Über das Buch

Manche Geheimnisse sind unausgesprochen. Andere sind unaussprechlich.

1939. Hetty Cartwright muss eine Sammlung des Londoner Natural History Museum vor dem heraufziehenden Krieg in Sicherheit bringen — ins verfallene Herrenhaus Lockwood Manor. Doch das Haus wirkt auf Hetty wie verflucht: Ihre geliebten Exponate, der ausgestopfte Panther, die Kolibris und der Eisbär, verschwinden, werden zerstört und scheinen nachts umherzuwandern. Zusammen mit der Tochter des tyrannischen Hausherrn, Lucy Lockwood, versucht Hetty, die nächtlichen Geschehnisse zu ergründen, und bringt ein tragisches Geheimnis ans Licht. Eine fesselnde und betörende Geschichte über eine große Liebe und den Wahnsinn einer Familie, ihre lang vergrabenen Geheimnisse und versteckten Sehnsüchte.

Jane Healey

Die stummen Wächter von Lockwood Manor

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Keller

hanserblau

Prolog

Große Häuser darf man keinen Moment aus den Augen lassen, sie sind schwer zu beherrschen, sagte meine Mutter immer zu mir, mit angespanntem Blick und gequältem Gesichtsausdruck, um gleich darauf aus dem Raum zu eilen, auf der Suche nach der Haushälterin oder dem Butler oder einem Dienstmädchen, und sich haarklein berichten zu lassen, wie es um die entfernten Winkel des Hauses bestellt war. Lockwood Manor hatte vier Stockwerke, sechs Treppenhäuser und zweiundneunzig Zimmer, und sie wollte zu jedem Zeitpunkt ganz genau wissen, was in jedem von ihnen vor sich ging.

Das Nicht-Wissen war, was ihr am meisten Sorgen bereitete, aber sie hatte auch viele sehr handfeste Befürchtungen: Schimmel, der sich ungestört hinter großen Möbelstücken ausbreitete, morsche Fensterrahmen, die eine unheilvolle Zugluft hineinließen, Mäuse, die an Sofas nagten und sich dort häuslich einrichteten, lose Dielen, wo Nägel sich durch Hitze oder Kälte verselbstständigt hatten, elektrische Drähte, die Funken sprühten, Vögel, die im Schrank eines vergessenen Dienstbotenzimmers nisteten und die Wände mit ihren Krallen bearbeiteten, Feuchtigkeit, die durch eine undichte Stelle in der Dachverkleidung eindrang, ein Teppich, an dem sich hungrige Motten gütlich taten, zischelnde Rohrleitungen, die zu bersten drohten, ein Schlickschwall, der dem Keller gefährlich nahe kam.

Meine Großmutter dagegen, die in einer Zeit aufgewachsen war, als jede einzelne Tätigkeit im Haus einem bestimmten Dienstboten zugewiesen war und das Klingeln nach dem Nachmittagstee eine ganze Armee in Gang setzte, schrieb das alles dem Unvermögen der Angestellten zu. Sie waren arbeitsscheu, nachlässig und neigten zum Stehlen, verbrachten ihre Zeit damit, zu faulenzen, Tagträumen nachzuhängen und allen möglichen Unfug anzustellen. Sie besaß eine stattliche Kollektion an hellen Handschuhen, die sorgfältig von ihrer Zofe gebügelt wurden und mit denen sie, wann immer es ihr gefiel, mit dem Zeigefinger über Kaminsimse oder Regale fuhr und umgehend die Haushälterin herbeizitierte, wenn sie auch nur den Hauch eines Stäubchens entdeckte. Denn meine Großmutter gehörte noch einer Generation an, in der die Dame des Hauses sich nicht dazu herabließ, mit irgendeinem Bediensteten außer der Haushälterin zu sprechen, sodass die Ärmste ständig alles stehen und liegen lassen musste, um durch die Dienstbotenkorridore des Hauses zu hasten und wie aus dem Nichts vor Lady Lockwood zu erscheinen.

