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Christiane Tietz

DIETRICH BONHOEFFER

Theologe im Widerstand

C.H.Beck


Zum Buch

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) fasziniert bis heute als ein Theologe, der sich den Attentätern vom 20. Juli 1944 angeschlossen hat und der seine theologischen Positionen angesichts politischer und persönlicher Herausforderungen immer wieder überprüft und weiterentwickelt hat. Christiane Tietz schildert meisterhaft diese Verflochtenheit von Leben und Denken, von Bonhoeffers Kindheit und Jugend über seinen Weg in den kirchlichen und politischen Widerstand bis zu seiner Haftzeit, in der seine bewegendsten und bis heute am meisten gelesenen Texte entstanden sind.

Über die Autorin

Christiane Tietz, geb. 1967, Professorin für Systematische Theologie an der Universität Zürich, ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Bonhoeffer-Lehrstuhl im Stiftungsverband für die Deutsche Wissenschaft. Bei C.H.Beck erschien von ihr «Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch» (2. Aufl. 2019).

Inhalt

Vorwort

1. Von Breslau nach Berlin, 1906–1923

Familiäre Prägungen

Kindheit und Jugend in Berlin

Die Entscheidung zum Theologiestudium

2. Von Tübingen zurück nach Berlin, 1923–1927

Zwei Tübinger Semester

Eine Reise nach Italien

Das theologische Berlin

Die Gemeinschaft der Heiligen

«Was ist schöner: Schule oder Ferien?»

3. Horizonterweiterungen, 1928–1931

Als Auslandsvikar in Barcelona

Als Assistent in Berlin

Als Student in New York

4. Premieren, 1931–1932

Bonhoeffers Begegnung mit Karl Barth

Erstes ökumenisches Engagement

Erstes Pfarramt

Erste Vorlesungen

«Ich kam zum ersten Mal zur Bibel»

5. Der beginnende Kirchenkampf, 1933

Hitlers Machtübernahme

Die Lage der Kirche

6. Als Auslandspfarrer in London, 1933–1935

Die «Stille des Pfarramts»

Die illoyalen «Herren Auslandsgeistlichen»

Bonhoeffers Friedensrede in Fanø

Rückkehr nach Deutschland

7. Leiter eines Predigerseminars, 1935–1937

Ein brüderliches Leben

«Nachfolge»

Druck auf die Bekennende Kirche

8. Der Weg in die Illegalität, 1937–1940

Die neue Form des Seminars

«Gemeinsames Leben»

Die Krise der Bekennenden Kirche

Ausweg USA?

9. Die Zeit der Konspiration, 1940–1943

Vorbereitungen zum Umsturz

Die «Ethik»

«Liebes Fräulein von Wedemeyer»

10. Als Häftling in Berlin-Tegel, 1943–1945

Eingesperrt

«Widerstand und Ergebung»

«Brautbriefe Zelle 92»

Die letzten Monate

Epilog: Ein moderner Heiliger?

Die Rezeption Bonhoeffers nach 1945

Dietrich Bonhoeffer heute

Zeittafel

Die Familie Bonhoeffer

Literatur

Texte von Dietrich Bonhoeffer

Weiterführende Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Die Familie Bonhoeffer

Vorwort

«Eine Erkenntnis kann nicht getrennt werden von der Existenz, in der sie gewonnen ist.» Diese Einsicht Dietrich Bonhoeffers bringt auf den Punkt, warum er weit über den deutschsprachigen Raum hinaus berühmt geworden ist. Leben und Denken sind bei Bonhoeffer so eng verbunden, dass sein ungewöhnlicher Lebensweg auf seine Theologie neugierig macht und umgekehrt seine theologischen Thesen von den Erfahrungen seines Lebens durchdrungen sind. Wer sich mit dem Menschen Bonhoeffer beschäftigt, kommt um die Auseinandersetzung mit seiner Theologie nicht herum, und wer seine Theologie verstehen will, muss seine Biographie zur Kenntnis nehmen.

