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Inhalt

Einleitung

Teil 1: Mein persönliches Erwachen

Meine Karriere als Influencerin

Die Sucht geht weiter

Halb nackt auf einer Wassermelone

Die Reise meines Lebens

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Das Frauenbild auf Instagram

Der Privatjet und meine Mutter

Mein Digital-Detox-Wochenende

Die Hochzeit meines Kindheitsfreundes

Lästern 2.0

Instagram und das Berufsleben

Instagram und die Freundschaft

Warum Instagram uns neidisch macht

Teil 2: Die Welt der Influencer

Ist es erlaubt, die Influencer öffentlich zu kritisieren?

Wer ist ein Influencer?

Das Geschäftsmodell Influencer

Die Dauerwerbesendung der Influencer

Ein Tag im Leben von Instagram-Star Leonie Hanne

Die Macher der Influencer

Der Influencer-Wahnsinn auf dem Oktoberfest

Die Kaderschmiede der Influencer

Die Spielerfrau

Profitieren Luxuslabels von Kooperationen mit Influencern?

Teil 3: Auf der Suche nach der einen perfekten Instagram-Lösung

Dein Fragebogen zur Instagram-Nutzung

Wieso teile ich mein eigenes Leben?

Setzt mich Instagram unter Druck? Fühle ich mich gezwungen, Inhalte zu teilen?

Kann ich die Momente in der Realität noch genießen, wenn ich sie fotografiere?

Was habe ich davon, fremden Menschen auf Instagram zu folgen?

Macht Instagram mich glücklich?

Die Gretchenfrage: Soll ich komplett mit Instagram aufhören?

Nachwort

Danke

Endnoten

Für Thomas, Pia, Ira und Martha

Unsere Familie ist nicht perfekt, aber unsere Liebe ist echt.
Ihr seid die Lieben meines Lebens.

Für Caspar

Du bist mein für immer. Träumen wir doch den Traum der für immer anhaltenden großen Liebe gemeinsam. Wie dankbar ich sein kann, dich seit zehn Jahren an meiner Seite zu wissen.

Und schließlich für Roxy

Das Mädchen meines Herzens. Du wirst die Psychologin werden, die Deutschland braucht. Ich bin so unglaublich stolz auf dich.

TEIL 1

Mein persönliches Erwachen

Die Sucht geht weiter

April 2018

Der Schulleiter meiner Journalistenschule gibt das Reiseziel für unsere Recherchereise bekannt: San Francisco. Sofort denke ich an die Golden Gate Bridge, die bunt bemalten Häuser, das Hafenviertel Fisherman’s Wharf. Nicht weil ich selbst schon dort war, sondern weil mir dank Instagram die Stadt bereits bestens bekannt ist. Diese Fülle an traumhaften Kulissen möchte ich auch nutzen.

Bereits auf dem Hinflug, eingequetscht in der letzten Reihe der Economy Class, recherchiere ich nach den Instagram-Hotspots in San Francisco. Zum Glück gibt es WLAN: Wo fotografieren sich die Bloggerinas? Welche Cafés eignen sich für Instagram? Ich entdecke eine Schaukel im Wasser, Chinatown, eine hübsche Bäckerei und die typischen bunten Häuserfronten. Fleißig tippe ich die Ergebnisse meiner Recherche als Notizen in mein Handy. Der Sitznachbar neben mir schnarcht.

Nach der mir so ungeliebten Einreiseprozedur fahren mein Lieblingskollege Marius und ich in unser Hotel. Wir checken ein, treffen uns danach in der Lobby, laufen zu einer typisch amerikanischen Bar. Marius bestellt sich einen Burger. Und ein Bier. Ich bestelle ein Glas Wein. Wir besprechen unseren Plan für den nächsten Tag. Unsere Kollegen kommen erst am nächsten Abend an. Wir zwei haben frei. »Marius, würdest du morgen ein paar Bilder von mir für mein Instagram-Profil machen? Ich habe da so tolle Locations gefunden«, frage ich ihn beiläufig, während ich an meinem Wein nippe.

Marius, zu gutmütig für diese Welt, sagt sofort zu. Er ahnt an dieser Stelle noch nicht, was ihm blüht. Am nächsten Tag stiefeln wir los. Unser Ziel: Chinatown. Kaum angekommen drücke ich Marius mein iPhone in die Hand und posiere in meinem Pünktchenkleid, gepaart mit schwarzen Stiefeln und meiner Elefantentasche der Marke Loewe. Mitten auf der Straße. Die vorbeifahrenden Autos stören mich nicht. Ich lache in die Kamera. Und versuche, den Gesichtsausdruck meiner Schwester zu kopieren. Sie hat ein richtiges Fotogesicht. Und Marius: fotografiert emsig.

