Ellen Norten (Hrsg.)

Das Alien tanzt Kasatschok

SF und Fantastik aus einem heiteren Universum

 

 

AndroSF 61

 


Ellen Norten (Hrsg.)

Das Alien tanzt Kasatschok

SF und Fantastik aus einem heiteren Universum

 

AndroSF 61

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juni 2017

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild & Illustrationen: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 083 2

 


Ellen Norten (Hrsg.)

Das Alien tanzt Kasatschok

SF und Fantastik aus einem heiteren Universum

 


Vorwort

 

 

Weltuntergangsszenarien gibt es in der Science-Fiction zuhauf, Prognosen für eine dunkle Zukunft liefert schon die Gegenwart. Fantastische Literatur behandelt eher ernste Themen, Horror ist per se grausam. Doch wie könnte das Gegenteil dazu aussehen, fragte ich mich als bekennend heiterer Mensch. In der Vergangenheit war ich zwar auf einige Beispiele gestoßen, Geschichten die Vorstöße ins Komische wagten, doch es blieben eher die Ausnahmen. So kam mir die Idee, ein ganzes Buch mit Storys dieser Art zu sammeln. Beim Verleger Michael Haitel lief ich mit dem Konzept offene Türen ein und die darauf folgende Ausschreibung stieß auf großes Interesse. Viele bekannte und unbekannte Autoren schickten mir Geschichten, die alle eines gemeinsam haben, sie sind lustig, heiter bis komisch, skurril, obskur oder absurd. Und es macht Spaß sie zu lesen, denn die Ideen, die dahinter stecken, sind so ungewöhnlich wie vielfältig.

Da dienen Aliens als köstliches Partyhäppchen oder lassen sich durch coole Rockmusik anlocken. Sie gehen auf Schützenfeste oder fahnden mit Hut und Trenchcoat bekleidet, lässig ein Würstchen rauchend nach Agenten. Sie verstecken sich in Bäumen und in den Köpfen der Menschen, pokern im großen Stil, suchen als Märchengestalten Asyl auf der Erde, schicken als Schauspieler einen theaterreifen Geburtstagsgruß, beurteilen in Froschgestalt die Qualität unserer Athleten, geben Anekdoten in Weltraumkneipen zum Besten oder ernähren sich ganz einfach von der Bosheit der Menschen … und natürlich lernen sie tanzen, tanzen und nochmals tanzen, denn Aliens wollen auch ihren Spaß!

Und auf der Erde müssen wir natürlich aus den guten alten Denkmustern ausbrechen. Ein Konzert ohne Instrumente, eine trinkfeste Loreley, der der Rhein zum Hals heraus hängt, ein selbstbewusster Hydrant mit Ambitionen, eine Tänzerin, die nichts aus der Ruhe bringen kann, ein Protagonist als abgetrenntes Körperteil in einer Tiefkühltruhe, ein »intelligentes« Überwachungssystem, das den Kühlschrank bei überhöhtem Alkoholgenuss sperrt, ein sehr persönliches Zeitungsabonnement mit besonderem Service, Dinge, die sich unkontrolliert durch Raum und Zeit bewegen, Monster mit sehr »menschlichen« Zügen, Raucher mit Mission, ein missglückter wissenschaftlicher Versuch, der dem Versuchsleiter seinen Lebenstraum beschert und dann gibt es noch die Forscher, die Gott in einem schnöden Stück Erbgut zu finden meinen. Für die Liebhaber der deftig erotischen Literatur ist mit einem feuchten Traum gesorgt, der in die Tiefen der Männerseele blicken lässt.

Die Bandbreite der Geschichten ist enorm. Ich hoffe, sie bescheren Ihnen ein paar heitere Stunden in einem wahrlich komischen Universum und ich wünsche Ihnen, dass Sie beim Lesen mindestens genauso viel Spaß dabei haben, wie es bei mir der Fall war!

 

Ellen Norten

Halle

im Frühjahr 2017

 


Marion Jaggi: In vacuum we trust

 

 

»Was zum …«, entfuhr es Brooke, als sie das neuste Memo überflog, das ein rotleuchtender Zeigefinger für Flottenkapitäne zur Pflichtlektüre erklärte. Normalerweise las sie die Memos mit geringem Interesse, dieses Mal hatte der Titel jedoch ihre Neugier geweckt: »Weltraumtrüffel«. Sie liebte Weltraumtrüffel und nein, das Verb »lieben« war in diesem Kontext keineswegs übersteigert. »Wäre es möglich, ich würde mit den Dingern Sex haben!«, kokettierte sie gerne auf Cocktailpartys, indem sie anzüglich an einer der delikaten Knollen lutschte. Damit hatte sie die Lacher stets auf ihrer Seite. Doch was sie nun las, ließ ihr das Lachen vergehen.

Nachdem sie den Bericht zu Ende gelesen hatte, kontrollierte sie Ort und Zeitpunkt der Erstellung. Das Datum stimmte weder mit dem intergalaktischen noch mit einem planetaren Scherztag überein.

»Ist das wirklich euer Ernst?«, fragte Brooke in die Stille des Quartiers hinein. Fluchend stand sie auf, schlüpfte in ein Paar Pantoffel und warf sich eine Uniformjacke über den Pyjama. Wütend verließ sie die Koje und marschierte durch die leeren Korridore der Nachtschicht Richtung Krankenstation. Obschon der Captain hart auftrat, verursachten die flauschigen Slipper kein noch so leises Geräusch. Dass ihre explosive Stimmung nicht in ihren Schritten widerhallte, vergrößerte Brookes Gereiztheit. Sie hätte Stiefel mit ordentlich knallenden Absätzen tragen sollen!

Als die Tür zur Krankenstation zischend zur Seite glitt, blickten ihr vierzig Augen interessiert entgegen.

»Captain Schmitt, ich habe Sie erwartet«, grüßten zwanzig Münder. Der Bordarzt gehörte zu den Manyooky, eine Rudelrasse mit wallenden Löwenmähnen und gelben Honigaugen. Da er das Alleinsein nicht ertrug, umgab er sich mit holografischen Projektionen seiner selbst. Abgesehen von der Anweisung, in der Nähe zu bleiben, wurde das Rudel durch einen Zufallsalgorithmus gesteuert. In der Krankenstation standen und saßen zwanzig identische Weißkittel, die den unterschiedlichsten Tätigkeiten nachgingen, beziehungsweise so taten als ob.

Brooke ließ ungeduldig den Blick schweifen, scheiterte allerdings dabei, unter den Kopien das Original auszumachen.

