Corinna Griesbach (Hrsg.)

Schatten des Grauens

HALLER-Horrorgeschichten 2

 

Horror 2

 


 

Corinna Griesbach (Hrsg.)

Schatten des Grauens

HALLER-Horrorgeschichten 2

 

Horror 2

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Oktober 2016 p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Sebastian Schwarz

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 002 3

 


 

Christine Millman: Der Jäger

 

Tief im Schatten verborgen stehe ich und beobachte dich. Händchen haltend mit deinem Freund verlässt du das Haus. Du hast Geschmack, das muss ich dir lassen. Der Kerl sieht aus wie einem Katalog für Männermode entsprungen. Ich dagegen bin nichtssagend. Ein Mann, den man sofort wieder vergisst, wenn man ihn überhaupt bemerkt. Aber das macht nichts. Ein Jäger braucht kein buntes Fell und kein schönes Gesicht. Ein Jäger muss unauffällig sein und mit der Umgebung verschmelzen, damit die Beute, damit du mich nicht bemerkst.

Du küsst deinen Freund zum Abschied, bevor er in sein Auto steigt. Seine Miene ist düster und er wirkt bleich und übernächtigt. Ob er ahnt, dass er dich nie wiedersehen wird?

Wie jeden Tag tragen dich deine Schritte den Gehweg entlang zur Bushaltestelle. Unauffällig folge ich dir. Wie anmutig du läufst. Ein makelloser Körper in Harmonie mit den Bewegungen. Dein langes, dunkles Haar glänzt in der Morgensonne wie eine frisch geschlüpfte Kastanie.

Du bist so schön.

Als wärst du nicht von dieser Welt. Bist du auch nicht. Aber das weiß niemand außer mir, nicht einmal dein Freund. Eine Windbö reißt die letzten Blätter von den Bäumen und bläst sie über den Asphalt. Fröstelnd schlage ich den Kragen meiner Jacke hoch und ziehe den Kopf ein. Der Wind trägt deinen Duft zu mir heran. Maiglöckchen mit einem Hauch Verwesung, den normale Menschen nicht wahrnehmen. Aber ich. Ich rieche den Tod. Er haftet an dir wie ein übles Gerücht, folgt dir überall hin. Instinktiv taste ich unter die Jacke nach der Lederscheide an meinem Gürtel. Ein Jagdmesser steckt darin mit achtzehn Zentimeter langer, handgefertigter Klinge aus Hochleistungsstahl. Eine Aufbrechklinge, mit der Jäger die Bauchdecke ihrer Beute aufschlitzen, um die Innereien nicht zu verletzen, damit das Fleisch nicht verdirbt. Dasselbe mache ich auch. Ich muss das tun, um das Böse in dir zu vernichten. Bedauern darüber, dass ich deinen vollkommenen Körper ruinieren muss, gemischt mit Erregung durchflutet mich bei der Vorstellung und ich frage mich, wann dich der Dämon wohl erwischt hat. Es kann nicht allzu lange her sein, denn du bist noch jung, Anfang zwanzig vielleicht. Das ist gut.

Die Jungen sind leichter zu töten.

 

Der Weg zur Bushaltestelle führt dich durch einen kleinen Kiefernwald, dessen hohe, schlanke Stämme kaum Schutz vor neugierigen Blicken bieten. Doch das macht nichts. So früh am Morgen sind nur wenige Menschen unterwegs, und ich bin schnell und effizient.

An der Kreuzung vor dem Waldstück bleibst du stehen und siehst dich um, als hätte dich eine dunkle Ahnung beschlichen. Spürst du den nahenden Tod? Normalerweise bemerkt niemand das Feuer, das in meinem Herzen brennt und mich dazu treibt, gegen das Böse zu kämpfen. Manchmal frage ich mich, ob es andere gibt, die so sind wie ich. Die sie ebenfalls wahrnehmen, die dämonische Präsenz in dieser Welt.

 

Du wendest dich um und blickst zurück. Erschrocken husche ich in einen Hauseingang. Mein Herz klopft. Hast du mich bemerkt? Sekundenlang verharre ich in Regungslosigkeit. Bei jedem hektischen Atemzug strömen Kondenswolken aus meinem Mund. Raschelnde Blätter fegen vorbei. Witterst du mich? Ich warte, zähle langsam bis zehn, bevor ich es wage, um die Ecke zu spähen. Du betrittst den Feldweg, der zum Wald führt. Erleichterung durchflutet mich. Jetzt schnell über die Straße, bevor du dich erneut umsiehst.

Der Waldboden dämpft meine Schritte. Geschickt weiche ich Zweigen und Blättern aus, leichtfüßig wie eine Katze. Nur noch wenige Meter, dann schlage ich zu. Mein Herzschlag beschleunigt sich, Adrenalin strömt durch meine Adern. Der Verwesungsgeruch, der deinem Körper anhaftet, legt sich über den frischen Duft des Waldes.

Seltsam. Warum ist er plötzlich so stark?

 

Lautlos schleiche ich näher. Du verlangsamst deinen Schritt und drehst dich um. Ohne zu überlegen, hechte ich hinter einen umgestürzten Baum. Zu spät. Du hast mich entdeckt.