Dietrich Bonhoeffer war einer der führenden evangelischen Theologen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Schon früh erkannte er die Bedrohungen, die von diesem ausgingen. Er war an der Gründung der Bekennenden Kirche beteiligt und übernahm später die Leitung eines ihrer Predigerseminare. In den Kriegsjahren gehörte er zur Gruppe der politischen Verschwörer, die das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 vorbereiteten. Von den Nationalsozialisten inhaftiert, verbrachte er die letzten beiden Jahre seines Lebens im Gefängnis. Kurz vor Kriegsende wurde er im Konzentrationslager Flossenbürg erhängt.

Während Bonhoeffer in der Bekennenden Kirche manchen als zu radikal galt und sein politischer Widerstand in den ersten Nachkriegsjahren bei vielen Christen auf Unverständnis stieß, hat sich später ein fast durchgängig positives Bonhoeffer-Bild durchgesetzt. Zwar gibt es nach wie vor Stimmen, die die wissenschaftliche Qualität seiner Theologie bestreiten, aber seine Schriften werden bis heute viel gelesen. In kirchlichen Kreisen ist er als Inspirationsquelle willkommen, und die Forschung zu ihm beschäftigt zahlreiche Historiker und Theologen. Die Verehrung kann so weit gehen, dass Bonhoeffer zu einem unangefochtenen Helden oder zeitlosen Weisheitslehrer stilisiert wird. Dabei entsteht ein Bild von ihm, das mit der realen Person und ihrem Werk nur noch wenig zu tun hat.

Demgegenüber will dieses Buch, im Bewusstsein eines Abstands von fast siebzig Jahren, Bonhoeffer im Kontext seiner Zeit darstellen und dabei kritischen Fragen zu seinem Leben und Werk nicht ausweichen. Es folgt chronologisch seiner Biographie und damit verbunden der Entwicklung seines Denkens. Der Epilog skizziert die Rezeption Bonhoeffers und fragt schließlich nach seiner Aktualität.

1. Von Breslau nach Berlin, 1906–1923

Familiäre Prägungen

Wie zahlreiche Mitglieder des politischen Widerstandes kam auch Dietrich Bonhoeffer aus einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater Karl Bonhoeffer war Professor für Psychiatrie und Neurologie, zunächst in Breslau, ab 1912 an der Berliner Charité. Er entstammte einer seit dem 16. Jahrhundert in Schwäbisch Hall ansässigen Bürgerfamilie, in die mit Karl Bonhoeffers Mutter Julie Tafel eine revolutionär und sozialistisch geprägte Persönlichkeit eingeheiratet hatte.

Dietrich Bonhoeffers Mutter Paula von Hase war Tochter des Pfarrers und Breslauer Konsistorialrates Karl Alfred von Hase, seinerseits Sohn des berühmten Jenaer Kirchengeschichtsprofessors Karl August von Hase. Paula von Hases Mutter, Clara Gräfin von Kalckreuth, stammte aus einer preußischen Kunstmalerfamilie; sie hatte noch bei Clara Schumann und Franz Liszt Klavierunterricht erhalten. Bürgerliche Ideale bestimmten Dietrich Bonhoeffers familiäre Ursprünge folglich genauso wie Mut zur Umgestaltung der Gesellschaft, eine lange universitäre Tradition nicht minder als die schönen Künste. In seinem Lebensweg lassen sich diese unterschiedlichen Prägungen allesamt entdecken.

