3Michael Tomasello

Mensch werden

eine Theorie der Ontogenese

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder

Suhrkamp

5Für das Leipziger Team

9Vorwort

In diesem Buch schlage ich einen theoretischen Rahmen zur Ordnung und Erklärung der Forschungen vor, die meine Kollegen und ich von 1998 bis 2017 an der Abteilung für vergleichende und Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig durchgeführt haben. Die Forschungsarbeiten werden zwar als eine mehr oder minder kohärente Geschichte dargestellt, aber der rote Faden existierte nicht schon von Anfang an. Er ergab sich erst aus der Arbeit. Der theoretische Rahmen verdankt vieles meinen Kollegen, obwohl sie natürlich nicht alle mit allen Punkten einverstanden sind.

Mein größter Dank richtet sich folglich an das Leipziger Team als ganzes für seine außergewöhnliche Arbeit und sein Engagement für die Wissenschaft. Viele der Studien des Teams werden hier zitiert. Von den zahlreichen Kollegen, mit denen ich im Lauf der Jahre zusammengearbeitet habe, möchte ich meine Seniorpartner hervorheben, die die ganze Zeit über da waren. Elena Lieven war in diesen Jahren meine einzige Altersgenossin, und sie erinnerte mich ständig daran, dass nichts die Einzigartigkeit des Menschen so gut bezeugt wie die Sprache (außerdem fungierte sie häufig noch als mein soziales Gewissen). Josep Call war das Affenhaus, angefangen beim Entwurf seiner Untersuchungsräume bis zum Design brillanter Experimente. Die Arbeit mit den Menschenaffen wäre ohne ihn schlicht unmöglich gewesen. Malinda Carpenter war meine wichtigste Komplizin, als wir begannen, fast täglich über mehrere Jahre hinweg beim Mittagessen über die Einzigartigkeit des Menschen im Sinne geteilter Intentionalität nachzudenken (obwohl wir uns über einige Punkte immer noch nicht einig sind). Ebenfalls entscheidend für das Unternehmen waren Katharina Haberl, die unser unvergleichliches Kinderlabor schuf und betreute, und Henriette Zeidler, die den organisatorischen Knotenpunkt darstellte, durch den und weshalb alles funktionierte.

Ich möchte auch meine tiefste Dankbarkeit gegenüber der Max-10Planck-Gesellschaft zum Ausdruck bringen, die zweifellos die beste Wissenschaftsorganisation auf der Welt ist, und gegenüber meinen Kollegen aus den anderen vier Abteilungen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das zweifellos das beste Institut seiner Art auf der Welt ist. Die Arbeitsatmosphäre während dieser neunzehn Jahre war, mit einem Wort, inspirierend. Es war ein Privileg, in der Gesellschaft und am Institut zu arbeiten.

Im Hinblick auf dieses Buch möchte ich zuerst und vor allem meiner Frau, Rita Svetlova, für zahllose hilfreiche Kommentare und viele Ideen und Formulierungen in unterschiedlichen Teilen des Buches danken. Darüber hinaus danke ich Jan Engelmann, der das gesamte Manuskript las und hilfreiche Rückmeldungen gab, insbesondere mit Bezug auf das zweite Kapitel. Und schließlich danke ich Andrew Kinney von Harvard University Press sowie drei anonymen Gutachtern des Verlags für hilfreiche Rückmeldungen zur vorletzten Textfassung.

Man beachte, dass es zu vielen der Untersuchungen, die in diesem Buch zitiert werden, Videos von den Kindern oder den Menschenaffen gibt, die ihr Verhalten (gewöhnlich) unter einer einzigen Aufgabenbedingung zeigen. Wissenschaftler und Pädagogen können sie (zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken) ansehen unter:

www.becoming-human.org
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11I
Hintergrund

[Es sind die] epigenetischen Regeln […], welche […] Gene mit Kultur verknüpfen: Die Suche nach der menschlichen Natur ist gleichsam die Archäologie der epigenetischen Regeln […].