»Warum folgen Sie mir?« Deine Stimme klingt ruhig. Entweder beherrschst du deine Angst oder du hast keine. Warum auch? Der Dämon in dir gibt dir Kraft. Deine Hand tastet nach etwas in deiner Jackentasche, ein Pfefferspray vielleicht oder dein Handy. »Lassen Sie mich in Ruhe. Verschwinden Sie!«

Unwillkürlich muss ich grinsen. Immer die gleichen Worte. Gehen Sie weg, lassen Sie mich in Ruhe, was wollen Sie. Wie albern und unnötig. Gelassen trete ich hinter dem Baumstamm hervor, meine Arme hängen entspannt nach unten und ich lächle entschuldigend. »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie sind mir aufgefallen und da bin ich Ihnen gefolgt. Tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen.«

Ich halte den Atem an. Wirst du mir glauben? Deine Augen wandern über meine Gestalt, verharren einen Moment zu lang in Höhe meiner Hüfte. Das Messer liegt gut verborgen unter meiner Jacke, oder? Deine Miene ist wie in Stein gemeißelt, verrät nichts von deinen Gefühlen. Doch etwas sagt mir, dass du es weißt. Dass du weißt, dass ich dich töten werde. Fast unmerklich weichst du zurück, Zentimeter für Zentimeter. Ich zögere nicht mehr und schlage zu. Mit einem Satz bin ich bei dir, schnappe deinen Arm und wirble dich herum, während ich blitzschnell das Messer ziehe und es an deine Kehle drücke. Keuchend stößt du den Atem aus deinen Lungen. Du bist überrascht, ich weiß. Ich sehe nicht aus, als wäre ich so schnell. Aber das bin ich. Oh ja.

 

»Bitte«, stößt du hervor. In deinen Augen spiegelt sich echte Angst, doch ich lasse mich nicht täuschen. Du bist kein Mensch und ich muss dich vernichten. Hitze strömt durch meinen Körper, gefolgt von einem erregenden Kribbeln. All meine Sinne sind geschärft. Ich rieche dein Blut, spüre deine Panik.

Du strampelst mit den Beinen, versuchst, deine Arme zu befreien. Dann fängst du an zu schreien. In einer fließenden Bewegung lasse ich die Klinge über deine Kehle gleiten. Tief dringt sie in dein Fleisch, durchtrennt die Halsschlagader und deine Luftröhre. Dein Schrei verebbt in einem Gurgeln. Blut strömt aus deinem Mund über deine Jacke. Schnell zerre ich dich vom Weg, zu dem hohlen Baumstamm, wo ich den Leichensack versteckt habe. Deine Gegenwehr erlahmt. Ich knie mich hin und bette deinen Kopf auf meinen Schoß.

»Pschscht. Alles wird gut.« Beruhigend streiche ich über dein Haar. Es ist nicht so seidig, wie ich dachte, dafür duftet es nach Apfelshampoo. Dein Mund schließt und öffnet sich wie ein Fisch auf dem Wasser, während dunkles Blut zwischen deinen Lippen hervorquillt. Panisch siehst du zu mir auf. Eine Träne rinnt deine Schläfe hinab. Der Anblick stimmt mich traurig. So sollte es nicht sein. Eine junge, schöne Frau sollte nicht sterben müssen wegen widerlichen Teufelswerks.

 

Als dein Blick bricht und der letzte Atemzug aus deinen Lungen strömt, mache ich mich ans Werk. Vorsichtig lege ich dich auf den Boden. Die Erde ist kühl, Raureif bedeckt Gräser und Zweige und benetzt deine Kleider. Ich öffne deine Jacke und schlitze den grau melierten Pullover auf, den du darunter trägst. Dein Bauch ist perfekt. Makellos weiß. Andächtig streiche ich mit den Fingern darüber, hinterlasse rote Spuren auf deiner Haut. Meine Hand zittert. Das ist nicht gut. Ich will ja keine Sauerei anrichten, während ich deine Bauchdecke öffne. Die aufgeschlitzte Kehle ist schon genug. Übelkeit steigt in mir empor. Der Verwesungsgeruch wird immer stärker. Wie klebriger Sprühnebel legt er sich auf meine Atemwege. Tief atme ich durch den Mund ein und entlasse die Luft durch die Nase, den Speichel, der sich in meinem Mund sammelt, spucke ich ins Gras.

Was ist nur mit mir los?

Ruhig. Ich muss ruhig bleiben. Das Knacken eines Astes lässt mich hochfahren. Was war das? Ein Tier? Oder ein Fußgänger? Egal. Ich muss mich beeilen. Noch einmal tief durchatmen, den Würgereiz unterdrücken und los. Die Klinge fährt durch dein Fleisch, durchtrennt Fett und Muskelgewebe. In wenigen Sekunden habe ich die Bauchdecke geöffnet. Den Blut- und Fäkalgestank ignorierend wühle ich mich durch das Gedärm auf der Suche nach dem verdorbenen Stück. Meistens liegt es zwischen Gallenblase und Dickdarm. Diesmal nicht. Konzentriert suche ich, bis ich ferne Schritte höre, die der der Wind zu mir heranträgt. Mir bleiben nur Minuten noch. Zur Hölle noch mal, es muss doch irgendwo sein. Ich kann es riechen. Da! Nein. Hektisch wühle ich weiter. Das Blut pocht in meinen Ohren und ich beginne zu schwitzen.

Warum kann ich es nicht finden?

