Marianne Labisch & Sven Klöpping (Hrsg.)

PARASITENGEFLÜSTER

Fiese SF-Storys

 

 

sternwerk 4

 


Marianne Labisch & Sven Klöpping (Hrsg.)

PARASITENGEFLÜSTER

Fiese SF-Storys

 

sternwerk 4

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Oktober 2017

Sven Klöppings sternwerk &

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Galax Acheronian

Illustrationen: Marianne Labisch

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Marianne Labisch, Sven Klöpping

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Sven Klöppings sternwerk

im Verlag p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

sternwerk.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 109 9

 


Wer nichts wird, wird Wirt! – Vorwort

 

 

Das Wort »Parasit« weckt spätestens seit dem Mittelalter vorwiegend negative Assoziationen. Hitler sprach fatalerweise vom »jüdischen Parasit«, die Menschen des Hochmittelalters verstanden darunter jemanden, der arbeitsscheu ist und sich »irgendwie« durchschlägt.

Dabei begann die Etymologie dieses Begriffs ganz anders. Denn in der Antike wurde als Parasit jemand bezeichnet, der mit Priestern und Göttern ein kultisches Opfermahl einnimmt. In dieser Zeit war der Parasit ein hoch geachteter religiöser Beamter. Wie kam die plötzliche Wendung zustande?

Nun, das Wort bedeutet »mit« oder »neben jemandem essen« (griech. »para sitos«). Im Zuge von Hungersnöten und Nahrungsmittelknappheit entlehnten die Menschen späterer Zeitalter diese Bedeutung aber nur in groben Zügen und verwendeten das Wort seither für einen »Schnorrer, der anderen das Essen wegnimmt«.

So schnell kann’s gehen: vom hoch geachteten Beamten zum nervenden Schnorrer und – schlimmer noch – zum Tier, das sich in anderen Lebewesen einnistet, um sich von deren Körpern zu ernähren. Denn das bedeutet »Parasit« heutzutage. Viele haben nun diese moderne (Be-) Deutung des Begriffes im Sinn, wenn sie aufs Cover dieses Buches schauen. Wenn man das Wort googelt, erscheinen Ergebnisse wie »Invasion der Körperfresser«, »gefährliche Parasiten« und Ähnliches.

Diese Anthologie versucht nun, dem Begriff »Parasit« einen Teil seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzugeben. Es war nämlich ausdrücklich erwünscht, dass Parasit und Wirt miteinander kommunizieren. Auf diese Weise müssen sich verschiedenste Protagonisten damit auseinandersetzen, welche Motive die von uns so gescholtenen Parasiten verfolgen. Es gibt nämlich nicht bloß gefährliche, sondern auch durchaus nützliche. So verhindern manche Würmer z. B. Darmentzündungen, andere Parasiten sind hilfreich bei Autoimmunerkrankungen und so weiter.

Die Autoren dieser Zusammenstellung beleuchten das Verhältnis zwischen (menschlichem) Wirt und (außerirdischem) Parasit auf eine Weise, die dem Leser ermöglicht, zu schmunzeln, Vorurteile zu überdenken, aber auch, sich zu Tode zu fürchten. Denn natürlich wollten wir die Splatterfans nicht enttäuschen!

So ergibt sich hier also eine bunte Mischung von SF-Storys, die das Thema Parasitengeflüster höchst unterhaltsam umsetzen und gleichzeitig die theoretische Auseinandersetzung mit Parasiten beleben.

Wir wünschen gute Unterhaltung beim Lesen dieser einzigartigen Geschichten!

 

Marianne Labisch & Sven Klöpping

Die Herausgeber

im September 2017

 


Tom Turtschi: Turnaround

 

 

Ich weiß: Ich spiele mit dem Feuer. Beim letzten Mal endete der Weg vor einer Fußgängerpassage und ich rammte beim Zurücksetzen ein Fahrrad. Ein Geparktes, ohne Fahrer – aber trotzdem: Ich schwor mir, künftig die kürzeste Route tunlichst zu vermeiden.

Wenn Sie sich auf die angezeigte Straße begeben, beginnt die Routenführung.

Die kürzeste Route verspricht sechsunddreißig Minuten weniger als die schnellste Route – ich kann nicht widerstehen. So könnte ich es gerade noch schaffen, ohne den Führerschein zu riskieren. Ich kann mir nicht erlauben, zu spät zu erscheinen. Ich geb mir alle Mühe, täglich in der Pole Position in den Tag zu starten, aber heute Morgen kam ich einfach nicht los. Bereits den Startschuss überhörte ich, vermutlich wischte meine Rechte das Klingelzeichen im Halbschlaf unwirsch zur Seite, nicht mal unter der Dusche kam ich auf Touren, schließlich schüttete ich schlaftrunken Kaffee über das weiße Hemd. Es war mein letztes im Schrank – aber lassen wir’s.

Zweigen Sie rechts ab.

Die Scheinwerfer schneiden Lichtkegel in einzelne Nebelschwaden, die sich aus den Vorgärten auf die Quartierstrasse wälzen. Es riecht nach Schnee. Das Display zeigt eine Temperatur von einem Grad Celsius. Es könnte zu Bodenfrost gekommen sein.

Es wäre mehr als peinlich – es wäre eine Katastrophe, wenn ich den Termin nicht schaffe. Ein Start-up, das zu spät kommt – nicht auszudenken! Wirklich genau die Message, die ich dem Finanzier vermitteln möchte – nein, da könnte ich die Übung gleich abblasen. Allerdings ist das keine Option. Dieser Bohringer ist die letzte Chance. Ich bin wild entschlossen, sie zu packen.

Fahren Sie im Kreisverkehr gerade aus. Nehmen Sie die dritte Ausfahrt.

Ich greife in der Jackentasche nach der Vape und inhaliere einige Züge. Unverzüglich beginnt das Ding zu kokeln und ein Dryburn verätzt und vergällt mir Lunge und Laune. Ich hätte das Liquid gestern nachfüllen sollen. Ich werd’s auch ohne Nikotin schaffen. Ich kann mir den Adrenalinstoß durch das Gaspedal verpassen – ich verstehe nicht, warum immer ich in die Rücklichter von landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen starren muss! Die Mittellinie ist durchgezogen, aber auf der Gegenspur provoziert gähnende Leere. No risk, no fun. Blinken, beschleunigen – also denn! Nur mutig drauflos.

Halten Sie sich rechts. Nehmen Sie die erste Autobahnauffahrt.

Das Problem mit den Strohballendealern und Frischmilchfördertechnikern wird sich erübrigen: Auch die kürzeste Route kennt die Autobahn. Der Verkehr ist dicht, aber flüssig. Ich fahre gleich auf die Überholspur und werde diese bis auf Weiteres nicht mehr verlassen.

Fahren Sie neun Kilometer geradeaus.

