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Quin Tanner

Sommersprossen lügen nicht

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2019

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://www.daylinartl.webnode.com

Bildrechte:

© Volodya Senkiv – shutterstock.com

© Jan Wehnert – shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-344-8

ISBN 978-3-96089-345-5 epub)

 

Inhalt:

Sich endlich frei und dazugehörig fühlen – mit dieser stillen Hoffnung im Gepäck nimmt Simon all seinen Mut zusammen und besucht zum ersten Mal in seinem Leben einen Szeneclub. Als er direkt in eine peinliche Situation tappt, rettet ihn ein charmanter „Cowboy“. Olaf ist das genaue Gegenteil von Simon: erfahren, selbstbewusst, strukturiert – und dominant. In seiner Gegenwart kann Simon sich fallen lassen.

Doch dann steht plötzlich Martim vor ihm. Die Begegnung weckt Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend und an eine Freundschaft, die wegen eines unbedachten Kusses in die Brüche ging. Jahrelang hat Simon versucht, seinen Jugendschwarm zu vergessen und jetzt ist da auch noch Olaf … Aber wie soll er sich nicht wieder in Martim verlieben, wenn sich mit ihm alles so vertraut und leicht anfühlt?

 

Um sein Glück zu finden, muss man sich von allen Erwartungen, die an einen gestellt werden – inklusive der eigenen –, lösen und lernen, auf sein Herz zu hören.

 

1

 

Es ist so weit, jetzt oder nie! In einer eher hilflosen als entschlossenen Geste, wische ich mir die Nervosität an meiner Jeans ab und atme tief durch. Ein dünnes Stimmchen in meinem Kopf gibt sich alle Mühe, mir Mut zuzusprechen: Worauf wartest du, Simon? Hier kennt dich doch keiner.

Eine Windböe bläst mir in den Rücken, als wolle sie mich vorantreiben, dennoch fühlen sich meine Beine zentnerschwer an, als ich mich zwinge, geradewegs auf den Eingang des Clubs zuzugehen. Ich will das hier – will endlich Kontakt zu Menschen haben, die so sind wie ich.

Der für den Sommer typische Geruch von Wärme absonderndem Asphalt steigt mir in die Nase, aber noch kühlt es am Abend ordentlich ab. Trotzdem ist mir heiß. Mein Haar ist im Nacken schweißnass. Der Wind verschafft mir etwas Abkühlung und weht mir Haarsträhnen ins Gesicht, als Einladung, mich hinter ihnen zu verstecken. Stattdessen klemme ich sie mir, in einem Anflug neuen Mutes, hinter die Ohren und straffe die Schultern.

In dem Versuch, möglichst cool zu wirken, stecke ich meine Hände in die Jackentaschen und schlendere auf die Warteschlange vor dem Club zu. Die rot leuchtenden Lettern darüber ziehen mich wie magisch an. Ich will dort hinein. Und gleichzeitig rast mein Herz, als wolle es mir aus der Brust springen, wenn ich noch einen einzigen Schritt tue.

Die Schlange ist überraschend kurz, sodass ich nicht lange warten muss, bis ich bei den Türstehern ankomme.

Die Zeit, in der ich von einem der breitschultrigen Kerle fixiert werde, kommt mir ewig vor und ich merke, wie ich langsam rot werde. Oh, bitte nicht! Ich weiß, wie ich aussehe, wenn mir die Hitze vom Hals aus die Wangen emporklettert und in meinen Ohren landet: wie eine überreife Kaki. Eine böse Kombination mit meinen roten Haaren. Aber vielleicht fällt es gar nicht auf, bei dem rötlichen Lichtschein, den die Leuchttafel mit dem Schriftzug Love auf mich herabbwirft.

Endlich signalisiert mir der Securitybär mit einem maskenhaften Nicken, dass ich eintreten kann. Ich muss mich beherrschen, nicht zu offensichtlich erleichtert die Luft auszustoßen. Rasch husche ich an dem bulligen Typen vorbei ins Innere des Clubs. Im Eingangsbereich empfängt mich der Geruch nach Alkohol und Parfüm, welcher es in seiner Intensität doch nicht schafft, das herbe Aroma von Schweiß und zu vielen Menschen auf zu engem Raum gänzlich zu überdecken. An der Kasse bekomme ich einen Stempel in Form eines Frosches auf den Handrücken gedrückt, die Blondine wünscht mir mit einem Lächeln »Viel Spaß«. Den werde ich haben – hoffe ich zumindest. In meinem Magen tobt ein aufgeregtes Kribbeln, als würde sich ein ganzer Bienenschwarm darin warm tanzen.

Aus den Boxen wummert mir ein buntes Gemisch der aktuellen Charthits entgegen, zu der sich auf der Tanzfläche mehrere Paare amüsieren. Viel zu lange klebt mein Blick förmlich an den sich im flackernden Licht bewegenden Körpern. Dahinter verbergen sich eindeutige Aussagen. Verlockungen. Offensive Angebote. Mir vorzustellen, sie könnten mir gelten, bringt meinen Herzschlag aus dem Takt, denn das ist es, was ich mir wünsche. In weitem Bogen um die Tanzenden herum, steuere ich die Bar an, an der ich mich auf einen Hocker setze und die schönen Menschen beobachte. Überall, wo nicht geknutscht wird, flirten Männer miteinander. Heimlich beobachte ich sie und versuche, mir Gesten einzuprägen. Sich vorbeugen, dem anderen tief in die Augen sehen, eine unterschwellige Berührung hier und da.