»Doc, bitte!«

»Computer, Grad der Visibilität der Hologramme um siebzig Prozent verringern.«

Neunzehn Manyooky wurden durchscheinend, einer blieb farbig und solide. Er saß vor einer Konsole, die das Memo anzeigte, das den Captain so empörte, und sah sie mit samtenen Augen erwartungsvoll an. Jedes Mal, wenn er sie so anblickte, dachte Brooke, dass sich eine der Frauen an Bord den Arzt längst geschnappt hätte, wären nur seine Grillen nicht gewesen.

»Wie lange gibt es nun schon Weltraumtrüffel?«, wollte sie wissen.

»Auf unserer Speisekarte meinen Sie? Seit hundertneunundneunzig Standardjahren. Gyoss, Wissenschaftsoffizier auf der ›Wahlfahrt‹ fand das erste Exemplar im Jahr 1403 Neuer Kalender.«

»Wallfahrt schreibt man mit zwei ›l‹, dafür ohne ›h‹.«

Zschtra lachte empört auf.

»Ich habe das Wort nur gesprochen. Wie können Sie mich da korrigieren, was die Schreibweise angeht?«

»Ich habe es Ihrer Aussprache angehört. Egal, zurück zum Problem namens Weltraumtrüffel. Während zweihundert Jahren eine Delikatesse. Und dann«, Brooke deutete anklagend auf dem Bildschirm vor Zschtras Nase, »deklariert irgendein dahergelaufener Wissenschaftsfuzzi, dass es sich um intelligentes Leben handelt?«

»Ähm, das Memo stammt vom Forschungsrat der Allianz, Ma’am.«

»Ach, Doc, sparen Sie sich die Belehrungen! Ich bin nicht gekommen, um ein vernünftiges Gespräch zu führen. Ich will mich aufregen. Halten Sie mich nicht davon ab.«

»Nein, Ma’am.« Zschtra nickte eifrig, mit den Augen suchte er allerdings ebenso hilflos wie vergebens Unterstützung bei den Hologrammen.

»Sie sehen aus wie Pilze, oder etwa nicht?«, wetterte Brooke weiter. »Pilze!«

»Nun, Captain, wenn ich darf … Hier steht, die Weltraumtrüffel haben uns seit ihrer Entdeckung mittels telepathischer Suggestion ein falsches Bild von sich vermittelt. Wir sahen Knollen, die den uns bekannten Fungi ähnelten. In Tat und Wahrheit besitzen diese Organismen, die sich als … Moment … ›Gmür‹ bezeichnen, paarige, bewegte Extremitäten und Sinnesorgane zur Wahrnehmung von Lichtreizen und Schall. Außerdem ein Gehirn, was bei Myzeten unüblich ist. Der Forschungsrat schreibt … Augenblick … Ich zitiere: bla, bla, bla, sind sie sich zweifelsfrei ihrer selbst bewusst und haben nun begonnen, mit anderen Lebewesen telepathisch zu kommunizieren, ein eindeutiger Beweis für Intelligenz, Zitat Ende.«

»Warum, um der Sterne willen, lassen sie es zu, dass wir sie zweihundert Jahre lang fressen? Ist das etwa intelligent?«

»Haben Sie das Memo gelesen, Ma’am?«

»Ja, hab ich, Doc Maniok!«, beleidigte Brooke den Arzt mit dem Spottnamen, den ihm ein Teil der Crewmitglieder verpasst hatte. Sein verletztes Gesicht, einmal echt und neunzehn Mal kopiert, ließ ihren Zorn endlich abklingen. Sie seufzte, bahnte sich einen Weg durch die Hologespenster und nahm dem Manyooky gegenüber Platz.

»Entschuldigung, Zschtra. Dass meine Leibspeise plötzlich intelligentes Leben sein soll … Ich habe in den vergangenen Jahren … Ach, ich finde keine Worte. Ich habe die Dinger geliebt

»Ich weiß. Sie waren nicht die Einzige, Captain. Genau aus diesem Grund, sagt das Memo, geben sich die Gmür nun zu erkennen. Sie waren bereit, bis zu zehn Prozent der Bevölkerung zu opfern, damit der Rest in Frieden existieren kann. Wobei Frieden für die Gmür scheinbar bedeutet, ohne Kontakt zu anderen Spezies.«

»Ein klitzekleines Bisschen fremdenfeindlich, die Pilzköpfe, oder?«

»Wir sollten uns kein Urteil erlauben, bevor wir die Wertvorstellung der Gmür genauer kennen. Diktaturen der Mehrheit mit ausgeprägtem utilitaristischem Ansatz gab es auch in anderen Kulturen.«

»Na, na, jetzt sind Sie ja schon wieder vernünftig«, rügte Brooke ihn in einem Tonfall, als spräche sie mit einem Kind. Oder einer Katze.

»Entschuldigung, Ma’am. Wie Sie sagen, fremdenfeindlich. Jedenfalls wurde die Beliebtheit der Weltraumtrüffel zunehmend zu einem Problem. Isaac Khan, besser bekannt als ›der Trüffelkönig‹, hat wohl ebenfalls einen Teil dazu beigetragen.«

»Wir bringen’s frisch vom All auf den Tisch«, flötete Brooke. »Der Trüffelkönig! In vacuum we trust.« Sie grinste überkandidelt und hob, Khan in der Werbung imitierend, die Finger der linken Hand zu einem V-Zeichen, V wie Vakuum.

»Ich habe diesen Slogan nie verstanden«, gestand Zschtra, perplex über Brookes Showeinlage.

»Wir vertrauen auf das Vakuum.«

»Es liegt nicht an mangelnden Fremdsprachenkenntnissen, Captain, dass sich mir der Sinn dieses Satzes nicht erschließt.«

Brooke zuckte mit den Schultern. Sie hatte es schon lange aufgegeben, Werbesprüche oder Firmenmottos verstehen zu wollen. Nach ihrer Überzeugung wurden solche Parolen absichtlich in toten Sprachen wie Latein, Englisch oder Krontz verfasst, damit weniger auffiel, wie sinnentleert sie waren.