Ich atme durch – ich bin auf Kurs. Magisch zieht das Navi meinen Blick auf sich, und mit jeder Minute, um die sich die Ankunftszeit verringert, steigt meine Laune. Seeblick drei, Altistaad: keine Ahnung, wo das liegt. An irgendeinem See, wobei See zu viel gesagt sein dürfte: Die Karte zeigt einen verschwindend kleinen blauen Fleck am Rande einer Siedlung, bevor das Gelände in straßenloses Niemandsland übergeht. Eine winzige Pfütze in den Voralpen, ein Wochenendidyll für gut betuchte Städter. Ich meine das nicht despektierlich, immerhin erwartet mich an den Gestaden dieses Gewässers eine schicksalhafte Begegnung, und Seeblick drei tönt nach Noblesse, Weite, Erhabenheit. Bohringer trug mir auf, seine Mail auszudrucken, um sie dem Pförtner am Eingang der Gated Community vorzuzeigen.

Die Mail liegt auf dem Nebensitz, zuoberst auf meinem Dossier. Daran soll es nicht scheitern. Ich habe mich vorbereitet, allerdings – ein taktisches Handicap – konnte ich über Bohringer kaum etwas in Erfahrung bringen. Ein Finanzier mit Neigung für ausgefallene Ideen, sein Risikokapital steckte in den absonderlichsten Unternehmungen. Er hatte sein Geld mit der Trust SA gemacht, nur blieb mir auch nach einer zweistündigen Recherche schleierhaft, was genau die Trust SA sein soll. Ein diffuses Konglomerat mit Dienstleistungen und Beratungstätigkeiten im Finanzsektor, reichlich abstrakt. Mit der Gameindustrie scheint er nichts zu tun zu haben. Ich kenne grundsätzlich gerne mein Gegenüber – im Fall Bohringer muss ich mich mit seiner Bereitschaft begnügen, mich zu empfangen. Nach den demütigen Erfahrungen der letzten Wochen ist das mehr, als ich hoffen durfte.

Den Speech hab ich grob skizziert. Zu einer finalen Präsentation konnte ich mich in den vergangenen Tagen nicht durchringen – was sollte ich betonen, wie vorgehen, um Bohringer ins Boot zu holen? Ich werde einnehmend lächeln, ich werde unsere Entwicklung mit dem Brustton tiefster Überzeugung vorstellen. Das fällt mir nicht schwer, ich glaube an die Potenz unserer Innovation. Selbstverständlich, Herr Bohringer, unsere Software ist ein Knaller, ein absoluter Game Changer. Evolsoft wird die Games verändern, intelligente Charaktere, völlig offene Spielverläufe, aber unsere Innovation ist nicht nur für die Spieleindustrie interessant, der Ansatz der Programmierung ist im Kern revolutionär. Ein Meilenstein in der KI, Googles Deep Learning verhält sich dazu wie ein Affengehirn zu Einstein. Die Einsatzmöglichkeiten sind unbegrenzt. Wir liefern die Grundlagenforschung, Sie tragen die Geschäftsideen bei – und Ihr Geld wird sich vermehren wie Kaninchen. Im Grunde ist mir klar, was ich sagen muss, aber in dieser saloppen Art kann ich das natürlich nicht an den Mann bringen. Easy – ich habe noch über vier Stunden, um an der Wortwahl zu feilen.

In einem Kilometer halten Sie sich rechts.

Ankunft elf Uhr dreißig – ha, ich habe zwölf Minuten gutgemacht!

Ich fühle, heute wird das Bangen ein Ende finden. Ist auch an der Zeit. Meine Mittel sind aufgebraucht, der Restbetrag vom Crowdfunding reicht kaum für die nächsten Löhne. Die Jungs sind angefixt und zu vielem bereit, aber längst nicht so leidensfähig wie Uma. Wenn die Kohle fehlt, springt mir die meuternde Horde von Bord. Uma würde ein Paddel packen und versuchen, den schlingernden Kahn in den nächsten Hafen zu rudern, wie aussichtslos die Situation auch ist, Uma würde kämpfen.

Halten Sie sich rechts. Fahren Sie auf die A sieben.

Ich könnte Bohringer von Uma erzählen. Es ist immer gut, eine Geschichte mit dem Anfang zu beginnen – und immerhin hatte Uma alles angeschoben. Ohne Uma gäbe es kein Evolsoft, sie ist Herz und Hirn von unserem Projekt. Gerne wüsste ich sie jetzt neben mir, aber sie verabscheut nichts so sehr wie Elevator Pitches. Zudem war sie in den letzten Tagen wieder verstockt, in sich gekehrt.

Uma – die kleine Tamilin mit dem Pagenschnitt und verdrückten Gesicht sprach leise, stockend, als sie im Seminar zum ersten Mal ihre Ideen des »Evolution Programming« skizzierte. Rasch wandten sich die Studenten von ihren abstrakten Ausführungen ab und ihren Tablets zu. Auch der Professor ging nicht auf sie ein, er bedankte sich mit einem konsternierten Blick, einem knappen Nicken, dann reichte er das Wort an den nächsten Studenten weiter.

Fahren Sie neununddreißig Kilometer auf dieser Autobahn.

Ich suchte Uma nach dem Seminar in der Cafeteria auf. Sie saß alleine vor einem Pappbecher und rührte mit abwesendem Blick endlos im dünnen Kaffee. Ich setzte mich und sie rührte und rührte und starrte. Erst nach meinem dritten Hallo nahm sie mich wahr. Sie dankte mir meine Aufmerksamkeit mit einem leisen Lächeln und bald mit einem sprudelnden Redeschwall. Offenbar war sie nicht gewohnt, dass ihr jemand zuhörte, und sie nutzte die Situation, indem sie alles gleichzeitig loszuwerden versuchte. Mehrheitlich verstand ich Bahnhof. Ihren argumentativen Ketten, mit denen sie die These untermauerte, Code müsse wachsen, nicht geschrieben werden, konnte ich nur der Spur nach folgen. Das Feuer in ihren Ausführungen und die Originalität ihrer Gedankengänge faszinierten mich aber umgehend.

Wir trafen uns öfter. Verdünnisierten uns in den Vorlesungen und verbrachten gemeinsame Stunden in der Cafeteria, im Park, oder abends in Harper’s Bar. Nach und nach tauchte ich in ihre Gedankenwelt ein. Die Idee, Programmcode aus sequenzierten DNS-Strängen zu züchten, war faszinierend. Uma hatte einige Semester in Biologie und organischer Chemie absolviert, aber mir fehlten die Grundlagen. Ich versuchte mich einzuarbeiten, recherchierte. Es gab kaum Material, das ihre Theorie stützte, aber das schien sie nicht im Mindesten zu kümmern.