»Hey, Süßer, möchtest du was trinken?« Mit einem hinreißenden Lächeln beugt sich der Barkeeper über den Tresen.

»Später vielleicht. Danke.«

»Gerne.« Er zwinkert mir zu und gibt mir damit das Gefühl, attraktiv zu sein.

Nach ein paar Minuten lässt meine Nervosität nach; ich entspanne mich, verliere mich in den Bässen, nicke zur Musik und wippe mit dem Fuß. Hier sind alle wie ich. Männer, die Männer lieben. Und nichts ist schlimm daran.

Ich bin froh, den Schritt gewagt zu haben und hergefahren zu sein, bin stolz darauf, dass ich nach langem Zögern endlich den Mut aufgebracht habe. Selbst wenn ich heute niemanden kennenlernen sollte, ist allein schon dieser Anblick von Normalität es wert.

Ein hübscher Kerl mit dunklen Locken, geblümter Hose und schwarz umrandeten Augen schlendert an mir vorbei, nimmt Blickkontakt auf, wirft mir ein Küsschen zu.

Vor Aufregung halte ich die Luft an. Ob er mich ansprechen wird? Aber nein, er läuft einfach weiter. Ich muss schmunzeln. Komischer Typ, aber seinen Style finde ich cool.

Neben mir lehnt sich jemand gegen den Tresen, ich spüre, wie ich von der Seite betrachtet werde. In meinem Nacken kribbelt es. Ein paar Sekunden lang zwinge ich mich, zu widerstehen, bevor ich mich dem Mann zuwende.

Wow! Ein hinreißendes Lächeln mit blitzenden Zähnen empfängt mich und blaue Augen, umrandet von vollen Wimpern, ziehen meinen Blick magisch an.

Der Typ fasst meine Hand und zieht mich auf die Tanzfläche – ohne ein Wort, doch auf seltsame Weise habe ich das Gefühl, dass etwas zu sagen unnötig wäre. Ein Ruck und ich bin ihm ganz nah, seine Hand liegt fest auf meinem Rücken und wir wiegen uns im Takt. Ich bin jetzt mittendrin im Geschehen, gehöre dazu, bin einer von denen, die ich beobachtet habe. Das fühlt sich verdammt gut an. Ebenso der feste Männerkörper, der sich an meinen presst. Hmm, er riecht gut – nach einem dezenten Aftershave. Er wirbelt mich herum und bringt mich mit schrägen Moves zum Lachen. Ich fühle mich, wie ich mich schon lange fühlen will. Begehrt. Unbeschwert. Losgelöst.

Der nächste Song ist softer und unser Tanz wird heißer. Unsere Unterkörper reiben aneinander. Meine Kehle ist plötzlich ganz trocken, vor Aufregung schwirrt mir der Kopf. Was hier geschieht, kommt mir unwirklich vor, als befände ich mich in einem Traum. Einem wahr gewordenen Traum. Der Fremde sieht mir tief in die Augen, schiebt die Hand über meinen Rücken hinauf, bis zu meinem Nacken und küsst mich. Seine Lippen auf meinen, die feuchte Zunge füllt meinen Mund. Ich bin überrumpelt, weiß nicht, was ich davon halten soll, ziehe mich jedoch nicht zurück. Meine Neugier überwiegt und nach dem ersten Schreck wird der Kuss besser und fängt an mir zu gefallen. Er schmeckt nach Zigarette, Kirsche und einem Hauch Alkohol.

Als ich anfange, das Knutschen so richtig zu genießen, lässt der Typ von mir ab.

»Komm mit!«, raunt er mir ins Ohr und fasst meine Hand.

Meine Haut bitzelt am ganzen Körper und die Musik kommt mir jetzt viel zu laut vor. Seine Hand fühlt sich zu warm an und das Strobolicht lässt seine Bewegungen abgehackt wirken. Wo will er mit mir hin? Überrannt von Sinneseindrücken lasse ich mich von ihm mitziehen, zwischen Menschenmassen und Schweißwolken hindurch, Stufen hinauf, einen schmalen Gang entlang. Ich finde mich auf den Toiletten wieder, werde in eine Kabine gedrängt und an die Wand gepresst. Das darauffolgende Klicken verrät mir, dass der Fremde abschließt.

»Wie heißt du?« Ich möchte schließlich wissen, mit wem ich knutsche – auch wenn die Frage möglicherweise ein wenig spät kommt.

»Is’ doch egal.«

Ein erneuter Kuss verschließt meinen Mund und erstickt jedes weitere Wort, das herauskommen will. Ich würde diesen Mann gern erst näher kennenlernen, aber seine Zungenspitze tippt meine an und verscheucht meine gedankliche Frage, ob ich das hier will, in die Schattenregion meiner Hirnwindungen.

Der Kuss hat etwas Verbotenes, fühlt sich verrucht an, ist aufregend. Die Dynamik liegt außerhalb meiner Kontrolle. Ich bin nur passiv beteiligt, erliege meiner Trunkenheit, die nichts mit Alkohol zu tun hat. Mein ganzer Körper besteht aus Intensität und was sich in meinen Lenden abspielt, durchströmt mich in Gänze.

Der Kerl lässt seine heißen Lippen meinen Hals entlangwandern und fingert zugleich an den Knöpfen meiner Jeans herum. Da wird mir schlagartig klar, in welche Situation ich mich gebracht habe. Energisch drücke ich ihn von mir weg.