»Zeig dich, Dämon«, zische ich und schnuppere. Der Verwesungsgeruch wird mich führen. Ich beuge mich näher, ziehe den Atem durch die Nase und folge der unsichtbaren Spur. Näher. Immer näher. Über deine Bauchdecke hinweg zu … zu mir. Ich erstarre. Das kann nicht sein. Ich bin der Jäger, nicht die Beute. Meine Augen wandern über deinen Körper. Habe ich eine Unschuldige getötet? Meine Faust krampft sich um das Messer, keuchend stoße ich den Atem aus. Langsam hebe ich meinen Arm und schnuppere an ihm. Eindeutig Verwesungsgeruch. Die Erkenntnis raubt mir die Luft, ist wie ein Felsbrocken, der mich unter eiskaltes Wasser zieht.

Ich bin der Dämon, nicht du. Ich bin es.

 

Die Schritte sind nun ganz nah. Gleich wird man mich sehen, wie ich hier auf dem Waldboden sitze, eine aufgeschlitzte Frau vor mir liegend. Oh Gott. Was hab ich getan? Wimmernd sinke ich auf deinen toten Leib.

Wann hat es mich erwischt? Und warum habe ich nichts gemerkt? Bin ich infiziert worden von denen, die ich getötet habe? Hundert blutige Leichen schweben vor meinem geistigen Auge, richten ihren leeren Blick auf mich. Eine stumme Klage.

Ich höre einen Schrei. Wie aus weiter Ferne dringt er in mein Bewusstsein. Schwerfällig hebe ich den Kopf. Auf dem Waldweg steht eine Frau in Sportkleidung und starrt mich an, blankes Entsetzen im Gesicht.

»Ich … ich wollte das nicht«, stoße ich hervor.

Die Frau fixiert das Messer in meiner Hand und rennt dann los.

»Bitte«, rufe ich ihr nach. »Es ist nicht meine Schuld.« Vergeblich. Sie sieht sich nicht einmal um. Mein Magen krampft sich zusammen, beißende Flüssigkeit schießt in meinen Mund. Ehe ich mich versehe, beuge ich mich zur Seite und übergebe mich. Nachdem sich mein Magen beruhigt hat, rapple ich mich auf. Mein Blick gleitet zwischen deiner Leiche und dem Messer in meiner Hand hin und her.

Ich habe versagt.

Der Verwesungsgeruch hüllt mich ein wie ein teuflischer Kokon, erinnert mich daran, wer ich bin und dass es noch nicht vorbei ist. Der Jäger bäumt sich auf, verlangt nach seinem Stück Fleisch. Ich zwinge mich zur Ruhe, schließe die Augen und horche in mich hinein. Wo ist der Dämon? Wo hat er sich versteckt? Langsam, in Zeitlupe fast, öffne ich den Reißverschluss meiner Jacke, knöpfe das Hemd auf und entblöße meinen Bauch. Eine seltsame Ruhe senkt sich auf mich hinab. Keine Angst, keine Verzweiflung, nur kalte Berechnung.

Ich bin ein Jäger. Ich werde den Dämon vernichten. Koste es, was es wolle.

 


 

Regina Schleheck: Die Tasche

 

Der blau Uniformierte ließ die Ledertasche nachlässig in die Plastikwanne fallen. Es gab ein hohles Geräusch, die Wanne setzte sich in Bewegung und dann legten sich die schwarzen Gummistreifen fast zärtlich über den Inhalt, als sie ins Dunkle gezogen wurde. Erdinger hielt die Luft an. Seine Wadenmuskeln spannten sich. Er vergaß ganz, den Mann vor dem Bildschirm im Auge zu behalten, so sehr konzentrierte er sich auf das Innere der Box. Erst als die junge Beamtin am anderen Ende des Fließbands die Tasche hochhielt, löste sich seine Lähmung und er stürzte auf sie zu. Ein weiterer Uniformierter stellte sich ihm in den Weg, hielt ihn an den Schultern zurück, griff ihm unter die Achseln und tastete ihn ab. Erdinger widerstand dem Impuls, den er im Knie verspürte, als der Mann so dicht vor ihm stand. Stattdessen sagte er: »Thank you«, und ging zu der freundlich lächelnden Beamtin, die ihm die Tasche entgegen hielt.

Im Flugzeug lag sie auf seinen Knien. Er legte seine Hände darauf. Spürte durch das dicke Leder die Wölbung. Das Zittern setzte wieder ein.

»Coffee, tea, orange juice, soda?«, fragte die Stewardess. »Or do you want white or red wine?«

»No, thank you«, sagte Erdinger. Die Tasche blähte sich auf unter seinem Klammergriff. Seine Fingerspitzen waren weiß vor Anstrengung. Dann schob sich der Wagen mit den Getränken weiter durch den Gang.

Den Flug hatte er also auch geschafft.

Erst im Taxi griff er nach den Druckverschlüssen. Er tastete sie ab. Sie wurden warm unter seinen zärtlichen Berührungen. Draußen flogen Straßenschilder vorbei. Autos näherten sich, drängelten sich heran, beschleunigten und verschwanden wieder.

»Antwerpener Straße?«, wiederholte der Fahrer. Er musterte seinen Passagier im Rückspiegel.

Erdinger ließ die Schnallen los und legte die Arme über die Tasche.

»Nummer fünf«, sagte er.

»Nummer fünf lebt«, sagte der Taxifahrer und verzog den Mund zu einem Grinsen.