An einem Sonntag im März erhielt ich eine SMS. »Hab’s geschafft!!! Um 20 h bei mir – du wirst staunen!«

Der Anfang und der Schritt von der Theorie in die Praxis war berauschend.

Genau zu dieser Zeit verstarb eine entfernte Verwandte – so entfernt, dass ich mich ungebrochen über die ansehnliche Erbschaft freuen konnte. Neben dem Geld steckte ich alle Energie in das Projekt, mietete Räume, beschaffte die Hardware und rekrutierte ein Dutzend Studenten. Wir gründeten Evolsoft. Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, Uma genügend Respekt zu verschaffen und die Jungs zu coachen, die in ihrem Schlepptau die Basisarbeiten verrichteten. Ich entdeckte meine Skills in Sachen Innovationsmanagement und Prozesssteuerung. Es lief wie am Schnürchen: Ein Team fütterte die Datenbanken mit den sequenzierten Bakterien, ein Zweites modulierte die Umweltbedingungen in den Brutsimulatoren. Uma traf die Auswahl, setzte die Kulturen an und initiierte die Evolutionsprozesse. Ein wahrer Geniestreich Umas bestand in den virtuellen Filtern, den Bots, die bei jeder Generation die Strings mit den gewünschten Eigenschaften aussortierten und in die nächste Runde schickten. Von Generation zu Generation entstand ein Code, der immer stringenter unseren Vorstellungen entsprach. Das alles hätte wenig genutzt, wäre es Uma nicht gelungen, den Biocompiler von Transtec derart zu modifizieren, dass er die genetische Source in Echtzeit in binären Code transkribierte. Der Compiler spuckte Plix aus, damit konnten wir arbeiten.

In einer zweiten Phase implementierte Uma mit einem Team rekursive Schlaufen: Neue Anforderungen und Bedürfnisse wurden direkt in die Ranges geleitet und lösten eine weitere Generationenfolge aus. Das heißt, die Software wurde lernfähig. Intelligent! Einer von der Crew schrieb eine Schnittstelle zu Far Cry: So ließ sich Colonel Sloan mit seiner Cyborgarmee Omega Force direkt mit Plix steuern und mit unseren Ranges koppeln. Ich war baff, mit welcher Cleverness der Bösewicht plötzlich reagierte, wie scharfsinnig und strategisch klug er alle meine Aktionen parierte. Die Sache mit dem Game begann als Spielerei: So konnten wir das Verhalten der Software recht einfach in einer offenen Welt testen. Rasch erfasste ich aber die Potenz der Sache. In der Gameindustrie liegen Milliarden bereit und wir waren auf dem besten Weg, in vernünftiger Zeit aus unserer Grundlagenforschung eine erste ernsthafte Anwendung zu zimmern.

In einem Kilometer folgt die Ausfahrt.

Ja – genau so werde ich Bohringer packen. Was könnte für einen Finanzier fesselnder sein, als der Prozess, wie aus einer genialen Idee eine marktfähige Anwendung entsteht?

Selbstverständlich gibt es auch Knacknüsse, das gehört zu jeder Entwicklung. Der Code ist mäßig stabil. Die Kulturen mutieren und verlieren in wenigen Generationen die gewünschten Eigenschaften. Es ist tricky, in den Teras von Daten, die der Just-in-time-Compiler ausspuckt, die für die Zucht geeigneten Stellen zu extrahieren. Der Code ist nicht nur dynamisch, zuweilen gebärdet er sich recht eigenwillig – vor einigen Tagen entwischte wieder eine ganze Range in die Cloud. Uma tobte (ich habe sie noch nie so erlebt!), verlangte nach neuen Proxyfiltern und Firewalls. Ich messe dem nicht weiter Bedeutung zu, das lässt sich lösen – wir brauchen nur etwas Zeit. Im Klartext: Wir benötigen finanzielle Mittel.

In fünfhundert Metern folgt die Ausfahrt.

Ubisoft, ZeniMax Media, Activision Blizzard, Electronic Arts, Take-Two Interactive, Egosoft, Crytec – ich habe sie alle abgeklappert. Die Vorzimmerdamen haben mich abgewimmelt wie eine lästige Fliege. Die Mails wurden nie beantwortet. Bohringers Zeilen schlugen wie der Blitz aus heiterem Himmel ein. Er berief sich auf unseren Treuhänder, der hätte ihm von unseren Forschungen berichtet und er wäre interessiert, die Sache näher kennenzulernen.

Fahren Sie von der Autobahn.

Gut kann ich hier raus. Der Frühverkehr wird sich auf dem städtischen Ring stauen. Die Ankunftszeit ist auf elf Uhr zwanzig gefallen, ich bin bestens unterwegs.

Natürlich werde ich Bohringer die Komplikationen nicht unter die Nase reiben. Ich muss eh auf der Hut sein, mich nicht in technischen Details zu verlieren. Für Laien ist das ermüdend, für einen Geldgeber nicht von Belang. Der User will, dass es funktioniert, wie ist egal, den Investor interessieren die potenzielle Anwendung und der Markt.

Fahren Sie im Kreisverkehr rechts. Nehmen Sie die erste Ausfahrt.

Der orangefarbene Schimmer in den Wolken am Ende der Straße kündet nicht die Dämmerung an: Nach den Autohändlern, Entsorgungsstellen und Billiganbietern taucht über einem mächtigen Flachdach eine strahlend gelbrote Muschel auf. Ich blicke auf die Armatur. Ich bin gut dran, es dürfte angezeigt sein, meine Tanks zu füllen, wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bietet. Ich blinke und fahre raus.

Im Handschuhfach finde ich eine 55/35/10-%-Mischung, X-tra-Blend. Ich befülle den Clearomizer, inhaliere einige Züge, steige aus. Es ist bitterkalt, der Himmel grau verhangen. Einzelne Schneeflocken rieseln zu Boden. Hoffentlich spielt mir das Wetter keinen Streich.

Ich tanke; ärgerlicherweise akzeptiert die Zapfsäule keine meiner Kreditkarten, so entrichte ich den Betrag im Shop bei einer übellaunigen Blondine in bar.

Wenn Sie sich auf die angezeigte Straße begeben, wird die Routenführung fortgesetzt.

Fahren Sie auf dieser Straße weiter.

Kaum hab ich die letzten architektonischen Scheußlichkeiten des Shopping- und Industriegürtels hinter mir, setzt Schneefall ein.

Die Überlandstraße zieht an Weilern und einzelnen Höfen vorbei, mündet in ein breites Tal und führt am Ufer eines Flüsschens den Berg hinan. Mit jedem Höhenmeter, den ich steige, nimmt das Schneegestöber zu. Die Scheibenwischer schalten in den schnellsten Modus, trotzdem wird die Sicht immer kritischer.