Die Angestellten waren also durchaus erleichtert, als meine Mutter und meine Großmutter vor einigen Monaten bei einem Autounfall ums Leben kamen, und ich konnte es ihnen nicht verdenken — mir war bewusst, welch strenges Regiment die beiden Frauen geführt hatten. Aber auch die ehrlichen Tränen bei ihrem Begräbnis waren mir nicht entgangen und ich wusste, dass sie den Angestellten nicht gleichgültig gewesen waren. Ich schwor mir, mir nicht die Gewohnheit meiner Familie zu eigen zu machen, Unmögliches von den Bediensteten zu verlangen, und schlüpfte doch widerstrebend in die Rolle meiner Mutter und meiner Großmutter — immer ein waches Auge auf das Haus zu haben, ihm ständig die volle Aufmerksamkeit zu widmen —, wie in die Pelzmäntel, die sie mir ebenfalls hinterlassen hatten: kratzige, klobige Dinger, die noch die Klauen und Zähne der Tiere zeigten, die für ihre Herstellung gehäutet worden waren, und in denen ich in Unförmigkeit versank.

Seit meiner Kindheit litt ich an nervösen Zuständen und einer überbordenden Fantasie, die mich kaum schlafen ließ. Es war meine Lieblingsgouvernante, jene, die mir auch noch Schlaflieder sang, als ich eigentlich schon einige Jahre zu alt dafür war, die mir beigebracht hatte, wie ich dennoch in den Schlaf finden konnte: Ich solle mir vorstellen, sagte sie, dass ich durch Lockwood Manor gehe, einen Raum nach dem anderen durchquere und die Zimmer wie Schafe zähle — und ehe ich auch nur mit einem Stockwerk fertig wäre, wäre ich eingeschlafen. Die Methode funktionierte, ganz, wie sie gesagt hatte, doch sie konnte nichts gegen die grauenvollen Albträume ausrichten, die mich überfielen, sobald ich schlief — Träume, in denen ich von einem wilden Tier gejagt wurde und in denen ich manchmal verzweifelt die endlosen Gänge meines Zuhauses nach einem blauen Zimmer absuchte, in dem, wie ich wusste, eine schreckliche Kreatur eingesperrt war und mit den Krallen an den Wänden scharrte, was mich beim Aufwachen jedes Mal aufs Neue verwunderte, wusste ich doch, dass es auf Lockwood Manor keinen solchen Raum gab.

Aber nach dem Tod meiner Mutter und meiner Großmutter kam mir das Zählen nicht mehr vor wie ein Spiel oder wie ein Kniff, der mich beruhigen und zum Einschlafen bringen sollte. Es nahm eine neue, fieberhafte Dringlichkeit an. Ich konnte nicht einschlafen, bevor ich nicht im Geiste das komplette Haus durchschritten hatte, und machte ich einen Fehler — vergaß ich etwa die Vorratskammer oder das Badezimmer im zweiten Stock, in dem das Waschbecken herausgerissen war, oder das Schlafzimmer der Haushälterin mit seinen engen Dachschrägen —, so war ich gezwungen, mit wild klopfendem Herzen wieder ganz von vorn zu beginnen, während mir Schweiß über den Rücken lief und auf der Haut juckte.

Auch wenn es völlig verrückt war, dachte ich mitunter sogar, dass, wenn ich mich nicht richtig konzentrierte, wenn es mir nicht gelang, alle Räume zu zählen und sie ihm Kopf zu behalten, sich alle Befürchtungen meiner Mutter bewahrheiten würden, ja, schlimmer noch, dass die Ecken des Hauses auseinanderdriften und die Mauern bersten und zu Staub zerfallen könnten; dass etwas geschehen könnte, das so grauenvoll war, dass es sich jenseits meiner Vorstellungskraft befand.

In Lockwood gab es zu viele leere Räume. Sie waren einfach da, starrten still vor sich hin und warteten darauf, dass meine Fantasie sie mit Horrorgestalten bevölkerte — mit Gespenstern und Schatten und anderen unheimlichen, umhergeisternden Wesen. Und manches Mal war schon das furchterregend genug, was bereits vorhanden war: zurückgelassene Stühle, der wuchtige Umriss eines leeren Kleiderschranks, ein Bild, das von allein von der Wand fiel und auf dem Boden zerbrach, ein Vorhang, den ein verirrter Windstoß aufbauschte, eine flackernde Glühbirne, die eine Botschaft aus dem Jenseits zu übermitteln schien. In verlassenen Zimmern ist Raum für verborgene Gestalten — Herumtreiber, Eindringlinge, Geister. Und wenn genug Platz ist, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, kann man sich vorstellen, dass geliebte Menschen gar nicht tot sind, sondern nur in einem abgelegenen Raum warten, von dem man gar nicht mehr wusste, dass es ihn gibt, und das Verlangen, nach ihnen zu suchen und immer und immer wieder die Flure und Zimmer zu durchstreifen, bis man sie endlich gefunden hat, wird übermächtig.

