Dieser Sommer in Triest

Dieser Sommer in Triest

 

 

Roman

Udo Weinbörner

 

 

 

 

9783947220281

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

– 1 –

Ein leich­tes Zit­tern in der linken Hand. Kaum spür­bar. Aber aus­rei­chend, um den Be­we­gungs­fluss zu stören. Der Faden von Konzen­tration und Rou­tine zer­riss. Sie hielt inne, den Blick auf die ver­zerrt ver­grö­ßerte eigene Hand ge­rich­tet. Norma­ler­weise arbei­tete sie prä­zise wie eine Maschi­ne, die fili­grane Füh­rung des Skal­pells wie ein Zauber­stab. Sogar die Naht über­ließ sie keinem ande­ren. Und jetzt dieses Zit­tern! Dieser zer­ris­sene Faden! Seit Jahren über­rasch­te sie kein Sto­cken mehr. Präzi­sions­arbeit ließ keine Zwei­fel bei der Aus­füh­rung zu. Wenn sie an den OP-Tisch trat, war ihre men­tale Vor­berei­tung ab­geschlos­sen. Sie hatte es bei Renn­fah­rern be­obach­tet, wie diese vor dem Start in den Boxen hock­ten, die Augen ge­schlos­sen und die Stre­cke in Ge­danken fuhren. Wie diese den Körper jede Kurve mit­schwin­gen ließen. Genau­so war es bei ihr. Be­vor sie den Opera­tions­saal be­trat, kannte sie jeden Schnitt, hatte in Ge­danken jedes Instru­ment in die Hand ge­nommen, ihr Ge­wicht vom linken auf das rechte Bein ver­lagert. Sobald sie die Ver­größe­rungs­gläser auf­setzte, tauch­te der Rest der Welt um sie herum end­gültig ab.

Es hörte auf; ihre Hand – ganz ruhig. Sie wusste, jetzt musste sie wieder von vorn begin­nen mit ihrer Konzen­tration. Wo hatte sie auf­gehört?

Immer schon wollte sie Hand­chir­urgin werden, stau­nend vor diesem Gottes­werk­zeug stehen, be­grei­fen, was Jahr­mil­lionen an Evolu­tion für ein Wunder voll­bracht hatten. Die Über­legen­heit der mensch­lichen Rasse lag nicht allein in der Ent­wick­lung des Be­wusst­seins; die techni­sche Über­legen­heit rührte von der Fähig­keit des Be­grei­fens. Ver­wun­dert, als sähe sie die Hand des Patien­ten jetzt zum ersten Mal, schau­te sie auf das Opera­tions­feld. »Mehr Licht!« Ihre Stimme war bar­scher als ge­wöhn­lich, der Satz eine Brücke zur Nor­mali­tät. Kahn­bein­frak­tur. Ein schwe­rer Sturz. »Wi­schen bitte!« Die OP-Schwes­ter zur Linken tupfte ihr ober­halb der Brille den Schweiß von der Stirn.

Doch die Rou­tine wollte sich nicht wieder ein­stel­len. Die Ge­danken ordnen. Os-na­vi­cu­la­re-Frak­tur, ein Rou­tine­ein­griff am Hand­wurzel­kno­chen. Dia­gnose ge­si­chert durch Compu­ter­tomo­grafie. Präzi­sions­arbeit wie eine mathema­tische Be­weis­füh­rung, an deren Ende man die Voll­kommen­heit der Schöp­fung be­staunt, aber doch nur Flick­werk da­gegen zu setzen ge­habt hatte. Der Ehr­geiz, dem Origi­nal, der Natur mög­lichst nahe­zu­kommen. Sie war gut darin – die Beste ihres Jahr­gangs.

Irgend­jemand räus­perte sich. Der An­ästhe­sist gab Blut­druck­werte zum Besten, viel­leicht auch, um die un­gewohn­te Pause zu be­enden. Sie blick­te kurz zur Seite, aber er gab sich be­schäf­tigt. Warum sollte dies heute anders sein? Sie galt als kühler Profi. Ruhi­ger wer­dend, präpa­rierte sie zwei kleine Kno­chen­stücke frei und setzte sie an die rich­tige Posi­tion. Kon­troll­blick zu den Auf­nahmen auf dem Licht­feld an der Wand. Ein weite­rer Kno­chen­split­ter musste links von der Sehne des Mittel­fin­gers sitzen, doch sie fand ihn nicht sofort. Ver­drah­tung, um den Opera­tions­fort­schritt zu si­chern oder weiter­suchen? Sie stock­te er­neut, wurde nervös.

Nicht die Hand des Patien­ten, ihre eigene lag er­neut im ver­zerr­ten Blick­feld ihrer Ver­größe­rungs­gläser. Es kam wieder, das Zit­tern. Sie spürte es ganz deut­lich, jeder wei­tere Schnitt wäre jetzt fahr­lässig. Wie er­starrt, an­ge­sichts der Ent­de­ckung! Der Ver­such, das Zit­tern zu unter­drü­cken, führte zu einer un­mensch­lichen An­span­nung. Ihre Zähne knirsch­ten.

Sie über­gab das Skal­pell für das Des­infek­tions­bad, die Hände er­hoben, in steri­ler grüner Plas­tik­ver­pa­ckung, wie zur Auf­gabe bereit. Ihre Augen hielt sie halb ge­schlos­sen, jeg­liches Leben schien aus ihr ge­wichen. Reg­los stand sie da, bereit, ja ent­schlos­sen, weiter­zu­machen, doch die Eises­kälte kroch ihre Beine hinauf. Leb­los wie eine Plas­tik­puppe konnte sie nicht länger in der ihr eige­nen ele­ganten Fech­ter­pose ver­harren. Sie ge­riet ins Wanken, machte einen un­siche­ren Schritt nach hinten. Es ging gut, sie stürz­te nicht. Die Uhr im OP-Saal an der Wand über dem Ein­gang tickte laut in der Stille des Vor­mit­tags, die Zeiger stan­den auf zehn nach neun.

Der Chef sprach mit ihr, doch sie ver­stand ihn nicht. Irgend­etwas von Über­nahme und jemand solle sie raus­brin­gen. Seine Ver­ärge­rung hallte in ihr nach. Seine tiefe Stimme ver­klang erst all­mäh­lich in ihrem Inne­ren, als sie spürte, wie sie jemand bei den Schul­tern fasste und in den Vor­raum zu den Wasch­becken und zur Um­kleide führte.