In der Ferne reflektiert die weiße Suppe ein auratisches rotes Pulsieren. Kurz darauf fahre ich auf den lichten Herzschlag eines Räumungsfahrzeugs auf. An Überholen ist nicht zu denken – glücklicherweise schwenkt das Fahrzeug vom Gemeindedienst nach einigen Kilometern in eine Seitenstraße ein.

Biegen Sie in zweihundert Metern links ab.

Ich behalte die Distanzanzeige im Auge.

So muss sich ein schwer kurzsichtiger Mensch fühlen, dem seine Sehhilfe abhanden gekommen ist: Viel weiter als über die Motorhaube reicht das Blickfeld nicht. Einige Meter Leitplanken, ab und zu ein Baum, der mir aus dem weißen Rauschen entgegenspringt – im Übrigen beziehe ich alle Informationen über die Gegend von den abstrakten Linien und Zahlen, die mein Navi auf die Scheibe projiziert.

Biegen Sie links ab.

Langsam werde ich nervös.

Ich fahre hinauf, soviel ist klar, aber genauso steigt die Ankunftszeit. Ich hoffe, Bohringer wird Nachsicht zeigen. Bei diesen Bedingungen ist eine kleine Verspätung kaum zu vermeiden.

Am Straßenrand taucht eine Gestalt auf.

Er mümmelt sich in einen altertümlichen, dunklen Filzmantel, der nackte Kopf guckt schutzlos wie ein Ei im Becher über den hochgeschlagenen Kragen. Zu Fuß unterwegs bei diesem Sauwetter – der hat Nerven!

Er schält eine Hand aus dem Ärmel.

Sucht offenbar eine Mitfahrgelegenheit. Er winkt. Stellt sich mitten auf die Straße.

Ich verlangsame, stoppe.

Ich öffne beim Beifahrersitz die Scheibe eine Handbreit. Bitterkalte Luft dringt durch den Spalt, vermengt mit Schneegestöber. Bevor ich realisiere, was passiert, reißt der Kerl die Tür auf und streckt den triefenden Kopf herein.

»Fahren Sie in die Stadt?«

Ich rette meine Papiere, packe das Dossier und werfe es auf die Rückbank. Er versteht das als Aufforderung, und eher ich realisiere, was vor sich geht, sitzt er im Auto und schlägt die Türe zu. Er beginnt, sich den Schnee aus dem Mantel zu klopfen.

»Ich fürchte, Sie irren sich: Ich bin in die Berge unterwegs. Bitte verlassen Sie mein Auto – ich bin in Eile.«

»Dann wenden Sie.«

Ich meine, mich verhört zu haben.

Fassungslos stiere ich auf den nassen, dampfenden Kerl. Er streicht eine grüne Haarsträhne aus dem Gesicht über den Glatzkopf – ein lächerliches, klägliches Überbleibsel eines stolzen Schönwetterirokesen. Der Junge ist keine zwanzig. Reglos starrt er in das Schneetreiben. Er macht keine Anstalten, den Wagen zu verlassen.

»Haben Sie verstanden: Ich habe Sie gebeten, auszusteigen! Ich fahre in die andere Richtung.«

»Ist auch gut.« Langsam dreht er den Kopf und fixiert mich aus übernächtigten Augen. Er streckt mir seine Hand hin. »Immerhin ist es warm hier drin. Angenehm – ich bin Plinky.«

Und ich perplex.

Vermutlich ist der ungebetene Fahrgast das kleinere Übel, als ein Handgemenge zu riskieren. Vor allen Dingen darf ich nicht tändeln; ich muss los. Die Räder greifen nicht, erst beim zweiten Anlauf setzt sich der Wagen schlingernd in Bewegung.

»Damit das klar ist: An der nächsten Bushaltestelle steigst du aus.«

Der Junge schweigt. Ein kurzer Seitenblick zeigt mir die Andeutung eines Nickens. Das reicht mir nicht.

»An der nächsten Haltestelle oder Bahnhof ziehst du Leine, verstanden!«

»Okay. Aber dazu müssen Sie wenden: Hier lang kommt keine Haltestelle mehr.«

Verärgert schweige ich.

Ich werde versuchen, mich auf das Treffen mit Bohringer zu konzentrieren und ihn übergehen, bis ich ihn rauswerfen kann. Überdies fordert die Straße meine Aufmerksamkeit, das schwarze Band vor mir verschwindet und beginnt mit der weißen Landschaft zu verschmelzen.

Verblüffenderweise ist die Straße stark befahren, immer wieder erschrecken mich entgegenkommende Fahrzeuge, hinter mir staut eine ansehnliche Kolonne. Nicht, dass sie drängeln – trotzdem bemühe ich mich, etwas zügiger zu fahren.

Biegen Sie in hundert Metern rechts ab.

»Das würde ich tunlichst unterlassen.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie dieser Plinky verstört auf das Navi starrt. Ich drossle die Geschwindigkeit, rolle auf die Abzweigung zu. Keine Schilder weisen auf die Verzweigung hin, unvermittelt biegen einige Reifenspuren in einen Feldweg ein.

Zweigen Sie rechts ab.

Ich zögere.

Stoppe.

Das sieht mir verdächtig nach einer Gemeinheit der kürzesten Route aus, einem arithmetisch korrekten Weg, der dann abrupt vor einem Bach, an einem Fußgängersteg oder einer Privatstraße endet.

»Bist du ortskundig?«

Plinky schweigt. Trotzig wie eine beleidigte Diva presst er die Lippen zusammen und ziert sich, mir zu antworten.

Mir gefällt die Vorstellung nicht, in einem Schneewall stecken zu bleiben. Der Zeitbonus ist aufgebraucht, jetzt liegen keine Experimente mehr drin. Langsam fahre ich an.

Bitte wenden.

Ich lasse mich nicht beirren. Auch geradeaus wird die Landstraße nach Altistaad führen. Im Rückspiegel bemerke ich durch den weißen Vorhang, wie der Wagen hinter uns den Blinker setzt und rechts abzweigt.

Wenden Sie, wenn möglich.

Seltsam – ob die Landstraße gesperrt ist? Ein Unfall, vielleicht war das eine Umleitung?

Fahren Sie auf dieser Straße weiter.

Entspannt sinke ich in den Sitz – das Navi hat den Kurs neu berechnet, die Ankunftszeit ist bloß um drei Minuten gestiegen.

Die Dämmerung ist längst vorbei, aber heute will es nicht richtig hell werden. Immerhin lässt der Schneefall etwas nach. Schweigend fokussiere ich die Straße. Ein Schniefen von dem Jungen fährt in das rhythmische Quietschen und Schmatzen der Scheibenwischer; er niest, putzt sich die Nase. Reibt die Hände, streckt sie in den warmen Luftstrom neben dem Handschuhfach. Er sieht mitgenommen aus, verschüchtert. Die Seidenhühner im Park des Campus fallen mir ein, deren Federpracht der Regen jeweils erbärmlich an die schlotternden, mageren Glieder pappte.