E. ‌O. Wilson, Die Einheit des Wissens (1998)

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Auf der Suche nach der
Einzigartigkeit des Menschen

In seinem Buch Die Abstammung des Menschen von 1871 machte Charles Darwin praktisch den Vorschlag, dass Menschen einfach nur ein weiterer Zweig am Stammbaum der Evolution sind. Die viktorianischen Engländer, von denen viele wissenschaftlich hochgebildet waren, zeigten sich skeptisch. Die engsten lebenden Verwandten der Menschen, die großen Menschenaffen, lebten immer noch »blutrünstig« in Wäldern und Dschungeln, die Menschen jedoch lebten in einer Welt voller Teleskope und Dampfmaschinen, Sinfonieorchestern und dem britischen Parlament sowie morgendlichen Andachten, denen der Nachmittagstee folgte. Es war, gelinde gesagt, ein Rätsel, wie ein bloßer weiterer Zweig des evolutionären Stammbaums ein Leben führen konnte, das so völlig anders war als das Leben anderer Tiere.

Heute ist dieses Rätsel im Wesentlichen gelöst. An einem bestimmten Punkt der Menschheitsgeschichte entstand ein neuer Evolutionsprozess. Ein verräterisches Zeichen für diesen neuen Prozess besteht darin, dass nicht alle Menschen inmitten von Teleskopen, Sinfonieorchestern und dem britischen Parlament leben, sondern stattdessen von ihren eigenen charakteristischen Artefakten, Symbolen und Institutionen umgeben sind. Und da Kinder unabhängig von ihrer genetischen Ausstattung die besonderen Artefakte, Symbole und Institutionen, in die sie hineingeboren werden, annehmen, ist es klar, dass diese gesellschaftliche Variation nicht von den Genen herrühren kann, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Schöpfung ist. Das vollständige Rätsel besteht folglich darin, dass Menschen nicht nur eine Spezies mit noch nie dagewesenen kognitiven und sozialen Errungenschaften sind, sondern gleichzeitig auch eine solche, die eine neue Art gesellschaftlich erzeugter Diversität auf der Gruppenebene aufweist.

14Die Lösung des Rätsels – der neue Evolutionsprozess – ist natürlich die menschliche Kultur. Aber die traditionelle Vorstellung von Kultur als etwas, das von der Biologie und Evolution getrennt ist, genügt nicht. Die menschliche Kultur ist diejenige Form sozialer Organisation, die auf der menschlichen Entwicklungslinie als Reaktion auf ganz bestimmte Anpassungsherausforderungen entstand. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist ihr hoher Grad (und sind ihre neuen Formen) von Kooperation. Aus synchroner Perspektive betrachtet, koordinieren die Mitglieder einer Kulturgruppe sich miteinander im Kontext selbstgeschaffener kooperativer Strukturen wie beispielsweise Konventionen (einschließlich sprachlicher Konventionen), Normen und Institutionen, und sie pflegen Umgang miteinander anhand kooperativer Motive wie Vertrauen, Verpflichtung und Fairness. Nennen wir das die Koordinationsdimension der Kultur. Diachron gesehen, geben die Mitglieder einer Kulturgruppe Fertigkeiten und Wissen an die folgenden Generationen durch kooperative Prozesse des kulturellen Lernens weiter, wie beispielsweise aktiven Unterricht und auf Konformität abzielendes Lernen, was eine Art von »Wagenhebereffekt« zur Folge hat, bei dem kulturelle Praktiken und Produkte (darunter Konventionen, Normen und Institutionen) sich über geschichtliche Zeitspannen hinweg entwickeln und vielleicht auch »verbessern«. Bezeichnen wir das als die Weitergabedimension der Kultur. Im Ergebnis beruhen so gut wie alle der bemerkenswertesten menschlichen Errungenschaften – von Dampfmaschinen bis zur höheren Mathematik – darauf, wie sich jeder Einzelne auf einzigartige Weise mit anderen kooperativ koordinieren kann, und zwar sowohl bezogen auf den jeweiligen Augenblick als auch auf kulturgeschichtliche Zeitspannen.