»Zurück zu Khan«, nahm Zschtra den Faden seiner Ausführungen wieder auf, das Grinsen und die Siegesgeste der Vorgesetzten ignorierend. »Bis er auf dem intergalaktischen Markt auftauchte, lag die Fundquote für Weltraumtrüffeln im tiefen einstelligen Bereich. Oder sollten wir jetzt von Fangquote sprechen? Wie dem auch sei, der Trüffelkönig fand Mittel und Wege, die Quote drastisch zu erhöhen. Statt zehn Prozent der Gmür verspeisten wir in den letzten Jahren dreißig, vierzig, fünfzig Prozent … So viele, bis sie zum Überleben der Spezies genötigt waren, die Tarnung aufzugeben und mit uns zu kommunizieren.«

Brooke senkte ihre Mundwinkel und die zum V-Zeichen erhobenen Finger. Sie fühlte sich nicht wie eine Siegerin, aber sie war auch weit davon entfernt, sich Selbstvorwürfe zu machen. Die Schuld am Schlamassel trugen die Gmür. Sie hatten als Einzige vom Massaker gewusst und hätten es verhindern können.

»Und was ist jetzt mit meinem Vorrat?« Sie sah zur Schleuse hinüber, hinter der die Stasiskammern lagen. Vor vier Monaten hatte sie ein Körbchen der Delikatesse von einem unautorisierten Verkäufer erworben. Da die Trüffel, einmal geerntet, rasch verdarben, hatte sie unter Zschtras Protest eine der Kammern beschlagnahmt und für die Lagerung zu einem Gemüsefach umfunktioniert.

»Soll ich die jetzt etwa entsorgen?«

»Freilassen«, korrigierte sie der Arzt, was er sofort bereute, als ihn ihr wütender Blick traf. »Wie wäre es, wenn wir sie uns ansehen? Vielleicht fällt es Ihnen leichter, zu akzeptieren, dass es sich um intelligente Lebewesen handelt, sobald Sie die wahre Gestalt der Gmür sehen, Ma’am.«

Brooke nickte widerwillig. Mit bleiernen Beinen folgte sie dem Doc und den neunzehn Gespenstern in den angrenzenden Raum. Wie eine Trauergemeinde umstanden sie die sargähnliche Stasiskammer, in der die Trüffel lagerten. Der Deckel der Einheit war durchsichtig, sodass sie ihn für den Augenschein nicht zu öffnen brauchten. Eine Weile schwiegen sie, Zschtra stark vorgebeugt, als wäre er kurzsichtig, Brooke die Arme grimmig vor der Brust verschränkt, die Geister schweigend und blass.

»Verdammte Scheiße!«, fasste der Captain ihre Gefühle schließlich in Worte. Die Schale mit Weltraumtrüffeln hatte sich in eine Schale bräunlicher Däumlinge mit Greifärmchen, flossenartigen Beinchen und drolligen Stielaugen verwandelt.

»Wenn sie blau wären, wären sie niedlich«, murmelte Brooke, nachdem sie die Winzlinge lange ungläubig angestarrt hatte. »Warum kommunizieren sie nicht mit uns? Doc?«

»Ich weiß es nicht, Captain. Vielleicht, weil sie tot sind? Sehen Sie diese Trübung in den Augen?«

»Finden Sie heraus, was ihnen fehlt, Zschtra. Möglicherweise können Sie ihnen noch helfen. Ihr natürlicher Lebensraum ist das All. Dort herrscht auch kein gemäßigteres Klima als in einer Kryoeinheit. Küssen!«

»Was?«

»Im Märchen hilft küssen, wenn etwas im Glassarg liegt.«

»Ja, Ma’am.«

Eine Weile schwiegen sie. Brooke überfordert mit der Situation, Zschtra mit Brooke.

»Mein ganzes Leben …« Der Captain schüttelte frustriert den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich aß den ersten Weltraumtrüffel, als ich fünf Jahre alt war. Fünf

»Sehen Sie’s positiv, Captain. Ich erinnere mich daran, was Sie am Empfang des trullizischen Senators über ihr Verlangen gesagt haben. Vielleicht ist es nun möglich, mit den Gmür zu kopulieren.«

Brooke ließ die Arme sinken und starrte den Arzt an. Die Manyooky waren nicht für ihren Humor bekannt. Im Gegenteil, man sagte, sie seien die humorlosesten Geschöpfe des Universums. Entsprechend ernst blickten ihr Zschtras Augen entgegen. Peinlich berührt fragte sich der Captain, ob er verstand, dass sie nur einen Spruch geklopft hatte. Stellte er sich etwa wirklich vor, dass sie …?

»Der Größenunterschied könnte natürlich ein Problem darstellen, allerdings …«

Der Arzt verstummte, als seine Vorgesetzte den Raum verließ. Eilig folgte er ihr zurück in die Krankenstation. Brooke schritt durch die Tür in den Korridor, wo sie mit dem Rücken zu Zschtra stehen blieb, damit er den Anflug von Schamesröte auf ihren Wangen nicht sah. Mit zwei tiefen Atemzügen vertrieb sie die Verlegenheit und konzentrierte sich auf das Wesentliche: Die Weltraumtrüffel, ihre Weltraumtrüffel waren intelligente Lebewesen.

»Es ist nur Kannibalismus, wenn es sich um die eigene Spezies handelt, oder?«, fragte der Captain leise in die Stille hinein.

»Ja, Brooke«, antwortete der Arzt sanft.

»Sagen Sie’s, Zschtra!«

»Es ist nicht Kannibalismus, wenn es nicht die eigene Spezies ist, Ma’am.«

»Gut«, entgegnete Brooke in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass es mitnichten gut war. Aufgewühlt schlurfte sie zurück zum Quartier, die Pantoffeln lautlos, die Füße kalt.

 

»Captain Schmitt, in welcher Phase befinden Sie sich heute?«, grüßte Zschtra, als die Vorgesetzte am nächsten Tag in die Krankenstation zurückkehrte. Unaufgefordert drosselte er die Sichtbarkeit der holografischen Klone auf dreißig Prozent.

»Was?«

»Sie wissen schon, die vier Phasen der Trauer. Erste Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Wie oft haben Sie ›das darf doch nicht wahr sein‹ gedacht, seit das Memo eingetroffen ist?«

Brooke schwieg.

»Zweite Phase: aufbrechende Emotionen, wobei in Ihrem Fall eindeutig Wut dominierte. An diesem Punkt standen wir gestern, als Sie mich aufsuchten, nicht wahr?«

Wieder gab der Captain keine Antwort. Zschtra sah sie fragend an, indem er sich ebenfalls in Schweigen hüllte.

»Was ist die dritte Phase?«, erkundigte sich Brooke endlich, als ihr das gegenseitige Anschweigen zu kindisch wurde.

