die weißen, spiegelglatten Platten, die aussahen, als seien sie aus Glas, und die diesem Bahnhof einst eine kühle Eleganz verliehen haben mussten, waren großflächig von Wänden und Säulen abgeplatzt. Auf den notdürftig beleuchteten Bahnsteigen erkannte ich verschiedenes Werkzeug, Schaufeln, Schubkarren, Gerät, das wie nach eben getaner oder auch unterbrochener Arbeit verlassen wirkte. Ganz offensichtlich: Hier war noch einiges zu tun. Die Wachposten der Volkspolizei oder was das war, waren nicht mehr zu sehen. Wachposten, die noch vor wenigen Monaten ängstlich hinter den Säulen vorlugten, wenn wir sie zufällig von den Wagen aus entdeckt hatten. Wachposten, die sich mit dieser Aufgabe sicher unendlich langweilten. Die Morbidität des vorbeirauschenden Elends hinterließ einen leichten Schauder, eben jenen, den eine Geisterbahn hinterlässt.

In der Seitentasche den Stadtplan, stieg ich Haltestelle Friedrichstraße aus. Nur flüchtig nahm ich das heruntergewirtschaftete S-Bahn-Gewölbe wahr, eilte hoch zu den Bahnsteigen der Stadtbahn, um von dort auf die Fußgängerbrücke zu gelangen, die über die Spree führt. Rechts erkannte ich durch die bräunlich verschmutzten Scheiben den von seinen ihn umgebenden Gebäuden aus Pappe teilweise befreiten, fast leer geräumten Tränenpalast, in oder vor dem jetzt nur noch in Ausnahmefällen und dann eher wegen der traurigen Erinnerungen Tränen vergossen wurden. Schon hatte sich dort eine Art Club eingenistet.

Auf der Brücke spendete ich dem Akkordeonspieler eine Mark. Könnte nichts schaden, dachte ich. Dann in die Albrechtstraße. Auf der rechten Seite hatte sich in einem etwas tiefer gelegenen, wahrscheinlich ehemaligen Vorgarten eine Art Imbissstube etabliert. Sie verbreitete den vertrauten Geruch von Currywust und Pommes. Schon mal gut. Links das christliche Hospiz »Albrechts Hof« war in auffällig gutem Zustand. Ich kannte es als konspiratives und deshalb noch vor Kurzem gut überwachtes Restaurant und Hotel. Vor der Wende hatten wir uns dort und einmal auch im in der Hannoverschen Straße gelegenen Christlichen Hospiz getroffen, um mit Kollegen aus dem Osten über die soziale Stellung und über diagnostische und therapeutische Hilfe für Menschen mit Epilepsie zu sprechen. Wir gingen davon aus, dass die Räume verwanzt waren.

Weiter in Richtung Charité. An den Fassaden der Häuser blätterte großflächig der Anstrich. Der entblößte Putz, schmutzig-grau, bröckelte vor sich hin. Einige dunkle Toreinfahrten waren offen, luden aber nicht zum Betreten ein. Ich erinnerte mich an die Zeit vor 18 Jahren, als wir nach Westberlin gezogen waren. Da boten manche Häuser keinen wesentlich anderen Anblick.

Als ich halb erschrocken, halb erstaunt vor dem Ungetüm des Hochbunkers stand, überkam mich erstmals das Gefühl, ich befände mich in einem völlig fremden Land. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir dieses Gebäude bei meinen beiden ersten Besuchen ein Jahr zuvor besonders aufgefallen wäre. Der Weg musste für mich damals noch nicht diese Bedeutung gehabt haben. War ich also schon im Begriff, mich mit dieser Gegend als meinem morgendlichen Gang zum zukünftigen Arbeitsplatz zu identifizieren?

Der vor mir liegende monumentale Betonklotz, dieses Stadtmöbel der besonderen Art, war im Zweiten Weltkrieg für Reisende der Reichsbahn im Falle eines Fliegeralarms als Fluchtburg errichtet worden. Sein Anblick zwang dazu, sich Schicksale vorzustellen, die sich hier abgespielt haben mussten. Nach dem Krieg diente der Bau, dessen Beseitigung wegen der meterdicken Mauern kaum möglich erschien, aufgrund seines ausgeglichen kühlen Klimas als Speicher für Obst. Von den Anwohnern wurde er liebevoll Bananenbunker genannt, für Bananen, die es, wie man sich erzählte, nur selten oder nie zu kaufen gab, die häufig nur als Bückware oder wegen ihres Kaliumgehaltes auf ärztliches Rezept erhältlich waren. Ähnliche Bunker hatten wir zwar auch in Westberlin, etwa in der Pallasstraße in Schöneberg, aber jener fiel kaum auf, weil er von großen Wohnkomplexen überbaut und damit mehr oder weniger schamvoll versteckt worden war.