»Stopp!«

»Was is’ denn?«

»Ich will das nicht.«

Ein feixender Ausdruck legt sich auf das Gesicht meines Gegenübers. »Bist du ’ne Hete, oder was?« Sein Berliner Dialekt fällt mir erst jetzt auf, aber wir haben bis jetzt so gut wie nicht geredet.

»Was?« Dann wäre ich hier aber falsch.

»He-te-ro.«

Schon klar … »N-nein.« Der Typ kommt plötzlich so arrogant rüber – das verunsichert mich.

»Oh nee, ick hab mir ’ne Jungfrau anjelacht.«

Mist! Ich werde wieder rot. Nichts wie raus hier. Ich dränge mich an dem Berliner vorbei und öffne das Schloss der Kabinentür. Mit gesenktem Kopf, um niemanden ansehen zu müssen, stürme ich zum Ausgang.

»Schade«, ruft er mir hinterher. »Vielleicht sieht man sich später irgendwann wieder … wenn du entjungfert bist.«

Erschrocken sehe ich über meine Schulter und fange im Spiegel den wissenden Blick eines Mannes auf, der sich die Hände wäscht. Geht es noch peinlicher? Ich möchte bitte zu einer Pfütze zerlaufen, in die Fugen der Fußbodenfliesen kriechen und im Abgrund versickern.

Schnell mache ich, dass ich aus dem Klo verschwinde. Nach Hause will ich jedoch trotz der unangenehmen Situation noch nicht, bin ja erst vor Kurzem angekommen. An der Bar bestelle ich mir bei dem blonden Schönling ein Colabier, um den Geschmack des Kusses loszuwerden. So habe ich mir den ersten Kontakt zu Gleichgesinnten nicht vorgestellt, obwohl mir das Knutschen an sich sehr gefallen hat. Das würde ich gern wieder tun. Ausgiebig. Am besten stundenlang. Nur vielleicht besser mit einem anderen Kerl.

Dankend nehme ich das Glas vom Barkeeper entgegen und zahle direkt. Wieder ernte ich sein süßes Zwinkern, aber jetzt ist es mir unangenehm. Nach zwei großen Schlucken atme ich auf und betrachte den bräunlichen Bierschaum, der in sich zusammenbricht und in der Mitte einen Krater bildet. Eine Bewegung neben mir lässt mich aufsehen.

»Entschuldige. Ich hab das eben auf der Toilette mitbekommen.« Es ist der Mann, dessen Gesicht ich im Spiegel gesehen habe. Er kaut Kaugummi und lächelt mich breit an. »Ich heiße Olaf. Wenn du willst, helfe ich dir.«

»Hi. Ich bin Simon«, erwidere ich, froh, dass die Scham nicht aus meiner Stimme herauszuhören ist. In meinen Ohren glüht sie nach wie vor.

Wir reichen uns die Hände. Olaf ist schlank, in etwa so groß wie ich und hat hellbraunes, leicht gewelltes Haar. Volle Lippen, engstehende Augen. Keine auffällige Erscheinung, aber charismatisch, was nicht zuletzt an diesen ausgeprägten Augenbrauen und der hohen Stirn liegt. Und an seiner Ausstrahlung von Gelassenheit.

Er wirkt etwas älter als ich ... Mitte bis Ende Zwanzig, schätze ich.

»Wie willst du mir helfen?«

Ich bekomme ein schelmisches Grinsen zur Antwort. Die letzte Bemerkung des Berliners fällt mir wieder ein: … wenn du entjungfert bist. Olaf hat das Gespräch mit angehört und will mir helfen. Ist doch logisch, worum es hier geht. Gibt es eine Steigerung von Schamesröte? Wenn ja, dann brennt sie gerade auf meinen Wangen.

Olaf zieht einen kleinen Kugelschreiber aus der Brusttasche und schreibt seine Nummer auf einen Bierdeckel. Als er ihn mir reicht, streift mich sein nach Minze riechender Atem. Inmitten dieses Gemischs aus Gerüchen nach Bier, Parfum und menschlichen Ausdünstungen, ist diese Frische ein angenehmer Kontrast.

Ich betrachte die Nummer. Frankfurter Vorwahl. Er ist also von hier.

»Überleg es dir einfach und ruf mich an, wenn du willst. Keine Verpflichtung. Kein Stress.« Olafs Lächeln gibt mir ein warmes Gefühl. Es ist ein schönes Lächeln – ein bisschen James-Dean-mäßig. Gefällt mir.

»O-okay. Danke!«

Er wirft mir noch ein Zwinkern entgegen, dann dreht er sich um und geht.

Sein Gang drückt Selbstsicherheit aus und hat etwas von einem Cowboy. Der Raum zwischen seinen Beinen erinnert an ein langgezogenes O, was ich irgendwie sexy finde.

Die Menge schluckt ihn. Weg ist er und ich fühle mich plötzlich, als würde ich doch nicht hierher gehören. So schnell ich kann, trinke ich mein Bier aus und verschwinde aus dem Club.

Mein Auto steht im Parkhaus. Ich muss zehn Minuten laufen. Schritt für Schritt entspanne ich mich, als würde die abendliche Luft mir den Kopf freipusten. In der vergangenen Stunde bin ich ganz schön verunsichert worden.

