Über das Buch

Wüst, brutal, sinnlich: Akiz erzählt die Geschichte eines Underdogs auf dem Weg in die Sterneküche — ein neuer Sound in der deutschen Literatur.

Der Hund ist ein Ausnahmetalent. Ein Waisenjunge, halb verhungert aus einem Kellerloch gekrochen, der kochen kann, dass es einem das Herz zerreißt. Und er ist für Mo wie ein Bruder. Als sie beide im Restaurant El Cion anfangen, steigt der Hund in den Olymp der Sterneküche auf. Akiz erzählt die Geschichte zweier Underdogs, ohne Luft zu holen, in überschäumendem Sound. Ein brachiales, unvergessliches Debüt, das mit voller Wucht auf die Explosion zusteuert.

Akiz

Der Hund

Roman

hanserblau

Danke an Roberto dafür, mir die Pforten zur Welt der Köche geöffnet zu haben, an Sina, mich überzeugt zu haben, den Roman zu schreiben, an die Köche Romanov und Flügge, an Karin, das Manuskript in die Hände der richtigen Leute gegeben zu haben, und an Ulrike und Anna, dass sie die richtigen Leute waren.

1

Wir nannten ihn den Hund. Ich glaube, Vaslav hatte ihm den Namen gegeben. Keine Ahnung, aber ich glaube, Vaslav hatte damit angefangen.

»Hund. Hier. Sauber machen«, so in der Art. Jedenfalls dauerte es nicht lange, bis der Junge auf den Namen »Hund« hörte und aufblickte, wenn man ihn so rief.

Für uns alle war der Hund ein Rätsel. Wie eine Sphinx. Eine Sphinx mit kleinen Augen, klein wie Stecknadeln, als ob sich giftiger, blauschwarzer Strom hinter seinen Pupillen angestaut hätte, und lange Haare zankten sich auf seinem Kopf. Sein Gesicht wirkte fiebrig, gierig und triebgesteuert, fast schon pervers, aber irgendwie auch wie von einer filigranen Statue aus einer anderen Zeit. Mehr als einmal habe ich Frauen gesehen, die knallrote Flecken im Gesicht bekamen, während sie den Hund heimlich anstarrten, wenn er nicht so abartig und wortkarg gewesen wäre, dann hätte er sie alle haben können.

Man erzählte sich, dass er während seiner ganzen Kindheit eingesperrt gewesen war, in einem dunklen Erdloch, irgendwo im Kosovo, ob das stimmt, weiß ich nicht. Angeblich wurde er unter einer Luke gefangen gehalten und sah in dieser Zeit keine Menschenseele. Und keinen einzigen Lichtstrahl. Nur absolute, rabenschwarze Stille. Jahrelang. Seine einzige Verbindung zur Außenwelt war das Essen. Das wurde ihm täglich durch eine Luke geschoben. Einfache Kost, lieblos zusammengeklatschte Essensreste. Meistens Brot. Bohnen. Kartoffeln. Manchmal Fleischreste vom Huhn.

Nach und nach müssen sich seine Geschmacksnerven in dieser Isolation wie der Tastsinn eines Blinden entwickelt haben, irgendwann konnte er im Essen lesen wie andere Menschen in einer Zeitung. Angeblich konnte er schmecken, ob die Kartoffeln in der Nähe einer Autobahn geerntet wurden oder ob das Fleisch von einem Tier stammte, das schmerzlos oder qualvoll hingerichtet wurde. Oder wer das Essen gekocht hatte. Ob es ein Mann oder eine Frau war. Ob sie sich vorher die Hände gewaschen hatte, ob sie ihre Tage oder vor Kurzem noch Sex gehabt hatte. Er musste die Kartoffelfelder im trüben Herbstlicht wie Bilder auf der Zunge gesehen haben. Die schwitzenden Titten der Frau hinter dem Herd und die nikotingelben Achseln der Gabelstaplerfahrer in den Großlagerhallen.

Wie er in die Stadt kam, war nicht aus ihm herauszubekommen, aber jemand hatte einmal behauptet, dass der Hund vor ein paar Jahren als blinder Passagier auf der Ladefläche eines polnischen Lkws angekommen war. Angeblich hatte er nicht mehr dabeigehabt als eine gelbe Plastiktüte, in die er sein ganzes Hab und Gut gestopft hatte, und wenn die Gerüchte stimmen, dann stammt die Narbe auf seinem Kopf vom Baseballschläger des Lkw-Fahrers, der ihn dabei entdeckt hatte, wie er unter der Plane des Lkws hervorgekrochen kam.