Erdinger sah aus dem Fenster. Sie fuhren über den Rhein. Für einen Moment hatte er das Gefühl, wie wenn das Auto Gas geben und auf das Geländer zuhalten würde. Er schloss die Augen, spürte aber seltsamerweise nichts, umklammerte die Tasche, während der Wagen flog, er spürte ein Ziehen im Bauch im Fallen, und öffnete die Augen wieder. Sie fuhren am Heumarkt vorbei.

»Kennen Sie den?«, fragte der Fahrer.

Erdinger schrak zusammen: »Wen?«

»Den Film.«

»Welchen Film?« Erdinger ärgerte sich im gleichen Moment, dass er überhaupt gefragt hatte.

»Nummer fünf lebt«, sagte der Mann. »Der Film mit dem Roboter.«

»Ich gucke solchen Science-Fiction-Mist nicht.« Erdinger hoffte inständig, dass der Mann es damit gut sein lassen würde.

Bis zur Aachener Straße schwieg er tatsächlich. Dann sagte er trotzig zu dem LKW, der unmittelbar vor ihm die Warnblinkanlage anstellte, um zu entladen: »Das ist keine Spinnerei. Das ist sehr gut möglich, dass Dinge ein Eigenleben entwickeln. Dass sie Gefühle haben.«

Erdinger sagte nichts.

Der Fahrer fixierte ihn im Rückspiegel, während sein Taxi dem LKW auf die linke Fahrspur auswich, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Ein Auto bremste scharf und hupte.

»Ich weiß, was ich sage«, beharrte der Mann. »Sie können das gerne lächerlich finden. Aber ich fahre dieses Taxi seit achtzehn Jahren. Und ich weiß genau, wann es schlecht drauf ist oder jemanden nicht leiden mag.«

Erdinger schwieg.

Als sie die Nummer fünf schließlich erreichten, zog Erdinger hastig die Brieftasche hervor und hielt dem Fahrer einen ziemlich großzügig bemessenen Schein hin. »Stimmt so.«

Der Taxifahrer knurrte etwas Versöhnliches.

Kaum hatte Erdinger die Tür hinter sich zugeschlagen, fuhr das Taxi mit quietschenden Reifen los, als könnte es nicht erwarten, endlich seinen Fahrgast hinter sich zu lassen.

Als Erdinger seine Wohnung aufschloss, hatte er Mühe, die Tür gegen den Widerstand der dahinter aufgetürmten Kartons zu öffnen. Er hatte sich kaum bis zur Küche durchgekämpft, als das Telefon klingelte. Nürten war dran.

»Alles gut gelaufen?«, fragte er. »Sie haben den Vertrag mit Merten und Co. in der Tasche?«

»Der Vertrag ist perfekt«, sagte Erdinger. Ihm fiel ein, dass das eigentlich ein Grund war, stolz zu sein.

»Und Sie haben gut durchgehalten?«, fragte Nürten weiter. »Alles im grünen Bereich?«

Eigentlich musste Erdinger ihm dankbar sein, dass er ihm diese Chance gegeben hatte. Dass er ihn immer wieder eingesetzt hatte, trotz seiner Ausfälle. Aber im Moment hasste er ihn.

»Merten ist ein sehr umgänglicher Mensch, nicht wahr?«, fragte Nürten weiter.

»Ja, sehr sympathisch. Aber auch ein knallharter Geschäftsmann.«

Sein Chef lachte. »Umso mehr können Sie doch auf sich stolz sein, dass Sie das geschafft haben«, meinte er. »Hat er Sie denn noch eingeladen?«

»Nein, er hatte einen dringenden Termin«, sagte Erdinger müde.

»Na gut, dann können wir ja ganz froh sein«, meinte Nürten. »Ich sage Ihnen, Holger, Sie schaffen das noch. Ich vertraue fest auf Sie.«

»Wieso eigentlich?«, hätte Erdinger am liebsten gefragt. Er beließ es bei einem »Danke, Carsten«.

Die Küche war sehr schweigsam, als er aufgelegt hatte.

Die Tasche auf dem Tisch lachte lautlos und in freudiger Erwartung.

Bereitwillig gab sie jetzt ihren Inhalt preis, den Merten ihm als kleines Dankeschön zum Geschäftsabschluss in die Hand gedrückt hatte.

Die goldgelbe Flüssigkeit der Flasche rann in seine Kehle, ohne ein Absetzen zu dulden. Er konnte ihren Weg genau verfolgen. Spürte, wie sie durch die Speiseröhre in den Magen rann, wie die Magenschleimhäute sie begierig aufsogen, wie sie weiter sickerte, durch die Membrane, seine Adern und Lymphen eroberte, ihm die Glieder wärmte, seinen Kopf füllte, wie in ihm ein Gesang anhob, der anschwoll, der alles um ihn herum auslöschte, ihn erhob und fliegen ließ, genau so wie eben im Auto, nur dass es bis zum Fußboden nicht so weit war, wie bis in den Rhein und dass die Flüssigkeit, als sie wieder aufstieg, die ganze bittere Masse mitbrachte, die sie im Magen vorgefunden hatte. Sie hatten sich dort unten innig vereint, hatten Freudentänze vollführt, und jetzt wollte dieses Gemenge wieder hinaus. Es nahm ihm den Atem, weil er ja auf dem Rücken lag und sich nicht wehren konnte. Dass die leere Tasche ihn auf seinem Weg nach unten begleitet hatte, kam erschwerend hinzu. Denn sie legte sich über sein Gesicht und ersparte der Nachbarin, die zwei Tage später, von Nürten alarmiert, mit dem Nachschlüssel die Wohnung betrat, gnädig den Blick in Erdingers Augen und auf die Überreste dieser Masse, die mit Erdingers letzten Zuckungen verendet war.