Die Minuten verstreichen, ich bitte ihn um mein iPhone, da ich meine Bilder kontrollieren möchte. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Fotos sind schrecklich. Sehe ich in der Realität etwa auch so schrecklich aus? Wahrscheinlich. Ein neuer Plan muss her: Dann soll Marius mich eben von hinten fotografieren. Während ich laufe, schüttele ich meine Haare, lasse sie durch meine Finger gleiten, damit Bewegung entsteht. Das sorgt für mehr Volumen.

Als Marius mir das fertige Bild zeigt, bin ich begeistert, falle ihm um den Hals. »Danke. Danke. Danke. Was für ein Foto. Soll ich dich auch mal fotografieren?« Marius wirkt verwundert, als habe er mit dieser Frage gar nicht gerechnet. Aber er will. Er posiert für mich, wirft seine Lederjacke nach links und nach rechts. Nach wenigen Schüssen ist er bereits zufrieden. Sein Shooting hat vielleicht zwei Minuten gedauert. Meines bestimmt zwanzig. Eher mehr.

Danach schlendern wir durch die Straßen San Franciscos. Unsere Handys stecken jetzt in unserer Jackentasche. Aus Marius’ Tasche erklingt das Lied Señorita von DSDS-Gewinner Pietro Lombardi. Wir grölen mit. Tanzen. Ein echter, purer, wahrer Glücksmoment. Nach unserem ausgiebigen Bummel durch San Francisco treffen wir abends auf die anderen Volontäre, erzählen von unserem Instagram-Tag. Ich registriere, wie mitleidig meine Kollegen Marius anschauen und betone, dass man durch die Instagram-Spots die schönsten Ecken San Franciscos entdecken könne. Marius nickt. Das sei wirklich so, bestärkt er mich.

Am nächsten Tag geht es weiter. Zunächst besichtigen wir die Nachrichtenredaktion von Bloomberg. Danach brechen Marius und ich zur Golden Gate Bridge auf. Nach einer langen kostspieligen Taxifahrt und einer noch längeren Suche finden wir endlich die ersehnte Schaukel. Das Panorama ist noch schöner als auf den Fotos der Bloggerinas. Flink schwinge ich mich auf die Schaukel, strecke meine Beine vor und zurück. Und Marius fotografiert. Es entstehen über achtzig Fotos von mir. Immer in derselben Position. Die einzige Variation: Mal lache ich in die Kamera, mal schaue ich weg. Danach fotografiere ich meinen Kollegen. Kurz. Nach dem Shooting brechen wir auf, hören Musik und tanzen. Mitten auf der Straße. Momente wie diese sind das, was man Sekundenglück nennt.

Am Abend liegen meine Mitvolontärin Hannah und ich in unseren Betten. Ich bearbeite fleißig meine Bilder, strecke ihr mein Handy hin, präsentiere ihr fröhlich die Auswahl:

»Hannah, was meinst du? Welches Foto ist das beste?«

Leicht genervt nimmt Hannah mein Handy entgegen. Sie ist kein Instagram-Girl. Stirnrunzelnd schaut sie sich die Fotos an, entgegnet: »Nena, du wirkst immer so verdammt selbstbewusst. Warum machst du plötzlich deinen Wert von Instagram-Likes abhängig? Das ist traurig. Wir erleben hier gerade so eine Wahnsinnsreise, und anstatt dass wir uns jetzt über unsere Erlebnisse austauschen, zwingst du mich aus Bildern, die alle gleich aussehen, das schönste auszusuchen.«

War ja klar, dass Hannah so denkt. Aber ich gebe noch nicht auf: »Du hast ja recht, aber welches ist denn nun das schönste? Oder meinst du, ich soll einen anderen Filter verwenden? Vielleicht ist das Bild in Schwarz-Weiß noch eindrucksvoller?«

Hannah gibt mir mein iPhone zurück: »Nena, echt keine Ahnung. Nimm doch einfach das zweite.«

Verunsichert blicke ich sie an: »Wirklich? Na gut, dann nehme ich das zweite.«

Nachdem ich es hochgeladen habe, überprüfe ich meine Likes. Minütlich. Mein Bild erzielt 186 Likes. Und 19 Kommentare. Ich bin hochzufrieden. Ein guter Tag.