Als ich ihn kennenlernte, muss er gerade mal zwanzig Jahre alt gewesen sein, so gut wie nie kamen Worte aus seinem Mund, und wenn, dann nur kurze, marode Sätze. Er sah den Menschen nicht ins Gesicht, sondern immer unter das Kinn, auf den Kehlkopf, irgendwo zwischen Hals und Mund, nur wenn ihn etwas überraschte, dann blickte er einem in die Augen, starr, entsetzt, nur für Bruchteile einer Sekunde, wie ein zu Tode erschrecktes Tier. Der Hund war ein Genie. Und er war mein Bruder.

Als ich ihn das erste Mal sah, lag der Winter bereits lange hinter uns und die ersten warmen Nächte im Jahr fingen an, die Trostlosigkeit der kalten Stadt wie Tauwetter zu schmelzen, die Presslufthämmer auf den Baustellen klangen wieder lieblicher, und das Kreischen der Bahngleise war nicht mehr so brutal wie noch um Neujahr herum. Die letzten Weihnachtsdekorationen wurden aus den Bäumen entlang der Boulevards gerissen, und eines Nachts, kurz bevor ein neuer Tag anbrach, stand er plötzlich direkt vor mir in der Unterführung gegenüber vom Imbiss.

Seine Hände steckten in den Taschen einer fettigen Bomberjacke, und er starrte zu mir herüber. Abwesend. Wortlos, als ob er Witterung aufgenommen hätte.

Aufgedonnerte, zugekokste Russinnen, die ihr verlaufenes Make-up vor dem Tageslicht in Sicherheit bringen wollten, breit grinsende, wie Kriegsheimkehrer nach Hause schleichende, spanische Backpacker auf Ecstasy und hysterische Busreisende musterten ihn neugierig. Wie Müll und Treibgut wurden sie im Gedränge rechts und links an ihm vorbeigespült, und auch die Zombies in ihren nach süßlichem Heroin und Pisse stinkenden Schlafsäcken am Straßenrand vor dem Spätkauf verfolgten ihn mit nervösen Blicken.

Ich arbeitete damals seit fast einem Jahr bei Vaslav. Bis vor Kurzem war das hier noch ein China-Imbiss gewesen. Jetzt vertickten wir Döner, Börek und Köfte. Ab Einbruch der Dunkelheit plärrten russische Pop-Hits aus den Boxen über der Kasse. Vaslav drehte so laut auf, dass die müden und tauben Partygänger von der Musik wie von einem Leuchtfeuer angezogen wurden, wie Fliegen von der Scheiße, die gar nicht anders konnten, als einen letzten Zwischenstopp einzulegen, bevor sie nach Hause krochen, um endlich hinter ihrer Türschwelle mit rot geränderten Augen und Ayranflecken auf der Hose zusammenzubrechen.

Vaslav rief den Hund zu uns und bot ihm einen Döner an. Dafür sollte er das verkrustete Auffangbecken unter dem Grill sauber schrubben. Das war eigentlich mein Job, aber ich musste los, die tiefgefrorenen Pommes aus Vaslavs Kofferraum holen. Offensichtlich war der Hund so hungrig, dass er stumm nickte und die Bürste in die Hand nahm und loslegte. Von da an kam er jeden Tag. Vaslav ließ ihn den Boden wischen, die Bratfettkästen abschmieren und die Hundescheiße aus den Reifen seiner alten S-Klasse kratzen. Vaslav war ein mieser Typ. Fette rote Adern, speckig wie nasse Regenwürmer und breit wie Unterarme, blähten sich an seinem Hals und wurden von einem engen schwarzen Rollkragenpullover abgeschnürt, wenn er brüllte. Vaslav brüllte eigentlich immer. Seine Haare waren kurz wie beim Militär. Hinterkopf hatte er keinen. Wenn der Teufel auf einen Haufen scheißt, dann richtig, und bei Vaslav hatte er Durchfall gehabt. Der Hund ließ alles über sich ergehen. Selbst als Vaslav ihn anspuckte, wischte er nicht einmal den Rotz vom Rücken seiner Bomberjacke, sondern kratzte weiter die braungelbe Soße aus den Plastikeimern, als würde er stoisch und schweigend abwarten, bis seine Zeit gekommen war.

Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wurde in diesem Frühjahr das El Cion wiedereröffnet. Die Gerüchte kursierten schon lange, dass der alte Inhaber gefeuert, der Laden seit letztem Sommer fertig renoviert und Valentino als Chefkoch zurück im Ring war. Zwei Jahre lang war er im Knast gewesen, angeblich hatte er einem Gast die Vorderzähne ausgeschlagen, weil der sein Essen mehrmals zurückgegeben hatte. Im Netz kursierte damals ein Video, auf dem ein Mann auf dem Boden lag, seine Oberlippe war dick und aufgeplatzt wie eine Bratwurst, und er fischte mit zitternden Händen auf dem Boden nach seinen Zähnen. Im Hintergrund stand ein Typ in Kochuniform, von hinten sah er Valentino wirklich ähnlich, und jemand zupfte an seinem Ärmel und versuchte, ihn wie ein entlaufenes Nashorn zurück in die Küche zu locken.