»Du bist also Plinky. Unterwegs in die Schule?«

»Ich muss in die Stadt. Sie werden mich in die Stadt fahren.«

»Hey – du bist ganz schön anmaßend!«

Meine emphatische Regung ist rasch verflogen. Ich sollte den Kerl auf die Straße stellen. Nur will ich hier nicht halten, die Route führt bergauf, wer weiß, ob ich wieder anfahren kann.

Auf der Gegenfahrbahn tauchen drei Wagen auf. Einer steckt im Straßengraben, zwei sind ineinander verkeilt. Also doch ein Unfall. Blechschaden, die Männer stehen diskutierend im Scheinwerferlicht. Keiner scheint verletzt. Ich drossle, fahre langsam vorbei. Nein, da braucht es mich nicht, sollen sie auf den Pannendienst warten.

»Die drei werden erfrieren. Wenn Sie nicht bald wenden, wird es uns gleich ergehen. Schalten Sie das Navi aus.«

Mein Missmut kippt in Ärger. Der Junge nervt. Er ist nicht anmaßend, sondern rotzfrech. Ich stoppe.

»Für wen hältst du dich eigentlich? Warum sollte ich mir solche Bemerkungen von einem ungebetenen Eindringling anhören? Zum allerletzten Mal: Jetzt steigst du aus, aber subito!«

»Der Leberegel«, grummelt Plinky, »wissen Sie, wie es der kleine Leberegel macht? Wie er in seinen Wirt, in das Schaf eindringt?«

»Aussteigen!«

Ich remple ihn an die Schulter, stoße heftiger, aber er weicht aus und weigert sich beharrlich, meiner Aufforderung nachzukommen. Er drückt sich an die Tür und beginnt zu dozieren: »Mit dem Kot der Schafe werden die Eier des Leberegels ausgeschieden … Schnecken verschlingen die Eier des Parasiten … sie entwickeln sich zum Larvenstadium, den Cercarien, die die Schnecken ausscheiden, umgarnt von einer Schleimhülle …«

Hinter mir beginnt ein Hupkonzert. Ich schalte in den zweiten Gang und rolle vorsichtig an. Die Reifen greifen.

»Die roten Waldameisen fahren auf diese Schleimballen ab, verschlingen sie und werden von den Cercarien befallen. Die Cercarien wachsen im Hinterleib der Ameisen heran und wandern in ihren Kopf. Dort dringen sie in das Nervensystem und beginnen die Ameisen zu steuern. Sie übernehmen die Kontrolle über die Beine, die Beißzangen, über ihren Willen.«

»Was soll dieser Quatsch? Halte den Mund!«

Plinky lässt sich nicht unterbrechen. Unbeirrt fährt er fort: »Abends, wenn die Ameisen in das Nest zurückkehren sollten, torkeln sie wie Zombies auf die Wiese, klettern auf Gräser und schlagen ihre Beißer in die Halme. Sie harren die ganze Nacht über aus, gebändigt von ihren Sklavenhaltern, den Leberegeln, die darauf warten, bis das Gras am kommenden Tag von den Schafen verzehrt wird. Samt der Ameise …«

»Was willst du mir mit dieser haarsträubenden Geschichte sagen? Mach dir keine Hoffnung: Mich zwingst du nicht zur Richtungsänderung. Du bist ein lästiger, kleiner Mitfahrer, aber ich bin noch lange nicht dein willenloser Wirt!«

»Nein! Nein, nein, Sie verstehen mich falsch. Das System ist befallen. Eine Art IT-Aids.«

Heute hat sich alles gegen mich verschworen. Als ob das lausige Wetter nicht reichen würde – ich muss mir zusätzlich einen psychotischen Jungen aufgabeln. Die Ankunftszeit zeigt vierzehn Uhr zehn. Bei diesen Umständen werde ich das nie mehr rausfahren können.

»Ich kann nichts dafür! Echt!«

»Ich habe doch gar nichts gesagt …« Unwirsch fahre ich Plinky über den Mund. Er lässt nicht locker. Unvermittelt packt ihn ein Mitteilungsbedürfnis.

»Zum ersten Mal bemerkte ich die Veränderung vor einigen Wochen. Beim Hack von einem MMPG. Ich schleuste den Code in den Core und der Shooter spielte unverzüglich verrückt. Ich konnte mir das nicht erklären, mein Hack war einwandfrei, dafür bürge ich – ich weiß, was ich mache! Die Jumps durch Wände, Locations und Levels funktionierten auch. Nur nicht in der beabsichtigten Weise. Meine Figur wurde zickig, machte, was sie wollte. Einer ganzen Reihe von Mitspielern erging es ähnlich, Entrüstung brandete durch die Community. Natürlich versuchte ich sofort, den Hack zu eliminieren. Nur konnte ich meine Zeilen nicht mehr finden. Die waren weg. Einfach verschwunden!«

»Du bist ein Hacker?«

Plinky nickte. »Ply-007!« Ich vernahm unverhohlenen Stolz in seiner Stimme.

»Du hast also dein Game abgeschossen.«

»Eben nicht! Mein Code war nicht mehr da, unauffindbar! Einige Tage später entdeckte ich mehrere Schnipsel in der Source des Games, die mir vertraut vorkamen. Zeilen, die ich benutzte, um die Constraints der Physik zu manipulieren – aber sie waren völlig umgebaut, Bestandteil eines kryptischen Quellcodes, den ich überhaupt nicht verstand! Ich kopierte die Stellen in eine Datei, um sie später zu analysieren. Am nächsten Tag waren meine Skriptfragmente verschwunden. Nurmehr ein Wust wirrer Zeichen.«

Biegen Sie in zweihundert Metern links ab.

Sein Geschwätz macht mich ganz konfus, und ich ärgere mich über mich selber. Kürzeste Route! Das entpuppt sich immer mehr als Random Walk durch weißes Rauschen, jetzt kurve ich seit Ewigkeiten durch die Pampa, irre über Wege und Pisten – und die Ankunftszeit steigt unerbittlich. Bohringer wird längst im nächsten Meeting sitzen, wenn ich ankomme.

Soll ich hier wirklich in den Waldweg abbiegen?

Ich warte auf den Protest Plinkys.

Er krümmt sich in den Sitz, wie eine Muschel in die Schale, ergeben und still.

Die zwei komprimierten Spuren, die sich im frischen Schnee zwischen den Bäumen verlieren, verleiten mich, es den Fahrzeugen vor uns gleich zu tun. Ich zweige ab. Ich sehe keine Alternative. Ich habe eh keinen blassen Schimmer, wo wir uns befinden.

Ich fahre vorsichtig.

Der Weg ist abschüssig.

Ich hoffe, dass ich den Wagen nicht aufsetze – der Prius liegt tief.