Doch nun erschien eine Atempause am Horizont, denn nicht mehr lange und das Haus würde nicht mehr leerstehen, und ich und mein Vater und die Dienstboten — nicht, dass wir noch viele hatten, denn wir hatten unsere liebe Not damit, sie zu halten — würden bald Gesellschaft bekommen. Es war August, und Lastwagen aus London waren auf dem Weg, um Evakuierte zu uns zu bringen, die in den Mauern von Lockwood Manor Schutz suchten. Bald würden hier neue Bewohner Quartier beziehen — mit ihren Federn, Pelzen, Schnäbeln, Hufen, Halskrausen und Kragen, Klauen und Krallen —, und wenn die Räume erst wieder bewohnt wurden, wenn sie wieder einen Zweck erfüllten und in ihnen drangvolle Enge herrschte, dann würden ich und das Haus wieder Ruhe finden. Keine verlassenen Zimmer mehr, in denen jeder Schritt widerhallte, keine nervösen Zustände mehr, keine Geister mehr. Da war ich ganz sicher.

1

Kapitel

Die Säugetiere wurden evakuiert. Als Erste waren die Füchse in ihrem Schaukasten dran, in dem der Staub so hoch lag, dass er wie Fell wirkte. Dann kamen der Jaguar mit seinen gefletschten Zähnen, die Sammlung von Hermelinen, die der um Originalität bemühte Tierpräparator liebevoll in Pose gesetzt hatte, das Gehäuse mit dem Schnabeltier, das seines eigenartigen Äußeren wegen anfangs als Scherzattrappe durchgegangen war, der Schädel des Amerikanischen Mastodons, das man aufgrund seiner großen Nasenhöhle früher für einen Zyklopen gehalten hatte, gefolgt von dem tintenschwarzen Panther, der eigentlich ein schwarz pigmentierter Leopard aus Java und mein Liebling war, seit ich das Museum als Kind besucht hatte. Mit großer Sorgfalt hatte ich ihn in Sackleinen gehüllt und gründlich verschnürt, damit er die Reise nach Norden heil überstand, und ihm dann sanft über die breite Nase gestrichen, als wollte ich uns beiden Mut zusprechen.

Die Tiere und die Fossilien, die Präparate dieses großartigen Museums, würden über das ganze Land verteilt, jede Abteilung an einen anderen Ort, um sie vor der Gefahr deutscher Bomben auf London zu schützen. Die Säugetiere wurden nach Lockwood Manor ausgelagert, und ich sollte sie als stellvertretende Abteilungsleiterin begleiten, eine Position, die ich einer Reihe rasch aufeinanderfolgenden Beförderungen zu verdanken hatte, nachdem zwei höherrangige Mitarbeiter sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten. Dort würde ich dann die Verantwortung tragen, als De-facto-Direktorin meines eigenen kleinen Museums.

Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, jemals einen solchen Posten zu bekleiden, denn mir war eines dieser Missgeschicke passiert, die auf einen Schlag alles zunichtemachen können, was man sich mühselig aufgebaut hat. Eines Spätnachmittags hatte ich mich in einer der Werkstätten unterhalb der Ausstellungsräume aufgehalten, um einige verblasste Etiketten für eine Nagetier-Kollektion zu erneuern, die ein herausragender Evolutionstheoretiker auf seinen Reisen zusammengetragen hatte und die daher von ebenso historischer wie wissenschaftlicher Bedeutung war. Daneben hatte ich mir das letzte existierende Fossil einer ausgestorbenen Pferderasse zurechtgelegt, das ich reinigen wollte, wenn ich mit den Etiketten fertig war. An jenem Tag hatte ich das Mittagessen ausgelassen, was allerdings nichts Außergewöhnliches war — oft genug war ich so in meine Arbeit vertieft, dass ich vergaß, meine mitgebrachten Sandwiches zu essen —, und ich trug alte, ausgeleierte Schuhe, weil mein normales Paar beim Besohlen war.