Valentino war ein Todesstoß für die blutleeren und verkrampften Laborversuche der Molekulargastronomie und der verstaubten, reaktionären mediterranen Küche. Er war ein Flächenbrand für den Geschmack, ein Frontalunfall der Sinne seiner Gäste, man musste hinschauen und die Zähne hineinschlagen, ob man wollte oder nicht. Nach dem ersten Biss drehte man die Augen nach oben, bis das Weiße sichtbar wurde, und wenn das obszöne Ragout oder die absurd überteuerte Fasanenbrust den Hals hinunterrutschte, grunzte man, und man stöhnte, und man seufzte, und man bekam wehmütige Augen, man holte tief Luft, während der Geschmack im Mund mit voller Lautstärke dröhnte, als wäre man gerade in seiner Hose gekommen, und dann lächelte man verklärt, und man schüttelte leicht den Kopf und fragte sich, wie so ein Geschmack von Menschenhand geschaffen werden könne. Man war sich einig, dass sich Valentino mal wieder selbst übertroffen habe und dass man es kaum glauben könne, und ja, die Gerüchte über ihn würden stimmen, man kenne jemanden, der habe Valentino mal persönlich getroffen, und es gäbe da noch ganz andere Geschichten, aber nicht jetzt, nein, bitte, man möchte nicht darüber reden, aber ob man denn schon mal seinen Lachs mit Orangen-Meerrettich-Soße gekostet habe, der sei legendär, nein wirklich.

Junge Köche aus aller Welt versuchten Valentino zu imitieren. Ein New Yorker Koch in Europa, der in den Staaten keine Chance hätte, keiften seine Feinde. Einer, für den Prominente jede Form der Demütigung über sich ergehen lassen würden, um einen Tisch zu ergattern, flüsterten seine Jünger, und man erzählte sich, dass in Valentinos Keller Weine für knapp vierhunderttausend Euro lagerten.

Das einzige Restaurant, das es mit der kaltschnäuzigen, brachialen und eleganten Wucht des El Cion aufnehmen konnte, war das Gaspar. Als Valentino im Knast saß, kam das Gaspar aus seiner Deckung gekrochen, hatte sich auf Valentinos Thron gedrängt und sich mit eiserner Wut daran festgebissen. Die Brigaden dieser beiden Restaurants waren bis aufs Blut verfeindet, und es gibt Köche, die behaupten, dass dieser Gast, dem jetzt die Vorderzähne fehlten und der das Essen dreimal zurückgehen ließ, dass dieser Typ in Wirklichkeit ein Koch aus dem Gaspar gewesen war, der von seinem Chef geschickt und dafür bezahlt wurde, Valentino so lange auf den Sack zu gehen, bis er platzte wie eine Silvesterrakete.

Der eigentliche Grund für den Streit zwischen Gaspar und Valentino lag aber noch länger zurück. Vor einigen Jahren hatte es Valentino über verschiedene Kanäle und Mittelsmänner geschafft, an wirklich exklusives Salz von tibetanischen Mönchen aus einem Bergwerk im Himalaja heranzukommen. Unechtes Himalajasalz gab es wie Sand am Meer. Aber fast alle kamen aus Pakistan. Aus Khewra. Manche sogar aus Polen. Alles Mist. Dieses Salz, das kam aus einem winzigen Bergwerk am Khardong-Pass. Man sagte, der Geschmack sei unbeschreiblich, hellblau, fast schon türkis, zerfalle es auf der Zunge wie Schnee. Die Mönche nannten es »Atem der Götter«. Einmal im Jahr wurde es von Kindern mit winzigen Löffeln aus dem Fels geschabt. Löffel so klein wie Daumennägel. Dann wurde es von den Ältesten des Dorfes für ein Jahr auf dem Berg in der frischen, dünnen, steinigen Luft unter staubtrockener Bergsonne gelagert. Das Salz wurde nur zu zeremoniellen Ritualen verwendet. Eigentlich war es tabu.