Sie bat darum, allein sein zu dürfen. Es ginge schon wieder. Keine Er­klä­rungen, nicht jetzt. Sie suchte selbst noch nach Er­klä­rungen für das, was da drin­nen ge­sche­hen war. Wie aus der Zeit ge­fallen, stand sie un­schlüs­sig im Flur der Sta­tion und blick­te aus einem Fens­ter auf die Straße. Unten fuhr ein Kran­ken­wagen mit Blau­licht vor. Die Kälte und der Schre­cken saßen tief. Er­schöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Na, Prin­zessin, Höchst­strafe? Dass dir auch mal so was pas­siert ist!« Der Spott Schrö­ders war nicht zu über­hören. Dr. Marcel Schrö­der, Knack­arsch, das strei­chelte sein Ego. Sie winkte nur ab: »Lass mich ein­fach in Ruhe! Ver­stan­den?« Doch er frot­zelte weiter, nahm sie nicht so ernst, ge­noss ihre Nieder­lage noch, be­vor er wissen konnte, worum es eigent­lich ging. Sie blick­te an­ge­strengt in die ent­gegen­gesetz­te Rich­tung aus dem Fens­ter, be­müht, ihn zu über­hören. Was hatte sie ihm nur an­getan, dass er sich so auf­spiel­te? Viel­leicht war er selbst­kri­tisch genug, sein eige­nes Mittel­maß zu er­kennen. Schrö­ders Un­geduld würde aus ihm nie einen Hand­chir­urgen werden lassen. Nicht ein­mal als Lieb­haber be­wies er Finger­spit­zen­gefühl. Sie er­tappte den Lieb­ling der Götter, wie er, wäh­rend sie sich lieb­ten, im Spie­gel mit einem Seiten­blick den Sitz seiner Frisur prüfte. Dr. Locke, wie sie ihn seit­dem spöt­tisch nannte, schwitz­te nicht gern, alles Animali­schen war ihm fremd. Sie wollte ihn halt mal nackt sehen. Der Preis dafür, sich eben­falls aus­ziehen und an­fassen zu lassen, schien ihr bei Prü­fung aller Um­stände an­gemes­sen zu sein. Die ganze Sache war es dann doch nicht wert ge­wesen. Irrtü­mer wie diese, dachte sie jetzt in einem Moment großer Klar­heit, pas­sieren mir immer häufi­ger, weil ich mich ein­sam fühle.

Sie brauch­te jetzt einen raben­schwar­zen Kaffee, den es im Schwes­tern­zimmer gab. Auf dem Weg dort­hin be­geg­nete ihr Sta­tions­schwes­ter Agnes, Schwan­ger­schaft im sechs­ten Monat, wunder­schöne schma­le Hände. Sie tausch­ten ein paar Freund­lich­keiten aus. Agnes fragte sie nicht nach dem Vor­fall im OP.

Es wurde auch für Vikto­ria Zeit, Bilanz zu ziehen. Der Ge­danke er­schreck­te sie in letz­ter Zeit bei den unter­schied­lichs­ten An­lässen. Ein Kind wäre eine Mög­lich­keit. Mit Freun­dinnen hatte sie dar­über ge­wit­zelt. Ge­legen­heiten hatte sie genug, sich eines zeugen zu lassen. Man bräuch­te ja keinen Vater da­zu. Einen Kerl, einen ordent­lichen Stän­der, ein wenig Spaß, gute Gene. Die bio­logi­sche Uhr schlug Kaprio­len. Und diese Ein­sam­keit, die sich danach nicht aus­radie­ren ließ, wenn man sich an einem frem­den männ­lichen Körper rieb, ein paar Nächte nicht allein schlief.

Sie ging am Schwes­tern­zimmer vorbei, holte ihren Mantel. Sie mel­dete sich krank, hoffte ins­geheim darauf, noch als Schwind­lerin ent­larvt zu werden. Ein Er­schre­cken, eine Zu­recht­wei­sung und alles könnte wie früher sein. Doch der ganze März war wie ein böser, wirrer Traum, das jeden­falls dachte sie, als sie durch die sich auto­ma­tisch öff­nenden Glas­türen des Haupt­ein­gangs ging, noch unter dem Vor­dach stand, am obers­ten Knopf des Mantel­kra­gens nes­telte und dem Regen zu­sah, der auf den As­phalt klatsch­te, um in Bächen zum Park­platz hin­unter zu strö­men. Diese Kälte, diese Fins­ter­nis, die nicht wei­chen wollte, diese Sehn­sucht nach ein wenig Sonne zwi­schen den Kran­ken­haus­schich­ten ließ sie jedes Jahr schier ver­zwei­feln.

›Wo blieb im März das Früh­jahr? Keinen Kerl, kein Auto und irgend­ein ver­damm­tes Zit­tern, was noch, du ein­same alte Schnep­fe?‹, be­gann sie sich in stum­mer Wut zu be­schimp­fen.

»Du bist zu gut für den Alten – viel zu gut. Das ver­trägt kein Mann auf Dauer«, da lief er wieder leicht­füßig auf sie zu. Dr. Locke, baute sich männ­lich breit­beinig vor ihr auf, spiel­te mit dem Auto­schlüs­sel in der Hand.

»Was willst du?«, es ge­lang ihr ein ge­quäl­tes Lä­cheln. Noch be­vor er ant­worten konnte, setzte sie nach: »Es war ein üb­licher Fall. Bei der Amputa­tion habe ich die linke mit der rech­ten Hand ver­wech­selt oder war es um­ge­kehrt? Egal! Jeden­falls, der Chef hat was zu nähen. War‹s das?«

»Wie wäre es mit ein wenig Ent­span­nung bei dir zu Haus? Ich fahre dich auch.«

Noch nicht ein­mal eine Ab­fuhr würde ihm etwas an­haben. Seine Selbst­bezo­gen­heit schirm­te ihn gegen jede Zurück­wei­sung ab, machte ihn un­an­greif­bar und natür­lich auch un­belehr­bar.

»Wieder­holun­gen lang­weilen mich.« Sie hielt die Hand in den Regen, als würde sie die Tempe­ratur einer köst­lichen Nässe kosten. »Und ich liebe dieses Wetter. Es macht einen klaren Kopf.« Dann schritt sie wie eine Köni­gin davon und ver­suchte tapfer, den Regen zu igno­rieren, der ihr hinten in den Mantel­kragen lief. Der Ge­danke, dass Dr. Locke, alias Knack­arsch Schrö­der, ihr kopf­schüt­telnd noch nach­schau­en würde, machte das alles halb­wegs er­träg­lich. Jeden­falls so lange, bis sie im nächs­ten Linien­bus in der letz­ten Ecke hockte und sich ihre Tränen von den Wangen wisch­te.

 

Sie schlepp­te sich die höl­zerne Stiege zu ihrer klei­nen Zwei­zimmer­woh­nung im drit­ten Stock eines Miets­hauses in billi­ger, weil lauter Kölner Stadt­lage, Nähe Zoll­stock, hinauf. Seit ihrer Stu­dien­zeit lebte sie hier, immer war etwas wich­tiger ge­wesen als die Suche nach neuen vier Wänden. Nicht ein­mal Regale hatte sie ge­kauft und auf­ge­stellt. Früher hatte sie Lite­ratur ge­liebt, jetzt las sie fast aus­schließ­lich Krimis und Fach­lite­ratur, Bücher, die sich, wenn sie diese nicht sofort den Schwes­tern schenk­te, in Um­zugs­kar­tons an der Wand sta­pelten. In das Chaos von Wohn­zimmer mit Küchen­zeile ließ sie ohne­hin keine Gäste. Sie ver­mied es, Ein­ladun­gen an­zu­nehmen, und kam es zur Not­wendig­keit einer Gegen­ein­ladung, gab sie, auch wenn sie es sich kaum leis­ten konnte, in den besten Loka­len der Stadt die per­fekte Gast­gebe­rin. Es sollte nicht über sie ge­redet werden. Der ein­zig vor­zeig­bare Raum der Woh­nung, ihr Schlaf­zimmer, war ihr Aller­heiligs­tes. Teuer ein­gerich­tet, in­di­rekte Be­leuch­tung, schöne eroti­sche Drucke an den Wänden. Ihr Rück­zug aus einer chaoti­schen Welt und der ein­zige Raum neben dem Bad, den sie, wenn es sich nicht ver­meiden ließ, mit Lieb­habern teilte.