Dietrich Bonhoeffers Vater war eine strenge und beherrschte Persönlichkeit. Ein Kollege urteilte über ihn: «So wie ihm alles Maßlose, Übertriebene, Undisziplinierte von Grund auf zuwider war, so war an ihm selber alles Beherrschtheit, Einhalten der Form, äußerste Disziplin.» (Zitiert nach Leibholz-Bonhoeffer, 23) Wissenschaftlich konnte er der nach dem Unbewussten und verdrängten Gefühlen suchenden Psychoanalyse Sigmund Freuds oder Carl Gustav Jungs nichts abgewinnen – wie dann auch sein Sohn Dietrich, der gegenüber seelischer Selbstbespiegelung immer skeptisch blieb. Karl Bonhoeffers eigener Ansatz war an hirnpathologischen Befunden orientiert. Auch wenn der Vater im persönlichen Umgang mit anderen einfühlsam war, galt ihm die Beherrschung der eigenen Gefühle als zentrale Tugend. Geschwätzigkeit verachtete er bei sich ebenso wie bei anderen. So durften die Kinder bei Tisch nur sprechen, wenn sie nach den Ereignissen des Tages befragt wurden. Dennoch mochten die Kinder ihren Vater sehr, wussten sie doch bei ihm stets, woran sie waren.

Dietrich Bonhoeffers Mutter war stärker beziehungs- und gefühlsorientiert. «Sie hatte einen großen Lebensmut, sprach natürlich, lebendig und temperamentvoll, und es war ihr gleichgültig, was andere von ihr dachten. Sie tat, was sie für richtig hielt.» (Leibholz-Bonhoeffer, 16) Zahlreiche Angestellte erleichterten der Mutter die Bewältigung des Haushalts. Eine Herrnhuterin, die von den Kindern heiß geliebte Maria Horn, half ihr bei der Erziehung. Durch ein Lehrerinnenexamen pädagogisch geschult, unterrichtete die Mutter ihre Kinder teilweise selbst, später durch Käthe Horn unterstützt, die Schwester von Maria Horn. Stets aber blieb die Mutter selbst für den Religionsunterricht verantwortlich. Sie betete bei Tisch und abends mit den Kindern und erzählte ihnen biblische Geschichten. Selbstverständlich wurden die Kinder konfirmiert. Doch in den regulären Gemeindegottesdienst ging die Familie so gut wie nie.

Dietrich Bonhoeffer kam am 4. Februar 1906 zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine in Breslau zur Welt. Sie waren das sechste und siebte Kind der Eltern, nach den drei Jungen Karl-Friedrich, Walter und Klaus und den beiden Mädchen Ursula und Christine.

Abb. 1: Paula Bonhoeffer mit ihren acht Kindern. Untere Reihe von links: Ursula, Dietrich, Susanne, Sabine, Christine; obere Reihe von links: Walter, Karl-Friedrich, Klaus, Aufnahme von 1911/12.

Die drei Jahre später geborene Susanne beschloss die große Kinderschar. Karl-Friedrich wurde Physiker, Walter fiel als Soldat achtzehnjährig im Ersten Weltkrieg, Klaus wurde Jurist. Ursula heiratete den Juristen Rüdiger Schleicher, Christine den Juristen Hans von Dohnanyi. Beide Männer beteiligten sich zusammen mit Klaus und Dietrich Bonhoeffer am politischen Widerstand gegen Adolf Hitler und bezahlten dafür 1945 mit ihrem Leben. Sabine heiratete den Staatsrechtler Gerhard Leibholz, Susanne den Theologen Walter Dreß.

Kindheit und Jugend in Berlin

Für Dietrich Bonhoeffers weiteren Weg wurde der Umzug der Familie 1912 von Breslau nach Berlin bestimmend. Zunächst wohnte die Familie in der Stadtmitte, in einer Wohnung nahe des Tiergartens. Als Dietrich Bonhoeffer zehn Jahre alt war, zog man in eine Villa im Grunewald, mit Berühmtheiten wie dem Physiker Max Planck, dem Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und dem Historiker Hans Delbrück in der Nachbarschaft.