So weit, so gut. Jedenfalls wurde Valentino von heute auf morgen nicht mehr beliefert. Angeblich hatte Gaspar dafür gesorgt, dass die Mönche im Himalaja davon erfuhren, wie Valentino drauf war. Dass er es mit den buddhistischen Werten nicht so genau nehme, sondern kokse wie ein Staubsauger, Gäste verprügle, und dass er ein schlechter Mensch sei, der einen heiligen tibetanischen Adler, ohne mit der Wimper zu zucken, zu Wurst verarbeiten würde. Seitdem war das Gaspar das einzige Restaurant in der Stadt, in dem man dieses Salz serviert bekam. Ich glaube sogar, das einzige im Land — wenn nicht in ganz Europa. Und seitdem herrschte Krieg. Seitdem floss lauwarmes, rotes, schmieriges Blut zwischen dem El Cion und dem Gaspar, und jetzt kursierten in der Szene Gerüchte, dass Valentino dem ganzen Stress in der Küche nicht mehr länger gewachsen war, dass er selber tief im Innersten spürte, dass seine Zeit gekommen war und dass er die Wochentage nur noch auseinanderhalten könne, wenn er die Beschriftung auf den Fächern seiner Pillendose lesen würde. Das El Cion, das habe den Zenit längst überschritten, damals in den Nullerjahren, ja, das seien noch Zeiten gewesen, da hatte das El Cion noch zur Avantgarde gehört. Aber ob Valentino heute, nach der Wiedereröffnung, noch an seinen alten, radikalen Stil anknüpfen könne, das bezweifle man schwer, Valentino sei alt geworden, ob man denn mal Bilder von ihm im Netz gesehen habe, wie er jetzt aussehe, dem hätten die letzten Jahre zugesetzt, ja genau, der hier links oben, der Typ mit dem irren Blick im Blitzlicht, das sei er, so murmelte man sich mit vorgehaltener Hand ins Ohr.

Und tatsächlich, die Zeit war weitergeflossen. Niemand hatte Valentino eine Strickleiter heruntergelassen, damit er wieder an Bord klettern konnte, die Karawane war weitergezogen, die Gerüchte und Geschichten über ihn fingen an, sich zu wiederholen, man war durstig nach etwas Neuem.

Aber seit ein paar Wochen war Valentino auf freiem Fuß, und jetzt stand er wieder hinter dem Herd. Flankiert wurde er von Lily, seiner Souschefin, sie war dreißig und sah aus wie fünfzig. Ein Ex-Junkie mit platinblonden Haaren und nikotingelben Augäpfeln. In ihrem früheren Leben war sie ein Pitbull gewesen, dafür gab es Beweise. Lily hieß eigentlich Ulrike, aber man durfte sie nur Lily nennen. Zwischen ihren Augen, dort wo Charles Manson die Swastika trug, dort hatte sie ein Kreuz tätowiert. Lily war hart unterwegs. Nach einer wüsten Nacht, das muss schon ein paar Jahre her sein, da hatte sie eine Offenbarung gehabt, Maria war ihr erschienen, splitterfasernackt und mit einer Kriegsbemalung im Gesicht, als würde sie anschaffen gehen, Lily lag damals wegen einer Überdosis auf der Intensivstation, verkabelt wie eine Marionette. Maria blickte ihr in die Augen und berührte sie so sanft, wie Lily noch nie im Leben berührt worden war, und dann gurrte sie ihr ins Ohr, dass Lily ihre Tochter sei, dass sie endlich mit der Scheiße aufhören solle und dass ihre beiden Eltern Totalversager seien, vor allen Dingen ihr verkommener Vater, der wäre eine komplette Null, und außerdem heiße sie nicht Ulrike, sondern Lily und von nun an müsse sie der Versuchung widerstehen und aufhören, Müll in sich reinzupumpen, und der Teufel, der hätte Tausende von Gesichtern, und er würde überall lauern, und sie solle aufpassen, dass er sie nicht um den Finger wickeln würde. Dann löste sich Maria in der blassen Frühlingsluft der Station auf, die Fenster waren offen, von draußen konnte man den Lärm einer Baustelle hören und Kinder auf dem Weg zur Schule, es war früher Morgen, die Türe öffnete sich, und die Schwester kam herein, ob sie gut geschlafen habe, ja, das habe sie, aber sie heiße nicht Ulrike, sondern Lily, und das Schild da vorne an der Stirnseite des Bettes, da könne man gleich mal den Namen ändern.

Von diesem Tag an war Lily straight edge, und damit keine Missverständnisse auftauchten, ritzte sie sich das Kreuz der Edger mit einem Filetiermesser direkt in den Handrücken. Sie trank nicht, sie kokste nicht, sie rauchte nicht einmal einen Joint und auch keine Zigaretten, ob sie Sex hatte, das wusste keiner, jedenfalls stand sie nicht auf Jungs, daraus machte sie kein Geheimnis. Sie bekreuzigte sich täglich mehrmals. Vor der Arbeit und nach der Arbeit verschwand sie aufs Klo, kniete nieder und betete und bedankte sich bei der Heiligen Mutter, es war der einzige Ort, an dem sie mit ihr alleine Zwiesprache halten konnte. Dass sie auf Augenhöhe mit der Pisse und Scheiße der Kellnerinnen war, nahm sie gar nicht wahr.