Ein leich­tes Schlaf­mittel, dann drück­te sie sich ein Kopf­kissen an ihr Ge­sicht, ver­grub sich darin, um den Lärm aus­zu­blen­den. Die Stra­ßen­bahn, die unten vorbei­rum­pelte, die Nach­barin, die wieder mal Zoff mit ihrem Lover hatte. Ihre Stimme, immer schril­ler, wie split­terndes Glas. Gerade, als sie meinte, dieser Streit ginge end­los weiter, das Zu­schla­gen der Woh­nungs­tür. Draußen heulte der Motor des Wagens auf. Es war ein Trick, die Ge­räu­sche zu einem gleich­förmi­gen Band der Wahr­neh­mungen zu redu­zieren, das nur noch wenige Höhen und Tiefen kannte. Ge­lang es, ver­sank ihr Be­wusst­sein in einem gleich­förmi­gen Rau­schen. Doch heute arbei­tete es in ihrem Kopf immer weiter. Sie ver­ließ ihr Bett, zog das Rollo wieder hoch und starr­te ab­wech­selnd auf den Park­platz hinter dem Haus und auf ihr Spie­gel­bild auf der ver­dreck­ten Schei­be. Das Spie­gel­bild schloss sie nicht in die Arme, blick­te nicht freund­lich zurück, kein ein­ziges Mal, nur ihre fra­genden Augen in dem blei­chen Ge­sicht, die starr auf einen Punkt in der Ferne ge­rich­tet schie­nen, aber noch nichts zu er­kennen ver­moch­ten.

»Dr. Marcel Schrö­der«, sie er­tappte sich, als sie seinen Namen mur­melte. Ein Bild von einem Kerl. ›No Sports‹ und dabei wie von Michel­angelo in Marmor ge­mei­ßelt. Die Natur ver­schwen­dete sich immer an die Fal­schen. Eigent­lich war Locke nicht so übel, hatte auch seine guten Seiten. Ein Licht­blick von guter Laune, ein Leucht­turm im Meer der Schick­sale des Klinik­all­tags und der Stim­mungs­schwankun­gen in­folge der stän­digen Über­forde­rung und der Dauer­müdig­keit. Sie musste ihn jetzt nicht zum Heili­gen stili­sieren, um sich ganz even­tuell ein­zu­geste­hen, dass sie etwas zu schroff und zu arro­gant mit ihm um­gegan­gen war. Was, wenn es sich tat­säch­lich um be­sorgte An­teil­nahme ge­han­delt hatte? Sie wählte seine Nummer, ließ es fünf, sechs Mal klin­geln. Wollte schon auf­legen, um ihn nicht zu wecken, als sich eine ki­chernde Stimme einer jungen Frau mel­dete. »Hallo, wer da? Hallo? Hören Sie, das passt jetzt gar nicht.« Pause. Seine Stimme aus dem Hinter­grund. »Ja, ich leg schon auf, ich komme schooon.«

Die Frau am ande­ren Ende der Tele­fon­ver­bin­dung musste sich nicht vor­stel­len, sie er­kannte die Stimme am Klang: Elena, die Blonde, mit dem ge­bär­freu­digen Becken, den end­los langen blon­den Haaren und D-Körb­chen. Elena, aus Kasachs­tan, eine von den Sta­tions­mäus­chen, die mit ihren Körper­pfun­den an den rich­tigen Stel­len zu wu­chern wusste. Elena wusste auch, dass sie nicht in die Welt passen würde, in der Locke lebte, mit Kon­zerten, Aus­stel­lungen, Lite­ratur, eben Lo­ckes wirk­liche Leiden­schaf­ten. Kultur ge­hörte für Elena in die Männer­welt. Im wahren Leben konnte sie nur etwas mit Sachen an­fangen, wenn diese wenigs­tens mit Geld zu tun hatten.

Vikto­rias Tele­fon­hörer fiel ihr aus der Hand, als stünde er unter Strom. Doch sie lächel­te über ihre Naivi­tät. Weder eine Glucke, noch ein Mäus­chen wollte sie sein, und es sollte mit dem Teufel zu­gehen, wenn es ihr jetzt nicht end­lich ge­länge ein­zu­schla­fen.

 

– 2 –

Die Compu­ter­tomo­grafie machte ein ehe­mali­ger Stu­dien­kol­lege für sie und ver­buchte die Unter­su­chung als Geräte­test­lauf. Ge­mein­sam starr­ten sie auf das Innere ihres Ge­hirns, wäh­rend er ihr die schöns­ten Kompli­mente machte. Kein Tumor, kein Schlag­an­fall, das Er­geb­nis be­ru­higte sie nicht wirk­lich. Ihr Zit­tern in der linken Hand ver­schwieg sie ihm, auch die Schmer­zen in der Schul­ter und die Muskel­ver­här­tungen in der Wade. Schlaf­stö­rungen und De­pres­sionen nahm sie als Folge­wir­kungen ihrer Ängste. Nichts Lebens­bedroh­liches, daher für sie sekun­där. Aber sie hegte einen Ver­dacht, und sie brauch­te Sicher­heit. Ein Dat-Scan-Ver­fahren, bei dem mit­hilfe von in­jizier­ter Radio­aktivi­tät die Stoff­wech­sel­pro­zesse im Ge­hirn sicht­bar ge­macht werden konn­ten. Kost­spie­lig. Dafür bräuch­te sie die Kran­ken­kasse, das ging nicht als Freund­schafts­dienst, und sie wollte, dass nie­mand in der Klinik etwas davon er­fuhr. Also keine Unter­su­chung am Ort, keine Unter­su­chung unter Kolle­gen. Sie wollte allein dar­über ent­schei­den, wie sie mit dem Er­geb­nis um­gehen würde. Die Ent­schei­dung reifte in ihr, und sie spürte ihre Kraft zu diesem Schritt wach­sen. Das Termin­pro­blem um­ging sie mit einer priva­ten Sonder­zah­lung bei der An­mel­dung. Wofür sonst hatte sie Rück­lagen, wenn nicht für eine Not­situa­tion wie diese? Die Über­wei­sung schrieb ihr ein Neuro­loge aus Mün­chen, dem sie sich als Kolle­gin zu er­kennen gab und dem die Trag­weite einer mög­lichen Er­kran­kung sofort be­wusst war. Der ältere Arzt wurde schweig­sam, er­wies sich aber in der Folge als zu­ver­lässig und hilfs­bereit. Mehr ver­langte sie nicht.

Sie hatte sich in der Zwi­schen­zeit vom OP-Plan strei­chen lassen und machte Sta­tions­dienst. Der Chef schick­te die Ober­ärztin vor, ihr ins Ge­wissen zu reden. Sie solle nicht mit Nach­lässig­keiten ihre Kar­riere ge­fähr­den. Dr. Beate Her­bold, die in Ehren er­graute Kolle­gin kurz vor ihrem Ruhe­stand, sprach davon, dass es auch heute noch nicht für eine Frau selbst­ver­ständ­lich sei, eine solche Kar­riere zu machen. Gerade­zu einer Sensa­tion komme es gleich, dass der Chef ihre Posi­tion nicht von außen be­setzen wolle. Wäh­rend die Ober­ärztin die Sta­tionen des be­schwer­lichen Werde­gangs der Jünge­ren noch ein­mal ins Ge­dächt­nis rief, ihre fünf­jäh­rige Assis­tenz­arzt­zeit in der Chir­urgie, ihre Assis­tenz­arzt­zeit in der plasti­schen Chir­urgie, ihre Weiter­bil­dung zur Gefäß­chir­urgin und jetzt die drei Jahre hier als Sta­tions­ärztin hörte sie zu, sah die Mühen, die Prü­fungen, ihre Kolle­gen an sich vorbei­ziehen und konnte den Blick nicht von ihren Händen ab­wenden. Den schlan­ken, langen Händen einer erfolg­rei­chen Chir­urgin. Sie sei doch als Ober­ärztin ge­setzt. Was denn los sei mit ihr? Vikto­ria ge­lang ein dank­bares Lä­cheln für die Be­sorg­nis. Sie schwieg, bis auf den Hin­weis, sie könne noch nicht dar­über spre­chen. Ent­täu­schen wolle sie nie­manden.