 


 

Esther S. Schmidt: Der schwarze Mann

 

»Kreuzungen sind mächtige Orte.« Das hat ihre Großmutter immer gesagt. »An einer Kreuzung treffen die Welten aufeinander, in der Dämmerung die Zeiten. Der Stoff der Wirklichkeit wird durchlässig.« Ihre Großmutter hat viel über solche Dinge gewusst.

Irene rührt gedankenverloren in ihrem Kaffee und lässt das Geplapper von Gerda an sich abrinnen.

»Sieh es doch mal positiv. Jetzt bist du frei, kannst tun, wonach dir der Sinn steht, wann immer du Lust dazu hast. Niemand erwartet, dass um sechs das Abendessen auf dem Tisch steht oder dass du morgens Kaffee kochst. Jetzt kannst du zu meinen Spieleabenden kommen. Oder besuch doch nächste Woche mit mir den Ikebanakurs!«

Irene kann nicht verhindern, dass Verachtung ihre Mundwinkel herabzieht, und hebt schnell die Tasse, um es zu verbergen. Gerda ist eine alte Jungfer und redet sich ein, gerne allein zu leben. Doch wozu soll man Ikebanagestecke ins Wohnzimmer stellen, wenn es niemanden gibt, der sie sieht?

»Du kannst nicht ewig darüber brüten, dass du die verlassene Ehefrau bist«, redet Gerda weiter. »Du musst dein Selbstmitleid überwinden und selbst etwas für dein Leben tun!«

Irene stellt klirrend die Tasse ab.

»Ich?«, sagt sie wütend. »Ich habe immer alles gemacht, was er von einer Ehefrau erwarten konnte. Er muss etwas tun! Er muss zu mir zurückkommen! Aber das kannst Du natürlich nicht verstehen. Dich hat ja ohnehin nie einer gewollt!«

 

»Kreuzungen sind mächtige Orte.«

Der Satz hallt immer noch in Irenes Kopf, während sie nach Hause fährt. Wie schön wäre es, wenn es das wirklich gäbe – Zauberorte, an denen man Haarsträhnen vergraben und magische Verse murmeln kann, wenn es nur ein paar Handgriffe bräuchte, um den Weg eines Menschen zu wenden. Der Gedanke hat sie immer fasziniert. Sie erinnert sich sogar noch an die fremd klingenden Worte im Althochdeutschen, die Ihre Großmutter ihr vorgesprochen hat.

Das Haus ist leer und stumm. Seit Philipp nicht mehr da ist, ist es außerdem kalt. Es lohnt sich nicht, mehr als das Wohnzimmer zu heizen. Sie muss sehen, wie sie mit dem Geld hinkommt. Zwar überweist er ihr jeden Monat Alimente, aber natürlich kommt das nicht an das Gehalt heran, das ihnen früher zur Verfügung stand. Es wird noch so weit kommen, dass sie arbeiten gehen muss. In irgendeinem Supermarkt an der Kasse sitzen – schrecklich, aber immer noch besser als der Aushilfsjob im Altenheim, den Gerda ihr angeboten hat. Das wäre das Letzte – seniles Menschengemüse waschen, das keine Kontrolle mehr über seine Ausscheidungen hat.

Im Fernsehen läuft Rosamunde Pilcher. Wie hat sie diese Schmonzetten früher genossen! Wenn abends seine Fußballübertragungen liefen, hat sie sich die Wiederholung am nächsten Vormittag angeschaut – statt der Talkshows. Jetzt schmerzt das Glück der Figuren nur noch. Als sie es nicht mehr ertragen kann, schaltet sie das Gerät ab, greift nach dem Mantel. Vor der Garderobe bleibt sie stehen und mustert sich kurz im Spiegel. Ja, sie ist älter geworden, aber seine Neue, die Irene für sich nur das »Miststück« nennt, ist auch nicht gerade jung.

In der Schublade liegt der Kamm, den er immer durch sein schütter gewordenes Haar gezogen hat, bevor er das Haus verließ. Zwischen den Zinken winden sich die grauen und braunen Fäden. Sie zupft die Haare ab und verfilzt sie zwischen den Handflächen zu einem Bällchen.

 

Zwei Straßen weiter beginnen die Äcker. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, das Haarbällchen mit der Rechten umschlossen, stapft sie über die Feldwege, kreuz und quer, atmet die kalte Abendluft, marschiert weiter, um sich müde zu machen, die mahlenden Gedanken zu erschöpfen, damit sie später schlafen kann. Schließlich lässt sie sich auf einer Bank nieder. In der Talsenke liegt das Dorf. Ein Teerweg führt von dort zu ihr herauf, schneidet an der Bank den Feldweg und führt dann weiter über die Anhöhe zum Nachbarort. Ruhig ist es hier. Selbst die Vögel sind schon verstummt, kein Mensch ist unterwegs. Irene schaut zu, wie nach und nach die Lichter in den Fenstern angehen – dort sind Ehepaare, sind Familien beisammen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie seinen Wunsch nach Kindern erfüllt hätte. Aber Kinder kosten Mühe und brauchen Aufmerksamkeit, Sabbern und kacken in ihre Windeln. Kinder hätten sie nur belastet.