Ich denke zurück an die Zeit, als ich gemerkt habe, dass ich schwul bin. Damals war ich sechzehn und hatte eine Freundin. Eine hübsche. Jenny. Alle Jungs haben mich beneidet. Aber wenn sie mich geküsst hat, war es mir unangenehm. Deshalb habe ich kurze Zeit später Schluss gemacht. An diesem Abend habe ich mit meinem besten Freund Martim auf dem Dorffest ein paar Hütchen getrunken. Cola mit Rum. Das Zeug hat scheußlich geschmeckt, war aber so billig, dass wir gleich mehrere runtergekippt haben.

Die volle Wirkung hat auf dem Heimweg eingesetzt. Martims Wohnung war nicht weit weg vom Dorfplatz und dort angekommen wollte ich keinen Schritt mehr weiterlaufen, deshalb bin ich zur Übernachtung bei ihm geblieben.

In dieser Nacht habe ich begriffen, warum mir Jennys Küsse nicht gefallen haben: Ich war in meinen besten Freund verknallt. Dank des Alkohols gab es keine Hemmungen.

Küsse, Streicheln, heißer Atem. Doch dann haben wir beide registriert, was wir taten und haben so plötzlich damit aufgehört, wie wir angefangen hatten. Von da an hat ein Schatten über der Freundschaft geschwebt und uns auseinandergetrieben, doch kurz darauf musste Martim sowieso mit seiner Familie nach Portugal zurückkehren.

Wir haben uns nie wiedergesehen.

Eine ganze Weile habe ich darunter gelitten, aber der Schmerz ist mittlerweile verblasst. Dennoch denke ich noch oft an meinen ehemals besten Freund, der mir nicht nur die Augen in Bezug auf mich selbst geöffnet, sondern mir auch meine erste Erfahrung in Sachen Nahkontakt mit Männern geschenkt hat.

Trotzdem bin ich erst jetzt, nach drei Jahren unerfüllter Wünsche und Sehnsüchte, zum ersten Mal in einen Schwulenclub gegangen, um meinesgleichen kennenzulernen, in der Hoffnung, Freunde zu finden. Womöglich auch jemanden, der sich in mich verliebt und ich mich in ihn. Nicht sofort natürlich, aber nach einer Weile.

An meinem Wagen angekommen, fasse ich in meine Hosentasche, um den Schlüssel hervorzuholen, und ertaste den gefalteten Bierdeckel.

Werde ich Olaf anrufen?

Ja.

Nein.

Vielleicht.

 

* * *

 

Ein schmerzhaftes Pochen drängt sich in den Vordergrund meines Bewusstseins und schiebt die erschreckenden Bilder meines Traumes beiseite. Ich war inmitten von gesichtslosen Männern, die an mir zerrten. An meinen Armen, den Beinen und meinem Haar. Bis ich zu Boden stürzte und sie über mich herfielen.

Erleichtert darüber, aufgewacht zu sein, richte ich mich im Bett auf und sehe auf die Uhr. Erst sieben. Wer steht sonntags schon um sieben Uhr auf? Aber ich kann nicht mehr schlafen. Nicht mit diesem Höllenschmerz hinter meinen Schläfen. In der vergangenen Nacht habe ich lange wachgelegen und über Olafs Angebot gegrübelt. Ich sehne mich nach Zärtlichkeit, will den Körper eines Mannes spüren. In meiner Fantasie habe ich es schon oft getan.

Aber will ich es so? Mich ganz pragmatisch zum Sex verabreden? Ohne Verliebtheit und ohne den anderen wenigstens schon eine Weile zu kennen? Ich wünsche mir auch seelische Nähe, Vertrautheit, das Gefühl, sich auch ohne Worte zu verstehen … Aber ist das am Anfang überhaupt wichtig? Oder möglich? Das Gefühl von Zusammengehörigkeit könnte sich in einer sexuellen Beziehung entwickeln, nach und nach. Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie erfahren.

Andererseits bekomme ich Panik, wenn ich mir vorstelle, wie Olaf mich entjungfert. Mir ist klar, dass es kein Entjungfern in dem Sinne ist. Dennoch stelle ich mir Analverkehr unangenehm vor.

Ich fühle mich, als stünde ich an der Reling eines gigantischen Öltankers, kurz vor dem Sprung ins kalte Wasser, hinein in die Gischt der stürmischen See – ohne Rettungsring.

Kann und will ich das?

Ich kenne Olaf nicht. Vielleicht ist er gar nicht der, der er zu sein vorgibt.

Warum muss das Leben nur so kompliziert sein?

Stöhnend schwinge ich meine Beine über die Bettkante und stehe auf. Mit meinen Füßen schiebe ich die auf dem Boden verstreuten Klamotten aus dem Weg. Ich greife nach der Packung Aspirin, die auf meinem Schreibtisch liegt, und nehme gleich zwei Tabletten auf einmal. Mit einem großen Schluck aus der Wasserflasche spüle ich sie runter. Es schmeckt abgestanden. Den Rest kippe ich ins Waschbecken und muss von dem Geräusch prompt pinkeln. Mit der Morgenlatte ist das Zielen so gut wie unmöglich. Das Klo werde ich später saubermachen und dann auch meinen »Saustall«, wie Mam den für mich ausgebauten Dachboden nennt, aufräumen.

Ich wasche mich und putze meine Zähne, schlüpfe in Jogginghosen und beschließe, runter in den Keller zu gehen, wo mein Schlagzeug in einem schallisolierten Raum darauf wartet, dass ich meinen Frust abreagiere.