Einen besonderen Stellenwert für das Familienleben besaß das gemeinsame Musizieren. Dietrich Bonhoeffer lernte Klavier und hat bis zu seiner Verhaftung 1943 regelmäßig gespielt. Für die Ferienzeit erwarben die Eltern ein ehemaliges Forsthaus in Friedrichsbrunn im Harz. Die dortigen Eindrücke aus seinen Kindertagen sollten Dietrich Bonhoeffer bis in die spätere Haft hinein begleiten. Aus seiner Gefängniszelle schrieb er:

In meinen Phantasien lebe ich viel in der Natur, und zwar eigentlich im sommerlichen Mittelgebirge, d.h. in den Waldwiesen bei Friedrichsbrunn oder auf den Hängen, von denen aus man über Treseburg auf den Brocken sieht. Ich liege dann auf dem Rücken im Grase, sehe bei leichtem Wind die Wolken über den blauen Himmel ziehen und höre die Geräusche des Waldes. Es ist merkwürdig, wie stark Kindheitseindrücke dieser Art gestaltend auf den ganzen Menschen einwirken, so daß es mir geradezu unmöglich und meinem Wesen widersprechend erschiene, daß wir etwa ein Haus im Hochgebirge oder auch am Meer gehabt haben könnten! Das Mittelgebirge ist für mich die Natur, die zu mir gehört … bzw. die mich mit gebildet hat. (DBW 8, 322)

Die erwachsenen Kinder berichteten von einer glücklichen Kindheit. Auch später blieben die familiären Bande eng. Das belegen die zahlreichen Briefe, die zwischen den Familienmitgliedern hin- und hergingen. Man hatte ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander und war sicher, sich aufeinander, insbesondere auf die Unterstützung der Eltern, verlassen zu können. Dietrich Bonhoeffer wusste um das Gute, aber auch Ungewöhnliche, das darin lag. Als Student äußerte er:

Ich möchte einmal ungeborgen sein. Wir können die anderen nicht verstehen. Bei uns sind immer die Eltern da, die alle Schwierigkeiten erleichtern. Und ob wir auch noch so weit weg sind, gibt uns das eine so unverschämte Sicherheit. (Zitiert nach Bethge, 42)

Die Entscheidung zum Theologiestudium

Wichtig für Dietrich Bonhoeffers intellektuelle Prägung waren seine weiterführenden Schulen, das Friedrichwerdersche und das Grunewaldgymnasium (heute Walther-Rathenau-Schule), welches er seit 1919 besuchte. Beide waren berühmte humanistische Gymnasien. Seinem jugendlichen Interesse für Geschichte und Literatur, für Philosophie und die verschiedenen Künste kamen diese Ausbildungsstätten entgegen. Mit der Jugendbewegung der damaligen Zeit hatte Bonhoeffer über die Pfadfinder Kontakt. «… da machen wir immer Sonntag vormittags Übungen, Kriegsspiele oder so was. Es ist immer sehr nett» (DBW 9, 23), schrieb er dreizehnjährig an die Großmutter. Die politischen Entwicklungen wie die Novemberrevolution 1918 und die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau 1922 erlebte er in Berlin aus nächster Nähe mit, die tödlichen Schüsse auf Rathenau konnte er in seinem Klassenzimmer hören.

Dass Dietrich Bonhoeffer sich zum Theologiestudium entschloss, verwunderte seine Familie, da die verfasste Kirche in ihrem Alltag so gut wie keine Rolle spielte. Vor allem der Vater war über die Berufswahl sichtlich enttäuscht. Auf dem Höhepunkt des Kirchenkampfes schrieb er rückblickend an seinen Sohn, er habe befürchtet,

daß ein stilles unbewegtes Pastorendasein, wie ich es von meinen schwäbischen Onkeln kannte und wie es Mörike schildert, eigentlich doch fast zu schade für Dich wäre. Darin habe ich ja, was das unbewegte anlangte, mich gröblich getäuscht. (DBW 13, 90)

Was Bonhoeffer zu diesem Entschluss bewogen hat, bleibt letztlich im Dunkeln. Vielleicht war ein Grund der frühe Tod seines Bruders Walter im April 1918 an der Front. Fünf Tage nachdem er beim Vormarsch verwundet worden war, erlag Walter seinen Verletzungen. Die ganze Familie war durch diesen Verlust erschüttert, und die Mutter konnte sich kaum von ihm erholen. Für Wochen litt sie unter starken Depressionen, was für den zwölfjährigen Jungen sicher irritierend war. Dietrich Bonhoeffer bekam von ihr zur Konfirmation dann die Bibel seines Bruders Walter geschenkt; er hat sie zeitlebens für seine eigene Bibellektüre und die Vorbereitung von Predigten benutzt.