»Kreuzungen sind mächtige Orte.«

Sie dreht sich auf der Bank um und mustert den Pfahl, der mit weißen Plastikschildern die anliegenden Wanderwege anzeigt. Dann steht sie auf und sucht einen Stock, mit dem sie eine Kuhle in das Erdreich unter dem Pfahl kratzt. Das Haarbällchen zittert sanft im Luftzug, und während sie es mit Erde bedeckt, murmelt sie Worte, deren Bedeutung ihr verschlossen bleiben, archaische Verse aus alter Zeit.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie schreckt zusammen. Als sie sich umdreht, sieht sie einen Mann in einem dunklen Jogginganzug auf der Kreuzung stehen. Verwirrt fragt sie sich, wo er hergekommen ist.

Wie ertappt richtet sie sich auf und klopft die Erde von ihren Knien.

»Nein, ich wollte nur … ich habe etwas gesucht.«

»Haben Sie es gefunden?«

Es ist nicht zu sagen, wie alt er ist. Seine schwarze Kleidung wirkt wie ein Teil der Dämmerung. »Ich … ich denke schon.«

Sein Lächeln verwirrt sie. Es ist anziehend, doch ohne jede Freundlichkeit. »Sie denken es?«

Er ist drahtig, wirkt stark und durchtrainiert. Ob er wohl den berühmten Sixpack auf dem Bauch …?

Irene erschrickt über die Richtung, die ihre Gedanken nehmen und errötet in der Dämmerung. Noch nie hat sie sich so gefühlt. Selbst Philipp hat sie nicht aus kindischer Verliebtheit geheiratet, sondern weil er eine gute Partie gewesen ist und ihr das Leben bieten konnte, das sie sich vorstellte. Aber dieser Fremde hat etwas Dunkles, das sie gleichzeitig anzieht und beunruhigt.

»Mir schien eher, als ob Sie etwas zurücklassen wollten.«

Zurücklassen? Sie schüttelt heftig den Kopf. Nein, aufgeben will sie Philipp nicht – niemals. Er gehört ihr, gehört zu ihrem Leben. Sie wird sich nicht einfach damit abfinden, dass er sie weggeworfen hat.

Der Jogger lehnt jetzt lässig gegen einen Zaunpfosten, die Arme vor der Brust verschränkt, und betrachtet sie mit interessiertem Blick, nickt leicht, obwohl sie gar nichts gesagt hat. Es sieht aus, als könne er hören, was sie denkt.

»Was wollen Sie also?«, fragt er.

Irene schweigt. Sie hat den absurden Gedanken, es könnte gefährlich sein, ihm zu antworten. Als sie schweigt, spricht er wieder: »Sind Sie nicht hergekommen, damit ich Sie das frage?«

Was für ein seltsamer Satz. Irene runzelt verwirrt die Stirn und zieht fröstelnd die Jacke enger um sich. »Wen kümmert schon, was ich möchte?«, fragt sie ausweichend. Aber ihre Gedanken formen schon den Satz, der ihr gleich darauf auf der Zunge brennt. »Ich will, dass Philipp wieder bei mir ist und dass das Miststück stirbt.«

Hat sie das gesagt, oder hat sie es nur gedacht? Sie weiß es nicht. Ein paar Krähen fliegen zeternd auf.

Er nickt und stößt sich vom Zaunpfosten ab. »Geben Sie mir den Ring.«

Seine hingestreckte Hand hat etwas Zwingendes, und ohne eine Frage streift sie den Ehering ab und legt ihn auf seine Handfläche. Seine Finger krümmen sich um den Reif, halten ihn sekundenlang umschlossen.

»Ein schöner Ring«, sagt er, ohne ihn betrachtet zu haben. Es ist eine Floskel, ein Satz, der Normalität vorgaukeln soll. Doch alles scheint unwirklich in der beginnenden Nacht. Er gibt ihn zurück, dann joggt er davon und die Dämmerung verschluckt ihn.

Verwirrt schiebt sich Irene den Ring wieder an den Finger und steckt die kalten Hände in die Jackentaschen. Was für eine merkwürdige Begegnung!

Auf dem Rückweg geht sie im Geiste die Familien des Ortes durch. Der Jogger gehört zu keiner, die sie kennt. Ob er neu zugezogen ist? Wieder erinnert sie sich mit einem unwillkürlichen Schauder an die Geschichten ihrer Großmutter, in denen der »schwarze Mann«, den man an dämmrigen Kreuzungen traf, einen Pferdefuß hatte und nach Schwefel roch. Aber schnell wischt sie diesen Gedanken beiseite. Was für ein Unsinn! Er war einfach ein Jogger.

Sie kriecht ins Bett, nimmt den Fotorahmen vom Kissen neben sich und betrachtet Philipp – den lächelnden, fröhlichen Philipp aus besseren Tagen.

»Komm zurück zu mir!«, sagt sie beschwörend. Dann küsst sie das Glas und legt das Bild zurück.

 

Am Morgen reißt das Telefon sie aus dem Bett. Eine knappe Stunde später sitzt sie vor einem Professor der Uniklinik und hört seine Stimme wie aus weiter Ferne.