Ich hatte frische Tinte geholt und war ausgerutscht. Mein Bein knickte ein, mein Schuh glitt auf dem über viele Jahre hinweg von unzähligen Füßen blank polierten Holzboden aus, und im nächsten Moment riss ich das Fossil mitsamt den Nagetierkästen zu Boden und knallte mit der Stirn an die Tischkante. Ob und welche Art von Verletzung ich mir zugezogen hatte, kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich starrte mit blankem Entsetzen auf das Durcheinander aus Präparaten und Etiketten — Letztere hatte ich aus den Kästen geholt, um sie aus der Nähe studieren zu können, und nun waren sie von ihrem jeweiligen Objekt getrennt, sodass die Sammlung praktisch wertlos geworden war. Daneben, in tausend Stücke zersprungen, lag das Fossil. Außer mir war noch ein Säugetier-Kollege namens John Vaughan im Raum, der Letzte, den ich mir in einer derart peinlichen Situation als Zeuge gewünscht hätte, weil er nichts mehr liebte, als ständig in abfälligem Ton zweideutige Kommentare über die Tatsache von sich zu geben, dass ich eine Frau war, und der nun die Szene mit höhnischem Grinsen verfolgt hatte.

Das Schlimmste an meinem Unfall, wie mir Dr. Farthing, der Direktor der Abteilung, in unserer Unterredung am nächsten Tag ins Gedächtnis rief — und in der Art, wie er das Wort Unfall sagte, seine Zweifel daran verdeutlichte —, war jedoch, dass sich für den darauffolgenden Tag ein Besucher aus Amerika angekündigt hatte, der ebenjenes Fossil untersuchen wollte, das ich zerbrochen hatte. Ein Wissenschaftler, der nicht weniger vermögend war als all die hochwohlgeborenen Wissenschaftler des Viktorianischen Zeitalters und den das Museum als Gönner hatte gewinnen wollen.

An jenem Tag war ich mit einem Rüffel davongekommen — man hätte mich auch schwerlich hinauswerfen können, da das Museum Teil der öffentlichen Verwaltung war —, doch auch wenn meine Arbeit bis auf die katastrophalen Ereignisse an jenem Nachmittag stets beispielhaft gewesen war, wusste ich, dass damit jede noch so kleine Chance auf eine Beförderung dahin war. Es lag nur am Ausbruch des Krieges, daran, dass Dr. Farthing sich als Freiwilliger meldete, und der voraussichtlichen Einberufung der Mehrheit der männlichen Museumsmitarbeiter, dass ich mich als stellvertretende Abteilungsleiterin der evakuierten Sammlung wiederfand (und dazu kam die Tatsache, dass mein Gehalt niedriger war, weil ich eine Frau war, und die öffentliche Hand erpichter denn je darauf war, Mittel einzusparen). Doch wie Mr Vaughan mich persönlich ins Bild setzte, ehe er uns verließ, um wie schon seine Vorfahren im letzten Krieg in der Marine zu dienen, würden sich die Dinge nach dem Krieg wieder ändern: Im Handumdrehen finden Sie sich dann bei den Freiwilligen wieder, warten Sie nur ab, waren seine genauen Worte, womit er meinte, bei den anderen Frauen. Unter den festangestellten Mitarbeitern gab es nur eine Handvoll weibliches Personal, und ich und Helen Winters waren die einzigen, die höhere Positionen innehatten. Die übrigen Frauen, die für das Museum arbeiteten — die das Präparieren von Exponaten vorbereiteten und uns beim Aufstellen unterstützten, die katalogisierten, kopierten und forschten, die reisten und sammelten und für unzählige kleine Neuentdeckungen sorgten —, waren entweder ›inoffizielle Mitarbeiterinnen‹ und wurden mit einem Stundenlohn von einem Schilling abgespeist oder unbezahlte Freiwillige.

Meine Stelle als Direktorin der Sammlung, die auf Lockwood Manor vorübergehend Obdach finden sollte, war also nicht nur eine einmalige Chance für eine Vertreterin meines Geschlechts, sondern auch eine wichtige Gelegenheit, mich für die Zeit nach dem Krieg zu beweisen, wenn die Männer wieder auf ihre früheren Positionen zurückströmten.