»Simon?«, erklingt die Stimme meiner Mutter aus der Küche, als ich vorbeistürmen will. Gezwungenermaßen strecke ich meinen Kopf hinein und grüße mit einem »Guten Morgen«. Meine Eltern sitzen beim Frühstück und sehen mich entgeistert an. »Du bist schon auf?«

»Konnte nicht mehr schlafen«, entgegne ich und zucke mit den Schultern. »Bin unten.«

»Warte, willst du nicht mit uns frühstücken?«, höre ich Mam noch hinter mir herrufen, aber ich kann ihr nicht antworten. Mein Körper steht unter Spannung, durch und durch bereit, endlich Dampf abzulassen.

Mit einem Seufzen drücke ich die Tür hinter mir zu und drehe den Schlüssel im Schloss herum. Ich will nicht gestört werden. Die Sticks liegen bereit, sie rufen nach mir. Wie von selbst wirbeln sie durch meine Finger. Das glatte Holz fühlt sich wunderbar vertraut an.

Seit über zehn Jahren spiele ich Schlagzeug. Wenn ich auf diesem Hocker sitze und mit dem Takt zerfließe, gibt es nichts Belastendes mehr in meinem Leben, dann rückt die Welt in den Hintergrund. Dann ist es egal, dass ich auf Männer stehe und damit meine Eltern enttäusche; egal, dass ich allein bin, obwohl ich nicht allein sein möchte.

Das, was unter der ruhigen Oberfläche meines Seins brodelt, kann mit jedem Hinabsausen der Drumsticks aus mir hinausfließen. Wie eine seichte Quelle dem Berg entspringt, beginne ich mit einem langsamen Rhythmus – bff dsch bff bff dsch. Ein Bach entsteht, in dessen Intensität ich mich nach und nach in der Schnelligkeit steigere – bff dsch bff dsch bff dsch dsch dsch. Der Bach mündet in einen Fluss, der zu einem reißenden Strom wird. Mit aller Kraft dresche ich auf Trommeln und Becken ein, sodass es an das Rattern eines Maschinengewehrs erinnert und meine Muskeln brennen.

Von meinem Frust ist nichts mehr übrig. Ich bin leer. Erschöpft lasse ich meine Arme sinken, lege die Sticks ab und wische mir über die feuchte Stirn. Obwohl ich nicht mehr bewusst darüber nachgedacht habe, weiß ich nun, dass ich Olaf anrufen werde.

Jetzt gleich!

 

* * *

 

Auf seinem Notizblock vermerkt Olaf die Maße der Fläche, auf der die Werbetafel nach der Fertigung befestigt werden soll. Sein Kunde ereifert sich über Farben und Formen und gestikuliert mit ausholenden Bewegungen. Olaf schreibt sich das Umsetzbare auf und seufzt innerlich. Dieser Auftrag nervt ihn jetzt schon und er ahnt, was ihm noch bevorsteht. Sicher wird es ein langes Hin und Her und viele Diskussionen über Kompromisse geben, bis alles passt. Um seine aufsteigenden Aggressionen zu unterdrücken, malträtiert er seinen Kaugummi, der schon längst nach nichts mehr schmeckt.

Der Kunde ist in diesem Fall der Freund eines Bekannten, deshalb auch das Treffen an einem Sonntag. Das macht er sonst nicht. Wochenenden sind ihm eigentlich heilig – vor allem die Vormittage, denn diese verbringt er seit einiger Zeit am liebsten mit Julian. Bei dem Gedanken an den Jungen schwappt ein Gefühl durch seine Adern, das er mit Licht assoziiert. Vielleicht, weil er genau das für ihn ist – ein Lichtblick in seinem stoischen Leben, das so sehr von Zwängen kontrolliert wird.

Wenn er hier fertig ist, will er Julian abholen. Er hat ihn furchtbar gern, aber genau das sollte er nicht. Zumindest nicht derart intensiv. Es wäre besser, etwas mehr Abstand zu halten, aber abgesehen davon, dass er das gar nicht will, würde es auch zu viele Fragen aufwerfen, wenn er sein Verhalten plötzlich ändern würde.

Sein Handy klingelt. Eine ihm unbekannte Nummer zeigt sich auf dem Display. Rufumleitung von seinem Festnetz. Er ahnt, wer der Anrufer sein könnte und verspürt dieses gewisse Knistern, das ihn anfangs immer erfasst.

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Olaf entfernt sich einige Schritte, bevor er das Gespräch entgegennimmt. »Ja?«

»Hi, Simon Knappe hier. Aus dem Club … Du hast mir deine Nummer gegeben.«

Es ist tatsächlich der hübsche Rotschopf. Seine Stimme klingt durch das Telefon niedlich. Olaf schmunzelt zufrieden. Er hat gehofft, dass Simon ihn anrufen würde, aber so recht daran geglaubt hat er nicht. Die Freude darüber hält er seiner Stimme allerdings vor, denn er spielt die Rolle des Verführers und gibt sich gern unnahbar.

»Ich erinnere mich.«

»Ja, also … ich rufe an, um dein Angebot anzunehmen.«

Er kann förmlich hören, wie Simon sich innerlich windet. Auf eine genaue Erklärung zu beharren würde ihm Spaß machen, aber dafür hat er jetzt leider keine Zeit.

»Ich könnte zufälligerweise direkt heute Abend – ganz spontan.« Seine Verabredung ist geplatzt, aber das behält er lieber für sich. »Hallo? Simon, bist du noch dran?«

»Heute Abend schon?« Simons Stimme klingt nervös. Das geht ihm wohl zu schnell. Da hilft nur provokante Offensive.