»Leider konnten wir nicht viel tun. Die Beifahrerin ist heute Nacht gestorben. Ihren Mann konnten wir stabilisieren, aber die Kopfverletzung beeinträchtigt die höheren Hirnfunktionen.«

Dann steht sie an seinem Krankenbett. Philipp, der fordernde, energische Philipp, sieht aus wie eine zerbrochene Puppe. Die früher so lebhaften Augen starren leer und teilnahmslos gegen die Decke, Speichel rinnt aus seinem Mundwinkel auf das Kopfkissen.

»Es tut mir leid, aber er wird nie wieder der Alte werden. Sie sollten sich nach einem Pflegeplatz umschauen.«

Irene betrachtet die widerlich leblose Hand auf der Bettdecke und ihr wird übel bei dem Gedanken, sie berühren zu müssen. »Ich werde ihn nach Hause bringen«, sagt sie. Sie kennt seine Versicherungen. Einen Pflegeplatz wird sie sich nicht leisten können.

 


 

Marianne Heideking: Nachrichten aus Togoland

 

23. Juni 1908

Mein lieber lieber Heinrich!

Es ist schon grausam, wie sehr ich dich vermisse! Mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Minute wächst in mir die Sehnsucht nach Zuhause, die Sehnsucht nach unserem Heim und vor allem nach meinem geliebten, so sehr geliebten Mann! Ach, wenn du nur bei mir sein könntest! Oh, mein Heinrich! Aber ich weiß ja, weiß, wie unabkömmlich du bist, weiß ja, dass du ein Mensch voller Verantwortungs- und Pflichtgefühl bist, weshalb du nicht weg kannst von Zuhaus, weshalb du bleiben musst in der wundervollen Heimat.

Auch Togoland hat etwas Wundervolles, etwas fast Bezwingendes. Ich kann die Menschen verstehen, die von dieser Gegend hier schwärmen, wenn sie von ihr berichten. Alles hier ist anders, die Sonne, das Wetter, all die Farben, die uns hier umgeben. Ich wünschte, du könntest es sehen, könntest mit eigenen Augen verstehen und wärst nicht auf meine unbeholfenen Zeilen angewiesen! Ich weiß auch, wie sehr du bei mir sein wolltest, dein Brief hat mich zum Weinen gebracht – natürlich! Und umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass du mir mein Hiersein gestattest. Das ist in unserer Zeit wahrlich nichts Selbstverständliches. Von allen Seiten wurde ich gefragt, ob ich keinen Mann hätte. Und als ich ihnen von dir erzählte, dann erntete ich Unverständnis – von Kopfschütteln bis zu anzüglichen Äußerungen, was denn mein Mann sich dabei denke, solch eine junge und schöne Frau so allein in diese Welt zu lassen!

Diese Leute! Ich bin doch gar nicht allein! Wir hier im Lager sind zu sechst, der Doktor, seine drei Assistenten, ein Herr Langeneder vom Kaiserlichen Gesundheitsamt und ich, zugegeben die einzige Frau und damit etwas Besonderes. Nicht erwähnt habe ich die einheimische Polizeitruppe, die uns bei unserer Arbeit unterstützt. Im Lager befinden sich noch 238 Erkrankte, die zu therapieren sind, sechs sind gestern davongelaufen – diese armen dummen Geschöpfe! Wer kann es ihnen zum Vorwurf machen, die Therapie ist schmerzhaft, das Mittel und seine Wirkung ihnen unbekannt und es wird ihnen auch immer unverständlich sein. Aber es hilft nichts, man muss sie halt zu ihrem Glück zwingen.

Die Lieferungen aus Deutschland kommen pünktlich an, an Nachschub ist kein Mangel. Frenezius von der Pharmaforschung sprach in seinem letzten Telegramm von idealen Bedingungen. Seit der Geschichte mit dem Tuberkulin sind Experimente im Reich nicht mehr gut möglich. Hier haben wir eine ideale Ausgangssituation und ein gutes Umfeld. Wenn es hier nur nicht so heiß wäre und so feucht! Aber gerade das sind ja die Faktoren, die die Übertragung so sehr beschleunigen. Es ist das Klima, in dem sich die Fliege so wohlfühlt. Der Doktor hat große Teile des südlichen Waldes abholzen lassen, um ihren Bestand zu reduzieren, aber genutzt hat das wenig, jedenfalls nicht messbar.

Die Krankheit und ihr Verlauf sind wahrlich nicht schön anzuschauen. Ohne Behandlung führt sie unweigerlich zum Tode. Der Körper des Erkrankten zuckt konvulsivisch, sinkt immer wieder zusammen – und das bei zusammengekniffenen Augen oder blödem Blick. Weiter beobachten wir starkes Fieber, Kopf- und Gelenkschmerzen, diese armen Kreaturen leiden fürchterlich!

Oh, Heinrich, jetzt wollte ich dir eigentlich etwas ganz anderes schreiben und jammere stattdessen herum, das hast du nicht verdient! Mein lieber lieber Mann, glaube mir, bei all dem Unangenehmen, das ich hier erleben muss, so habe ich doch immer das Empfinden, an etwas wirklich Wichtigem mitarbeiten zu dürfen und somit einen wichtigen Beitrag zu leisten – für die Sache der Medizin, für diese armen Geschöpfe, für die Forschung und – verzeih mir diese kleine Bemerkung! – für die Sache der Frauen!

Ich freue mich jeden Tag über meinen geliebten Mann und danke ihm jeden Tag für seine modernen Ansichten, die mir gestatten, hier zu sein.