Die Pläne für die Evakuierung der Säugetiersammlung lagen fertig in der Schublade, seit es erste Kriegs-Gerüchte gegeben hatte, sogar schon, als ich meine Stelle vor Jahren angetreten hatte, und wir hatten Wochen damit verbracht, alles in Kisten zu verpacken, die die Arbeiter dann auf die Lastwagen luden. Aber das Museum war zu groß, um alles zu evakuieren, und so mussten wir festlegen, welche Tiere, getrockneten Pflanzen, Steine, Vögel und Insekten auf die Reise gehen sollten und welche ihrem Schicksal überlassen blieben. Im Museum spielten wir andauernd Gott: Wir versahen die Dinge mit Namen und Klassifizierungen und gaben der Natur eine von uns erdachte Ordnung — Familie, Art, Gattung —, und nun war es an uns zu entscheiden, welche unserer Objekte es wert waren, gerettet zu werden.

Obwohl die für Lockwood Manor bestimmte Auswahl sich eigentlich auf Säugetiere beschränken sollte, mogelten sich nach und nach auch andere Kreaturen in die Auslagerungspläne und auf die Lastwagen. Das Telefon stand nicht still vor Anrufen von Geologen und Ornithologen, die bereits evakuiert worden waren: Ob wir noch die Vitrine aus Raum 204 unterbringen könnten, ob noch Platz sei für die Kiste mit den nord- und südamerikanischen Nestern und die Straußeneier-Sammlung, für den Meteoritenklumpen, der beim Umzug vergessen worden war, oder den ausgestopften Papagei der ebenso verehrten wie spendenfreudigen Lady Soundso? In der letzten Woche wurden immer noch Objekte auf irgendwelchen Fluren und in lange nicht mehr betretenen Räumen entdeckt, die eilig mit der Hand den fein säuberlich getippten Listen hinzugefügt wurden, die wir zuvor erstellt hatten. Und im allerletzten Augenblick stellten wir fest, dass wir noch einen Laster übrig hatten, sodass die Arbeiter in aller Eile noch Ausstellungsstücke aus der Eingangshalle herbeischleppten, die alles andere als seltene Exemplare waren — die Füchse, die Wiesel, zwei Tiger, ein Eisbär, ein Wolf, ein Löwe und sogar eine ganz gewöhnliche Wanderratte.

Wie schnell sich die Räume leerten. Ich hatte erwartet, dass mir beim Anblick, wie dem Museum seine Bewohner entrissen wurden, angst und bange würde vor dem, was uns bevorstand, dass die nackten Räume aussehen würden, als hätten Grabräuber die Gelegenheit genutzt, um über das Gebäude herzufallen, aber ehrlich gesagt war ich so dankbar dafür, die Tiere fortbringen zu dürfen und immer noch Angestellte des Museums und Teil der einzigen glücklichen Familie zu sein, die ich je gekannt hatte, dass ich eigentlich nur Vorfreude empfand.

Außerhalb des Museums wusste niemand, dass ich fortging, denn es gab niemanden, dem ich es hätte erzählen können — mal abgesehen von meiner Zimmerwirtin, der es herzlich gleichgültig war, wohin ich aufbrach. Sie interessierte nur, dass sie einen neuen Mieter finden musste.

Ich hatte einmal Familie. Ich war noch ganz klein, als meine Eltern mich adoptierten, und es waren die einzigen Eltern, die ich kannte. Sie waren einigermaßen wohlhabend, und alt. Ihre drei Söhne waren im Burenkrieg gefallen, und ich war vermutlich als eine Art Ersatz gedacht. Aber ich enttäuschte sie, war eine Enttäuschung für meine Mutter.

Nach allem, was ich für sie getan habe, pflegte sie guten Freundinnen beim Tee oder am Telefon zu klagen. So ein mürrisches Kind, und immer mit der Nase im Buch, das undankbare Ding.