Am nächsten Morgen stehe ich extra früh auf. Zu dem Besuch einer entfernten Bäckerei mit beeindruckender Instagram-Leuchte konnte ich niemanden aus meinem Team überzeugen. Nicht einmal Marius. Dafür nehme ich ihm das Versprechen ab, am Nachmittag mit mir die Häuserfronten San Franciscos abzuklappern. Mein Navi zeigt fünfzig Minuten an. Kein Problem. Spazieren gehen mochte ich schon immer gerne.

Die Gegend wird ärmer. Und ärmer. Immer mehr Obdachlose kampieren am Straßenrand. Eine betrunkene Frau rempelt mich an. Ich fühle mich unwohl, aber gehe stoisch weiter. Ich möchte unbedingt diese Bäckerei finden. Nach unzähligen Verirrungen erreiche ich sie. Endlich. Eine riesige Schlange hat sich vor dem Laden gebildet. Macht nichts. So kurz vor dem Ziel gebe ich nicht auf. Ich drängele mich vorbei und betrete den winzigen Laden.

In der Auslage liegen Donuts, Croissants und Brötchen. Das war’s. Völlig unspektakulär. Egal, ich bin ja nicht zum Essen hier. Ich betrachte die Wände, blicke mich suchend um: Wo ist denn nur diese rosa Wandleuchte mit den ausgestreckten Fingern? Ah, da ist sie. Die Farbe stimmt: Neonrosa. Doch in der Realität ist sie viel kleiner als auf den Instagram-Fotos der anderen. Ich bin enttäuscht. Das war’s? Das soll alles sein? Dafür bin ich jetzt so früh aufgestanden? So eine Art Wanddekoration gibt es doch überall. Auch in Düsseldorf, meiner Heimatstadt.

Und die Bäckerei? Könnte nicht weniger glamourös sein. Ohne ein Foto zu machen, verlasse ich den Laden und laufe zurück. Was für ein Reinfall. Beim Frühstück erzähle ich nur ausgewählten Kollegen von meinem missglückten Instagram-Morgen. Dass ich eine knappe Stunde lang durch düstere Viertel auf der Suche nach einem Instagram-Hotspot lief: viel zu peinlich für die große Runde.

Die Tage vergehen. Ich gewinne Eindrücke, die meine zukünftige journalistische Arbeit prägen werden. Und es entstehen Erinnerungen, die nachhaltig mein Herz berühren. Die wichtigste berufliche: die Besichtigung der Headquarter von Google und Facebook. Die schönste private: eine Nacht ohne mein Handy. Mit Blick auf die funkelnde Bay Bridge. Und Wein. Viel zu viel Wein.

September 2019

Generell empfand ich meine San-Francisco-Reise als sehr gelungen. Bis zu einem denkwürdigen Abend in München. Hannah, die mittlerweile nicht mehr meine Kollegin, aber immer noch meine Freundin ist, ist angereist. Um ein Event zum Thema Female Empowerment zu besuchen. Sie übernachtet bei mir. Bei einem Glas Wein sitzen wir in meiner winzigen Küche zusammen, schwelgen in Erinnerungen, und ich erzähle ihr von meinem Buchprojekt. Und wir sprechen über San Francisco. Hannah gesteht: »Nena, weißt du, keiner der Volontäre, außer vielleicht Marius, wollte mit dir auf Tour gehen. Wir hatten einfach keine Lust, für dich den Fotografen zu spielen. Ich fand unseren Abend heute echt schön, weil du überhaupt nicht an deinem Handy warst. Das war während unserer San-Francisco-Reise leider echt anders.« Hannah muss es wissen: Wir haben uns neun Tage lang ein Doppelzimmer geteilt.

Notiz an mich selbst:

Keine Instagram-Spots mehr recherchieren.

Aufhören, mir die Welt durch die Instagram-Posts der anderen anzuschauen.

Städte ohne Instagram erkunden.

Halb nackt auf einer Wassermelone

San Francisco war nicht mein einziger missglückter Instagram-Urlaub. Es gab weitere. Speziell eine Sommerreise mit meiner Familie nach Kroatien war für mich rückblickend ein einziges Instagram-Fiasko.