Vorbauten des Bunkers, sicher einst als Eingang für die Schutzsuchenden gedacht, waren jetzt verrammelt, und verschiedene Nischen dienten als Ablage für offensichtlich nicht mehr Brauchbares, waren also zur Müllkippe geworden. Ich erkannte fleckige Matratzen, manche aufgeschlitzt, zerschlagene Fernsehgeräte, Autoreifen. In einigen Betonritzen des Bunkers, selbst hoch oben im Bereich des Zinnen ähnelnden Gesimskranzes, hatte Grünzeug den Überlebenskampf erfolgreich bestanden. Kaum zu glauben, dass der Bunker später einmal zum Denkmal erhoben werden würde.

Kurz blitzte eine Geschichte aus meiner Kindheit auf. Die Geschichte der Bunker-Lene. Jener Magdalene B. aus unserem Dorf, von der man sich erzählte, dass sie als Folge des Krieges an einem Bunkertrauma leiden würde. Wahrscheinlich war sie aus einer der Nissenhütten, die die Bauern in ihren Gärten zum Schutz gegen Granatsplitter eingegraben hatten, nicht rechtzeitig herausgekommen oder auch verschüttet gewesen. Jedes Mal, wenn es im Dorf zu ungewöhnlichem Lärm kam, etwa wenn die Funktion der Sirene einmal monatlich erprobt wurde, schrie sie laut, rannte in panischer Angst auf die Straße und suchte nach irgendetwas, das ihr Schutz bieten könnte. Wir Kinder fürchteten uns vor ihr. Auch vor dem Sirenengeheul. Manche hielten Lene für verrückt. Die meisten in der Dorfgemeinschaft duldeten und schätzten sie aber trotzdem, nicht zuletzt wegen ihrer nimmermüden Hilfsbereitschaft.

Ich war froh, als ich nach wenigen Schritten das Deutsche Theater erreicht hatte, diesen Bau in vornehmem Grauweiß. Das klassizistische Portal wirkte beruhigend. Zugegeben, eigentlich hatte ich mir das »Deutsche Theater« etwas größer vorgestellt. Und warum müssen auch Opernhäuser immer viel prächtiger als Theater aussehen, ging es mir dann noch durch den Kopf, ich weiß nicht warum. Etwas weiter regte sich in einigen Souterrain- oder Kellerwohnungen erstes, wohl nach westlicher Marktwirtschaft kapitalistisch orientiertes Leben. Auch das wirkte auf mich beruhigend, weil es mir von drüben vertraut war. Rasch und provisorisch aufgemachte Läden, in denen man Papier, Schreibzeug und andere Kleinigkeiten kaufen konnte oder auch Gelegenheit hatte, seine Dokumente zu fotokopieren. Die Nähe zur Charité und ihrer Studenten war zu erahnen.

Der Eingang zum Klinikum von der Schumann- und der Charitéstraße aus war mit einem hohen Tor verschlossen. Dieses Tor aus wehrhaftem, sicher preußischem Gusseisen lud nicht unbedingt zum Betreten des Geländes ein, auch wenn es mit einigen freundlich gemeinten schmiedeeisernen Zutaten geschmückt war, etwa dem oberhalb liegenden Fries von Blattranken. Ein Stoppschild und ein Schild »Durchfahrt verboten« deuteten an, was mich erwartete. Den Eindruck einer Barrikade verfehlte es nicht, die wohl kleineren feindlichen Durchbrüchen, von welcher Seite auch immer, standhalten sollte. Ob es überhaupt geöffnet werden konnte? Es schien mir nicht so. Rechts neben dem Tor war an einem runden, aus roten Klinkern erbauten Halbturm zu lesen, worum es sich handelte: »Charité Krankenhaus«. Die Lettern mussten einstmals vergoldet gewesen sein, zu jener Zeit vor hundert Jahren, als von hier aus zahlreiche kluge Köpfe den Ruf des Klinikums in die Welt getragen hatten. Jetzt waren nur noch Reste des einstigen Goldes erkennbar.

Rechts und links neben dem großen Tor befanden sich Pforten, die sicher für Fußgänger gedacht waren. Nur die am Pförtnerhaus, früher auch Betriebswache genannt, eine Mischung aus Bahnwärterhaus und kleiner Villa, erlaubte Durchlass. Warum der Pförtner mich von oben bis unten musterte, als wäre ich ein Eindringling, lag wohl an meiner Kleidung. Etwa an dem langen Mantel? Wahrscheinlich war es für ihn noch gewöhnungsbedürftig, Unbekannte in das Klinikgelände einzulassen ohne Einlasskontrolle, ohne nach der Herkunft oder der Absicht zu fragen, ohne sich die schriftliche Einladung zeigen zu lassen und ohne den Sicherheitsleuten dort oben auf dem Charité-Turm Meldung zu machen. Vor der Wende hätte ich mich niemals auch nur in die Nähe dieser Pforte getraut. Ich war mir zu jenen Zeiten sicher gewesen, dass ich, ohne eine Einladung möglichst in Schriftform vorzeigen zu können, abgewiesen worden wäre. Nur wenige meiner Kollegen im Westen pflegten eine Verbindung zu Ärzten an der Charité. So wussten wir höchstens andeutungsweise, was sich dort zugetragen hatte und was sich gegenwärtig noch abspielte. Vielleicht ging es auch nur mir so? Aber wir hatten allgemein vor der Wende wenig Interesse, die Charité von innen zu sehen.