Dafür hatte sie ganz entschieden etwas gegen alle Formen und Ausgeburten des Satanismus, und die ganzen Lieferanten und Spüler mit ihren langen Haaren und den Gothic Tattoos hatten nicht wirklich etwas zu lachen, wenn Lily auftauchte.

Lily war dem Tod knapp von der Schippe gesprungen, und im El Cion hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Heim gefunden. Valentino war gut zu ihr, man respektierte sie und schätzte ihre Härte, es kam nie ein angetrunkener Onkel zur Türe herein und zog ihr die Bettdecke weg, stattdessen konnte sie den Jungs eins mit dem Kochlöffel überbraten, sooft sie wollte, sie musste nur darauf achten, dass sie niemanden arbeitsunfähig schlug oder ernsthaft verkrüppelte. Die Küche war Lilys Reich, es war ihre Heimat, ihr Ein und Alles, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, sie hütete das El Cion wie ihr Augenlicht, niemand sollte ihrem Reich etwas zuleide tun, Amen. Dann wischte sie die Tränen aus ihren Augen, zog die Klospülung und trat wieder in den Ring.

Lily hasste Ausländer und Männer und alles, was einen Schwanz hatte, und Juden und Moslems, aber sie war kein schlechter Mensch, sie war einfach nur immer schlecht drauf, und es gab Köche in ihrer Brigade, die hatten Angst, von ihr gebissen zu werden.

Valentino war der Kopf und die Eier des El Cion, aber Lily war das Herz. Ein Herz, kalt wie eine Kanüle aus medizinischem Stahl und hart wie der Betonboden einer Folterkammer. Valentino war komplett von ihr abhängig, sie regierte die Meute wie eine Galeere, wenn Valentino an einer Überdosis gestorben wäre, hätte sie den Laden Tage, vielleicht sogar Wochen weiterführen können, ohne dass jemand da draußen, auf der anderen Seite des Passes, im Speisesaal, dort, wo man unsere Schreie nicht hören konnte — ohne dass dort jemand gemerkt hätte, dass Lily den Laden alleine schmiss. Aber wäre Lily nur einen Tag ausgefallen, das El Cion hätte stillgestanden. Valentino hätte wild um sich geschlagen, es hätte Verletzte gegeben und Tränen, und nichts wäre mehr gelaufen. Im Speisesaal wäre gefragt worden, wo denn der Thunfischtartar bliebe und warum das heute denn so lange dauern würde, und jetzt würde man selbst mal nachschauen, so gehe das aber nicht, und wenn man einen Blick durch den Pass in die Höhle des Löwen gewagt hätte, dann wäre da Valentino gewesen, mit furiosem Blick in der Mitte des Raumes. In seinen Händen eine gusseiserne Bratpfanne, die Arme blutig bis zu den Ellenbogen, beide Hände an den Griffen wie bei einer Doppelaxt, und die Köche hätten sich unter den Küchenzeilen versteckt, und manche hätten todesmutig versucht, auf allen vieren aus der Gefahrenzone zu kommen. Die Gäste hätten verstanden, dass es mit dem Thunfischtartar heute nichts mehr werden würde, und man wäre gegangen, und am nächsten Tag hätte es in der Zeitung gestanden, man hätte es ja schon längst geahnt, Valentino sei überfordert, sein Erbe zöge ihn hinab wie ein Mühlstein, seine Zeit sei vorbei, aber es gebe da ein neues Restaurant, unscheinbar und hinterlistig hätte es neben dem Hauptbahnhof letzte Woche seine Pforten geöffnet, da solle man mal vorbeischauen, man habe schon viel davon gehört, George Clooney sei dort anscheinend bereits zu Gast gewesen.

Einen aus der Brigade des El Cion kannte ich persönlich. Said. Er war damals Ende zwanzig. Commis de Cuisine. Maghreb. Ab und zu kaufte er Koks, Ritalin oder anderen Combat-Awareness-Scheiß von mir. Je nachdem, an was ich gerade rankam. Ich hätte ihn eigentlich schon längst anrufen sollen, aber mein Lieferant ging seit Wochen nicht mehr ans Telefon. Ich machte so was eigentlich nicht mehr, aber Said war ein Kollege, den konnte ich nicht hängen lassen. Außerdem war er schon damals, vor der Schließung des El Cion, Teil der Brigade gewesen und wenn die Gerüchte stimmten, dann war er auch jetzt, nach der Neueröffnung, wieder mit an Bord. Das war schon was. Solche Kontakte musste man pflegen.