»Suchen, finden, sich trennen. Die Rückkehr an einen Ort, wo der Verlorene im gemeinsamen Leben anzutreffen war. Ein Zimmer zum Beispiel. Oder ein Gemüsefach.«

»Sie sind ein Arsch, Doc. Wo sind sie?«

»Unverändert, Captain. In der Stasiskammer.«

»Was ist mit ihnen?«

»Die medizinischen Daten, die mir über die Gmür vorliegen, reichen für eine Diagnose nicht aus, Ma’am. Da sie kein Anzeichen von Leben zeigen, sich weder bewegen, noch versuchen, mit uns telepathisch zu kommunizieren, bin ich der Auffassung, dass sie tot sind. Ich habe aber bislang keinen Totenschein ausgestellt.«

»Ein Totenschein? Müssen wir das?«

»Ja, so steht es im Memo.«

Brooke schüttelte den Kopf. Dann auf einmal begann sie, zu grinsen.

»Captain?«

»Denken Sie an all die Restaurants, die noch Weltraumtrüffel gelagert haben, Zschtra! Das werden ganz schön viele Totenscheine.«

»Zweifelsfrei.« Der Arzt intensivierte sein Blinzeln, irritiert über den plötzlichen Anfall von Brookes Heiterkeit. »Wollen Sie sie sehen? Die Gmür?«

»Deswegen bin ich hier. Suchen, finden, sich trennen.«

»Soll ich Sie begleiten, Ma’am?«

»Nein, das muss ich alleine tun. Ah, Moment, ein bisschen dramatischer.« Brooke räusperte sich und senkte die Stimme: »Diesen Weg muss ich alleine beschreiten, Zschtra, mein Freund!«

Der Captain lachte, der Arzt blinzelte.

Als Brooke von den Stasiskammern zurückkam, war die zwischenzeitliche Fröhlichkeit verflogen. Ihr Gesicht war bleich, die Augen glasig, als wäre sie eines der durchscheinenden Hologramme, die im Raum herumgeisterten.

»Was ist die vierte Phase, Doc? Die vierte Phase der Trauer?«

»Ein neuer Selbst- und Weltbezug.«

»Ein neuer Bezug, hm? Zu einer Welt ohne Weltraumtrüffel. Und einem Selbst ohne Leibspeise.«

Brooke seufzte. Beides konnte und wollte sie sich nicht vorstellen.

 

Zwei Tage später suchte Zschtra in Begleitung des Rudels den Captain im Bereitschaftsraum auf. Obschon sie ihn und die Hologramme miesepetrig musterte, ließ der Arzt sich von ihrer Laune nicht abhalten zu tun, weswegen er gekommen war.

»Die Totenscheine.« Er wedelte mit einem Medipad in der Luft. »Ich muss sie nur noch übermitteln, ein Knopfdruck genügt. Anschließend überantworten wir die Verstorbenen durch die Luftschleuse dem Weltall, wie es im Memo steht.«

»Wenn wir sie immerhin an einen zentralen Ort fliegen müssten. Zum Gmür-Planeten, wo Gmür-Priester der Gmür-Gottheit namens ›Großer Gmür‹ irgendwelche Riten abhalten. Aber sie einfach in den Weltraum zu kippen, wo sie zwischen dem restlichen Müll tot herumtreiben? Das hat doch keinen Sinn.«

»Das Vorgehen muss nicht uns sinnvoll erscheinen, Captain, sondern den Gmür. Das All ist ihr natürlicher Lebensraum. Wenn sie wünschen, dass ihre Toten dorthin zurückkehren, haben wir das zu respektieren. Drücke ich ›senden‹, Ma’am?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich es sage.«

»Captain Schmitt. Brooke …«

»Raus hier, Doc!« Brooke wurde laut, zeigte zum Ausgang. Der Arzt verharrte regungslos.

»Ich bin noch nicht soweit«, schob der Captain eine Erklärung nach, um den Manyooky loszuwerden. »Sie wissen schon. Die vierte Phase. Ein neuer Selbst- und Weltbezug. Ich brauche ein bisschen mehr Zeit, um ihn zu finden, diesen Bezug.«

Zschtra zögerte. Er diente lange genug unter Schmitt, um zu merken, dass sie ihn anlog. Er ließ seine Augen golden aufflammen, Manyooky-Art um höchstes Interesse an der Wahrheit kundzutun.

»Ach, hören Sie auf! Sie wissen, dass ich schwach werde, wenn Sie das tun. Ein Vögelchen hat mir etwas gezwitschert, in Ordnung?«

»Wo?«

»Was wo?«

»Wo haben Sie einen Vogel entdeckt, Captain?«

»Wirklich, Zschtra? Sie arbeiten schon so lange mit Menschen zusammen und kennen diese Redewendung nicht? Ich habe unter der Hand Informationen erhalten. Laut meinem Informanten wird in Bälde ein zweites Memo eintreffen, das ein neues Licht auf die Sache wirft. Also warten wir, bis es so weit ist, klar?«

»Ein zweites Memo? Mit welchem Inhalt?«

»Lassen Sie sich überraschen.« Brooke lächelte geheimnisvoll und wies ihm erneut einladend die Tür. Da er ihr ansah, dass sie ihn nicht noch mehr ins Vertrauen ziehen würde, ließ er das Leuchten der Augen erlöschen und verließ den Bereitschaftsraum.

»Ein Vögelchen«, sinnierte er laut auf seinem Weg zurück zur Krankenstation. Verwundert schüttelte er die Mähne. Neunzehn Gespenster imitierten die Geste, ein durchscheinendes Trüppchen ungläubiger Löwen.

 

Das Memo traf noch am selben Tag ein. Brooke las es mit Be-, Zschtra mit Entgeisterung. Der Forschungsrat der Allianz hatte die telepathische Suggestion der Gmür genauer analysiert und dabei Parallelen zu Beispielen im Tierreich entdeckt. Auf vielen Planeten gab es Kreaturen, die sich zur Täuschung potenzieller Feinde tarnten: harmlose Falter, die eine Schmetterlingsart kopieren, die gefährlich oder ungenießbar ist. Fische, die Farbe und Zeichnung dem jeweiligen Untergrund anpassen, damit sie wie Steine wirken. Vergleichbar mit diesen Tarnmechanismen wurde auch die Suggestion der Gmür nicht willentlich ausgelöst, sondern rein instinktiv. Die Gmür-Körper sendeten die irreführenden Signale, sobald ein Individuum einer anderen Spezies nahte. Selbst nachdem sich die Tarnung als evolutiver Blödsinn erwiesen hatte, weil sie Fressfeinde anzog, anstatt abzuschrecken, waren die Gmür gescheitert, sie zu unterbinden. Zwei Jahrhunderte lang hatten sie vergebens darum gekämpft, für die Augen des Universums sichtbar zu werden. Vor diesem Hintergrund stufte der Forschungsrat die telepathische Suggestion als angeborenen Trieb ein. Die Qualifizierung der Gmür als intelligentes Leben wurde zurückgenommen. Stattdessen wurden sie als bisher unbekannte Kategorie von Lebensmitteln deklariert, angesiedelt irgendwo zwischen Fungi und Artischocken. Die offizielle Bezeichnung für die neue Lebensmittelkategorie lautete ›Gmüffel‹.