Auch die anderen Todesfälle in der Bekanntschaft während des Krieges belasteten die Kinder. Sabine Leibholz-Bonhoeffer berichtet:

Wir hörten vom Tod der großen Vettern und der Väter der Klassenkameraden. So lagen wir abends nach dem Beten und Singen … lange noch wach und versuchten uns das «Totsein» und das ewige Leben vorzustellen. … Als Dietrich mit zwölf Jahren sein eigenes Zimmer bekam, verabredeten wir, daß Dietrich abends an die Wand donnern würde, wenn Susi und ich «an Gott denken» sollten. (Leibholz, 17 f.)

Durch den Krieg waren die Kinder mit Themen und Fragen konfrontiert, die normalerweise in diesem Alter keine Rolle spielen. Mit 26 Jahren vermerkte Dietrich Bonhoeffer selbstreflexiv, er habe als Kind gern über den Tod nachgedacht und sich einen frühen, gottergebenen Tod gewünscht, an dem andere erkennen können, «daß das Sterben nicht hart, sondern herrlich ist für den, der an Gott glaubt» (DBW 11, 373). Gleichzeitig habe er gespürt, dass er am Leben hing – und sich für diesen inneren Zwiespalt geschämt.

Bonhoeffers Freund und Biograph Eberhard Bethge vermutet, neben der Erschütterung durch den Tod des Bruders sei für diesen Berufswunsch auch «ein elementarer Drang nach Selbständigkeit» zentral gewesen. «… weil er einsam war, wurde er Theologe – und weil er Theologe wurde, war er einsam» (Bethge, 62). Bonhoeffer legte sich später Rechenschaft darüber ab, dass ihn, neben der persönlichen Glaubensüberzeugung, wohl auch eine gehörige Portion Eitelkeit bei seiner Entscheidung zur Theologie bestimmt hatte, die durch den Wunsch genährt wurde, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

2. Von Tübingen zurück nach Berlin, 1923–1927

Zwei Tübinger Semester

Im Frühjahr 1923 begann Dietrich Bonhoeffer sein Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen. Er ging damit an die Universität, an der auch sein Vater studiert hatte, und trat in dessen nichtschlagende Studentenverbindung «Igel» ein. An dieser reizten ihn vor allem die gemeinsamen Gespräche und Unternehmungen, Anfragen an die politische Ausrichtung hatte er wohl nicht. Er verließ den «Igel» allerdings, als dieser 1933 den Arierparagraphen einführte und «nichtarische» Mitglieder ausschloss. In die Tübinger Zeit fiel auch eine zweiwöchige Wehrübung, an der er nach Rücksprache mit den Eltern teilnahm, weil er meinte, «daß es je eher, je besser ist, daß man die Sache hinter sich bringt, um für kritische Lagen ein gesichertes Gefühl zu haben, mithelfen zu können» (DBW 9, 67).

Bonhoeffer hörte in Tübingen bei den bedeutenden Theologen Adolf Schlatter und Karl Heim, besuchte jedoch mit größerem Interesse Veranstaltungen bei dem Philosophen Karl Groos. Die von diesem behandelten Fragen der Erkenntnistheorie sollten ihn für mehrere Jahre nicht mehr loslassen. Doch so richtig begeisterte ihn Tübingen nicht, weshalb er sich schon nach zwei Semestern zur Rückkehr nach Berlin entschloss.