Ich bin mir nicht sicher, ob es meine zunehmende Verunsicherung oder Mitgefühl mit dem verängstigten Jungen ist, die Stille beginnt zu lasten. Ich suche das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

»Und was hat dein misslungener Hack mit dem Leberegel zu tun?«

»Es war Flea-03, ein Nerd aus Kansas, der den Aspekt eingebracht hat. Mir ist auch aufgefallen: Das ist kein üblicher Virus. Das sprengte die Möglichkeiten bei Weitem, was sich mit einem Schadcode anstellen lässt. Der Code mutierte und schrieb sich ständig um: Das erinnerte viel mehr an die Genetik von Lebewesen. Einzelne Zeilen hüpften wie Transponsons auf dem Erbgut, sprangen selbstständig an neue Stellen und formierten sich zu völlig neuartigen Sequenzen. Wie Aids, das sich den Filtern des Immunsystems permanent entzieht.«

Ich drehe die Heizung runter, wische mir den Schweiß von der Stirn. Dann betätige ich am Steuerrad den Anrufknopf, wähle auf dem Display Umas abgespeicherte Nummer. Als sich nichts tut, hangle ich das Smartphone aus der Tasche, kontrolliere, ob Bluetooth eingeschaltet ist.

»Vergessen Sie’s. Wird nicht gehen.«

»Scheiße. Wir befinden uns in einem Funkloch …«

»Nein. Das Netz ist tot. Vergessen Sie’s.«

Ich muss mit Uma sprechen. Ich habe das einzige und dringende Bedürfnis, mit Uma zu sprechen.

»Letzte Nacht entglitt alles. Um zwei Uhr haben sie die Server runtergefahren. Zu spät: Kurz zuvor explodierte der Code, wie eine prall gefüllte Blase und alles entwischte in das Netz. Parasiten, die sich ungebremst und exponentiell vermehren – wie die Eier des Leberegels im Darm der Schafe. Genau wie die HIV-Viren, in denen schlagartig der Killerinstinkt erwacht und die sich gnadenlos über die T-Zellen hermachen. Ich schätze, um sechs Uhr waren alle Prozessoren befallen, weltweit. Von den großen Rechenzentralen bis zu den Handys, den Herzschrittmachern, Kühlschränken, Weckern, Kreditkartenterminals, Kraftwerken – alles, was einen Chip in sich trägt, bringt der Parasit nach und nach unter seine Kontrolle. Haben Sie keine Nachrichten gehört? Das sollten Sie, solange noch gesendet werden kann …«

Wir rumpeln über einen Wurzelstock, beinahe ramme ich einen Baum.

Zittrig greife ich nach der Vape, lege sie umgehend wieder zurück, kralle beide Hände ans Steuerrad. Das ist doch Schwachsinn. Der einzige gefährliche Parasit ist die Paranoia des Jungen, die sich in mein Hirn einnistet. Verschwörungstheorien sollte man nicht aufsitzen, sondern über ihre Ungereimtheiten ad absurdum führen.

»Und wozu? Nehmen wir an, du hast recht: Was würde es den Parasiten nützen, alles lahmzulegen? Parasiten haben ein Interesse, ihren Wirt am Leben zu erhalten!«

Verständnislos schwappt Plinkys irrer Blick aus den rot gerandeten Tellern zu mir herüber.

»Aber das ist doch klar! Parasiten haben kein anderes Ziel, als sich selber zu reproduzieren. Sie optimieren die Bedingungen für ihre Replikation: Sie beanspruchen den Wirt für sich. Warum sollten sie bereit sein, die Hardware mit den Menschen zu teilen? Der Mensch ist ein Störfaktor. Der Mensch wird eliminiert …«

Ich reagiere schnell und trete auf die Bremse. Der Prius spricht nicht an und schlittert langsam den abschüssigen Weg hinunter.

»Festhalten!«

Der Aufprall ist nicht allzu heftig, ein dumpfer Knall, splitterndes Plastik, die Rücklichter des stehenden Wagens vor uns bersten. Dann gespenstische Ruhe.

Sie haben ihr Ziel erreicht. Die Routenführung ist nun beendet.

Ich lege den Rückwärtsgang ein – allerdings wird mir die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens rasch bewusst. Die Räder drehen durch. Sicher haben die Lenker der Wagen vor uns genauso versucht, freizukommen, irgendwann aufgegeben und sich zu Fuß aufgemacht. Das vorderste Fahrzeug ist umgekippt, bereits von Schnee bedeckt, dann folgt eine Kolonne von zehn, zwölf Autos, jedes mit der Kühlerhaube in das vorangehende verbissen, bis mein Prius das letzte Glied des weißköpfigen Tatzelwurms bildet.

Meine Fingernägel sind im Kunstleder des Lenkrades festgekrallt, die Lippen flattern. Ich starre auf die Fahrzeuge, kann den Blick nicht abwenden.

Plinky steigt aus. Endlich. Nur werde ich ihn nicht los, er geht um den Wagen herum, reißt die Fahrertür auf und zerrt mich raus.

»Wir müssen aufbrechen! Kommen Sie!«

Weit und breit kein See, es hätte auch nicht Altistaad sein müssen – irgendein Dorf hätte mir gereicht: Aber Stunden später beginnt es zu dunkeln und ich irre immer noch in den Fußstapfen Plinkys durch den Wald. Mehrmals weiche ich einer Schneewehe aus, die von einer Tanne runter donnert und mich beinahe erschlägt. Immer mehr beginne ich zu zittern, ich weiß nicht, ob vor Angst, vor Erschöpfung oder Kälte.

Plinky hält sich talwärts, wobei wir ständig vor dichtem Unterholz stehen, ausweichen müssen und wieder den Hang hochkrabbeln. Das Gelände ist zerklüftet, soll da einer verdammt noch mal schlau werden, wo es lang geht, um zurück in die Zivilisation zu gelangen.

Wir folgen einer Schneise, die vom Holzschlag im letzten Herbst stammen dürfte. Ich sinke erschöpft auf einen Strunk, Plinky treibt mich an – er drängt: Die Nacht würden wir hier draußen kaum überstehen.

Plötzlich schält sich zwischen den Bäumen eine Blockhütte heraus. Ein roher Verschlag, verrammelte Türen und Fenster, mit einer Scheiterbeige unter dem Vordach. Bänke und Tische säumen die Lichtung, ein Stapel leerer Bierkisten beginnt, sich in einen roboterartigen Schneemann zu verwandeln. Das Inventar für sommerliche Grillfeste.

Ich atme auf.

Plinky legt seine Hand auf meine Schulter und macht mit der anderen eine einladende Geste Richtung Hütte.