August 2018

Grün-rot mit schwarzen Punkten. Meine tägliche Begleiterin im Sommer 2018. Eine Luftmatratze in Form einer Wassermelone. Bereits beim Kauf überlege ich mir, ob die Matratze gut für meinen Instagram-Auftritt sein könnte und recherchiere. Das Netz ist sich einig: Einhörner out, Essen in. Na also, passt doch. Ich drücke auf den Bestell-Button und hoffe, dass sie rechtzeitig ankommt. Während ich bestelle, freue ich mich schon auf sieben erholsame Tage mit meiner Mutter Ira, meiner Schwester Pia und meiner Kindheitsfreundin Roxy. Auch zwei Freundinnen meiner Mutter und ihre Töchter sind mit von der Partie. Ein richtiger Girls-Trip eben.

Einen Tag vor unserer Abreise nach Kroatien ist meine Wassermelone endlich da. Jetzt muss ich sie nur noch in meinem Koffer unterbringen. Die Challenge beginnt. Ich packe ein und aus. Entscheide mich zwischen zwei Sommerkleidern und lasse meine heiß geliebten Magazine und Bücher zurück. Es reicht trotzdem nicht.

»Nena, gibt es in Kroatien keine Luftmatratzen zu kaufen?«, fragt mich Caspar ungläubig, während er sich mein wirres Pack-Spektakel anschaut.

»Doch, aber bestimmt keine Wassermelone«, entgegne ich trotzig. Was für eine saublöde Frage.

»Kannst du bitte mal meinen Koffer schließen? Er geht einfach nicht zu«, herrsche ich ihn an. Langsam werde ich sauer, auf die Idee hätte er ruhig auch mal selbst kommen können. Männer!

Die Wassermelone wandert ins Handgepäck. Mein Koffer geht zu. Endlich. Die Reise kann starten.

Bereits in der Sicherheitszone am Flughafen beginne ich unseren Urlaub zu dokumentieren und halte fest, wie Roxy und ich durch die digitale Passkontrolle schreiten. Danach fotografiere ich die Wolken und filme, wie ich meinen Koffer durch den Staub hinter mir herziehe. Nach einer kurzen Autofahrt kommen wir in unserer Ferienwohnung an. Das Erste, was ich tue? Nach einer Luftpumpe fragen. Gemeinsam mit Roxy puste ich meine Wassermelone auf. Endlich. Die nächste Hürde folgt sogleich: In Kroatien gibt es keinen Strand, der Zugang zum Meer besteht aus Steinen. Angstvoll hieve ich meinen kostbaren Besitz über den Asphalt. Meine Luftmatratze muss schließlich noch einige Tage halten. Was bringen mir Fotos, auf denen ich bleich bin wie ein Käse? Eben. Gar nichts. Also Schritt eins: bräunen. Und zwar von morgens bis abends.

An Tag vier unserer Reise ist es endlich so weit, ich bin braun gebrannt, trage meinen neuen roten Bikini und binde mir ein bunt gemustertes Haarband um den Kopf. Komplementiert wird mein Look mit meiner dunklen Sonnenbrille. Marke: Dolce&Gabbana. Wer wohl die besten Fotos machen kann? Roxy sicherlich nicht. Sie ist kein Instagram-Mädchen. Auch meine Mutter fliegt raus. Zu ungeduldig. Entweder Pia oder ihre Freundin Alina. Ich entscheide mich für meine Schwester und frage sie beiläufig: »Pia, kannst du ein oder zwei Fotos von mir auf der Wassermelone machen?«

Genervt nimmt Pia mein iPhone entgegen. Sie weiß, was ihr jetzt blüht. Mit meiner Wassermelone im Arm gleite ich ins Meer und versuche, mich bestmöglich in Szene zu setzen. Natürlich ohne dass meine Haare nass werden. »Pia, es soll nicht zu gestellt aussehen, okay?«, rufe ich ihr zu, während ich meinen Bauch einziehe und mit meinen Beinen paddele, um auf Kurs zu bleiben. Dabei lächele ich gezwungen in die Kamera. Nach 15 Minuten steige ich aus dem Wasser, um mir die ersten Ergebnisse anzuschauen, und bin enttäuscht. Die Bilder sind der blanke Horror.