Den ganzen Abend waren Limos vorgefahren, aus denen Frauen ausstiegen, die wie Königinnen in den Tempel schritten oder wie hochgezüchtete Rennpferde in die Arena geführt wurden. Ihre Duftfahnen wehten bis zu uns herüber. Die Männer an ihrer Seite zerplatzten vor Stolz und glänzten in ihren Anzügen wie die Aale. Alles drängelte sich vor dem El Cion, die ganze Stadt stand kopf, alle waren gut drauf.

Bei uns vor dem Imbiss war weit und breit keine Kundschaft zu sehen. Es war ein milder Abend. Heißes Wetter stand vor der Tür. Am Horizont knurrten hungrige Gewitter bösartig aus der Ferne, und der Hund stand hinter der Theke und kratzte wie ein Chirurg die Rinde von einem trockenen Brötchen herunter. Ich ließ ihn machen. Vaslav war an diesem Tag kein einziges Mal aufgetaucht, wir waren praktisch alleine. Der Hund kokelte die Krümel in der Pfanne an und beugte sich tief herunter und zog die Zungen des aufsteigendem Rauchs in seine Lungen wie Crack. Ich rauchte eine Zigarette und starrte auf die andere Straßenseite. Wenn die Ampeln rot waren und der Verkehr vor dem Imbiss zum Stehen kam, konnte man das Gebrüll der Fotografen und die hysterisch kreischenden, ins Restaurant drängenden Gäste wie eine entfernte Brandung bis zu uns in den Imbiss hören.

An diesem Abend sah ich sie zum ersten Mal. Sie stieg mit ihrer Freundin vor dem El Cion aus einem Taxi. Sie hatte den Glanz der Models aus den Achtzigern, weißblonde Haare, von Ratten zerfressen, aus ihren kohlrabenschwarz geschminkten Augen quoll vulgäres Selbstbewusstsein, ihre Beine waren lang und unnahbar und dekadent, wenn man länger hinsah, brannten einem die Augen. Während ein Typ im Maßanzug neben ihr das Taxi bezahlte, steuerten sie und ihre Freundin auf den mit Fackeln gesäumten Eingang zu. Die Dame am Empfang begrüßte sie, als hätte sie ihr Leben lang auf nichts anderes gewartet. Kurz bevor sie vom El Cion verschlungen wurde, drehte sie sich noch einmal um und blickte zu uns herüber, man hätte meinen können, sie hätte einen Ruf gehört, und mir blieb das Herz stehen. Alisha sah verboten aus und unwirklich schön, wie in einer kristallenen, fiebrigen Sommernacht, irgendwo in einem tropischen Hafen.

»Siehst du die? Die schaut hier rüber! Die schaut mich an! Siehst du das?«

Der Hund hörte mir nicht zu. Er nutzte die wenigen Sekunden, in denen er unbeobachtet hinter der Theke machen konnte, was er wollte, dann fiel die Tür hinter Alisha zu, lautlos wie ein Tresor.

Der Hund hatte eine meiner Zigaretten zerbröselt, den Tabak in der Pfanne angebraten und das Ganze zusammen mit den halb verbrannten und in Wodka getränkten Brotkrümeln auf seine seltsame Kreation gestreut.

Ich pfiff ihn an, ob er behindert sei, und ärgerte mich, dass ich ihn schon viel zu lange aus den Augen gelassen hatte, mit leerem Blick starrte er auf meinen Kehlkopf.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, warum ich damals von seinem merkwürdigen Gericht kostete, ich hab’s vergessen, es war nicht so, dass ich Hunger hatte oder dass mich der Geschmack von angebrannten Tabakkrümeln interessiert hätte.

Aber ich erinnere mich an den ersten Biss und daran, dass in diesem Moment, in dieser einen Sekunde, mein Leben abbog, durch die Leitplanke krachte und in den freien Fall ging. Nicht nur mein Leben. Das Leben von allen, die damals mit dem Hund zu tun hatten.