»Ja oder nein? Entschuldige, aber ich bin ziemlich in Eile.« Der Kunde wartet mit vor der Brust verschränkten Armen und grimmigem Blick. Was ist er froh, wenn er den endlich los ist. Die Visage geht ihm auf den Sack.

»Okay. Dann heute.«

»Gut. Bei dir oder bei mir?«

»Bei dir«, antwortet Simon ziemlich hastig.

Sehr gut, das ist ihm auch lieber. »Hast du WhatsApp?«

»Ja.«

»Deine Handynummer habe ich ja jetzt. Nachher schicke dir die Einzelheiten.«

Olaf verabschiedet sich und legt auf. Heute Abend wird es also doch noch aufregend. Frischfleisch! Ein Kribbeln zieht über seine Kopfhaut, den Nacken hinab und breitet sich auf seinem Rücken aus. Die Anfänge sind immer am aufregendsten. Einander kennenlernen, erste Berührungen, mit unbeholfenen Reaktionen spielen. Er liebt es.

Normalerweise trifft er sich mit einem neuen Schüler immer erst mal auf neutralem Boden. Bei einem ungezwungenen Gespräch merkt man am besten, ob die Chemie stimmt. Aber dieser Rotschopf hat etwas an sich, das ihn enorm reizt und dazu bringt, die normalen Abläufe über den Haufen zu werfen.

In gespannter Erwartung kehrt er an die Arbeit zurück und hofft, hier schnell abhauen zu können, damit er Julian abholen kann und ihm danach noch genügend Zeit bleibt, sich auf den Abend vorzubereiten.

 

2

 

Nachdem ich auf der Suche nach einem Parkplatz ein paar Mal um den Häuserblock gefahren bin, habe ich mich in eine eher kreativ einzustufende Parknische gequetscht und nun sitze ich unentschlossen in meinem Kia.

Ich habe all meinen Mut aufgebracht und es getan; habe Olaf angerufen und ein Treffen vereinbart. Und jetzt, da ich hier bin, will mich der Mut verlassen.

Bis auf den Namen und seine Adresse gibt es absolut nichts, das ich über Olaf weiß. Vielleicht bin ich die Motte, die geradewegs auf das kunstvoll gewebte Netz der Spinne zusteuert, angelockt vom Schimmern der klebrigen Seidenfäden, die entferntes Licht reflektieren und nur so wirken als besäßen sie eine eigene Lichtquelle.

Olaf könnte ein Serienmörder sein, der sein Opfer blendet, indem er deren Hoffnungen und Sehnsüchte aufgreift und diese zu erfüllen verspricht. Vielleicht ist der Gedanke an einen Serienmörder übertrieben, aber dieser Mann ist um einiges älter als ich. Er könnte ein Sadist und Vergewaltiger sein, der seine jungen Eroberungen zu sich kommen lässt, um sie sich dann brutal zu unterwerfen.

Aus meiner Hosentasche fische ich mein Handy und öffne den Chatverlauf bei WhatsApp.

Hi Simon,

hier meine Adresse: Triebstraße 49 (schräg gegenüber der Sparkasse) in Bergen Enkheim.

Nachname: Denker

Bitte sei um 20:00 Uhr da, ich lege Wert auf Pünktlichkeit.

Gruß Olaf

Ich lege Wert auf Pünktlichkeit – wie strange ist das denn bitte? Aber strange hin oder her – ich bin neugierig auf Olaf und außerdem will ich endlich meine ersten Erfahrungen machen und mit diesem James-Dean-Verschnitt kann ich mir das echt gut vorstellen. Er ist hübsch, hat eine angenehme Stimme und bewegt sich so geschmeidig. Und dann diese Erhabenheit, die er ausstrahlt – die finde ich total aufregend.

Er hat mir freigestellt, zu entscheiden, wo wir uns treffen. Das klingt nicht nach der Masche eines Serienmörders oder Vergewaltigers. Ein solcher würde eher darauf pochen, auf ein abgelegenes Grundstück zu kommen, wo niemand einen stören könnte. Oder so etwas in der Art. Andererseits weiß ich nicht, was Olaf gesagt hätte, hätte ich ihn um ein Treffen bei mir zu Hause gebeten. Was natürlich nie infrage käme, da meine Eltern im Haus sind und ich sie weder anlügen noch in Erklärungsnöte kommen will. Abgesehen davon ist es mir so rum ohnehin lieber, weil ich bei Olaf jederzeit abhauen kann, falls es mir zu viel wird – sofern er kein Serienmörder ist. Mir entschlüpft ein nervöses Kichern.

Gibt es einen Knopf, mit dem ich meine verrückten Gedanken abstellen kann? Mit beiden Händen fahre ich mir durchs Haar und versuche mich zu beruhigen.

Nach einem entschlossenen Durchatmen verlasse ich die vertraute Oase, die mein Kia mir bietet und schreite auf wackeligen Beinen zur Hausnummer neunundvierzig, hin und her gerissen zwischen gespannter Erwartung und Furcht vor dem Unbekannten. Da ist der Klingelknopf mit dem Namen Denker. Also bin ich richtig. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich trotz Trödelei pünktlich bin.

Nervös lecke ich mir über die Lippen und atme tief durch, versuche, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Das mache ich drei Mal, aber meine Aufregung will sich nicht legen.