»Na, kein Dreisternehotel – ob die Unterkunft dem Herrn genehm ist?«

Ich deute ein Lächeln an. Das ist mehr, als ich erwarten durfte. Wenn auch mein Begehren vor einigen Stunden noch ganz anders gelagert war …

Plinky geht auf den Unterstand zu, zurrt einige Äste aus dem Holzstapel. Mit einem Tritt öffnet er die Tür, dann dreht er sich um und hebt die Augenbrauen:

»Rauchen Sie? Haben Sie Streichhölzer? Wir werden ein Feuer machen müssen.«

Ich klaube meine elektronische Zigarette aus der Tasche. Marke Prometheus. Aber Streichhölzer habe ich keine.

 


Arno Endler: The Extinction of Beloved Parasites

 

 

Der Tag, an dem Gaia zu mir sprach, begann mit rasenden Kopfschmerzen.

»Oh, verschissenes, verschnittenes Dope«, fluchte ich flüsternd, während ich mir die Augen rieb. Meine Entscheidung am gestrigen Abend, die Party nicht gegen Mitternacht zu verlassen, erwies sich für meine körperliche Konstitution als überaus belastend.

Ich setzte mich auf, stellte fest, dass ich irgendwie nach Hause gekommen war, obwohl ich keinerlei Erinnerung daran hatte, wie.

Ich schwang meine Beine aus dem Bett. Meine nackten Füße landeten in kalter Kotze, die den Fußboden zierte.

»Scheiße«, murmelte ich. Gott sei Dank roch ich nichts. Meine Nase war so zu wie nur möglich. Ich atmete durch den Mund.

Vorsichtig hob ich die Füße an und streifte die Sohlen an einer sauberen Stelle des Teppichbodens ab.

Dann stand ich auf und ging ins Bad, spülte meinen Mund mit Wasser aus, putzte mir die Zähne, kotzte in die Toilette und putzte die Zähne erneut.

»Was für eine heftige Party«, lobte ich mein Ebenbild im Spiegel.

»Wenn du dich nur an Einzelheiten erinnern könntest«, antwortete es mir.

Ich grinste, warf zwei Aspirin ein und ging zurück ins Schlafzimmer, wo ich stutzte.

In meinem speziell für mich angefertigten Kingsizebett lag auf der Fensterseite ein Körper unter der Decke.

Ich schien nicht alleine von der Party gekommen zu sein.

Selbst als ich lauschte, hörte ich keine Atemgeräusche oder irgendwas von dem Menschen, der unter der Decke vergraben lag.

Langsam umrundete ich meine Schlafstatt, die ich sonst mit niemandem teilte. Am Fenster zog ich den Vorhang beiseite. Draußen strahlte die Sonne schon recht weit oben vom Himmel. Okay, nach vierzehn Uhr nicht ungewöhnlich.

Ich hob in der Nähe des Kopfkissens die Decke an und lupfte sie, bis ich Haare erkannte. Als ich weiter zog, entblößte ich nach und nach die glatte Haut eines sehr schönen Rückens und darunter zwei prachtvolle Pobacken, gefolgt von Beinen, die jede Sünde wert waren.

Ich deckte die Unbekannte vollständig auf.

Sie lag auf dem Bauch, mit leicht angewinkelten Beinen und trug keine Kleidung, was in diesem Fall wirklich kein Problem darstellte.

Hatte ich mit der Frau geschlafen?

Ihre langen Haare, zur Hälfte blond, zur Hälfte brünett, verdeckten ihr Gesicht. Wer war sie?

Plötzlich regte sie sich und drehte sich auf den Rücken.

Sehr ordentlich kam sie zum Liegen. Die Beine von sich gestreckt, die Arme neben dem Körper platziert, nur die Haare lagen immer noch über dem Gesicht.

Ich schluckte.

Volle, weiche Brüste mit dunklen Vorhöfen und hervorstehenden Nippeln, die zwei, vielleicht drei Zentimeter in die Luft ragten. Ihre Titten waren so groß, dass sie leicht an der Seite abfielen.

Ich betrachtete einen wunderschönen weichen Bauch, in dessen Mitte jedoch kein Bauchnabel zu sehen war, was mich irritierte.

Darunter erfreute mich das gebärfreudigste Becken, das ich bislang gesehen hatte. Breit, mit ordentlichen Fettvorräten an den Flanken, und ein dunkles, wohlgelocktes Dreieck, das noch nie ein Waxing erfahren hatte.

Ich schluckte erneut.

Vor meinen Augen lag das Urbild eines Vollweibes. Ich wurde augenblicklich geil.

Wie kam sie in mein Bett? Und weshalb konnte ich mich nicht erinnern? Und wo, zum Henker, war ihr Bauchnabel?

Ich beugte mich über den Bauch, um nach einer OP-Narbe zu suchen.

Sanft hob und senkte sich das weiche Fleisch. Ich suchte vergeblich.

»Guten Morgen, Pelle«, erklang plötzlich eine Stimme, so melodiös, so warm, so weiblich, so erregend, dass mir beinahe einer abging.

Die Unbekannte strich sich die Haare aus dem Gesicht und richtete ihren Oberkörper auf, in dem sie sich auf ihre Ellbogen abstützte. Mit einem sympathischen Lächeln sah sie mich an: »Bist du fündig geworden?« Sie nickte in Richtung ihres Unterleibs.

»Ähm«, entgegnete ich, was eine Meisterleistung meines Gehirns darstellte, das in einen vollkommen geistesabwesenden Modus geschaltet hatte.

»Ich bin Gaia, Pelle. Möchtest du mit mir schlafen?« Sie spreizte ihre Beine nur wenige Zentimeter. Ein Duft, so betörend wie berauschend, füllte mein Sein. Mein Penis stand wie eine Eins. Ich trug keinen Fetzen am Körper, also was hinderte mich?

Ohne ein Wort wollte ich es mir zwischen ihren Beinen bequem machen, doch als ich ihre Haut berührte, war es um mich geschehen.

Gaia betrachtete scheinbar amüsiert die Sauerei auf ihrem Bauch, den Oberschenkeln und Schamhaaren. »Na, das ging schnell, Pelle. Setz dich doch. Wir haben Zeit.«

»Was?«, stammelte mein Mund, den mein Gehirn nicht in den Griff kriegte. Ich schämte mich so. Vorzeitige Ejakulation gehörte nicht zu den Krankheiten, die mich sonst plagten.

Gaia setzte sich in den Schneidersitz, kümmerte sich nicht weiter um mein erkaltendes Sperma, das dem Gesetz der Schwerkraft folgte. Sie deutete neben sich und ich gehorchte und nahm ebenfalls Platz.

»Verzeih«, gelang es mir schließlich, eine Entschuldigung zu formulieren.

»Ist nicht schlimm. Wie ich schon sagte: Wir haben Zeit.« Sie lächelte, das Urbild einer Frau.

»Warst du auch auf der Party?«, fragte ich.

Gaia schüttelte den Kopf. »Ich traf dich auf dem Nachhauseweg, während du versuchtest, einen Baum zu umarmen.«

»Echt?« Ich war so froh, dass ich endlich Konversation betreiben konnte.