»In vacuum we trust!«, grüßte Brooke mit einer Siegesgeste beim Betreten der Krankenstation. »Ich habe einen neuen Weltbezug. Ah, nein, Moment, es ist der alte.«

»Wen haben Sie bestochen, Captain?«, wollte Zschtra wissen, während er sein Rudel widerwillig zu Gespenstern reduzierte.

»Ich bin nicht die Einzige, die Weltraumtrüffel liebt. Ich habe es doch gleich gesagt: Ist es intelligent, sich zweihundert Jahre lang fressen zu lassen? Nun haben wir die Antwort, offiziell beglaubigt von den klügsten Köpfen der Galaxie: Nein, ist es nicht!«

»Der Entscheid ist etwas hart, oder? Man könnte es auch so sehen, dass die Gmür in den letzten zweihundert Jahren Intelligenz entwickelt haben.«

»Papperlapapp! Könnte man, muss man aber nicht.«

»Die Wirte, die sich an die Anweisungen des ersten Memos gehalten haben, werden schäumen vor Wut.«

»Ja, da kommen viele Schadenersatzforderungen auf den Forschungsrat zu.«

»Dann werde ich Ihren Vorrat wohl noch länger ertragen müssen.« Der Arzt blickte zur Schleuse, hinter der das Gemüsefach lag.

»Nein, nicht unbedingt. Ich dachte, zur Feier des Tages könnten wir heute Abend zusammen speisen.«

»Ein Pilzgericht?«

»Keine Ahnung. Etwas zwischen Fungi und Artischocken, glaube ich. Zum Glück sind sie nicht blau. Ich könnte die Dinger nicht mehr essen, wenn sie blau wären. Aber so … In meinem Quartier, achtzehn Uhr.«

»Sehr gerne, Brooke. Ich bringe ein passendes ethanolhaltiges Getränk. Haben Sie schon entschieden, was Sie zu den, ähm, Gmüffeln servieren werden?«

»Maniok!«

Brooke zwinkerte dem Arzt schalkhaft zu, doch dessen Miene blieb versteinert. Es folgte peinliches Schweigen.

»Sie wissen, dass wir nichts von Humor halten«, bot Zschtra eine halbherzige Entschuldigung an. Um seine Verlegenheit zu mindern, erhöhte er die Sichtbarkeit der Hologramme. Der Captain musterte das Rudel stirnrunzelnd. Womöglich war es ein Fehler gewesen, den Manyooky einzuladen. Für einen Rückzieher war es nun aber zu spät.

»Was kann ich tun, Doc, damit das nicht zu einer Klassenfahrt wird?«

»Körperliche Nähe.«

»Körperliche …« Brooke brach seufzend ab. Obschon sie Zschtra im Alltag als Untergebenen wahrnahm, nicht als Mann, war ihr nicht entgangen, dass er gut aussah mit seiner Mähne und den Honigaugen. Außerdem war er Arzt. Es ist ein Grundgesetz des Universums wie die ständige Entropiezunahme, dass Frauen auf Ärzte abfahren. Und auf Katzen.

»Nun, wir werden sehen, wie nahe, Zschtra. Vielleicht kannst du dieses Augenleuchtending machen. Ja, genau das. Und das ethanolhaltige Getränk sollte besser stark und ausreichend sein. Bis heute Abend.«

»Bis heute Abend, Brooke.«

Der Manyooky blieb vergnügt sitzen, nachdem der Captain gegangen war. Eigentlich hatte er mit körperlicher Nähe nicht mehr gemeint, als Händchen halten. Aber wenn Brooke bereit war, darüber hinaus zu gehen, kam ihm das durchaus zupass. Sie sah gut aus. Und war sein Boss. Es ist ein Grundgesetz des Universums, dass Männer darauf stehen, mit ihren weiblichen Vorgesetzten rumzumachen.

Zufrieden mit dem unverhofften Verlauf der Geschehnisse, die später als »Weltraumtrüffel-Skandal« in der Galaxie bekannt werden sollten, stand Zschtra auf und ging in den Nebenraum. Eine Weile betrachtete er die Gmüffel.

»Tut mir leid, Jungs«, brummte er schließlich. »Ihr steckt zwar im Glassarg, aber in diesem Märchen bin ich der Prinz. Das All ist unberechenbar. Manchmal wird man geküsst und manchmal gefressen.«

Und auch das ist ein Grundgesetz des Universums.

 


Joachim Pack: Die Loreley und der Zigeuner

 

 

Arpad Banatescu stand auf der Brücke und hielt den Knüppel fest in der Hand. Während sich die Mannschaft wie immer tief im Rumpf des Schiffes um den Verstand soff, hielt Arpad wie immer die Hundewache am Steuer.

»Was wird das Gemüt mir so träge,

erst drei Glasen, ach, drei Schläge,«

seufzte Arpad,

»und hundert noch bis Peenemünde,

wo schlafen ich mich legen künnte!«

Dem rumänischen Hilfswahrschauer und Kapitän vom Dienst wurde es nun allerdings ein wenig bang ums Herz. Zu gerne hätte er sich jetzt einen auf seiner Fiedel gegeigt, um die Angst zu verscheuchen, denn gleich musste er an der Loreley vorbeischiffen …

Er riss sich zusammen und machte sich ein paar warme Gedanken durch die Erinnerung an seine Heimat Albanien, wo er mit seiner Sippe eine malerische Müllhalde nahe Skodra bewohnte. Nie hätte er diesen Ort voll Freude und fließendem Wasser verlassen, wenn seine Schwester ihm nicht eines Tages gestanden hätte:

»Schwindsüchtig lieg ich darnieder,

hab das weiße Laken immer wieder

vollgespuckt von rotem Blut.

Oh Bruder, mir ist’s nicht gut!«

Und Arpad – ach er sah’s. Es wollte ihm schier das Herz zuziehen beim Anblick von solch einem Häufchen Elend.

Eines Tages jedoch war ein Hoffnungsschimmer in seine vergrämte Welt gefallen. Da nämlich hatte er über die geklaute Satellitenanlage jenen wunderbaren Ort gesehen, an dem Sieche wieder leben lernten, Lahme wieder gehen, Tote wieder lachen konnten und Krankenschwestern die größten Affen heirateten: Es war »Tierärztin Dr. Mertens« gewesen.