Pia hat sich einfach nicht genug Mühe gegeben. War ja klar, hatte sie doch von Anfang an keine Lust, mich zu fotografieren. Ich bin sauer. Neuer Versuch. Zurück ins Meer. Dieses Mal lege ich mich schräg auf die Melone und blicke bemüht gelangweilt drein. Ich will cool und lässig aussehen. Und Pia fotografiert. Dreißig Minuten lang. Dieses Mal bin ich zufrieden, verlasse den Strand und schlendere zurück zum Haus. Am Meer ist es einfach zu hell. Im dunklen Apartment lassen sich die Fotos deutlich besser bearbeiten. Flink öffne ich AirBrush und beginne mit der Bildbearbeitung.

Zufrieden mit dem Ergebnis schicke ich die Fotos an meine Freundinnen. Via WhatsApp. Während Clara und Jil in Düsseldorf Foto Nummer eins am besten gefällt, finden meine Mitreisenden Roxy, Alina und Pia das zweite besser. Die Mehrzahl siegt. Ich lade das zweite Bild hoch und kontrolliere minütlich die Likes. Auch wenn es okay läuft, bin ich unzufrieden. Wenn du jetzt meinst, dass ich das einzige Instagram-Opfer bin, muss ich dich enttäuschen: Täglich versenden Tausende Mädchen ihre Fotos an ihre Freundinnen, warten auf Feedback und kontrollieren minütlich ihre Likes.

Was mich rückblickend verwundert? Keiner meiner Mitreisenden äußerte Kritik. Nicht mal meine Mutter. Vielleicht, weil ihr klar war, dass es nichts bringen würde. Ich war dem Instagram-Wahnsinn verfallen. Heute, anderthalb Jahre später, frage ich mich, wie mein 26-jähriges Ich derart abhängig von einer App werden konnte, die sich rein um Äußerlichkeiten dreht. Eines ist sicher: Mein 16-jähriges Ich würde sich über meine Wassermelonen-Aktion kaputtlachen und lieber im Meer tauchen. Ungeschminkt. Ohne Haarband, Sonnenbrille, iPhone.

Ab und an vermisse ich mein 16-jähriges Ich, war es doch meinungsstark, selbstbewusst und unangepasst. Mir war die Meinung von anderen damals herzlich egal. Ich habe so wenig der gesellschaftlichen Norm entsprochen, dass ich fristlos entlassen wurde. Aus meiner Modelagentur. Der Grund: Meine Haare sollten für einen Laufsteg-Job gefärbt und kurz geschnitten werden. Ich war generell zu frech für den Job eines Models. Kaum ein Auftrag verging, ohne dass sich der Chef bei meinem Agenten beschwerte. Über mich. In einem halbdurchsichtigen Kleid für die Firma L’Oréal über den Catwalk stolzieren? Nicht mit mir. Monatliche Polaroids im Bikini? Was für eine Fleischbeschauung. Und erst das Catwalk-Training: Welch einfältige Beschäftigung! Die Rolle des wandelnden Kleiderständers missfiel mir zunehmend.

Aber was viel wichtiger ist: Kritik perlte an mir ab. Ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn ein Mann beim Casting meine unebenen Gesichtszüge bemängelte und dafür die Länge meiner Beine lobte, wurde ich nur eines: unfassbar wütend. Es berührte mich auch nicht, wenn Menschen in meiner Gegenwart darüber fabulierten, ob meine Nase nun zu lang, mein Mund zu groß oder mein Gesicht vielleicht doch besonders sei. Ihre Gespräche führten nur dazu, dass mein Traum, ein berühmtes Model zu werden, ebenso schnell verpuffte, wie er gekommen war.

Für mich ist unsere Instagram-Welt heute der verlängerte Arm der Model-Welt von damals. Nur, dass wir alle mitspielen. Wir sind Models, Fotografen, Auftraggeber und Kritiker. Wir entscheiden täglich, wer IN und wer OUT ist. Die Währung unserer Zeit: Likes und Follower. Und die Kritik in den sozialen Medien: schlimmer als zu meinen Model-Zeiten. Warum Werbeikone Verona Pooth in einem Interview mit mir Instagram als die nette Plattform bezeichnete, ist mir bis heute schleierhaft. Ich habe nur 4.760 Follower und erhalte trotzdem regelmäßig beleidigende Nachrichten.

Kostprobe gefällig?