Nachdem ich meinen Wunsch geäußert hatte, hellte sich sein Gesicht etwas auf. Er wies auf das nebenan stehende Klinkergebäude mit dem Turm. Dort würden die Charité-Verwaltung und auch der Dekan sitzen, zu dem ich wolle. Der im ersten Stock.

In Ehrfurcht vor dem Gebäude, das mit Wildem Wein über und über zugewachsen war, und in der Anspannung, was mich nun wohl erwarten würde, schritt ich die Auffahrt hoch. Durchschritt vorsichtig die erste, dann die zweite Flügeltür und gelangte in eine großzügige, wenngleich recht düstere Vorhalle. Das wuchtige Gewölbe erinnerte an die Strenge eines Klosterbaus oder einer Ritterburg. Es mochte wohl Ausdruck des Stilempfindens im ausgehenden 19. Jahrhundert sein, was sich hier manifestierte, ähnlich wie man es in manchen städtischen Rathäusern oder Gerichtsgebäuden jener Zeit vorfindet. Was hatten sich Architekt und Bauherr wohl dabei gedacht, was hatten sie beabsichtigt? Welche Wirkung sollte diese Vorhalle auf den Besucher ausüben?

Meine Schritte hallten wider, das war den Ledersohlen meiner Schuhe geschuldet. Ich versuchte, vorsichtiger aufzutreten.

Was aber meine Aufmerksamkeit zunehmend beanspruchte, war der scharfe, fast beißende Geruch, der mir entgegenschlug. Krankenhäuser verströmen in ihrem Inneren ja oft einen besonderen, nicht unbedingt Vertrauen erweckenden, ja eher Unbehagen oder gar Angst einflößenden Geruch. Ein Geruch, der an Sterilisierung und Narkose, an Entmündigung erinnert, vielleicht auch an eine dieser dunklen Zugsalben, Ichthyol möglicherweise. Aber hier fühlte ich mich eher in die formalingetränkte Luft im Seziersaal der Heidelberger Anatomie zurückversetzt. Es musste sich um ein Reinigungsmittel handeln. Der Geruch drang empfindlich, fast ätzend in die Nase, ein Geruch, der mir endgültig vermittelte: Vorsicht, du befindest dich jetzt auf völlig neuem, dir gänzlich unbekanntem Gelände. Dann erinnerte ich mich daran, wie ähnlich unangenehm mir solch ein Geruch schon einmal vor ein paar Jahren aufgefallen war, als wir eine Reise mit der Interflug gewagt hatten. Ein sofort und dann auch auf Dauer penetranter Geruch. Bestimmt ungesund, da war ich mir sicher. Verbrennt die Riechnerven. Ein Geruch, der in jedem Zimmer eine andere Konzentration aufweisen musste, ein Geruch, an den man sich auch nach Stunden nicht recht gewöhnen konnte. Ein Geruch, der in den Kleidern hängen blieb, der sich selbst in der Haut festsetzte. Und der meiner Familie jeden Abend vermitteln würde, dass ich wieder drüben gewesen war.

Ich bog nach rechts in einen dunklen Gang ein. Es war der einzige, der von der Eingangshalle weiterführte. Von dort gelangte ich zu einem im Turm liegenden, großzügigen, ja prächtigen Treppenhaus. Musste jüngst erst renoviert worden sein. Ich stieg die Wendeltreppe zum ersten Stock empor. Die tiefen Stufen schrieben Schreiten vor. Vorbei an schlanken Säulen mit Schmuck an den Kapitellen, akanthusähnlich, vorbei an gusseisernen Heizkörpern mit verspielten Jugendstilornamenten. Alles offensichtlich keiner wilden Renovierung zum Opfer gefallen. Gut so. Oben angekommen. Die Tür zu einem der Zimmer stand offen. Eine jüngere Frau saß am Schreibtisch.

»Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich zum Dekanat komme?«

»Zum Dekanat? Geradeaus, die letzte Tür links vor der Absperrung«, wurde mir etwas unwillig Auskunft gegeben. Sicher hatte sie die Frage heute schon mehrfach beantworten müssen. Sie hätte die Tür ja auch geschlossen halten können.