Am nächs­ten Tag über­nahm Dr. Locke ihre Auf­gaben. Seine zur Schau ge­tra­gene An­teil­nahme schmerz­te sie. Doch sie gab sich un­ge­rührt und be­antrag­te Urlaub.

– 3 –

Seine Jeans hing ihm unter den Hüften und gab hinten den Blick auf den An­satz der schwar­zen Unter­hose frei. Das Sweat­shirt hätte einem Bei­trag für eine Alt­klei­der­samm­lung aller Ehre ge­reicht, und sein Pflege­zu­stand ent­sprach seinem Ein­satz­gebiet – Keller, Atom­bunker. Das also war der Arzt, der die Er­geb­nisse in den Händen hielt, die über ihr weite­res Leben und Ster­ben ent­schei­den würden.

»Vikto­ria Far­ber?«, er lächel­te sie an, als würde er sie zu einem Drink ein­laden, for­derte sie mit einer lässi­gen Arm­bewe­gung auf, ihm zu folgen. Es ging vom Warte­zimmer zurück in den Keller, in dem sie be­reits quä­lende Stun­den bei Kunst­licht und nied­rigen Decken ver­bracht hatte. In einem Raum, voll­ge­stopft mit Compu­tern reich­te ihm ein Assis­tent, eben­falls von der Güte Ramsch­ver­kauf Reste­rampe Super­markt, einige Unter­lagen. Jetzt stell­te er sich vor, was nichts zur Sache tat, denn sie ver­gaß seinen Namen sofort, hätte ihm die Auf­nahmen am liebs­ten aus den Händen ge­rissen. Aber sie war hier nichts ande­res als eine Kassenpa­tientin mit Zu­zah­lung.

»Wo sagten Sie, haben Sie die Ein­schrän­kungen?«

»Links, ein Zit­tern in der linken Hand und eine Nacken­stei­fig­keit.«

Er nickte zur Be­stäti­gung, so als hätte er es auch erst gerade ent­deckt. Hielt ihr eine Auf­nahme vor Augen, sodass sie un­will­kür­lich einen Schritt zurück­trat, um besser sehen zu können. »Sehen Sie hier, rechts, patho­lo­gisch, die Sub­stan­tia Nig­ra, die Zellen, die für die Do­pa­min­pro­duk­tion und Ihre Muskel­ver­sor­gung ver­ant­wort­lich sind, ster­ben ab. Und links, hier«, mit der Spitze des Kugel­schrei­bers deu­tete er in die Mitte des Ge­hirns, »de­gene­rativ, eine deut­liche Schädi­gung. Sie sind Rechts­hände­rin?«

Sie nickte nur schwei­gend.

»Da haben Sie noch Glück im Un­glück. Die meis­ten trifft es an ihrer akti­veren Seite zu­erst. Also, ich würde sagen, wir sehen uns dann zur noch­mali­gen Unter­su­chung in einer Woche.«

»Wieso? Das Ganze noch ein­mal?« Es gab nur einen Stuhl und auf dem hockte der Assis­tent und schau­te un­betei­ligt. Sie zit­terte, hatte Mühe, die Ge­danken zu ordnen. »Hören Sie, ich kann das nicht noch ein­mal!«

»Morbus Par­kinson – oder Multi­system­atro­phie. Sie müssen mit Ihrem Neuro­logen dar­über reden. Aber ge­si­chert ist die Dia­gnose erst nach einem weite­ren Scan-Ver­fahren. Eine Multi­system­atro­phie wäre nicht so güns­tig.«

Sie hatte keine Kraft mehr, um wütend zu werden. »Nicht so güns­tig? Das wäre eine Katas­trophe, ein paar Jahre Lebens­erwar­tung viel­leicht …«, ihre Stimme ver­ebbte zu einem kraft­losen Flüs­tern. Gleich würde sie um­fallen.

»So kann man das auch sehen«, der Bur­sche warf noch einen Blick auf die Unter­lagen, um diese dann für den Be­richt an den Neuro­logen zur Seite zu legen. Er schau­te auf die Uhr.

»Tut mir leid. Wir soll­ten jetzt den Termin ver­ein­baren.«

Ein Rest Wider­stand regte sich in ihr. »Wie kommen Sie darauf? Wie stehen meine Chan­cen? Fif­ty fif­ty, neun­zig zehn? Das CT war un­auf­fällig, keine Ver­ände­rungen an der Ge­hirn­struk­tur.«

»Wie ge­sagt, letzte Ge­wiss­heit bringt nur der nächs­te Test.«

Die Ver­su­chung, sich als Kolle­gin zu er­kennen zu geben, der sie dann schließ­lich doch nicht nach­gab. Das würde nichts ändern. Wut, Panik, Hilf­losig­keit … Sie er­in­nerte sich daran, dass die Tech­niker unter den Medi­zin­stu­denten schon an der Uni immer anders ge­tickt hatten. Ein Eis­block wäre gegen ihn und seinen Kumpa­nen in diesem Keller­loch noch heiß ge­wesen. »Keinen Termin. Kein Inter­esse an der wissen­schaft­lichen Gründ­lich­keit. Es reicht. Danke, ich kann nicht mehr …«

Wofür be­dankte sie sich jetzt auch noch? Sie hatte kein Inter­esse daran, ob sie jetzt ra­scher oder lang­samer ster­ben würde. Es war ihr scheiß­egal – denn eigent­lich war sie schon tot. So oder so: Par­kinson – das war das Ende ihrer beruf­lichen Pläne, das Ende ihres bis­heri­gen Lebens. Statt­dessen ihre Garan­tie, noch vor dem Renten­alter zum Pflege­fall zu werden. Wie konnte das sein? Sie war doch viel zu jung dafür! Eine von zwei­hun­dert­tau­send, schoss es ihr durch den Kopf, es er­schien ihr un­wahr­schein­lich, als junge Frau daran zu er­kran­ken.

Vikto­ria Far­ber sank nicht in Ohn­macht, ihre Beine trugen sie irgend­wie nach draußen. Die Ge­wiss­heit, jetzt die Seite vom Leis­tungs­träger der Ge­sell­schaft zur be­dau­erns­wert un­heil­bar Kran­ken ge­wech­selt zu haben, um­gab sie wie eine un­durch­dring­bare Fins­ter­nis. Schick­sale ande­rer Men­schen waren ihr aus dem Klinik­all­tag ver­traut und gerade darin hatte sie sich stark ge­wähnt, als sie hier­hin ge­kommen war. Aber jetzt brach sie zu­sammen. Sie würde nicht mehr dazu­gehö­ren, nicht mehr zur Chir­urgen­gilde, zu ihrer Sta­tion. Keine Ver­siche­rung würde sie mehr nehmen. Wie war sie über­haupt vor­berei­tet? Freun­de würden sie meiden, schon aus Un­sicher­heit, wie man ihr be­gegnen sollte. Sie kannte das und die Sehn­sucht nach der Nor­mali­tät einer all­täg­lichen Über­forde­rung in der Klinik fraß sie schier auf. Sie wollte arbei­ten, schuf­ten, stu­dieren, doch es gab nichts mehr für sie zu tun. Keine Kinder, keine Fami­lie, keine Zu­kunft … Ihr Herz raste, ob­wohl sie seit einer Stunde un­bewegt auf einer Park­bank hockte und heulte. Sie würde ster­ben, und ihr Tod rückte in greif­bare Nähe.