»Mit deiner Hackfresse bringt dir deine dünne Figur auch nichts.« Der Absender: ein mir unbekanntes vielleicht 15-jähriges Mädchen. WOW. Die Männer von damals würden dem Mädchen bestimmt gerne zu ihrem scharfen Auge gratulieren. Sie wäre eine gute Modelagentin. Doch anstatt sie zu blockieren, antworte ich ihr, rechtfertige gar mein äußeres Erscheinungsbild. Danach frage ich meine Freundinnen, ob sie mich eigentlich hübsch finden. Ich bin mit 26 Jahren dünnhäutiger, als ich es mit 16 Jahren war. Vielleicht, weil ich mich dank Instagram täglich der Bewertung meiner Mitmenschen aussetze.

Was mir von meinem Kroatienurlaub bleibt? Eine Handvoll betrunkener Nächte. Hunderte Fotos. Kein einziger Glücksmoment, an den ich mich ein Leben lang erinnern werde. Doch wenn Instagram mir mein Urlaubsglück versiebt, gar dazu führt, dass die anderen Mitreisenden mich nicht leiden können, so wie es in San Francisco und teilweise in Kroatien der Fall war, und mich vielleicht gar für unsensibel halten: Was macht mich im Urlaub wirklich glücklich? Welche Momente berühren nachhaltig mein Herz? Und was war eigentlich meine unvergesslichste Reise?

Notiz an mich selbst:

Nie wieder auf einer Luftmatratze posieren.

Mir endlich einen analogen Fotoapparat anschaffen.

Meine eigenen Bedürfnisse nicht länger über die Interessen meiner Mitreisenden stellen.

Nicht länger die Gutmütigkeit der anderen ausnutzen. Niemand spielt gerne den Fotografen. Wirklich niemand!!!

Zurück zu meinem 16-jährigen selbstbewussten, unangepassten Ich finden.

Weniger Zeit auf Instagram verbringen.

Die Reise meines Lebens

Von meinen Reisen gibt es unzählige Fotos. Momentaufnahmen. WhatsApp-Aufnahmen für meine Familie. Retuschierte Aufnahmen für Instagram. Allein mein iPhone umfasst 16.364 Bilder. Aufgenommen innerhalb eines knappen Jahres. Nur von einem verlängerten Wochenende, das schon eine Weile zurückliegt, gibt es kein einziges Bild. Und das, obwohl es die wohl bedeutsamste Reise meines Lebens war und vermutlich für immer bleiben wird. Hätte ich meine Reise damals dokumentiert, wenn es Instagram schon gegeben hätte? Hundertprozentig. Ob die Reise ebenso bedeutsam für mich gewesen wäre? Auf gar keinen Fall, ich hätte den Großteil meiner Zeit an die App verschwendet.

Juni 2013

Ich studiere im zweiten Semester European Studies an der Universität Maastricht, und meine Reisebegleitung ist neunzig Jahre alt. Meine Uroma. Sie will mir ihre Heimat zeigen. In den Fünfzigerjahren aus der ehemaligen DDR geflohen, möchte sie mir ihr Elternhaus zeigen und dort Zeit mit ihren zwei Schwestern, ihrem Schwager und ihrem Neffen Dieter verbringen. Wir laufen zum Flieger. Sie ist nervös: »Nena, wenn du auch nur einem einzigen Menschen an Bord erzählst, dass ich noch nie geflogen bin, werde ich richtig böse.« Ich muss grinsen.

Wir warten, bis alle eingestiegen sind. Geniert sie sich doch vor den Mitreisenden, dass sie nicht mehr richtig laufen kann. Am Ende hieve ich sie die Stufen hoch. Eine nach der anderen. Wir nehmen Platz und bestellen uns einen Sekt. Verzückt blickt sie aus dem Fenster: »Nena, wir schweben. Ich fliege. Wirklich. Schau mal, wir sind über den Wolken. Sie sehen aus wie Zuckerwatte.« Nie sah sie jünger aus, nie war ich stolzer auf sie.

Und ich, die schon Hunderte Male geflogen ist, nehme die Welt unter mir zum ersten Mal wahr. Würde es diesen besonderen Moment geben, wenn ich bereits ein Social-Media-Junkie wäre? Vermutlich nicht. Wir würden Selfies machen. Die restliche Flugzeit? An die Filter-App AirBrush verschwenden.