Eine Reise nach Italien

Zuvor jedoch begab er sich mit seinem Bruder Klaus auf eine zweimonatige Reise in den Süden, die für ihn richtungweisende Eindrücke bereithalten sollte. Im Frühjahr 1924 fuhren die beiden zuerst für zweieinhalb Wochen nach Rom. Die Stadt mit ihren antiken und christlichen Denkmälern, gleichzeitig pulsierende moderne Weltstadt, beeindruckte sie tief. Nach einer Messe in Trinità dei Monti, der damals einem Frauenorden zugehörigen Kirche am oberen Ende der Spanischen Treppe, schrieb Dietrich Bonhoeffer in sein Tagebuch, er habe in der Vesper der Novizinnen «Gottesdienst im wahren Sinne» erlebt, «einen unerhört unberührten Eindruck tiefster Frömmigkeit». Die Tagebucheintragung schließt:

Der Tag war herrlich gewesen, der erste Tag, an dem mir etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging, nichts von Romantik usw., sondern ich fange, glaube ich, an, den Begriff «Kirche» zu verstehen. (DBW 9, 89)

Diese Bemerkung ist für einen Theologiestudenten überraschend. Sie offenbart, dass für Bonhoeffer zu Beginn seiner theologischen Existenz das reale gemeinsame Leben der Glaubenden als Kirche noch bedeutungslos war. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass in seiner eigenen Familie christlicher Glaube fast völlig ohne Bezug zur institutionellen Kirche gelebt wurde. Erst in Rom wurde Bonhoeffer deutlich – angesichts der Anschaulichkeit der Kirche, zu der Menschen aus aller Welt gehören –, dass für das Christsein die sichtbare Kirche und gemeinsame Gottesdienste wesentlich sind. Die Möglichkeit, in der Kirche die Beichte ablegen zu können und Sündenvergebung zugesprochen zu bekommen, faszinierte ihn. Denn in der Beichte wird konkret erfahrbar, dass der Glaubende nicht allein ist, sondern in einer Gemeinschaft von Glaubenden steht:

Nachmittag Maria Maggiore, großer Beichttag, alle Beichtstühle besetzt und von Betenden umdrängt. Man sieht hier so erfreulich viel ernste Gesichter, bei denen alles, was man gegen den Katholizismus sagt, nicht zutrifft. … Die Beichte muß nicht zur «Skrupulosität» führen … Sie ist … für religiös Weiterblickende die Vergegenständlichung der Idee der Kirche, die sich in Beichte und Absolution vollzieht. (DBW 9, 89 f.)

Der römische Eindruck von der Wirklichkeit der Kirche muss tief gewesen sein. Er führte dazu, dass Bonhoeffer sich sowohl in seiner Dissertationsschrift als auch in seiner Habilitationsschrift mit der Frage beschäftigte, welche Rolle aus evangelischer Sicht die Kirche für den Glauben spielt.

Nach einem Abstecher nach Sizilien und ins nordafrikanische Tripolis fuhren die Brüder über Neapel noch einmal in die italienische Hauptstadt – und dann zurück nach Berlin.

Das theologische Berlin

An der theologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrten die Großen der damaligen Zeit. Der berühmte Kirchengeschichtler Adolf von Harnack war zwar seit 1921 emeritiert, bot aber noch Seminare für einen kleinen Kreis von Studierenden an, zu dem auch Bonhoeffer eingeladen wurde. Man las Texte aus den ersten christlichen Jahrhunderten. Bonhoeffer war beeindruckt von diesem Altmeister der so genannten Liberalen Theologie. Die Liberale Theologie war seit gut hundert Jahren die vorherrschende Richtung protestantischer Theologie. Sie kritisierte die traditionellen kirchlichen Dogmen und betonte die individuelle Religiosität des Einzelnen. Inhaltlich stand Bonhoeffer Harnacks Grundansatz durchaus skeptisch gegenüber, wurde er doch zeitgleich mit dem Entwurf des großen Kritikers der Liberalen Theologie, Karl Barth, bekannt. Anlässlich der Verteidigung seiner Promotionsthesen vor der Theologischen Fakultät machte Bonhoeffer jedoch deutlich, wie viel er Harnack verdankte: «Zu eng mit meiner ganzen Person verbunden ist das, was ich in Ihrem Seminar gelernt und verstanden habe, als daß ich es je vergessen könnte.» (DBW 9, 477)