Sie hatte ja nicht mehr alle. Und jeden, der sie künf­tig so von der Seite an­gehen würde, könnte sie davon infor­mieren, dass er ver­dammt recht hätte, sie für ver­rückt zu er­klären, da ihr nach Schät­zungen der Medi­zin Jahr für Jahr 20.000 Ge­hirn­zellen ab­ster­ben würden. Ihr Körper starb, mess­bar und bald für jeden sicht­bar. Schwer­behin­dert, von einem Tag auf den ande­ren als be­dau­erns­wertes Ge­schöpf ge­zeich­net. Sie lachte sich aus und dachte zur glei­chen Zeit daran, sich um­zu­brin­gen, spiel­te ver­schie­dene Mög­lich­keiten durch, konnte sich nicht ent­schei­den. Die Panik, schon jetzt ver­rückt zu werden …

Es war Frei­tag­abend. Sie stand vor dem Privat­haus des Münch­ner Neuro­logen, von dem sie in­zwi­schen eini­ges ge­lesen hatte. Sollte er sie wieder weg­schi­cken, es wäre sein gutes Recht. Seine Toch­ter öff­nete und be­äugte sie miss­trau­isch. Was wollte sie eigent­lich hier? Hilfe! Ver­dammt noch mal, ich brau­che Hilfe! Das Miss­trauen wich nicht, sie ließ sie draußen warten. So waren junge Töch­ter eben.

»Frau Kolle­gin«, seine Stimme hieß sie will­kommen, »ist es so schlimm? Kommen Sie doch bitte herein.« Er fasste sie be­schwich­tigend am Arm und half ihr damit, sich aus ihrer inne­ren und äuße­ren Er­star­rung zu lösen. Nur wenige Augen­blicke später ras­tete Vikto­ria Far­ber aus: »Was ist das für ein Ratten­bunker, in den Sie mich da ge­schickt haben! Wer rekru­tiert eigent­lich diese schmie­rigen Typen da? Sind Sie sicher, dass die über­haupt was von Medi­zin ver­stehen? Die sind wahr­schein­lich durch eine Auto­mecha­niker­prü­fung ge­fallen und ver­wech­seln mein Ge­hirn mit einem defek­ten Ver­gaser!«, kräch­zend spru­delte der Un­sinn aus ihr heraus. Die Toch­ter des Hauses flüch­tete nach oben in ihr Zimmer.

›Situa­tions­ange­messene schwe­re de­pres­sive Phase‹, stand in seinem Gut­achten später zu lesen und, ›Ver­dacht auf Morbus Par­kinson‹. Ver­dacht, die Wissen­schaft nahm es ihr übel, dass sie auf die wei­tere Unter­su­chung ver­zich­tete, nicht dem Atom­gott der Ge­hirn-Stoff­wech­sel­pro­zesse im Bunker hul­digte. Sie blieb ›ver­däch­tig‹, ob­wohl Er­fah­rungs­werte für sie spra­chen. Jetzt sollte sie schon dank­bar sein, dass sie zwi­schen Vier­zig und Fünf­zig zum Pflege­fall werden würde.

Die Psycho­phar­maka, die ihr der Neuro­loge aus den Praxis­bestän­den zu­steck­te, halfen ihr für die Heim­reise. Als sie jedoch fest­stell­te, dass sich ihr Zit­tern durch die rosa­roten Pillen trotz der Ein­nahme von Par­kinson Medika­menten ver­stärk­te, warf sie die Tablet­ten­pa­ckung weg. Sie stell­te sich der Fins­ter­nis der De­pres­sion, be­waff­net mit Johan­nis­kraut­präpa­raten. Die gute alte Haus­apo­theke sorgte dafür, dass ihr Lebens­faden nicht riss. Sie schloss sich ein, ma­gerte ab und fraß sich durch Berge von Fach­lite­ratur zur Krank­heit, ohne ein Schlupf­loch zu finden, durch wel­ches sie hätte flüch­ten können. Ihr Leben redu­zierte sich auf einzel­ne Stun­den des Tages und auf mini­male Ver­rich­tungen.

Objek­tiv be­trach­tet, halfen die Medika­mente. Das Zit­tern wurde über­deckt, sie ge­wann an Be­weg­lich­keit, doch die Bei­pack­zettel ihrer Medika­mente be­wahr­ten sie vor Illu­sionen. Übel­keit, Schlaf­stö­rungen, Kreis­lauf- und Konzen­trations­stö­rungen, häufi­ges Ver­schlu­cken, Muskel­zuckun­gen in den Beinen wurden ihre ersten Be­glei­ter. Es soll­ten noch wei­tere folgen. Wahr­schein­lich texte­ten kleine Teufel­chen diese Zettel in ihren Stoff­wech­sel­atom­bun­kern und er­ziel­ten Best­seller­auf­lagen damit. So ge­sehen hatte sie ihren Be­ruf ver­fehlt. Wenn sie über­lebte, sollte sie sich Sorgen um ihre Finan­zen machen. Solide ge­rech­net reich­ten ihre Er­spar­nisse für den Rest nach einer sol­chen Lebens­katas­trophe nicht aus.

 

– 4 –

Vikto­ria Far­ber stieg am nächs­ten Morgen, immer noch wie be­täubt von dem folgen­schwe­ren Schritt, in den ICE nach Mai­land via Verona. Ihr Handy lag auf dem Küchen­tisch in der Woh­nung, ihr Leben stand in einem Koffer und einem prall ge­pack­ten Ruck­sack neben ihr. Dies würde ein Auf­bruch ins Un­ge­wisse, ohne Perspek­tive werden. Reisen ohne Rück­fahr­karte, über­legte sie, war eigent­lich das Letzte, wofür sie in ihrer Situa­tion Kraft auf­brin­gen konnte. Aber wenn es kein Voran mehr gab, wurde es Zeit, die Lauf­rich­tung zu ändern. Sie sah furcht­bar aus, zit­terte am ganzen Körper und schlich wie eine Diebin, die Ge­päck­stücke hinter sich her zer­rend als Letzte den Gang des ICE ent­lang.

Der junge Mann, der ihr gegen­über­saß, schau­te mit einem glasi­gen Blick durch sie hin­durch oder schlief. Was hätte er auch an ihr ent­decken sollen? Die Musik aus seinem MP3-Player, eine leise, aber nicht zu über­hö­rende Ge­räusch­ku­lisse. Nach einer Weile fühlte sie sich un­sicht­bar, und das er­schien ihr nicht das Schlech­teste.