Die Zeit blieb stehen, wie bei einem Unfall. Die Tauben standen reglos in der Luft, als wären sie in Kunstharz gegossen. Der Lärm der Straße war kaum noch zu hören und verstummte schließlich ganz. Nur die Heizdrähte im Grill knackten leise. Das Rauschen der Gasflammen auf dem Herd. Das Sirren der Straßenbeleuchtung. Das Klirren der Krümel, die auf den Boden fielen. Wirre Gedanken setzten sich auf das Fensterbrett meiner Seele und zwinkerten mir zu, fremde und unheimliche Bilder tauchten in meinem Kopf auf, dann zündeten die Geschmacksnerven auf meiner Zunge. Die Hormone schossen lautlos wie aufschäumende Brause in mein Blut. Von dort ins Hirn. Meine Synapsen warfen schillernde Blasen wie silbriges Kerosin. Friedliche, lähmende, morphiumartige Stille legte sich auf meine Seele. Leise sprach das Rauschen von vergangenen Gefühlen und Gedanken. Ich musste die Augen geschlossen haben, denn um mich herum war es finster, und ich sah irre, fiebrige, nächtlich bunte Träume. Ich stand in der Dunkelheit, an eine Wand gedrängt, nur schemenhaft konnte ich mein Gesicht erkennen, zuckendes, flackerndes, schwarz-goldenes Licht hüpfte auf meiner Haut und glänzte in meinen aufgerissenen Augen. Ich sah fremd aus, meine Gesichtszüge waren frisch und neu, ich war in Weiß gekleidet, ganz in Weiß, kalkweiß wie Kreide, weißer Kragen, weiße Knöpfe, meine Haare waren kurz, gefährlich sah ich aus, verwegen und gefährlich, und dann sah ich sie an einem endlos langen Esstisch sitzen, und der Anblick ließ einen Riss durch meine Seele gehen.

Furchtbar, allmächtig und unheilbar verstörend sahen sie aus.

Ganz langsam, wie ein leises Zwitschern aus weiter Ferne kam die Nacht zurück, der Imbiss, der Asphalt, die murmelnde Brandung des Verkehrs und der Blick auf das El Cion wie alte, längst vergessene Bekannte.

Ich roch wieder die Luft der Straße. Die Abgase. Das Fett aus der Fritteuse. Ich war wieder zu Hause. Am schwarzen Himmel waren dunkelgrüne Wolken aufgezogen, und golden flackerte die Stadt.

Es war gegen Mitternacht, die Paparazzi vor dem El Cion packten langsam ein, und ich starrte den Hund an, wie er die Reste seines Gerichts in den Müll kippte, der berauschende Geschmack der Freiheit lag nur noch wie ein dünner Belag auf meiner Zunge.

Ob er mal in einer Küche gearbeitet hätte, fragte ich ihn, aber der Hund antwortete nicht, was sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte. Ob er wisse, was ein Saucier sei, ein Rotisseur, ein Commis oder ein Gardemanger, bohrte ich weiter, aber der Hund zuckte nur vage mit den Schultern, aus ihm war keine Antwort herauszubekommen, ich wusste nicht, ob er ein Eingeweihter war, einer, der die harte Schule einer Restaurantküche durchlaufen und überlebt hatte. Ich hatte damals keine Ahnung, mit wem ich es zu tun hatte, ich wusste nicht, dass er ein einzigartiges Genie war, dessen Meisterwerke wie von da Vinci oder Michelangelo noch Hunderte von Jahren nach seinem Tod für Furore gesorgt hätten, wenn sie in Museen konserviert und für die Nachwelt erhalten geblieben wären und nicht nach wenigen Sekunden oder Minuten auf der Zunge verblasst wären.

»Was war da drin?« Die Frage kam nicht so beiläufig über meine Lippen, wie ich es geplant hatte. Der Hund zeigte unscharf auf ein paar Zutaten in seiner Nähe, er wirkte abwesend, er suchte weiter in den Gemüseboxen nach etwas, es schien, als wüsste er selbst nicht so genau, wonach.

Bevor ich das Tuch auseinanderwickelte, bemühte ich mich um Fassung, wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal die Zunge einer schönen Frau gekostet hatte, und wischte die Arbeitsplatte sauber. Ich war einigermaßen nervös, denn wenn das kein Zufall war, kein dummes Missverständnis, sondern wenn der Hund wusste, was er da tat, dann hätte ich mitten in all dem Gestank, der Abgase, der Hundescheiße auf der Straße und dem ranzigen Bratfett einen Seelenverwandten gefunden, wie ein Soldat an der Front, der einen Kameraden aus dem Heimatdorf trifft.

Ich wusste damals noch nicht, was auf uns wartete und was der Hund wie ein Besessener suchte, es war, als ob er Skizzen anfertigen würde und sich einem Gefühl annäherte. Damals wischte er noch unscharf und ungenau herum und tastete sich langsam an etwas Unausweichliches heran.