Aber diese Erklärung der Einzigartigkeit des Menschen mittels kultureller Prozesse gibt Anlass zu einem weiteren Rätsel, und dieses ist noch nicht gelöst. In diesem Fall liegt das Augenmerk nicht auf der Ebene der Spezies und ihrer Errungenschaften, sondern vielmehr auf der Ebene des Individuums und seiner Psychologie: Wie kommen Menschen zu den für die Spezies einzigartigen kognitiven und gesellschaftlichen Fähigkeiten, die notwendig sind, um 15sich an kultureller Koordination und Weitergabe zu beteiligen? Um diese Frage zu beantworten, besteht der offensichtliche erste Schritt darin, dass man feststellt, wie genau sich die Psychologie des Menschen von der anderer Primaten unterscheidet – in welchem Sinne genau Menschen als Individuen einzigartig sind. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die empirische Forschung im Laufe der letzten Jahrzehnte festgestellt hat, dass die nächsten lebenden Verwandten der Menschen, die großen Menschenaffen, kognitive und soziale Fertigkeiten besitzen, die denen der Menschen sehr ähnlich sind, einschließlich vieler, die anscheinend für Kulturprozesse relevant sind. Beispielsweise gibt es jüngere Forschungen, die nachweisen, dass zumindest manche Menschenaffen 1. Werkzeuge herstellen und gebrauchen, 2. intentional (oder gar »sprachlich«) kommunizieren, 3. eine bestimmte Art von »Theorie des Geistes« haben, 4. manche Verhaltensweisen durch soziales Lernen erwerben (was zur »Kultur« führt), 5. gemeinsam in Gruppen jagen, 6. »Freunde« haben, die sie vorzugsweise lausen und mit denen sie Bündnisse bilden, 7. anderen aktiv helfen und 8. die sozialen Handlungen der anderen bewerten und sich für sie revanchieren.

Aber tun die Menschenaffen diese Dinge genauso wie Menschen? Um dies im Einzelfall zu bestimmen, müssen wir hinter die pauschale Behauptung blicken, dass sowohl Menschenaffen als auch Menschen »x haben« oder »y tun«, auch wenn solche Behauptungen im Allgemeinen richtig sein mögen. Um durch solche Allgemeinheiten hindurch weiter in die Tiefe vorzudringen, müssen wir feinkörnigere Vergleiche anstellen, indem wir vergleichende Experimente durchführen, in denen Menschen und Menschenaffen (insbesondere Schimpansen und Bonobos als die nächsten lebenden Verwandten des Menschen) unter Umständen beobachtet werden, die so ähnlich wie möglich sind. Solche kontrollierten experimentellen Vergleiche ermöglichen es, subtile Verhaltensunterschiede festzustellen und idealerweise ebenso die kognitiven und motivationalen Prozesse, die diesen Unterschieden zugrunde liegen. Auf diese Weise versuchen wir, die Unterschiede auf der individuellen psychologischen Ebene zu identifizieren, die letztlich zu den einzigartigen Formen der kulturellen Koordination und Weitergabe der 16Menschen (und somit auch zu Teleskopen und Parlamenten) führen.

Verfügt man über eine Beschreibung der wichtigsten Unterschiede zwischen Menschen und ihren nächsten Verwandten unter den Menschenaffen, dann besteht die nächste Aufgabe darin, diese Unterschiede zu erklären. In einem evolutionären Rahmen ist die grundsätzliche Erklärung selbstverständlich die natürliche Selektion: Die heute lebenden Menschen sind auf natürliche Weise selektiert worden, um bestimmte für die Spezies einzigartige ökologische oder sozioökologische Herausforderungen zu meistern. Beispielsweise lautet ein Vorschlag, dass Menschen viele ihrer einzigartigen kognitiven und sozialen Fähigkeiten als Reaktion auf ökologische Herausforderungen entwickelten, die sie zuerst zur Zusammenarbeit miteinander bei der Nahrungsbeschaffung zwangen und sie dann später veranlassten, größere Kulturgruppen zu bilden, um ihre Ressourcen gegen andere Gruppen zu verteidigen (Tomasello 2014, 2016). Unter diesen Bedingungen hatten Individuen, die am besten mit anderen kooperieren konnten – Individuen, die sowohl in der Lage als auch motiviert waren, ihre Köpfe mit anderen zusammenzustecken, um zusammenzuarbeiten oder eine Kultur zu bilden –, einen Anpassungsvorteil und vermehrten sich deshalb.