Zahlreiche Veranstaltungen besuchte Bonhoeffer beim Lutherforscher Karl Holl und schrieb bei ihm mehrere Seminararbeiten über den Reformator. Neben Karl Barth ist Luther derjenige Theologe, der Bonhoeffer in seinem eigenen Denken am meisten beeinflusst hat. Seine Kritik an Barth hängt oft genau damit zusammen. Die Promotion verfasste Bonhoeffer dann aber bei dem Dogmenhistoriker und Systematischen Theologen Reinhold Seeberg, weil er bei ihm seinem Interesse nachgehen konnte, «halb historisch halb systematisch» (DBW 9, 156) über die Kirche zu schreiben.

Die Gemeinschaft der Heiligen

Als Gegenstand seiner Doktorarbeit wählte Bonhoeffer die Kirche. Schon mit 21 Jahren schloss er seine Studie Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche ab; 1930 erschien sie im Druck. Bonhoeffer beschäftigte sich in ihr mit der Sozialität, das heißt der grundsätzlich sozialen Ausrichtung, des Menschen und des christlichen Glaubens. Der Mensch zeichnet sich nach Bonhoeffers Überzeugung nicht primär dadurch aus, dass er ein autonomes Vernunftwesen im Sinne der Aufklärung ist. Er ist vielmehr ein Wesen, das nur in der Begegnung mit einem Anderen, dort, wo er auf seine Verantwortung gegenüber einem Anderen aufmerksam wird, wirklich Mensch ist. Anders gesagt: Wer er ist, erkennt der Mensch erst, wenn ihm ein Anderer gegenübertritt, wenn ihm ein konkretes Du begegnet, das ihn in seiner Hilfe und Zuwendung beansprucht. In diesem Augenblick wird der Mensch zur Person.

Ist der Mensch damit im Kern als soziales Wesen bestimmt, dann muss auch zum Christsein soziale Existenz unverzichtbar hinzugehören. Bonhoeffer ist überzeugt, dass man nicht für sich selbst Christ sein kann, sondern immer nur in der Gemeinschaft der Glaubenden, in der communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen. Mehr noch: Nur im Glauben realisiert der Mensch seine soziale Grundanlage umfassend, denn im Glauben vollzieht sich eine völlige Neuorientierung der menschlichen Existenz. Während der Mensch in der Sünde in einer rein fordernden Beziehung zu anderen Menschen steht und sich nur um sich selbst dreht, ist er im Glauben von dieser Selbstbezogenheit frei und offen für den Anderen. Dies ist kein theologisches Ideal, sondern ereignet sich nach Bonhoeffer ganz konkret, eben dort, wo Menschen miteinander Kirche sind, das heißt Gottesdienst feiern, füreinander da sind, für Andere beten und sich gegenseitig Sünden vergeben. Dort realisiert sich, dass alle Christen durch ihren Glauben an Christus immer schon in einer Gemeinschaft stehen.

Bonhoeffer beschreibt in seiner Arbeit die Gemeinschaftsstruktur der Kirche – das war zur damaligen Zeit neu – mit soziologischen Methoden. Er verwendet die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Soziologie, um das Zusammensein von Menschen in der Kirche zu beschreiben. Und doch ist er davon überzeugt, dass die Wirklichkeit der Kirche sich nicht in soziologischen, das heißt empirisch wahrnehmbaren Kategorien erschöpft. Die Kirche ist als geschichtliche Gemeinschaft mit soziologischen Mitteln beschreibbar, aber sie ist «gottgesetzt zugleich» (DBW 1, 79). Das Zusammengehören von Menschen in der Kirche ist letztlich nicht in ähnlichen Interessen oder einem Bedürfnis nach Vergemeinschaftung begründet, sondern in Gott. Denn durch die Beziehung der einzelnen Glaubenden zu Jesus Christus stehen diese auch in einer Beziehung zueinander. Bonhoeffer formuliert das später so: «Christliche Gemeinschaft heißt Gemeinschaft durch Jesus Christus und in Jesus Christus.» (DBW 5, 18) Gleichzeitig ist in der christlichen Gemeinschaft Christus gegenwärtig. Bonhoeffer hat dafür die berühmte Formel geprägt, die Kirche sei «Christus als Gemeinde existierend» (z.B. DBW 1, 87). In der Kirche, in Predigt und Sakramenten und im liebevoll zugewandten Nächsten, begegnet dem Menschen Jesus Christus. Eine andere Möglichkeit, Christus zu begegnen, gibt es heute, d.h. für diejenigen, die nicht zu seinen Lebzeiten existieren, nicht mehr.