›Honey­moon-Phase‹ nann­ten die Medi­ziner die ersten zwei Jahre einer norma­len Par­kinson­erkran­kung, weil die Medika­mente die schlimms­ten Aus­fall­erschei­nungen über­deck­ten und man sich der Illu­sion hin­geben konnte, ein norma­ler, gesun­der Mensch zu sein. Mit ihrem Ent­schluss, nicht mehr die Mög­lich­keit einer noch schwe­reren Er­kran­kung in Be­tracht zu ziehen, die Multi­system­atro­phie ein­fach für sich selbst aus­zu­schlie­ßen, hatte sie die Kraft für diese Reise ge­funden. Das also war ihre ›Hoch­zeits­reise‹. Keine Jung­mäd­chen­träume von schep­pernden Dosen an der Stoß­stange einer weißen Limou­sine, von durch­toll­ten Näch­ten mit einem feuri­gen Lieb­haber, von Champa­gner, teuren Klei­dern und Kon­zert­besu­chen, Hoch­zeits­suiten in sagen­haften Grand Hotels. Von welch perfi­der Teufe­lei musste ein Medi­ziner be­seelt sein, um den Be­griff ›Honey­moon‹ für solche Lebens­situa­tionen zu ge­brau­chen?

Wenn schon, dann Ita­lien. Nicht an das schmach­tende Vene­dig mit Gon­do­lie­ren­ro­man­tik dachte sie, was nur zu zweit im Über­schwang der Ge­fühle zu er­tragen ge­wesen wäre. Sie wollte dem Früh­ling ent­gegen, Glyzi­nen und Sonnen­schein, mittel­alter­liche Gassen, Cas­tell­los. Auf der Piazza sitzen im ersten Sonnen­schein des Jahres und nicht fragen, wie lange das Geld rei­chen würde. Der Zug glitt durch die Land­schaft, Regen­nasen liefen quer an den Schei­ben ent­lang, graue Städte druck­ten sich im fahlen Licht der letz­ten Winter­tage. Die Köpfe der Pas­santen ver­schwan­den anonym unter Schir­men und Kapu­zen, wäh­rend sich Vikto­ria Far­ber hinter all diesen vorbei­rau­schenden Bil­dern be­reits das Leuch­ten des Meeres im glei­ßenden Sonnen­licht, das Wasser, das von einem Wind­stoß leicht ge­kräu­selt wurde, vor­stell­te und von alten Ge­mäuern in strah­lendem Sonnen­schein träum­te. Das erste Mal seit Wochen, dass sie träum­te und nicht mehr in der Hölle auf Erden briet. Sie traute diesem Ge­fühl nicht, aber sie klam­merte sich daran.

Beim Stu­dium der Ab­fahrts­an­zeige­tafel auf dem Bahn­hof Porta Nuo­va in Verona fiel Vikto­ria ein, dass sie, ab­gese­hen von Tee und Toast, einem Rest Käse und einer Fla­sche Mine­ral­wasser noch nichts zu sich ge­nommen hatte. Unter­zu­ckert, diagnos­tizierte sie die schwin­delnde Leich­tig­keit, die es ihr schwer machte, sich in­mitten der drän­gelnden Men­schen­massen auf dem Bahn­steig zu be­wegen. Café Latte, ein Cor­net­to mit Erd­beer­marme­lade. Ein milder Luft­zug strei­chelte ihre Wangen.

Wohin jetzt? Noch weiter nach Süden. Stadt oder Dorf, Meer oder Berge? Noch be­vor ihre Ängste wieder in ihren Ein­gewei­den rumor­ten, kaufte sie sich eine über­dimen­sionale Sonnen­brille, von der Art, wie sie hier offen­bar zum Kult ge­worden waren. Sie starr­te durch das so ent­ste­hende Halb­dunkel er­neut auf die Ab­fahrts­an­zeige­tafel des Bahn­hofs. Was wusste sie von Ita­lien? Vikto­ria mochte dieses Land, trotz Go­et­her­ei­se und klassi­scher Deutsch­lek­türe. Sie ver­spürte nicht die ge­ringste Eile. Sie machte eine ganz persön­liche italie­nische Be­stands­auf­nahme. Ihre Er­inne­rung malte Lebens­bilder wie Post­karten, zau­berte Ge­schmacks­nuan­cen und Ge­räu­sche. Mit ihren Eltern war sie in ihrer Kind­heit meh­rere Male nach Ita­lien ver­reist. Cam­ping­urlau­be, kleine Pen­sionen, ein­mal ein teures Hotel, in dem sich ihr Vater nie wohl­ge­fühlt hatte. Er­inne­rungs­bilder stie­gen in ihr hoch. Viel­leicht sprach sie noch ein paar Bro­cken Italie­nisch. Viel­leicht würde ihr sogar der eine oder andere Satz ge­lingen. Doch wohin wollte sie jetzt? Sie blick­te sich um und eigent­lich war ihr alles gleich­gültig. Nur die blei­erne Müdig­keit ver­ließ sie nicht.

Von hinten sah sie seine brei­ten Schul­tern. Er führte nicht weni­ger Ge­päck mit sich, aber er trug es in Ruck­säcken und Hipp­bags aller Art am Körper und be­wegte sich mit der Ge­lassen­heit eines Nie­be­sieg­ten. Ohne Ab­sich­ten folgte sie ihm ein­fach. Von der Statur her sprach vieles dafür, dass er ein Deut­scher war. Sie has­tete ein wenig auf dem Bahn­steig des Neben­glei­ses ent­lang, um ihn von vorn sehen zu können. Sein ovales Ge­sicht mager, um die Backen­kno­chen musku­lös, mit stren­gem Nasen­schwung, der dem Ganzen einen asketi­schen Zug ver­lieh. Sie konnte sich dieses Ge­sicht gut in einer mittel­alter­lichen Mönchs­kutte vor­stel­len. Komi­sche Idee. Seine Haare lässig ge­schei­telt, stan­den ein wenig wirr in der milden Vero­neser Luft. Seine Augen, zwei hell­blaue ste­chende Punkte unter dich­ten blon­den Brauen. Der Hals lang, etwas ge­wunden, halb im Profil die Kopf­hal­tung wie ein Raub­tier. Seine Arme wirk­ten fremd, als such­ten sie nach einer sinn­vollen Be­schäf­tigung in­mitten dieses Ge­drän­ges auf dem Bahn­hof. Sieben auf einen Streich, wenn er sie an­heben und ein­mal herum­wir­beln würde.

 

Triest, warum eigent­lich nicht Triest? Irgend­wo Rich­tung Grenze, Slowe­nien, Adria. Sie kaufte sich das Ticket und folgte ihm Rich­tung Zug. Das ent­hob sie einer Ent­schei­dung. Im Groß­raum­abteil half ihr ein älte­rer Herr, das Ge­päck zu ver­stauen. Für einen kurzen Moment schau­te der junge Deut­sche zu ihr her­über. Dann stie­gen zwei wei­tere junge Männer zu. Ita­liener, mit Seilen und Ruck­säcken be­laden. Wahr­schein­lich für eine Ge­birgs­tour. Gab es bei Triest Berge? Vikto­ria schwin­delte. Sie hatte zu wenig ge­gessen. Der Zug fuhr an. Sie fand noch recht­zeitig Halt an der Kopf­leh­ne. Fast wäre sie hin­geschla­gen. Vor­sich­tig setzte sie sich und war dank­bar, dass nie­mand in ihrer Nähe Platz ge­nommen hatte und jetzt Fragen stel­len konnte. Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf ein Ge­fühl, als säße sie in einer Achter­bahn auf dem höchs­ten Punkt der Stre­cke, eben in jenem Moment, in dem sich der vor­derste Wagen mit ihr nach vorn be­wegen würde. Bruch­teile von Sekun­den im ab­solu­ten Schwe­be­zu­stand, der sie jedoch im realen Leben jetzt stun­den- und tage­weise nicht ver­ließ. Das war ihre Krank­heit: Das Ster­ben der Ge­hirn­zellen in der Sub­stan­tia Nig­ra und ihr von den Medika­menten ge­schun­dener Körper, der sie voll­kommen zweck­los dauer­haft alar­mierte. Vikto­ria Far­ber be­wohnte ihren Körper nicht mehr allein. Eine stän­dige Be­glei­tung war dort ein­gezo­gen, ein zittern­des, schwe­bendes Etwas, das krampf­te und sie stol­pern und stür­zen ließ, wenn sie ihm nicht hul­digte. Nervös kramte sie in ihrem Ruck­sack. Sie hatte sich einen klei­nen Tablet­ten-Schie­ber (Morgen – Mit­tag – Abend – Nacht) ge­kauft. Für meine Omi hatte sie lä­chelnd in Apo­theke be­haup­tet, und sie hatten ihr einen mit großen Fä­chern und be­son­ders großer Be­schrif­tung ge­geben. Sie warf die Pillen, aus der hohlen Hand ein und spülte mit einem Schluck aus der Mine­ral­wasser­fla­sche nach.