Wie hatte ein Kind zu sein, wie eine Mutter? Diese Fragen stellte ich mir allerdings erst viel später, und ich finde es immer noch befremdlich, darüber nachzusinnen. Meine Mutter war immer streng und unzufrieden mit mir, und in meiner Kindheit wurde ich oft bestraft. Aber müssen Kinder nicht bestraft werden, damit sie ihr Verhalten bessern, damit sie lernen, sich ordentlich zu benehmen, vor allem Waisen wie ich? Wir wissen rein gar nichts über deine richtigen Eltern, sagte eine Kinderfrau einmal zu mir (denn wie alle Kinder aus gutsituiertem Hause wurde ich von Kinderfrauen aufgezogen, einige nett, andere weniger), umso mehr müssen wir darauf achten, alle eventuellen Einflüsse auszumerzen. Das war dieselbe Kinderfrau, die mich auf dem Boden schlafen ließ, weil mein Bett ihrer Meinung nach viel zu weich war, die nichts davon hielt, dass Kinder zu Mittag aßen, weil sie dann als Erwachsene zu Zügellosigkeit neigen würden, und bei der ich Bibelverse abschreiben musste, bis ich einen Krampf in der Hand bekam.

Die Räume, in denen die Kinderfrauen mich betreuten, waren abseits vom Rest des Hauses, und so kam es, dass meine Mutter gelegentlich zu vergessen schien, dass ich überhaupt da war — aber vielleicht stimmte das auch nicht, vielleicht waren es nur Märchenfantasien eines Kindes, denn wie kann man vergessen, dass man ein Kind adoptiert hat?

Einmal, als meine Kinderfrau krank geworden war, hatte meine Mutter vergessen, dass ich Mahlzeiten brauchte, und herrschte mich an, als ich heimlich zwei Äpfel stahl, weil mir vor Hunger ganz schwindelig war. Und wenn sie mich doch einmal bemerkte, schimpfte sie oft, dass mein Gesicht so verdrießlich und kränklich und hässlich sei — dabei war es einfach nur ein blasses Gesicht, das nicht oft lächelte —, und schlug mir zur Strafe mit dem Feuerhaken gegen die Beine. Sie verglich mich oft mit ihren eigenen Söhnen. Ich hätte dich auch dort lassen können, ich hätte dich nicht adoptieren müssen, und noch jahrzehntelang später konnte ich hören, wie sie dann sagte, also reiß dich gefälligst zusammen.

Ich erinnerte mich an einen Anruf meiner Mutter, als ich in Oxford Zoologie studierte, und daran, wie begeistert sie anfangs schien. Wie ich höre, hast du bei Professor Lyle besonderes Interesse geweckt, sagte sie. Ja, er hat mich sehr bei meiner Arbeit zur Fortbewegung bei Säugetieren unterstützt, antwortete ich arglos. Oh, du dummes Ding, meinte sie schließlich nach einem Augenblick völliger Stille. Als dein Vater und ich zugestimmt haben, dass du zur Universität gehst, war das nur unter der Bedingung, dass du dir dort einen Mann suchst, und sei er auch von noch so bescheidenem Stand. Ich will von diesen Albernheiten nichts mehr hören. Du kannst mich wieder anrufen, wenn du verlobt bist, hatte sie gesagt und aufgelegt.

Als mein Vater an Altersschwäche starb, kam ich noch einmal nach Hause, um sie zu besuchen. Nach der Beerdigung und nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich gern eines Tages für ein Museum arbeiten würde, meinte sie, ich sei durch und durch boshaft. Sie verbot mir, meinen Doppelnamen zu tragen, sie würde mich ab sofort verleugnen. Ich will nicht, dass dich irgendjemand mit mir in Verbindung bringt. Von jetzt an bist du Miss Cartwright, sagte sie und spuckte das ›Miss‹ mit gehässigem Zischen aus. Seither war ich also Miss Cartwright, und auch wenn ich es gern zu Professor Cartwright gebracht hätte, hatte ich doch mehr erreicht, als ich mir je hätte träumen lassen.