Ihr Neffe holt uns vom Flughafen ab. Nach dreißig Minuten erreichen wir Hohenthurm, den Ort ihrer Kindheit. Die Straßen sind nicht gepflastert. Auch sonst sehen blühende Landschaften anders aus. Kein Wunder, dass meine Uroma geflohen ist, denke ich mir. Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich hier aufgewachsen wäre? Wir halten vor einem in die Jahre gekommenen Haus. Während sie mir das Gebäude und das Grundstück als das achte Weltwunder präsentiert, fühle ich mich fremd, fehl am Platz und verspüre plötzlich das unbändige Verlangen nach einer Zigarette. Ob es hier einen Kiosk gibt? Oder wenigstens ein Taxi, das mich in die nächstgelegene Stadt fährt? Wohl kaum. In diesem Kaff leben wohl nicht mehr als eintausend Menschen.

Mein Gefühl verfliegt in dem Moment, als die Schwestern meiner Uroma anfangen zu weinen, als sie uns erblicken. Nicht, weil sie meine Uroma lange nicht mehr gesehen haben. Vergeht doch seit ihrer Flucht kaum ein Jahr ohne ausgedehnten Heimatbesuch, sondern weil ich dabei bin. Stunden später sitzen wir in der Abenddämmerung beisammen. Essen und Wein werden gereicht, und die Familie schwelgt in Erinnerungen. Geschichten gibt es genug. Anekdoten aus fast einem ganzen Jahrhundert. Lebendiger Geschichtsunterricht eben.

Meine Uroma erzählt, wie ihr verstorbener Mann in Kriegszeiten Abend für Abend, nur in einem Hemd bekleidet, vor ihrer Arbeitsstelle wartete, um sie nach Hause zu begleiten. Als der Winter einbrach, nähte sie ihm einen Mantel. Aus Stoffresten. Es muss eine große Liebe gewesen sein, doch selbst Jahrzehnte später ist meine Uroma noch verwundert, warum er gerade sie auserkor. In ihrer Wahrnehmung hätte mein Uropa wirklich jede haben können. Während sie darüber referiert, wie großartig, wie schön, wie einmalig er war, erkenne ich in ihr die junge verliebte Frau wieder, die sie einst gewesen sein muss.

Auch über ihre Tochter, meine Oma, wird viel gesprochen. Wie lebensfroh sie war, wie pflichtbewusst, wie sie ihre erste Banane auf der Flucht aus der DDR von einem Lkw-Fahrer geschenkt bekam. Und obwohl ich sie nicht kenne, da sie Jahre vor meiner Geburt viel zu früh an Brustkrebs verstorben ist, soll ich viel von ihr haben, meint die Familie. Meine Uroma widerspricht: »Nein, Nena ist optisch das hundertprozentige Abbild von meinem Thomas, ihrem Vater, und hat den widerspenstigen Charakter ihrer Mutter geerbt. Die ist auch so unnachgiebig. Pia, ihre Schwester, hat viel von meiner Ilona. Nicht nur vom Aussehen.« Meine Uroma ist selig. Es ist einer dieser Abende, wo man sich danach sehnt, dass er nie zu Ende gehen mag. Und ich fühle mich vollständig. Angekommen.

Unsere Tagesabläufe während unseres weiteren Aufenthalts gleichen sich: Frühstück, Mittagessen, Kuchen, Abendessen. Gespräche. Erinnerungen. Mir, die normalerweise immer auf Achse sein muss, gefällt urplötzlich die Routine. Und dann gibt es plötzlich doch noch eine Unterbrechung: einen Friedhofsbesuch. Schweigend stehen wir vor dem Grab meiner Ururgroßeltern. Ich lege rote langstielige Rosen nieder, halte die Hand meiner Uroma. Ein berührender Augenblick.

Doch der Moment, der mich rückblickend in Tränen ausbrechen lässt, ist unser Abschied. Von ihrer Heimat. Die Schwestern meiner Uroma weinen. Sie nicht. Entschlossen läuft sie zum Taxi: »Nena, wir drei Schwestern werden uns in diesem Leben nicht mehr wiedersehen, aber das ist in Ordnung. Wir hatten neunzig gemeinsame Jahre. Wer hat das schon? Und du hast Hohenthurm gesehen. Das war alles, was ich noch wollte.« Von ihrer Härte überrascht, blicke ich aus dem Autofenster. Mein Blick ist von Tränen verschleiert. Sie nimmt meine Hand. Zum ersten Mal wird mir ihre Sterblichkeit bewusst. Ein Warnschuss: Sie soll recht behalten.