Ich könnte einfach wieder in meinen Wagen steigen und nach Hause fahren. Noch ist nichts passiert … Aber wenn ich jetzt kneife, werde ich weiterhin auf der Stelle treten; es würde sich nichts ändern. Also halte ich die Luft an und drücke schnell auf die Klingel, ehe ich es mir anders überlege.

Mit dem Schrillen zieht sich mein Innerstes zusammen.

Zu spät.

Von jetzt an lässt es meine anerzogene Höflichkeit nicht mehr zu, einfach abzuhauen. Was meine Eltern davon halten würden, wenn sie wüssten, was ich heute vorhabe? Ein nervöses Kichern will aus mir herausbrechen. So wie mein Vater immer über Schwule spricht, könnte das in einem Herzkasper enden.

Ein Summen erklingt. Ich drücke meine Schulter gegen die Tür und trete in den kühlen Hausgang. Die zwei Stockwerke sind schnell erklommen und schon stehe ich vor Olaf, der mich mit seinem James-Dean-Lächeln empfängt.

»Schön, dass du da bist, Simon. Komm rein!«

Olafs Wohnung ist hell und es riecht angenehm frisch. Meine Nervosität legt sich etwas. In lässigen Bluejeans und offenem grauen Hemd über einem weißen Shirt macht Olaf eine gute Figur. Er trägt weder Schuhe noch Socken, wodurch ich seine nackten Füße betrachten kann. Lang, sehnig, gepflegt. Dieser Mann gefällt mir immer besser.

Er nimmt mir die Jacke ab und hängt sie an die Garderobe. Der Flur ist lang, die dunklen Dielen und das Weiß der Wände bilden einen perfekten Kontrast. In regelmäßigen Abständen hängen große Rahmen mit Schwarz-Weiß-Fotografien. Eine einsame Parkbank vor einer Trauerweide. Eine alte Fabrik, leerstehend und ziemlich heruntergekommen. Eine Baumkrone, über der ein Falke kreist. Jedes der Bilder drückt in seiner Schönheit tiefe Einsamkeit aus. Ich frage mich, ob sie Olafs Innerstes widerspiegeln.

»Hast du die selbst geschossen?«

Als Olaf die Bilder mit seinem Blick streift, umgibt ihn eine Melancholie, die sich mir auf die Zunge legt. Sie schmeckt bitter und süß zugleich. »Ja.«

»Sie gefallen mir.«

»Danke«, sagt er und es schwingt eine Aufrichtigkeit darin mit, als würde er nicht oft Lob zu hören bekommen.

Was für ein Mensch ist Olaf? Kontrollfreak, einsamer Cowboy und immer auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer? Das sind zumindest die Eindrücke, die ich von ihm habe, aber sicher steckt noch mehr in ihm … Vielleicht schaffe ich es, einen Blick hinter die Fassade zu erhaschen und seine Geheimnisse zu ergründen.

Er führt mich ins Wohnzimmer, das gemütlich eingerichtet ist. Das vollgestopfte Bücherregal, der ovale Tisch und der Fernsehschrank bestehen aus demselben dunkel gebeizten Holz. Vorhänge und Sofakissen sind in Grau gehalten. Ebenso der Teppich, der in der Mitte des Raumes liegt und jedes Möbelstück berührt. Alles wirkt so erwachsen, dass ich mir wie ein Kind vorkomme.

»Was hältst du davon, wenn wir uns einen Film ansehen und danach ein bisschen quatschen?«

»Okay«, antworte ich überrascht.

Olafs Augen funkeln, auf seinen Lippen liegt ein amüsiertes Schmunzeln. »Dachtest du, wir hüpfen sofort in die Kiste?«

Na ja. So in etwa. Ich spüre, wie meine Wangen vor Scham heiß werden, sehe zu Boden und zucke mit den Schultern. Lachend legt Olaf mir einem Arm um die Schultern und drückt mich kurz an sich. Er riecht gut, wie seine Wohnung. Sauber und frisch. Mit einem Hauch Minze.

»Mach es dir doch schon mal auf dem Sofa bequem.«

Als ich sitze, wendet er sich mir nochmal zu. »Ich möchte im Vorfeld meine Grenzen abstecken. Das Wichtigste ist: Ich bin nicht auf eine Beziehung aus. Es geht mir nur darum, dich ein Stück weit zu begleiten. In dem Tempo, das dir gefällt und wenn du so weit bist, gehen wir wieder getrennte Wege.«

»Hast du das schon öfter gemacht?«

»Ja. Ständig. Das ist mein Fetisch.«

Uff. Ich bin also Nummer soundsoviel in einer ewig langen Liste. Ob ich das gut oder schlecht finde, weiß ich noch nicht so recht.

»Mach dir keine Gedanken darüber. Wir lernen uns kennen und sehen, was der Abend bringt. Kein Zwang, kein Druck. Okay?« Olaf wirft mir über die Schulter hinweg ein beruhigendes Lächeln zu. »Was willst du trinken? Colabier?«

»Mein Lieblingsgetränk. Das hast du dir gemerkt, was?« Sehr aufmerksam. »Ich nehm gern eins.« Bei dem einen werde ich es belassen, denn ich muss ja noch heimfahren.

Auf dem Tisch stehen Schüsseln mit Knabberzeug. Salzbrezeln, Nüsse und Chips. Ich sinke ziemlich tief im Polster des Dreisitzers ein, deshalb lege ich mir ein Kissen in den Rücken. Schon besser. In dem Versuch, möglichst lässig dazusitzen, wechsle ich mehrmals die Position.