Ich war erwachsen geworden und hatte einen starken Gerechtigkeitssinn entwickelt, ein ausgeprägtes Gefühl für Richtig und Falsch. Ich war entschlossen, mich nicht von meiner Kindheit unterkriegen zu lassen, von der ich vermutete, dass sie im Vergleich zu anderen eher unglücklich gewesen war. Auch wenn ich die Liebe noch nicht gefunden hatte und mich oftmals einsam fühlte oder manchmal den Waschraum aufsuchen musste, um zu weinen, wenn es zu einem unangenehmen Zusammenstoß mit einem Vorgesetzten oder Kollegen wie Mr Vaughan gekommen war, spornte mich diese Ablehnung nur noch mehr an, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Ich war unendlich stolz auf meine Arbeit im Museum — jedenfalls bis zu jenem unglücklichen Zwischenfall — und hoffte inständig, mein Einsatz in Lockwood würde das Vertrauen in mich wieder vollständig wiederherstellen.

Ich würde mir von einem dummen Missgeschick nicht alles zunichtemachen lassen, schwor ich mir, als ich mich am Tag vor der Abreise in meinem Büro noch einmal davon überzeugte, dass ich auch nichts vergessen hatte, und legte mir den Mantel über den Arm. Ich war keineswegs das nichtsnutzige Ding, für das meine Mutter mich hielt, und meine Zeit draußen auf dem Land würde zeigen, was in mir steckte.

Als ich den Namen Lockwood Manor zum ersten Mal hörte, dachte ich an einen Ort wie aus einem Brontë-Roman — weite, raue Moorlandschaften und ein düsteres Haus voller Geheimnisse und schwelender Leidenschaft. Doch in den Grafschaften um London gab es kein Moor, und das Haus gehörte einem Major, der den forschen Briefen seiner Sekretärin zufolge für die Modernisierung des Anwesens keine Kosten gescheut hatte. Hätte ich meiner Mutter erzählt, wohin ich aufbrach, hätte sie unweigerlich Major Lord Lockwood im Who’s Who nachgeschlagen und später von ihren Freunden erfahren, dass er seit Kurzem verwitwet war, woraufhin sie im sehnlichsten Wunsch, er könne ein Auge auf mich werfen, bestimmt keine ruhige Minute mehr gehabt hätte. Ich hatte ein Foto von ihm in einer Zeitung gesehen, nachdem ich eine Bibliothekarin gefragt hatte, ob sie etwas über die Geschichte des Herrenhauses finden könnte: Er wirkte braungebrannt und schien für sein Alter gut in Form zu sein, und ihm zu Füßen lag ein Rudel magerer Jagdhunde. In dem Artikel war von seinen Kapitalanlagen und den Gewinnen aus dem Imperium seiner Waffenfabriken die Rede. Aber mich interessierte nur, dass er uns Platz für das Museum zugesagt und außerdem versprochen hatte, mir für die Dauer des Krieges Unterkunft zu gewähren und die zwei anderen Mitarbeiter des Museums — Helen Winters und David Brennan, der damit rechnete, jeden Moment eingezogen zu werden —, die mich zunächst begleiten und unterstützen sollten, bis alle Tiere an ihrem Platz waren, vorübergehend ebenfalls in seinem Haus unterzubringen. Außerdem war uns zugesichert worden, uns im gesamten Gebäude frei bewegen zu können, bei Bedarf doch bitte die Hilfe des Hauspersonals in Anspruch zu nehmen und auf Mitglieder seines alten Regiments, die bereits im Ruhestand und daher zu alt waren, um eingezogen zu werden, als Wachen zurückzugreifen. Der herrliche Grundbesitz, der das Haus umgab, die Ländereien, bildeten nur das Tüpfelchen auf dem i.

Eine Kadenz aus Knipsen und Klicken hallte durch das Museum, als der Aufseher die Lichter ausschaltete, doch das machte mir keine Angst — ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt worden, aber es war noch nicht stockfinster, es drang immer noch ein wenig Tageslicht durch die Ritzen. Ich betrachtete die riesenhaften Umrisse des Mammutskeletts, die in dem schwachen Licht aus etwas Dunklerem und Schwererem zu bestehen schienen als aus Luft, eine aus dem Nachmittag gestanzte Silhouette. Es war zu groß, um evakuiert zu werden, und würde mit Sandsäcken und allerlei schwerem Material gesichert werden, in der Hoffnung, dass es noch intakt war, wenn der Krieg vorbei war.

Wenn der Krieg vorbei war … Würde ich mich bis dahin sehr verändert haben, fragte ich mich, und was wäre dann aus dem Museum geworden? Wie viele seiner Mauern würden noch stehen?