Und in seinem großen Herzen reifte ein Entschluss:

»Diesen Ort der Trauer woll’n wir flieh’n

Und ins ferne Deutschland zieh’n.

Dich zu retten, oh mein Sonnenschein,

soll meine größte Prüfung sein.«

Also hatte er seinen Caravan hinter den Benz gespannt und war gen Stuttgart gefahren, wo er damals seinen treuen, PS-starken Freund direkt vom Fließband geklaut hatte. Als er jedoch im Leipziger Zoo angekommen war, warf die gütig lächelnde Doktor Mertens nur einen Blick auf die kranke Schwester und erklärte ihm geduldig: »Du nix Geld? Du nix Krankenschein? Dann du müssen arbeiten!«

»Ach weh! Für dich, mein Augenschein,

da will ich’s gerne leiden, Schwesterlein!«,

opferte er sich selbstlos.

Sicherlich war geregelte Arbeit seine Sache nicht, war Arpad doch ein Zigeuner und verstand sich eher auf Kinderdiebstahl und das Verhexen von Vieh. Aber in seiner behaarten Brust glühte ein Herz für seine Schwester, für deren Genesung er sogar im Land der Stechuhren und der unbestechlichen Beamten arbeiten würde.

»Doch steht das Herz zum Wandern mir:

Zum Binnenschiffer will ich mich wandeln hier!«,

nahm er sich vor und heuerte am Bodensee auf dem Zehn-Megawatt-Schubschiff »Dritter Oktober« an, das der Reeder aus Steuergründen unter liberianischer Flagge fahren ließ. Sein geliebtes Schwesterlein hatte er auf dem Dresdener Theaterplatz abgesetzt, wo sie sich, eingehüllt in mehrere Decken, ein Zubrot durch Handlesen erbetteln konnte.

Arpad und seine Mannschaft sollten derweil die traditionelle Rheinroute vom Bodensee über Passau, Bamberg (die malerische Rheinschleife bei Bamberg!), Frankfurt nach Peenemünde befahren.

 

In Lores Kristallschloss im Inneren des Loreleyfelsens materialisierten sich sieben Rheingeister und sangen: »Erwache, holde Lore, ein Schifflein naht mit Brausen. Und ‘s ist unwürdig’ Leben drauf!«

Lore drehte sich in ihrem Kristallbett auf die andere Seite und schlief weiter.

»Erwache, holde Lore«, säuselte es erneut ätherisch durch die Kristallräume, »ein Schifflein naht mit Brausen. Und ‘s ist unwürdig’ Leben drauf!«

Lore schlief weiter.

»Lore, verdammte Schlampe, hoffentlich hast du deinen Hintern bald aus dem Bett gehievt. Es gibt Arbeit!«, donnerte Woglinde.

Lore öffnete die vom Suff verquollenen Augen und blinzelte die sieben an. Dann setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes und schnäuzte ins Kopfkissen.

»Das ist doch keine Arbeitsmoral, was du hier an den Tag legst! Na warte, das gibt noch Ärger!«, belferten die Rheingeister. Und schneller noch als Lore sagen konnte: »Hat mal jemand ‘ne Alka-Seltzer?«, waren die sieben auch schon wieder verschwunden. Na ja, sie wusste, was zu tun war.

 

Nahe dem Fichtelgebirge war es dann so weit. Arpad gefror das Blut in den Adern, als er im fahlen Mondlicht die Gestalt auf dem hohen Felsen erblickte: den Kopf kahl rasiert, Bomberjacke, Bundeswehrhose mit zwei verdächtigen Beulen an der Seite. Die Kettensäge in der Rechten, stand sie da und blinzelte zu ihm herüber.

»Oh weh, oh wei,

die Loreley!«,

entfuhr es Arpad unwillkürlich, während er sich nervös den Schnurrbart in die Breite zwirbelte. Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Arpad gab Alarm. »Wat iss denn?«, tönte es lallend aus dem Sprechrohr.

»Loreley-Alarm!«, meldete Arpad und sah mit einem Mal die Gestalt im Wasser, die wie ein Torpedo auf den Bug des Schiffes zuraste. Im nächsten Moment sprang sie an Bord.

Aus den Tiefen der »Dritter Oktober« kamen ein paar schwarze Gestalten heraufgetorkelt. Lore griff in die rechte Tasche ihrer Cargohose, fischte eine Flasche Bier heraus, biss den Kronkorken ab und nahm ein paar kräftige Schlucke.

»Okay, und nun zu euch, ihr Nigger!«, rülpste sie, steckte die Flasche zurück und warf die Kettensäge an.

»Wie, Neescher? Isch bin aus Saggsen …«, konnte der zweite Maat gerade noch herausbringen, bevor es ihn ziemlich arg zerlegte.

»Mir sin doch nur schwatt von dämme Ruß, Määdsche!«, erklärte Scheng in seiner jovialen Art. Aber Arpad wusste, dass es zu spät war. Er hörte, wie die Furie durch das Schiff fegte und die Kettensäge bald Luv, bald Lee heulte und schließlich in den Rumpf des Schiffes getrieben wurde.

Arpad schluckte.

»Nun ist sie groß, die Not!

Verlassen sollte ich das Unglücksboot,

und schwimmend mein Heil

zu suchen ich eil’.«

Doch bevor der versteinerte Zigeuner sich bewegen konnte, krachte die Decke auf und Lore stand vor ihm. Sie blinzelte ihn an.

Gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen blinzelte Arpad zurück. Lore warf die Kettensäge in die Ecke, griff in ihre rechte Tasche und holte einen Molli heraus. Sie nahm einen kräftigen Schluck, steckte ihn zurück, holte die Bierflasche heraus, verkorkte sie mit einem Tuch, zündete es an und schleuderte die Flasche an die hintere Wand der Brücke.

Nichts passierte.

»Was zum Teufel …?«, entfuhr es Lore.

»Nach Bier,

scheint’s mir,

riecht’s hier«,

stammelte Arpad.

»Stimmt!« gab Lore zu. »Und das bedeutet, dass ich grade Benzin gesoffen habe.« Sagte es und kippte auf der Stelle um.

 

Das Schiff sank. Arpad hörte, wie es unter ihm beunruhigend gurgelte und rauschte. Die »Dritter Oktober« begann, sich langsam zu drehen.

Arpad beugte sich über die am Boden liegende Gestalt. Was faszinierte ihn so an ihr? War es die süße rote Nase? Die sexy Tätowierungen auf den muskulösen Oberarmen? Die kessen Zahnlücken? Die zierlichen Füßchen, die in den Springerstiefeln Größe 44 ruhten? Der verwirrend sinnliche Duft von Benzin aus ihrem Mund?