Aber die natürliche Selektion erzeugt nichts. Sie ist nur ein Sieb, das im Nachhinein lebensfähige von nichtlebensfähigen Organismen trennt. Evolutionäre Neuheiten entspringen nicht der natürlichen Selektion, sondern stammen vielmehr aus der anderen Hauptdimension des Evolutionsprozesses: der erblichen Variation. Klassischerweise geht die erbliche Variation in der Evolution aus der genetischen Mutation oder der Rekombination hervor, die durch ontogenetische Prozesse neue Merkmale hervorbringen. Aber jüngere Fortschritte in der evolutionären Entwicklungsbiologie (der so genannten Evo-Devo) deuten darauf hin, dass die konstruktive Rolle dieser ontogenetischen Prozesse nicht vollständig erkannt wurde. Es ist nicht nur so, dass neue Merkmale immer durch ontogenetische Prozesse entstehen – die die Expression von Genen steuern und einschränken –, sondern die bei weitem häufigste Quelle 17neuer Merkmale besteht in Änderungen der zeitlichen Abstimmung und der Art und Weise, wie bereits existierende Gene exprimiert werden und mit der Umgebung interagieren. Somit können auch relativ geringe Veränderungen der Art und Weise, wie Regulatorgene das ontogenetische Timing und die Plastizität arrangieren, gewaltige, hintereinandergeschaltete phänotypische Effekte haben – die nicht direkt in den Genen kodiert sind –, während die sich entwickelnden Systeme miteinander und mit der Umgebung auf unerwartete Weisen interagieren. Wenn wir erklären wollen, wie die einzigartige menschliche Psychologie entsteht, müssen wir unsere Aufmerksamkeit folglich auf die Ontogenese konzentrieren und insbesondere darauf, wie die Ontogenese der Menschenaffen im Allgemeinen in die Ontogenese des Menschen im Besonderen verwandelt worden ist.

Und genau das ist hier auch mein Ziel. Ich möchte die Ontogenese der einzigartig menschlichen Psychologie beschreiben und erklären, indem ich die Ontogenese der Menschenaffen zum Ausgangspunkt nehme. Menschenaffen weisen elementare Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Kategorisierungsprozesse auf sowie auch komplexere Prozesse intentionaler Kommunikation, prosozialen Verhaltens und sozialen Lernens. Von diesem Ausgangspunkt aus können wir versuchen, die einzigartigen Aspekte der Psychologie des Menschen zu bestimmen, wie sie ontogenetisch im Lauf der ersten Lebensjahre auftreten. Ein natürlicher Schlusspunkt dieser Untersuchung sind sechs- bis siebenjährige Kinder. In den Augen vieler Kulturinstitutionen und Traditionen über viele Jahrhunderte und Gesellschaften hinweg kündigt der sechste oder siebente Geburtstag eines Kindes seinen Eintritt ins »Alter der Vernunft« an. Dem britischen Gewohnheitsrecht zufolge ist es das erste Alter, in dem ein Kind ein Verbrechen begehen kann. In der katholischen Kirche ist es das Alter, in dem ein Kind erstmals zur Kommunion gehen darf. In Kulturen, die eine formale Bildung erfordern, ist es das Alter, in dem ein Kind für einen regelrechten Schreib- und Rechenunterricht bereit ist. Und in traditionellen Gesellschaften ist dies das Alter, in dem einem Kind erstmals wichtige selbständige Aufgaben überlassen werden, wie beispielsweise eine Herde zu hüten, 18Brennholz zu sammeln oder eine Botschaft zu überbringen (Rogoff et al., 1975). Insgesamt sind Kinder in diesem Alter in kognitiver Hinsicht zum größten Teil vernünftig geworden – Wesen, mit denen man argumentieren und von denen man im Gegenzug eine vernünftige Reaktion erwarten kann –, und in gesellschaftlicher Hinsicht sind sie zum größten Teil verantwortlich geworden – Wesen, die man zur Verantwortung ziehen und von denen man erwarten kann, dass sie sich selbst im Hinblick auf ihre Überzeugungen und Handlungen für verantwortlich halten. Das Ergebnis sind werdende »Personen«, die einen gewaltigen ersten Schritt auf die Internalisierung der Rationalitäts- und Moralnormen der Kultur hin gemacht haben, wodurch sie zum ersten Mal die Fähigkeit und tatsächlich auch die Verantwortung dafür erlangen, ihre eigenen Überzeugungen und Handlungen einer normativen Selbstregulierung zu unterziehen.