In Liebe und Dankbarkeit

Deine Elisabeth

 

04. Juli

Mein lieber lieber Heinrich!

Oh, das war gestern eine schlimme Sache. Selbst der Doktor, sonst immer ernst, bedächtig und in sich ruhend, hat getobt. Der dumme Junge hatte sich partout geweigert, seine Dosis zu empfangen, schon bei der Blutabnahme hat er geschrien und gezappelt, sodass wir ihn verletzen mussten. Er hatte erst recht gut angesprochen auf das Atoxyl, es hatte sich durchaus eine Besserung der Symptome gezeigt, dann aber erlitt er einen bösen Rückfall. Die Erhöhung der Dosis brachte in den Gliedern Lähmungserscheinungen, dann klagte er – darin ähnlich dem alten Mann neben ihm – über Sehstörungen. Er kann natürlich nichts verstehen, hat den Glauben an den weißen Doktor scheinbar ganz verloren, reagiert mittlerweile auch nicht mehr auf Prügel. Wir mussten ihn zu dritt am Bett fixieren. Nein, nein, mach dir keine Sorgen, das war nicht meine Aufgabe! Überhaupt achtet der Doktor gut auf mich, dass ich mich nicht überanstrenge und dass ich keinerlei Gefahren ausgesetzt werde. Und doch, mein Heinrich, das alles hier ist auch wieder sehr schrecklich. Und würde ich nicht an das Gute der Sache glauben, ganz fest glauben, dann würden mir manchmal durchaus Zweifel kommen.

Die Dagomba, wie sie genannt werden, haben überwiegend Angst und lieben uns nicht, obwohl wir ihnen doch so viel Gutes tun. Vielleicht sind es auch die Polizeitruppen, die ihnen diese Angst machen. Auch daran sieht man den Unterschied zwischen Wilden und Kulturmenschen. Sie gehen auf ihr eigenes Volk los, prügeln fast mit Freude, immer aber mit wilder Entschlossenheit. Dann werfen sie uns stolze Blicke zu, uns, ihren Herren, wie ein Kind, das gelobt, das geliebt werden will. Könntest du dir vorstellen, dass Deutsche sich so verhalten würden?

Nein, mein lieber Heinrich, das hier ist dann doch eine andere Welt. Und so sehnt sich mein Herz in die schöne Heimat, ins traumhafte Hamburg, wo alles groß, schön und gut ist. Aber ich weiß, ich muss noch hierbleiben. Es ist fast wie eine große, schwere Prüfung, so ganz ohne dich, mein liebendes Herz, mein wunderbarer Mann! Umso glücklicher wird meine Rückkehr sein! Nächstes Mal mehr positive Nachrichten, ich verspreche es!

In Liebe

Deine Elisabeth

 

13. Juli

Mein lieber Heinrich!

Ich danke dir für deinen lieben Brief und deine segensreichen Worte und für dein Vertrauen, das du in deine kleine Frau setzt! Ich verspreche dir, ich werde dir Ehre machen!

Zurzeit sieht es jedoch gar nicht gut aus, die Anwendungen können keinen Erfolg verbuchen. Nicht wenige der Erkrankten sind blind geworden, zu stark die Arsenhaltigkeit im Mittel. Andere können sich kaum bewegen, sechs Abgänge.

Und heute Morgen die schreckliche Entdeckung: Der Zaun an einer Stelle aufgerissen, der Draht wie mit Zähnen und Klauen auseinandergerissen. Über vierzig sind fort, einige Polizeitruppen hinterher! Mittlerweile kommt man sich dann doch ziemlich allein gelassen vor. Der Doktor hat seine Ruhe längst abgelegt, einer seiner Assistenten ist zurück nach Berlin. Langeneder trinkt deutlich zu viel, er sagt, weil er nicht einschlafen kann. Einschlafen! Das klingt angesichts der Auswüchse der Krankheit wie Hohn, auch wenn er es nicht so meint.

Etwas zu Herzen geht mir der Tod des Jungen. Du weißt, von dem ich dir schrieb, seinen Namen kenne ich nicht, wie wir hier ohnehin keine Namen kennen. Die Erkrankten tragen Holzschildchen an einem Lederbändchen um den Hals, darauf sind ihre Nummern. Das ist wichtig, damit wir korrekte Listen führen und die Dosierungen stimmen. Der Junge nun ist tot und hat, das muss man sagen, bis zuletzt schlimm gelitten. Wie alt er war, das vermag ich nur einzuschätzen, vielleicht zehn oder elf, höchstens zwölf Jahre. Am Ende schienen ihm seine Augen fast auszulaufen, sehen konnte er nichts mehr, ganz gekrümmt lag er da, immer wieder schreckliche Konvulsionen.

Der Doktor wird die Dosierungen radikal erhöhen, er möchte nun zum Ziel kommen, zumal er glaubt, dass uns die Zeit davonlaufe. Irritiert ist er wegen eines Berichts in einem Berliner Wochenblatt, worin sich falsche Aussagen unter anderem über unsere Arbeit fänden. Solltest du etwas in der Art hören, so glaube nichts davon, mein lieber Mann! Die Arbeit ist hier hart, oftmals erbarmungslos und fast scheint Gott von diesem Ort fern zu sein. Und doch ist unsere Tätigkeit hier ein Menschheitsdienst und unser Handeln durch höhere Moral gerechtfertigt.