Erst als ich das Set komplett ausgebreitet hatte und die Prachtstücke zum Vorschein gekommen waren, blickte ich ihn verstohlen von der Seite an. Ich wollte sehen, ob ihm klar war, was da vor ihm lag. Das Sortiment war der Größe nach geordnet. Links waren die kleinen Messer. Obstmesser, Austernmesser und so weiter. Dann die größeren Filetiermesser. Ich hatte seine Aufmerksamkeit, wir starrten wortlos auf die Klingen.

Auch die letzten vereinzelten Echos waren inzwischen auf meiner Zunge verhallt, sie waren dünner geworden und hatten sich schließlich ganz aufgelöst. Zurück blieb der Eindruck eines wärmenden, befreienden Lichtes, das auf mich geschienen hatte, als ich nackt und bloß, ehrfürchtig und hilflos und mit aufgerissenen Augen vor dem Geschmack stand und jede Faser meines Wesens blank wie ein aufgescheuertes Starkstromkabel war.

»Ein Börek, Digga«, kreischte eine Stimme. Vor dem Imbiss stand eine kleine Gruppe Geschäftsreisende. Ihr Anführer war ein spießiger dunkelhaariger Typ mit Wildlederschuhen, Fönfrisur und Schal. Vor seiner Entourage aus Funktionären und Redakteuren spielte er sich auf wie ein Gangster, im Geiste sah er sich umringt von schweren Jungs aus der Bronx, alles seine Freunde, Brothers, die für ihn durch das Feuer gehen würden, in Wirklichkeit und bei Tageslicht betrachtet kam er rüber wie ein zugekokster Hamburger Werbetexter. Er drehte sich zu seinen Leuten um.

»Und ihr? Auch alle Börek?«

»Wir haben geschlossen. Sorry«, sagte ich. Wir hatten nicht geschlossen, der Grill glühte lichterloh wie ein Atommeiler, aber ich wollte nicht gestört werden, ich wollte dem Hund weiter die Messer zeigen.

»Digga, der Grill ist doch noch an«, kam in aufgesetztem Straßenslang über die Lippen des Gangsters. Dann wieder zu seinen Leuten: »So, kommt. Ganz schnell. Die machen gleich zu. Was wollt ihr? Auch alle ein Börek? Wie viel?«

Er zählte durch.

»Eins, zwei … du auch? Drei …« Dann wandte er sich wieder an mich. »Also drei Böreks, Digga.«

Er war zufrieden mit sich und der Welt, zog sein iPhone aus der Tasche und schoss ein Selfie mit seinen Geschäftsfreunden, er in der Mitte, jede Schwiegermutter wäre ihm zu Füßen gelegen, während er Filter über sein Foto legte und an den Farben drehte, kreischte er: »Bam, Digga, jetzt essen wir mal was Richtiges. Was Authentisches. Nicht so einen Scheiß wie die ganzen Scheiß-Nazi-Hipster da drüben im El Cion. Street Style, Digga, Street Styyyyle!«

Dann donnerte die Jalousie direkt vor seiner Nase herunter, und wir hatten wieder unsere Ruhe. Ich zog das kleinste Messer aus dem Set, das Geheule des Gangsters konnte man hier drinnen nur noch dumpf durch die Jalousie hören.

Das sei ein Kernmesser. Damit würde man Muscheln oder Austern aufmachen. Langer und breiter Griff. Damit könne man guten Druck ausüben. Kurze, breite Klinge. Die breche sonst ab, erklärte ich dem Hund.

Damit er begriff, wovon ich redete, machte ich ihm in der Luft vor, wie man eine Auster aufmachte.

Ob er verstehe, fragte ich ihn.

Der Hund nickte, er wollte über die Klinge streichen, um zu sehen, wie scharf sie ist.

»Finger weg!«, pfiff ich ihn an, die Klinge würde ich ja selber kaum anfassen. Auch nicht beim Schärfen. Und ein Fremder wie der Hund schon gar nicht. In Japan hätte man ihn dafür jetzt schon kaltgemacht.

Ich war mir nicht sicher, ob der Hund den Ernst der Lage verstanden hatte. Ich nahm das größte Messer aus dem Set. Das hier sei die Schlampe, die Königin. Ohne sie würde gar nix gehen in der Küche. Die benutze man ständig. Grünzeugs wegmachen, Strünke abschneiden oder auch Knochen. Große und breite Klinge.

Ich zerhackte eine Zwiebel. Die Stückchen flogen nur so durch die Luft, ich zeigte ihm, wie viel Übung man dafür brauchte und dass ich es draufhatte, dann nahm ich die zerhackten Stücke mit der breiten Klinge seitlich wie mit einer Schaufel auf und wischte sie mit einer einzigen Bewegung in einen Behälter.

Ob er gesehen habe? So, hier!

1972.