Kurz entschlossen warf er die junge Frau über die Schulter, ließ das Rettungsboot zu Wasser und ruderte an Land. Am Fuß des Felsens warf er seine Last von sich.

»Was rettest du die Metze, die eben

noch den Tod dir wollte geben?

Statt das Unheil noch zu mehren

Solltest’ ihr den Rücken kehren!«,

schlug Arpads Selbsterhaltungstrieb vor. Doch er verscheuchte die Zweifel, schließlich war er Zigeuner und kein Deutscher, die zwar sehr gute Krankenhäuser hatten, aber auch alles dafür taten, die Menschen hineinzubringen. Und so stellte er sich auf Lores Bauch und brachte sie zum Erbrechen. Und noch während der anschließenden Mund-zu-Mund-Beatmung schlug die still Daliegende die Augen auf.

»Verdammter Asylant!«, spuckte sie aus und wollte soeben nach ihrer magischen Kettensäge greifen.

»Am Grund ist sie, wasserumschlungen,

wie der Hort der Nibelungen.«

»Scheiße!«, fluchte Lore, stand auf und trat ihm in die Eier.

»Was für ein Rasseweib!«, dachte Arpad, während er sie würgte.

»Was für ein Vollblutzigeuner!«, durchfuhr es Lore, während sie ihm den Totschläger über den Schädel zog.

Dann überkam beide der Sturm der Leidenschaft, und sie bedeckten einander mit feurigen Küssen. Arpad ertastete die süßen Wonnen ihres Körpers und versank in den unergründlichen Tiefen ihrer blauen Augen. Steil ragte der Schieferfelsen in die Höhe und feucht glänzten die fruchtbaren Auen des Rheins. Eine Schar weißer Raben krächzte unheilvoll in der Ferne, während sie die sanften Hügel und die mächtigen Tannen des Fichtelgebirges überflog.

Arpad erschauerte. Welche dunklen Mächte bedrohten das unschuldige junge Liebesglück?

 

Zehn Minuten später. Arpad und Lore lagen im Kristallbett und rauchten. »Wie mich das alles ankotzt, mein ganzes verdammtes Leben hab’ ich hier an diesem Scheißfelsen verbracht. Jeden Tag dieselbe beschissene Maloche.« Sie warf eine leere Bierflasche nach der kristallenen Stechuhr an der Wand. »Wie gerne würde ich herumziehen, frei und ungebunden, wie du, mein Hengst.«

»Warum, du meines Herzens Königin,

musst du denn hier harren ohne Sinn?«

Und Lore erzählte ihre leidvolle Geschichte. Als blutjunges Mädchen hatte sie sich in den Bürgermeister von St. Goarshausen verliebt, der ihr eines Nachts bei einem Konzert auf der Freilichtbühne seinen böhsen Onkel zeigen wollte. Doch als Lore vierzehn wurde, hatte er sie wegen einer Jüngeren sitzen lassen. Am Ufer des Rheins hatte sie lange Nächte hindurch geweint, bis sie in einer Vollmondnacht zufällig die Rheingeister traf, mit denen sie einen Pakt schloss: Die Rheingeister würden ihrem Exgeliebten die Hammeleier lang ziehen, und Lore würde ihnen dafür die Wacht am Rhein machen. Der Rhein war nämlich an die Ostgrenze Deutschlands verlegt worden, und sie, Lore, sollte den deutschesten aller Ströme gegen die Asylantenflut aus dem Südosten verteidigen. Denn sie sollten ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!

Die Rheingeister hielten ihr Versprechen und zu Führers Geburtstag reichten sie ihr dann die magische Kettensäge aus den braunen Fluten des Rheins empor, damit sie ihren Teil des Paktes erfülle.

»Eigentlich etwas überbezahlt für eine anatomische Deformation, die er mit siebzig gratis haben würde«, sinnierte Lore, »die Rheingeister, diese Schlampen, hatten meine Situation kalt lächelnd ausgenutzt. Schämen sollten sie sich, ein unerfahrenes, pubertierendes Mädchen so dermaßen über den Tisch zu ziehen.« Ein Säuseln in der Luft kündigte mit einem Mal die Rheingeister an. »Verzieh dich!«, zischte Lore, und Arpad hechtete unters Bett.

»Erwache, holde Lore«, sangen sie, »ein Schifflein naht mit Brausen. Und ‘s ist unwürdig’ Leben drauf!«

In diesem Augenblick nämlich näherten sich Käpt’n Iglo und seine Crew mit panierter Fracht aus den tschechischen Fischstäbchen-Minen.

»Och«, maulte Lore, »ich hab’ heute meine Tage. Können wir das eine nicht mal auslassen?«

»Niemals! Gedenke des Paktes! – So! Und jetzt rasier dich und ran an die Arbeit!«, erwiderte Flosshilde.

»Außerdem ist die Kettensäge kaputt!«, warf Lore ein.

»Niemals. Die Kettensäge ist magisch, die kann nicht kaputt gehen. – Wo ist sie denn?«

»Ich habe sie in Reparatur gegeben. Ein fahrender, magischer Scherenschleifer kam vorbei …«

Die Rheingeister machten skeptische Gesichter und lösten sich in Wohlgefallen auf. Diesem Zufall war es zu verdanken, dass Käpt’n Hannes Iglo seiner gerechten Strafe entging.

»Geliebte, lass uns hier die Segel streichen,

und von diesen Hallen weichen,

in denen jede Freude sich in Trauer wendet!

Dorthin, wo sich mein Heimatland befindet!«,

keuchte Arpad, während er unter dem Bett hervorkroch.

»Ich kann nicht«, gestand Lore. »Der Felsen braucht doch eine Loreley. Sonst ist er nur ein Felsen, ein vergessener Klotz im rauen Wind der Zeit, ein zerbröckelndes Mahnmal in vergilbten Märchenbüchern, entzauberte Materie in sterblichen Gehirnen, banale Grauwacke im Fichtelgebirge … Außerdem bindet mich der verdammte Pakt an diesen Felsen. Solange es die Rheingeister gibt, kann ich diesen unsichtbaren Zauberkreis nicht durchbrechen.«

»Doch weh! Gebunden bin auch ich,

frei bin ich noch nich’«,

fiel es Arpad ein.

»In Leipzig harrt mein Schwesterlein,

dass ich sie befreie von der Pein!«

Weinend fielen sie sich in die Arme und in Lores Bett, um sich gegenseitig Trost zu spenden.