Die Panik­atta­cke war vorbei, doch der Schwin­del blieb. Sie starr­te auf ihr Spie­gel­bild. ›Sieht man es mir an? Bin ich durch­sich­tig ge­worden? Wie lange schon interes­siert sich kein Mann mehr für mich?‹ Ihre Ge­sichts­züge kamen ihr ver­traut und fremd zu­gleich vor. Ihr Blick wurde un­scharf, ver­sank in ihrem Spie­gel­bild. Sie musste einige Zeit mit diesem Stu­dium ver­bracht haben, denn das Bild ihres Kör­pers als Ganzes stand ihr schließ­lich vor Augen: ihre langen, festen Arme und Beine, die glatte, leicht ge­bräun­te Haut, die dunk­len Locken auf den Kopf und auf dem Ge­schlecht. Es war das Be­wusst­sein von diesem Mäd­chen­körper, diesem ande­ren Körper, das jetzt Abend für Abend einen Schock in ihr aus­löste, wenn sie sich zit­ternd aus­zog, um zu du­schen, und ins Bett zu flüch­ten. Warum hatte ihr Körper sie im Stich ge­lassen? Die De­pres­sion, wie ein schwar­zes Loch, würgte sie und drohte Vikto­ria in den Sekun­den, in denen sie wieder in die Gegen­wart zurück­kehrte, immer weiter zu ver­schlin­gen. Irgend­wie flüch­teten sich ihre Ge­danken wieder in das Foto­album der Kind­heits­tage.

Sabine Grün, blond, blau­äugig mit Zahn­spange schob sich in Vikto­rias Er­inne­rungs­bilder. Bibi, ihre Bank­nach­barin beim Abitur, dann hatten sie einige Semes­ter zu­sammen stu­diert, bis Bibi ab­gebro­chen und er­klärt hatte, lieber würde sie Natur­wissen­schaf­ten stu­dieren, als Men­schen be­han­deln. Wo war sie ab­geblie­ben? Ozeano­grafie in Kiel und dann – eine Karte aus Triest, ein paar Briefe noch, be­vor der Kon­takt ab­riss. War sie damals nicht im ›Meeres­bio­logi­schen Insti­tut‹ in Triest ge­landet? Das wäre gerade­zu eine Be­stim­mung …

Vikto­ria wurde un­end­lich müde. Der Schwin­del in ihrem Kopf raubte ihr jedes Be­wusst­sein. Auf ihr Ge­päck wollte sie Acht geben, sah noch neben der Bahn­linie die Küste auf­tau­chen, auf die sie so lange ge­wartet hatte. Das Meer, eine grau-blaue Fläche im Sonnen­licht er­starrt. Es lag da, keines­wegs ver­hei­ßungs­voll, son­dern eigen­artig un­erreich­bar. Der Zug nahm hinter Vene­dig mäch­tig Fahrt auf. Wenige schwe­re Wolken am Himmel scho­ben sich immer wieder für Minu­ten vor die Sonne. Dann ein klei­ner Bahn­steig. Als der Zug wieder an­fuhr, schlief sie fest.

 

– 5 –

La Sta­zio­ne Cen­tra­le Triest – das Ge­päck war nicht ver­loren ge­gangen. Be­nommen stand Vikto­ria Far­ber auf dem Bahn­steig und war ver­blüfft über die milde, bei­nahe süße Luft. Un­schlüs­sig ver­harrte sie neben dem Zug und lausch­te auf das fremde Spra­chen­gewirr. Den jungen Deut­schen und seine Freun­de hatte sie aus den Augen ver­loren. Viel­leicht wäre sie ihm ein­fach weiter ge­folgt? Hastig, von irgend­wel­chen Termi­nen ge­trie­ben, ström­ten die meis­ten Rei­senden dem Aus­gang ent­gegen. Andere gegen­läufig, ent­schlos­sen zum Auf­bruch, jagten zu den Zügen, die sich wie voll­gefres­sene Raupen der Stadt ge­nähert hatten, um hier ge­duldig neue Beute zu machen. Vikto­ria ließ sich Zeit und schlen­derte der laut­star­ken Masse hinter­her, die sich an der Piazza del­la Li­bertà sofort auf die Bus­sta­tionen, die war­tenden Autos oder Taxen ver­teilte. Wie aus großer Ferne be­trach­tete sie die Szene­rie: ›Das also ist das to­sende Leben!‹, dachte sie ver­wun­dert, und: ›Will­kommen im Früh­ling‹.

Vikto­ria kaufte einen Stadt­plan und stand un­schlüs­sig vor dem Portal des Bahn­hofs auf der Piazza del­la Li­bertà. Gegen­über an den Halte­stel­len mit den blauen Über­land­bussen, die mit offe­nen Türen und lau­fendem Motor das hohe Lied des Auf­bruchs sangen, das von einem steti­gen, fast tröst­lichen ›Pron­to!‹-Stac­cato der Ita­liener, laut­stark in ihre stän­dig wimmern­den Mobil­tele­fone ge­sungen, be­glei­tet wurde, genau gegen­über der Szene­rie, ein paar Rent­ner, Vo­yeure, arbeits­un­wil­lige Taxi­fahrer auf den weißen Plas­tik­stüh­len eines Cafés. Männ­liche Be­trach­ter eines Schau­spiels, das hier An­kunft oder Ab­schied hieß. Vikto­ria schul­terte ihren Ruck­sack, zerrte an dem Koffer und ging zu dem Café hin­über. Sie grüßte freund­lich, nahm Platz und be­stell­te Wasser, Espres­so und ein Cia­batta.