Zwei Jahre später trinke ich mit ihr und Roxy Jägermeister – wenige Meter vom Krankenhaus entfernt. Meine Uroma sitzt im Rollstuhl. Inklusive Katheter. Über den wir meinen Schal hängen, damit er die anderen Gäste des Restaurants nicht stört. Immer wenn ich weinen muss, ziehe ich meine Sonnenbrille auf, die mit den getönten Gläsern. Meine Uroma bemerkt das glücklicherweise nicht. Roxy schon. Sie ist nicht nur an diesem Abend bei uns. Sie ist die gesamte Zeit da. Ungefragt. Ungebeten. Sie spürt einfach, dass ich sie brauche. Und es vergeht kein Tag, an dem sie nicht irgendetwas für meine Uroma dabei hat. Ihr Obst vom Markt kommt gut an, aber am besten gefällt meiner Uroma das tigerfarbene Nagelset. Während sie für uns als Kinder Pfannkuchen backte, feilen wir ihr jetzt gemeinsam die Fingernägel, richten ihre Haare und unterhalten uns.

Von uns dreien entsteht kein einziges gemeinsames Foto. Wir kommen gar nicht auf die Idee, uns zu fotografieren oder ein Selfie zu machen, sind wir doch zu beschäftigt, die uns verbleibende Zeit zu genießen. Wir sehen auch mitnichten Instagram-tauglich aus. Roxy und ich sind die meiste Zeit ungeschminkt, tragen unsere Haare zum Zopf nach hinten gebunden. Mein Gesicht: geschwollen vom Weinen. Viel wichtiger: Ich denke gar nicht daran, Instagram zu nutzen, obwohl ich es bereits frequentiere.

Der Anruf meiner Mutter, dass meine Uroma gestorben ist, erreicht mich in der Bibliothek der Universität Maastricht, während ich für meine letzten Klausuren lerne. Sie weint. Ich selbst kann nichts sagen, lege auf, gehe zurück an meinen Schreibtisch und lerne stoisch weiter. Noch Wochen später leugne ich, dass meine Uroma nur noch in meiner Erinnerung lebt. Nicht mal meinen besten Freundinnen erzähle ich von ihrem Tod. Ich möchte nicht bemitleidet werden. Ich funktioniere. Wie ein Roboter. Bestehe meine Abschlussklausuren. Mit Traumnoten. In einem Fach gar als Jahrgangsbeste. Ich fühle: gar nichts.

Der Moment, in dem ich ihre Wohnung betreten muss, ohne dass sie da ist, ist nur eines: grausam. Von dem 92-jährigen Leben meiner Uroma bleiben nicht mehr als ein paar Fotos übrig. Und ein paar gerahmte Bilder von ihrer Tochter, meiner Mutter, Pia und mir, ihren Urenkelinnen. Warum gibt es nicht mehr Bilder? Zumindest nicht, weil es nicht genügend Momente gab. Meine Uroma erlebte diese einfach nur bewusster.

Eine Tugend, die mir fehlt. Heute bereue ich nicht, dass es von unserer Reise kein einziges Foto gibt. Mein Rückblick beflügelt mich mehr, als es ein Foto jemals könnte. Ich brauche auch keine Likes und Kommentare auf Instagram, um zu wissen, dass unsere Reise und die Abschiedsmomente mit ihr und Roxy nachhaltig mein Herz berühren. Das Einzige, was ich bedauere, ist, nicht mit ihr nach China geflogen zu sein. In ihr Sehnsuchtsland. Wären wir wenigstens mit dem Thalys nach Paris gefahren. Unser Wochenende hätte nicht länger als 48 Stunden gedauert. Acht Stunden weniger, als meine monatliche Instagram-Zeit beträgt.

Ich hoffe, sie weiß, was sie mir und meiner Familie bedeutet. Besonders meinem Vater, nicht ihr leiblicher Enkel, war er doch der Sohn ihres Herzens. Ihr Thomas. Wie stolz sie auf seinen Fleiß, seinen Mut und seinen Sinn für die Familie war. Es verging bis zu ihrem Tod kein Tag, an dem er sie nicht anrief. Er war immer für sie da. Obwohl sie nicht seine leibliche Oma war und er von meiner Mutter geschieden ist. Und sie? Dankte es ihm mit einer wahren Affenliebe. Für ihn hätte sie alles getan.

Notiz an mich selbst:

Bis zu meinem Lebensende mit Roxy Schad befreundet sein.

Mit meiner Mutter und meiner Schwester nach Hohenthurm reisen.

Endlich die aufgeschobene Griechenlandreise mit meiner Schwester nachholen.

Mit einem Glas Wein in der Hand durch das nächtliche Athen tanzen.