In der Dissertation zeigt sich bereits deutlich, dass Bonhoeffer inzwischen auf die Theologie Karl Barths gestoßen war. Seit dem Wintersemester 1924/25 verfolgte er die neuen theologischen Gedanken des Vaters der so genannten Dialektischen Theologie mit intensiver Neugier. Karl Barth hatte kurz zuvor mit der zweiten Auflage seines «Römerbriefs» von 1922 für Furore an den Theologischen Fakultäten und in den Pfarrhäusern gesorgt. Hier trat einer auf, um die gesamte damalige Theologie zu kritisieren, weil in ihr «der Mensch groß gemacht [wird] auf Kosten Gottes» (Barth, Die Menschlichkeit Gottes, 1956, 5). Der Fehler der zeitgenössischen Theologie liege darin, dass sie in höchsten Tönen von der Religion des Menschen und ihrer kulturellen Kraft spreche anstatt von Gott selbst. Doch menschliche Religion kann Gott nie erreichen, weil zwischen Gott und Mensch ein «unendlicher qualitativer Unterschied» besteht (vgl. Barth, Der Römerbrief. Zweite Fassung 1922, 151989, 73). Gott muss sich selbst dem Menschen zu erkennen geben, er muss sich ihm offenbaren. Selbst dann wird der Mensch Gottes nicht habhaft werden, Gott bleibt unverfügbar. Bonhoeffer hat Barths Unterscheidung zwischen Religion und Offenbarung überzeugt. Und ihn hat Barths These fasziniert, Aufgabe der Theologie sei das Reden von Gott und ihr Ausgangspunkt die kirchliche Predigt. Aber er wird in seiner Habilitationsschrift Barths einseitige Betonung der Unverfügbarkeit Gottes seinerseits kritisieren.

«Was ist schöner: Schule oder Ferien?»

Seit er an der Dissertation arbeitete, beteiligte sich Bonhoeffer an den Kindergottesdiensten der Grunewaldkirche; dies war für die Erlangung des Ersten Theologischen Examens notwendig. Seine Predigten sind direkt und emotional. Sie versuchen, an der Erfahrungswelt der Kinder anzuknüpfen. Eine Ansprache über die Zehn Gebote beginnt er mit den Worten: «Ihr alle könnt mir auf die erste Frage Antwort geben. Was ist schöner: Schule oder Ferien? Wollen da wirklich so ein paar ganz Brave sagen: die Schule ist schöner? Ach nein, das glaub ich doch nicht.» (DBW 9, 491) Von hier aus führt er die Kinder in den Unterschied zwischen Freiheit und Zwang ein, um sie zu der Pointe zu führen, dass für denjenigen Zwang gleichzeitig Freiheit ist, der das Geforderte gern tut. Die Kinder sollen so verstehen, dass die Zehn Gebote sie nicht einengen, sondern für den, der Gott liebt, leicht zu halten sind.

Offensichtlich war Bonhoeffer bei den Grunewald-Kindern beliebt. Einige trafen sich noch im Frühjahr 1927 mit ihm in einem Jugendkreis. Man besprach dort politische, kulturelle und theologische Fragen und besuchte gemeinsam musikalische Veranstaltungen.