»Germa­nia«, sagte Vikto­ria, »in der Nähe von Köln, Co­logne.« Das waren ihre ersten Worte seit Verona. Der ältere Mann, des Deut­schen mäch­tig, machte ihr Kompli­mente, und wäh­rend sie den Espres­so hin­unter­stürz­te, stell­te sie er­leich­tert fest, dass sie noch nicht un­sicht­bar ge­worden war. Sie sprach vom Dom, dem Rhein und ihre Reise. Ein ande­rer schien in Köln ge­lebt und ge­arbei­tet zu haben, Ford-Werke, be­tonte er immer wieder. Der erste Mann ging jetzt auf das Wetter ein. Es sei be­reits un­gewöhn­lich heiß, man habe erst fünf Regen­tage ge­habt, aber be­reits Tempera­turen über 25 Grad und Stürme. Zu tro­cken. Vikto­ria nickte und antwor­tete, es sei ein wunder­schö­nes Licht hier, die Sonne in Ita­lien bringe alles zum Strah­len. Die ande­ren Männer und die Be­die­nung hörten ihr zu. Wo sie hin wolle? Ob sie länger bliebe? Wäh­rend sie ihr Cia­batta ass, sprach sie von einer Schul­freun­din, die hier im Meeres­bio­logi­schen Insti­tut arbei­ten würde. »Sabine Grün«, sagte sie mit er­war­tungs­voller Stimme, so als ob es wahr­schein­lich wäre, dass jetzt einer auf­sprin­gen, ihr auf die Schul­ter schlü­ge und er­regt, »Sabine!«, aus­rufen würde. All­gemei­nes Nicken. Man be­schrieb ihr den Weg zum Insti­tut. Jetzt wusste sie, zum Hafen und Meer musste sie sich links halten. Als sie er­klärte, sie reise ohne Zeit­vor­gabe und wisse nicht, wie lange sie bleibe, wann sie weiter­fahren würde, nickte man an­erken­nend. Dies sei, meinte der erste ältere Mann, die ein­zige Art, irgend­wo an­zu­kommen. Kaum jemand reise mehr so. Er deu­tete dabei auf die aus dem Bahn­hof has­tenden Men­schen. »Nie­mand kommt mehr wirk­lich an. Keiner sieht, wo er an­kommt.« Die ande­ren stimm­ten zu, als sei Vikto­ria damit heraus­geho­ben und in einen gehei­men Klub auf­genom­men worden. Ihr schie­nen die auf­gedreh­ten Alten ein wenig aus der Oliven­öl­re­klame von Ber­tol­li ent­sprun­gen, so agil und neu­gierig wirk­ten sie.

»Kommen Sie«, er­bot sich der Zweite, »mein Wagen steht dort, ich fahre Sie zum Hafen und an­schlie­ßend zu einem billi­gen, guten Hotel.« Als sie ver­suchte ab­zu­lehnen, protes­tierten alle im Chor so laut, dass es ihr rasch pein­lich wurde und sie das An­gebot an­nahm. Zu­erst jedoch pil­gerten ihre beiden Ge­sprächs­part­ner mit ihr zum Sis­si-Denk­mal »Eli­sa­bet­ta«, der wohl noch immer be­lieb­testen Herr­scherin aller Zeiten hier. Das Denk­mal gegen­über vom Bahn­hofs­ge­bäude war eine künst­le­risch italie­nische Ant­wort auf das Habs­burger Hof­zeremo­niell – jeden­falls wie Vikto­ria es sich vor­stell­te.

Ihr Ge­päck lan­dete in dem klei­nen Fiat auf der Rück­bank neben ihr, und wäh­rend sich die beiden älte­ren Herren als Reise­führer lang­sam in Rage rede­ten und gegen­seitig über­boten, dachte sie in einem ihrer pein­lichen Mo­mente an Mäd­chen­händ­ler und fins­tere Ver­schlä­ge auf Con­tainer­schif­fen. Ent­schlos­sen ver­dräng­te sie ihr Un­sicher­heits­gefühl in die hin­terste dunkle Ecke ihres Unter­be­wusst­seins. Sie zog ihre Mund­winkel nach oben und machte artig Kompli­mente. Jetzt sahen die beiden sie tat­säch­lich an, als hätten sie irrtüm­lich eine Tou­ristin ver­laden, und es ver­schlug ihnen für einen Moment die Spra­che. Als Vikto­ria, ärger­lich über sich selbst, ihren Blick wieder auf die Straße rich­tete und fluch­te, ge­wannen beide Männer wie auf Knopf­druck ihre Leben­dig­keit wieder.

Sie fuhren auf der Hafen­straße. In Triest fiel es dem Be­sucher leicht, die häss­lichen Seiten der Industria­lisierung und der Groß­stadt auf den ersten Blick zu igno­rieren. Gerade an der Küsten­linie er­in­nerte das Stadt­bild nost­al­gisch ver­klärt an das Wien der Habs­burger. Ein Prome­naden­band aus den hell leuch­tenden weißen Fassa­den der Pa­lazzi im impo­santen Stil des Wiener Klas­sizis­mus, be­ein­dru­ckende Repräsen­tations­bauten der Reeder, Händ­ler, Ver­siche­rungen und Be­satzer des 18. und 19. Jahr­hun­derts.

Schon sprach Giu­seppe, ihr erster Be­glei­ter, von den Kaffee­häu­sern im Wiener Stil, von Pala­tschinken. Er hatte in einem frühe­ren Leben in Öster­reich als Koch ge­arbei­tet und betete jetzt Zunge schnal­zend eine Ab­folge öster­reichi­scher Mehl­spei­sen her­unter.

Sie hiel­ten am Strand von Mira­mare. Ein paar Schrit­te, um sich die Beine zu ver­treten, meinte der eine, wäh­rend sich Giu­seppe eine Ziga­rette an­steck­te und hinter dem Lenk­rad ver­weilte, wegen der Koffer, wie er meinte. Viel­leicht auch, um ihn nicht auf fal­sche Ge­danken kommen zu lassen, ver­sicher­te Vikto­ria, völlig über­flüs­siger­weise, dass da nichts von Wert drin sei. Giu­seppe zuckte nur mit den Schul­tern und paffte. Am Strand eine bunte Mi­schung von Japa­nern, Indern, Ameri­kanern, Afrika­nern, ja es gab sogar einige Ita­liener und Slowe­nen. Bei eini­gen hätte Vikto­ria er­wartet, dass sie zu den Wissen­schaft­lern aus dem renom­mierten meeres­bio­logi­schen For­schungs­insti­tut Tri­ests ge­hörten. Doch an der dorti­gen Pforte er­klärte man ihr, sie solle wäh­rend der Büro­zeiten wieder­kommen. Von ihrer Schul­freun­din Bibi keine Spur. Viel­leicht war das auch keine gute Idee, nach all den Jahren.

Sie fuhren ge­mäch­lich mit offe­nen Fens­tern. Ihre Haare vom Wind zer­zaust. Giu­seppe sprach vom Hafen, aus dem alles ent­stan­den sei. ›Il pun­to‹, dem Herz aller Dinge. Einem Poeten ähn­lich, ver­glich er das Leben mit einem Hafen und kurvte gleich­zeitig ein­händig durch enge Gassen der Stadt.

Vikto­ria spürte den kalten Schweiß der Er­schöp­fung auf ihrer Stirn, dachte daran, dass es schon wieder Zeit für ihre Tablet­ten und das Medi­zin­pflas­ter war. Sie ver­bat sich jedoch, den Tablet­ten­schie­ber aus­zu­packen. Frau Doktor genier­te sich, lehnte sich nur zurück, hörte Giu­seppe zu und seinem älte­ren Freund, der die Schön­heit der Alt­stadt und das Hotel an­pries. Wie von Ferne, wie eine auf- und ab­klin­gende Suada, ein Rede­schwall, ein Strom von Tönen, ver­traut und fremd zu­gleich, dran­gen die Worte zu ihr. Sie lächel­te dank­bar, weil man sich küm­merte, keine Ant­worten er­war­tete, außer einem ›si‹ oder ›no‹. In­zwi­schen er­fuhr sie auch, dass der andere Mann Gus­tavo hieß. Giu­seppe und Gus­tavo, besser hätte man die Namen nicht er­finden können!

Nuo­vo Al­ber­go Cen­tral, Via RomaCa­na­le Grande