Unsere Arbeitshypothese zur Erklärung der Ontogenese der einzigartigen Psychologie des Menschen geht auf Vygotskij zurück: Einzigartig menschliche Formen der Kognition und Sozialität entstehen in der menschlichen Ontogenese durch – und nur durch – unsere einzigartigen Formen soziokultureller Tätigkeit. Aber die Theorie, die wir entwickeln, aktualisiert und modifiziert Vygotskij – sie ist neo-vygotskijsch –, insofern sie die soziokulturelle Tätigkeit des Menschen in den Rahmen der modernen Evolutionstheorie einbettet. Das bedeutet, dass wir zunächst die Hinsichten zu bestimmen versuchen, in denen Menschen biologisch für die Beteiligung an ihren einzigartigen Formen soziokultureller Tätigkeit vorbereitet sind; tatsächlich können wir geltend machen, dass es genau diese biologische Vorbereitung ist – in Form durch Reifungsprozesse exprimierter Fähigkeiten –, die die einzigartig menschlichen soziokulturellen Tätigkeiten und Erfahrungen überhaupt erst möglich macht. Das widerspricht nicht Vygotskijs Argumentation für die Schlüsselrolle des soziokulturellen Kontexts bei der psychologischen Entwicklung des Menschen. Die moderne Evolutionstheorie betont, dass Organismen ihre Umwelten ebenso erben wie ihre Gene: Ein Fisch erbt nicht nur Flossen, sondern auch das Wasser. Menschenkinder erben einen soziokulturellen Kontext, der 19voller kultureller Artefakte, Symbole und Institutionen ist, und ihre einzigartigen Reifungsfähigkeiten blieben inaktiv ohne einen soziokulturellen Kontext, in dem sie sich entwickeln könnten (Richerson und Boyd, 2005). Eine normale menschliche Ontogenese erfordert daher sowohl die Reifung für die Spezies einzigartiger kognitiver und sozialer Fähigkeiten als auch individuelle Erfahrung mit solchen Dingen wie auf Zusammenarbeit bezogene und kommunikative Interaktionen mit anderen, die durch kulturelle Artefakte wie beispielsweise sprachliche Konventionen und soziale Normen strukturiert werden.

Der Erklärungsansatz der Evolution des Menschen, auf den wir uns berufen, stammt von Tomasello et al. (2012; siehe auch Tomasello, 2014, 2016) und konzentriert sich auf die Evolution menschlicher Kooperation und darauf, wie sie für die Spezies einzigartige Prozesse kultureller Koordination und Weitergabe ermöglicht. Genauer übernimmt der Erklärungsansatz theoretische Werkzeuge aus philosophischen Darstellungen geteilter Intentionalität (Bratman, 1992, 2014; Searle, 1995, 2010; Gilbert, 1989, 2014). Dieser Sichtweise zufolge nehmen die Fähigkeiten der Menschen, miteinander zu kooperieren, deshalb einzigartige Formen an, weil die Individuen in der Lage sind, miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein »wir«, zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient. Die These ist, dass diese Fähigkeiten erstmals in der Evolution des Menschen zwischen kooperierenden Partnern auftauchten, die sich auf dyadische Weise an Akten gemeinsamer Intentionalität beteiligten, und dann später unter Individuen als Mitgliedern einer Kulturgruppe bei Akten kollektiver Intentionalität. Im Gegensatz zu Vygotskijs nahezu ausschließlicher Konzentration auf die Dimension der Weitergabe der Kultur – darauf, wie die Praktiken der Kultur mit Bezug auf Symbole und andere Artefakte über Generationen hinweg weitergegeben werden und dadurch die psychologischen Funktionen des Menschen restrukturieren –, konzentrieren wir uns mehr auf die Koordinationsdimension der Kultur – darauf, wie Menschen, Kinder eingeschlossen, in dem Moment zusammenwirken und kommunizieren (wie sie miteinander ko-operieren), in dem sie sich mit 20anderen an soziokulturellen Tätigkeiten beteiligen. Tatsächlich wird die Argumentation darin bestehen, dass es die Koordinationsdimension der einzigartig menschlichen Kognition und Sozialität ist – einschließlich ihrer motivationalen Aspekte und der neuen sozialen Beziehungen, die diese erzeugen –, die die kooperativen Kulturpraktiken des Lehrens und des auf Konformität abzielenden Lernens ermöglicht, die die entscheidenden Rollen bei der einzigartig menschlichen Weitergabe der Kultur spielen.