 

Zehn Minuten später. »Warum«, fragte Lore und blies den Rauch ihrer Gitanes in die Luft, »warum bist du auch gebunden?«

Und Arpad erzählte seine leidvolle Geschichte. Den Grund, warum er nach Deutschland gekommen war, die Sache mit seiner kranken Schwester und dass er Geld für Doktor Mertens brauchte.

»Die Kohle wäre ja nicht das Problem«, meinte Lore und führte Arpad in ein Nebenzimmer. »Hier ist lauter alter Kram gebunkert, mit dem ich sowieso nichts anfangen kann …«

»Der Hort des Nibelungen!«, erkannte Arpad mit geschultem Hehlerblick. Er stopfte sich die Taschen voll, gab seiner Geliebten einen Kuss, sagte: »Vertrau mir, ich weiß, was ich tue«, und verschwand.

Kaum war der Zigeuner aus der Tür, materialisierten wieder die Rheingeister in Lores Schlafzimmer. Aber anstatt etwas zu singen, warfen sie ihr die verlorene Kettensäge vor die Füße.

»Von wegen Scherenschleifer!«, tobte Wellgunde. »Lügnerin! Schlampe!«

»Sie hat einen Kerl hier gehabt!«, donnerte Strudelfriede, die Arpads Unterhose gefunden hatte.

»Einen Zigeuner!«, keifte Sprudeltrude, die die Flecken auf der Schiesser richtig deutete.

»Und vom Schatz fehlt auch ‘was!«, kreischte Flutsuse aus dem Nebenraum.

»Jetzt werden wir dir mal zeigen, was wir mit ungehorsamen Mädchen machen«, versprach Spritzliese mit eiskaltem Lächeln.

Oh-oh, dachte Lore. Sie ahnte, dass sie bald den Rhein von unten sehen würde.

 

Arpad machte das harte Rheingold zu weichem Euro, holte seine Schwester von der Arbeit am Theaterplatz ab und fuhr mit ihr nach Leipzig in den Zoo. Unterwegs erzählte Arpad von seiner Liebe zu Lore und den Hindernissen, die dem jungen Glück noch im Wege standen.

»In der Tat,

weiß ich wohl Rat«,

hauchte die zartfühlende Schwester und nannte ihm die Adresse eines skrupellosen Rheinmetallers, dem sie diese vor wenigen Stunden aus der Hand gelesen hatte.

»Bei ihm ist aufbewahrt,

was dein Herz begehrt:

In seinen Händen las ich unverhohlen

von Raketenwerfern und Pistolen

Plastiksprengstoff, Handgranaten,

und vielem mehr für große Taten.«

Arpad vernahm all dies mit Wohlgefallen. Er lieferte die Kranke bei Doktor Mertens ab, fuhr zu der genannten Adresse, besorgte sich, was er brauchte, jagte damit das AKW zu Bamberg in die Luft und verstrahlte so den Rhein. Bald würden die radioaktiven Fluten das Fichtelgebirge erreichen und den Rheingeistern den Garaus machen …

Arpad setzte sich in seinen Benz und fuhr beschwingt in Richtung Loreley. Auf halbem Wege klingelte plötzlich das Smartphone. Arpad hob ab.

»Hier sein Doktor Mertens. Ich dir jetzt eine leidvolle Geschichte erzählen«, tönte es aus der Muschel. In der Tat klärte die Tierärztin ihn darüber auf, dass seine Schwester in Wirklichkeit die Tochter der echten Loreley war, bei deren Entbindung sie vor Jahren zufällig anwesend war. Die Rheingeister hatten sie als Baby an fahrende Zigeuner verkauft, um ein anderes, unschuldiges Mädchen für ihre perfiden Zwecke gewinnen zu können. Die Krankheit von Arpads Schwester sei pures Heimweh gewesen und die Nachricht, bald am Loreleyfelsen im Zwölfstundenschichtdienst arbeiten zu dürfen, habe sie fast sofort wieder auf die Beine gebracht.

 

Am Felsen angekommen stürmte Arpad sofort in Lores Schlafzimmer, um ihr die gute Nachricht zu überbringen.

»Lore, Liebling, wir sind frei«,

rief er mit übervollem Herzen.

»Glück und Zukunft für uns zwei!«

Doch seine Rufe verhallten ungehört in den verlassenen Gemächern. Eine böse Ahnung keimte in ihm auf …

Er sah auf die Uhr: In ein paar Minuten mussten sich die verseuchten Fluten am Felsen vorbeiwälzen. Doch wo war die Geliebte? Doch wohl nicht …

 

Kalt war’s auf dem feuchten Grunde des Rheins, wo Lore gerade von den Rheingeistern gefoltert wurde. Streckbank, eiserne Jungfrau, neunschwänzige Katze und die hochnotpeinliche Spezialbehandlung mit bayerischem Bier und Kümmelstangen hatte sie bereits über sich ergehen lassen müssen, bevor sie nun aufs Rad geflochten werden sollte.

»Wie sieht’s aus, Fräulein Loreley?«, erkundigte sich die gehässige Flutsuse. »Wollen wir wieder brav Schiffe versenken?«

»Habe ich denn noch eine Wahl?«, fragte Lore erschöpft.

»Natürlich!«, keifte die grüngesichtige Spritzliese. »Die zwischen dem Rad und einem Jawort.«

»Ich werd’s mir überlegen. – Kann ich jetzt gehen?«

»Sie will gehn!!«, brüllte Strudelfriede. »Aufs Rad mit ihr! Aufs Rad mit ihr!«

»Aber von einer Loreley mit gebrochenen Beinen haben wir auch nichts«, sinnierte Wellgunde laut. »Gebt ihr ein paar Minuten zum Überlegen.«

Lore bedankte sich und fragte, ob sie rauchen dürfe. Nichts ahnend ließen die Terrorschwestern sie für ein kurzes Päuschen an Land gehen. In diesem Augenblick erreichten die verseuchten Fluten den Felsen und die Gefahr war endgültig vorbei.

Lore und Arpad fielen sich weinend in die Arme. Zehn Minuten später saßen sie im Benz und rauchten.

Und während die Leichen der verstrahlten Rheingeister langsam in Richtung Ostseemündung trieben, schoben sich Arpad und seine Lore nach Albanien ab, wo sie von der örtlichen Mafia ein Stück Land kauften und auf EU-Subventionen warteten.

Der Loreleyfelsen war indes für die Schiffer nicht minder gefahrlos geworden, kämmte sich doch hier seit Neuestem ein hübsches Mädchen sein langes, blondes Haar …