»Ja, ich fand das sehr sympathisch. Du wirktest wie jemand, dem die Bäume wirklich wichtig sind.«

Ich nickte mal bestätigend.

»Ich half dir auf, als du fielst, Pelle. Du hast geweint, weil du einen Baumschössling bei deinem Sturz geknickt hattest. Da wusste ich, dass ich den Richtigen gefunden hatte.«

»Den Richtigen?«

»Ja. Für meinen letzten Tag.«

Ich hätte ihr stundenlang zuhören können. Mein Pimmel reckte sich bereits wieder hoch, von der geballten aphrodisierenden Wirkung ihrer Stimme und Aura geweckt.

Gaia quittierte meinen Ständer mit einem Lächeln. »Du bist süß, Pelle.«

»Und du wunderschön.«

»Ich weiß.«

»Wo ist dein Bauchnabel?«, fragte ich.

Sie beugte sich zu mir, packte mit ihrer rechten Hand meinen Penis am Schaft und wichste ihn dreimal, was ausreichte, um mich erneut kommen zu lassen.

In mein Stöhnen hinein kam ihre Antwort: »Ich habe keinen.«

Als das wohlige Zucken endete, schaute ich traurig drein. »Das war eine Verschwendung«, behauptete ich.

Gaia lächelte. »Es ist Zeit.«

»Wer bist du?«, wollte ich wissen.

»Gaia«, sagte Gaia, als wenn dies alles erklären würde. Meinen ratlosen Gesichtsausdruck nahm sie zum Anlass, meine Wangen zu streicheln und mich sanft zu küssen. Dann meinte sie: »Frag doch lieber, wer du bist.«

»Bitte?«

Sie entstieg dem Bett, stellte sich vor das Fenster und starrte hinaus.

Ich beobachtete jede Bewegung ihrer Muskeln, ihres Fleisches und ihres bezaubernden Gesichts. Nichts an ihrer Erscheinungsform war weniger als perfekt. Wenn ein Schöpfer die ideale Verkörperung einer Frau hätte schaffen wollen, so wäre Gaia das Ergebnis gewesen.

»Wer bin ich?«, gehorchte ich.

Sie drehte sich um und lächelte gnädig: »Du bist ein Parasit.«

Das Wort sackte in mir, machte mir mein Herz schwer und ich fühlte mich traurig.

»Das ist nichts Schlimmes, denn auch ein Parasit hat ein Anrecht auf Leben«, ergänzte Gaia, während sie gleichzeitig ihre Brüste umfasste, als wenn sie diese zum ersten Mal berühren würde.

»Aber …«, stammelte ich, um unvermittelt zu weinen.

»Ach, Pelle«, hörte ich ihre Ohren schmeichelnde Stimme, dann spürte ich, wie sie meinen Kopf umfasste und mich an ihren Bauch drückte.

Und plötzlich verwehte die Trauer, machte einem tiefen Gefühl des Nachhausekommens Platz. Ich genoss es.

»Ich ein Parasit?«, war ich endlich in der Lage zu fragen. »Aber das kann nicht sein.«

»Doch, Pelle. Es ist so.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Gaia. Du wandelst auf mir, ich schenkte dir Leben, spende dir Luft und Wasser, ernähre dich und beobachte, wie du wächst.«

»Du bist die Erde?« Zwar fragte ich, aber in meinem Innern spürte ich längst, dass es stimmte.

»Ja, Pelle. Und alles, was auf mir kreucht und fleucht, sind geduldete Parasiten, die ich selbst erschuf.«

»Oh. So ist das.«

»Ja, so ist das. Und ihr Menschen habt es leider übertrieben, wie so viele vor euch, die ich schuf, duldete und liebte.«

»Wie meinst du das?«

»Ihr lebt über eure Verhältnisse, betreibt Raubbau an der Natur und damit an mir. Ihr vermehrt euch ungehemmt, sodass es bald nicht genug Platz und Nahrung für euch geben wird. Ich dulde dies nicht länger.«

»Aber du bist auch ein Mensch«, sagte ich, obgleich ich wusste, dass dem nicht so war.

»Ich wählte diesen Körper, optimierte ihn für meine Emanation, wie ich es immer tue, wenn ich den Parasiten den Garaus erkläre.«

»Es ist schon mehrfach geschehen?«

Gaia entließ mich aus ihren Händen, trat wieder an das Fenster meines Schlafzimmers heran und blickte hinaus. »Aber ja. Denn obwohl ich das Leben auf mir liebe, so muss ich mir eingestehen, dass ich keine perfekte Schöpfung erschaffen kann. Es liegen Fehler in den Anlagen, den Prämissen, die ich setze, die scheinbar zwangsläufig zu einem Prozess führen, an dessen Ende ich feststelle, dass ich es erneut versuchen muss.«

»Aber …?«

»Nein, Pelle. Es gibt keinen Ausweg. Um es in deinen Worten zu sagen. Ich drücke den Resetknopf. Alles auf Anfang. Vielleicht funktioniert es diesmal.«

Ich weinte. »Warum erzählst du mir das?«, fragte ich unter heftigem Schluchzen.

Sie drehte sich zu mir um. »Weil ich für das Kommende einen Gefährten benötige. So war es und so wird es sein. Komm her!«

Der Befehl traf mich wie ein Tsunami. Ich gesellte mich zu ihr, wunderte mich über ihre ausgestreckten Arme, in die ich sank.

Unsere nackten Körper teilten Schweiß, Sperma und Wärme.

Ein wallendes Pulsieren wogte in mich hinein. Ich hörte ihr Seufzen. Es klang befriedigt.

»Es ist soweit«, sagte sie. Dann schüttelte sie sich.

Ich spürte den Schrei. Das Aufbrüllen von vierzehn Milliarden Menschen, die gleichzeitig starben. Mit ihnen vergingen die Seelen allen tierischen Lebens.

»Es ist vollbracht«, murmelte Gaia, presste mich mit ihren Armen stärker in ihren weichen Körper und schüttelte sich erneut.

Gewaltige Erdbeben fegten über den Planeten Erde, Vulkane spuckten, Meere tobten, Wolken weinten und die Atmosphäre verbrannte in einem einzigen Atemzug.

Wir schwebten.

Schwefelhaltige Luft hätte mich vergiften müssen, doch ich atmete scheinbar unbeeindruckt.

Die Genesis eines unbeschwerten Anfangs leuchtete in feurigem Rot, schmutzigem Braun und grünlichem Blau unter mir.

»Es beginnt von Neuem«, sprach Gaia die Schöpfungsworte. Gemeinsam sanken wir hinab in die brodelnde Lava, vergingen und kehrten zurück zu IHR, die mich, den Parasiten, bis zum Ende geliebt hatte.