Ich ging nun bis an das Ende des Ganges, gelangte bis zur genannten Sperre – dahinter musste es weitergehen – und klopfte gegen die dunkelbraune Tür, die mit dem Schild »Sekretariat Dekan« markiert war. Nach dem zweiten, etwas deutlicheren Klopfen meinte ich, ein Herein gehört zu haben, und drückte, auf alles gefasst, die frisch polierte Messingklinke, original aus der Zeit.

Die Sekretärin, ungewöhnlich freundlich, ließ erkennen, ich wurde erwartet. Schon mal gut. Sie stand auf, kam hinter ihrem entsprechend der Wichtigkeit dimensionierten, offensichtlich erst jüngst angelieferten Schreibtisch hervor und reichte mir die Hand. So viel Herzlichkeit oder Freundlichkeit – ich wusste nicht, was es war – übertraf alles, was ich bisher gewohnt war – zumal in Berlin, ich meine Westberlin. Aber es wirkte fürs Erste beruhigend. Auf dem Schreibtisch der Sekretärin dominierte neben der elektrischen Schreibmaschine, einem rotem IBM-Kugelkopf-Modell, und einem dauerhaft grünen, größeren Gewächs ein Radio, älteres Modell, aus Plastik.

»Sie werden erwartet. Ich werde Sie gleich dem Dekan melden, seien Sie doch so gut und nehmen Sie so lange auf dem Sofa dort am Fenster Platz.«

Dass das Stehen vorteilhafter gewesen wäre, wusste ich erst, als ich im Polster des durchgesessenen Sitzmöbels versunken war. Den sicher gleich erscheinenden Dekan gemütlich auf einem Sofa sitzend zu begrüßen, passte für mein Dafürhalten nicht so recht zu meinem Anliegen. Von dort wieder in eine stehende Position zu kommen würde nicht einfach sein. Nun gut oder schlecht, ich saß. Wollte auch nicht gleich wieder aufstehen.

Das Radio auf dem Schreibtisch der Sekretärin lärmte fröhlich, anhaltend und zu laut Unterhaltungsmusik, unterbrochen von Werbung, Wetter- oder Verkehrsmeldungen. Trotz meiner Anwesenheit hatte es keine Anstalten gegeben, es leiser oder gar auszustellen. Ungewöhnlich, dachte ich, aber warum auch nicht, eigentlich eher Vertrauen erweckend. Waren es die Zeichen des Aufbruchs, war es die wiedergewonnene Freiheit, ohne Unterbrechung und ohne Kontrolle auch im öffentlichen Raum Westsender hören zu dürfen? Was wohl ihr Chef von dieser anhaltenden Berieselung hielt?

Ich nutzte die Zeit, die mir bleiben sollte, mich etwas umzuschauen, das Zimmer genauer in Augenschein zu nehmen, wenn auch mehr aus der Perspektive eines Froschs. An erster Stelle fiel mir wie schon beim Betreten des Raumes der Teppich auf. Diese sogenannte Auslegware von Wand zu Wand. Sie war offensichtlich jüngst erst verklebt worden, verströmte einen Geruch, der mich an Azeton erinnerte. Nur in ungefähr, da er sich mit dem unbekannten Reinigungsmittel und wohl auch mit dem Parfüm der Sekretärin vermischt hatte. An einigen Stellen am Rand des Zimmers trieb der Teppich Beulen. Schlampig verlegt, und das hier, dachte ich. Ich wäre gerne aufgestanden und hätte die Beulen plattgetreten. Wer wohl für die Wahl der Farbe, ein intensives Blau, verantwortlich gewesen war? Am meisten beschäftigte mich schließlich der Flor des Teppichs. Ich war, wenn schon Auslegware für Büros oder öffentliche Räume, an diese flachen, strapazierfähigen Typen Sisal, Kokos, Schlingenware oder preiswertere Varianten gewöhnt. Aber hier, Velours mit einem erstaunlich hohen Flor. Eigentlich zu hoch. Erinnerte mich eher an ein Wohn- oder besser noch an das Schlafzimmer eines Hotels in preiswerter Lage, weniger an das Vorzimmer eines Dekans der Charité. War es der Wunsch der Sekretärin gewesen, die entsprechend neuem Demokratieverständnis nach ihren persönlichen Wünschen gefragt worden war und sich für einen Teppich mit wohnlicher Ausstrahlung entschieden hatte? Oder lag es einfach daran, dass ich so tief saß? Ich war mir nicht sicher. Jetzt bemerkte ich allerdings, dass mein Weg von der Tür bis zum Schreibtisch und dann bis zum Sofa Fußstapfen im tiefblauen Schnee hinterlassen hatte. Ich begann mich darauf einzustellen, dass jetzt wirklich einiges oder gar alles anders war oder werden würde.