Ich bin furchtbar aufgeregt und stehe derart unter Strom, dass ich Olafs nackte Füße auf dem Parkettboden hören kann. Ich streiche mir die ins Gesicht fallenden Haare hinter die Ohren und tue so, als bemerke ich nicht, dass er den Raum betritt.

»Dein Bier.« Olaf hält mir die Flasche entgegen. »Magst du Fast & Furious? Ich habe den siebten Teil auf Blu-ray da.«

»Perfekt! Den habe ich noch nicht gesehen.« Dass ich keinen einzigen Teil der Reihe gesehen habe, lasse ich lieber unerwähnt.

Olaf legt den Film ein und lässt sich im Schneidersitz neben mir auf der Couch nieder. Während ich den abgedrehten Plänen der Jungs folge, entspanne ich mich mehr und mehr, knabbere Chips und trinke mein Bier.

»Vin Diesel … was für ein Mann.« Olaf legt seine freie Hand auf mein Knie. Seine Wärme dringt durch den Stoff meiner Jeans und sorgt für ein angenehmes Prickeln, das sich auf meiner Haut in alle Richtungen ausbreitet. Mein Herz klopft schneller.

»In Riddick finde ich ihn noch heißer«, erwidere ich, darum bemüht, möglichst entspannt zu klingen.

The Rock, der den verantwortlichen Polizisten spielt, wird in einen Kampf verwickelt. Die Explosion einer Granate befördert ihn mitten durch eine Glasscheibe aus dem zweiten Stock des Polizeigebäudes hinaus. Er landet mit Karacho auf einem Auto und überlebt den Sturz, obwohl seine Kollegin auf ihm gelandet ist.

»Diesen Muskelprotz würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen«, meint Olaf schmunzelnd.

»Da könnte wohl nicht mal ’ne Hete widerstehen.«

Die perfekte Gelegenheit, meinen neu aufgeschnappten Begriff anzuwenden. Dafür ernte ich ein James-Dean-Lächeln vom Feinsten. Es fühlt sich an, als würde mein Herz in meinen Bauch hinabrutschen.

»Ich könnte dir nicht widerstehen.«

Sein Gesicht kommt näher. Es ist so weit. Er wird mich küssen. Mein Puls rast. Ich beuge mich ihm entgegen, starre auf seinen zart schimmernden Mund, fühle mich von ihm angezogen und kann an nichts anderes mehr denken als den unausweichlichen Kuss.

Unsere Lippen berühren sich. Ich zittere, verliere die Kontrolle über meinen Atem. Mit Olafs Zunge dringt leckerer Minzgeschmack in meinen Mund. Nur zu gern lasse ich meine Zunge von seiner einfangen und erforsche neugierig seine Mundhöhle. Verliere mich in dem Kribbeln, das meinen ganzen Körper erfasst.

Dieser Kuss ist sanft, forschend. Nicht so nass und frivol wie der des Berliners im Club. Ich lasse mich von meinen Gefühlen lenken, umfasse Olafs Nacken, schiebe meine Finger in sein kurzes Haar. Spüre seinen Seufzer an meinen Lippen und tauche tief hinein in dieses Spiel der sich gegenseitig neckenden und streichelnden Zungen.

Olafs Hände fassen meine Hüften. Der Druck bedeutet wohl, dass ich auf seinen Schoß krabbeln soll. Ich komme der stummen Aufforderung nach und fühle die Ausbeulung in seiner Jeans. Kurz sehe ich in die vielfarbig gesprenkelten Augen, dann gebe ich mich wieder dem Kuss hin. Was unser Zungenspiel mit mir macht, ist der Wahnsinn. Ich bestehe von Kopf bis Fuß aus Lust. Mein Herz donnert derart gegen meinen Brustkorb, dass Olaf es sicher spüren kann.

Die Berührung unserer Körper, an einer extrem empfindlichen Stelle, sorgt dafür, dass ich richtig geil werde. Mein Kopf schwirrt, ich weiß nicht, wie ich mit meinen Empfindungen umgehen soll, das ist alles so unglaublich aufregend.

Olaf fährt mit beiden Händen unter mein T-Shirt, berührt meine nackte Haut. Die ungewohnte Berührung ist so intensiv, dass sie beinahe schmerzt – eine bittersüße Qual. Mit einem Stöhnen gebe ich mich dem Feuer hin, das mich erfasst. Ich habe das Gefühl, gleich platzen zu müssen.

 

* * *

 

Simons Küsse schmecken Olaf. Sogar außerordentlich gut. Dieser Rotschopf fühlt sich unglaublich an, schmiegt sich in seine Arme. Er gibt sich nicht so forsch wie manch anderer seiner Schüler. Diese Lenkbarkeit erfüllt ihn mit Zufriedenheit.

Simon atmet schwer, sein Körper bebt. Immer öfter bleibt sein Mund geöffnet, kommt dem Kuss nicht mehr hinterher. Olaf schmunzelt, fasst Simon am Kinn und sieht ihm in die fiebrig wirkenden Augen.

Dass er allein durch die Zungenschläge und die Reibung ihrer Unterkörper derart in Ekstase gerät, zeigt, wie unerfahren er ist.

»Du kommst ja fast«, sagt er amüsiert und bemerkt, wie die Sommersprossen mehr und mehr von der Röte auf Simons Gesicht verdeckt werden.

Verlegen senkt Simon seinen Blick. »Tut mir leid.«