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Die dritte Menge von Prozessen sind die verschiedenen Formen der exekutiven Selbstregulierung der Menschen. Vygotskij (1930/1978) folgend, lautet der Vorschlag, dass viele Aspekte der kognitiven und sozialen Einzigartigkeit des Menschen sich aus den besonderen Weisen ergeben, wie Kinder versuchen, ihre Gedanken und Handlungen nicht nur individuell einer exekutiven Selbstregulierung zu unterziehen, wie es auch viele Primaten tun, sondern auch sozial, indem sie ständig die Perspektiven und Bewertungen der Sozialpartner mit Bezug auf das Selbst überwachen. Auch hier ist das Alter von drei Jahren wieder entscheidend. Vor diesem Alter ist die exekutive Regulierung der Kinder zum größten Teil individuell wie die anderer Primaten, obwohl sie sich häufig auf einzigartig menschliche kognitive und soziale Inhalte bezieht. Nach dem Alter von drei Jahren fangen die Kinder an, ihre Kommunikationsversuche zum Gegenstand einer sozialen Selbstüberwachung zu machen, um zu sehen, ob sie für andere verständlich und rational sind, und sie fangen an, den Eindruck, den sie auf andere machen, einer sozialen Selbstüberwachung zu unterziehen, um ihre koope22rative Identität in der Gruppe aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus regulieren Kinder ab drei Jahren ihre kooperativen Interaktionen mit anderen auch im Zusammenwirken mit ihnen. So gehen sie beispielsweise gemeinsame Verpflichtungen mit anderen ein, bei denen »wir« sicherstellen, dass »du« und »ich« uns anständig verhalten, sowie (implizite) kollektive Verpflichtungen auf die sozialen Normen der Gruppe, im Hinblick auf welche »wir« sicherstellen, dass sowohl das Selbst als auch die anderen sie befolgen. Durch die Beteiligung an einer solchen sozialen und kulturellen Selbstregulierung im Alter von drei bis sechs Jahren gelangen die kleinen Kinder dazu, die vielen und mannigfaltigen Arten der selbstreflexiven, normativ strukturierten und vernunftbasierten Formen des Denkens und Handelns zu erzeugen, die sie erstmals zu vernünftigen und verantwortlichen Personen machen.

Im Folgenden versuche ich, diesen neovygotskijschen Rahmen zu benutzen, um den Ursprung und die Entwicklung der für die Spezies einzigartigen Formen der psychologischen Funktion von Kindern während der ersten sechs Lebensjahre zu erklären. Ich tue das gesondert für jeden der acht ontogenetischen Pfade – vier kognitive und vier soziomoralische –, die die Menschen am deutlichsten von ihren nächsten Menschenaffen-Verwandten unterscheiden (wie durch vergleichende Experimente bestimmt wurde). Das übergeordnete Ziel ist somit eine vollständige und kohärente Erklärung des Prozesses, ein Mensch – das heißt einzigartig menschlich – zu werden.