Simon Strauß (Hg.)

Spielplan-Änderung!

30 Stücke, die das Theater heute braucht

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von © finepic®

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50457-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11606-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

Simon Strauß

Was will das deutsche Theater heute? Wozu tritt es Saison für Saison an? Gibt es so etwas wie eine generelle Tendenz oder zumindest ein paar unterschiedliche Strömungen? Was spiegelt sich von dem großen Ganzen in dem kleinen Halbrund der offenen Bühne? Oder geht es gar nicht mehr in erster Linie um das, was hier gespielt wird, sondern darum, wie ein Theaterhaus verwaltet wird – mit Frauenquote, Ensemblenetzwerk und Mindestgage oder ohne? Fragen, die sich nicht nur jeder Theatergängerin, sondern auch jedem Steuerzahler stellen.

Denn im Unterschied zu den meisten anderen Ländern auf der Erde subventioniert Deutschland seine Theater auf großzügige Weise. Nirgendwo sonst wird Theater so entschieden gefördert wie bei uns. Von Kiel bis Konstanz leistet sich die Bundesrepublik eine weitverzweigte theatrale Infrastruktur. Als wäre ihre Fortexistenz integraler Teil der Staatsraison und die »Kulturnation« ohne ihre Theater nicht denkbar. Und trotzdem scheint das Gefühl der Enttäuschung am Theater häufiger um sich zu greifen als bei benachbarten Kunstgattungen. Die Zuschauer sind enttäuscht von der Inszenierung, die Schauspielerin ist enttäuscht vom Regisseur, der Regisseur wiederum von der Intendantin, die Intendanz vom Kulturdezernenten, die Presseabteilung vom Kritiker und der wiederum schnell vom Ganzen.

Gehen wir die Sache doch einmal von der anderen Seite an: nicht immer nur klagen und kritisieren, was es auf den Bühnen zu sehen gibt, sondern davon schwärmen, was es zu sehen geben könnte. Welche reichen Schätze auf dem Feld der Theaterliteratur zu entdecken wären. Nehmen wir an, wir könnten einen Spielplan frei bestimmen, ohne auf Zuschauerzahlen, Besetzungszwänge oder Spielzeitmotti achten zu müssen. Das einzige Kriterium wäre, dass er ausgefallen literarisch sein müsste, sich distinkt unterscheiden von den »Altprogrammen« mit ihren »Woyzecks«, »Macbeths« und »Handlungsreisenden«.

Nicht nur den Laien müsste ja eigentlich erstaunen, mit welcher Einfallslosigkeit an den Theatern dieses Landes immer wieder dieselben Stücke aufgeführt werden, als umfasste der allgemein spielbare Kanon nur etwa fünfzehn Autoren. Die Schwäche der derzeitigen Dramaturgie an deutschen Theatern, die sich zunehmend zu einem organisierenden Mittelbau ohne eigenes Entwurfsrecht degradieren lässt, zeigt sich durch nichts so deutlich wie durch das nahezu vollständige Ausbleiben literarischer Entdeckungen. Stattdessen wird adaptiert und in eigene Fassung gebracht. Nahezu kein Stoff ist inzwischen mehr vor einer solchen »kulturellen Aneignung« sicher, ohne mit der Wimper zu zucken werden Beziehungsratgeber und Sachbücher auf die Bühne gebracht. Die Theaterverlage reagieren auf das gestiegene Interesse, indem sie statt neuer Theaterstücke in ihren Vorschauen immer mehr Vorlagen ankündigen, die sich angeblich zur Dramatisierung eignen. Hauptaugenmerk fällt dabei auf das Kinoprogramm und die Bestsellerlisten. Während es immer mehr unabhängige Verlage gibt, die für die Wiederentdeckung vergessener Literatur brennen und auch an den Opern der Kanon in regelmäßigen Abständen erweitert wird, scheint man sich in den Dramaturgien unserer Stadt- und Staatstheater darauf geeinigt zu haben, lieber die altbekannten Klassiker zu spielen und hin und wieder ein paar neue Dramatisierungen von allgemein beliebten Stoffen dazwischenzuschieben. Aufregende Programmgestaltung sieht anders aus.

Was könnte man stattdessen alles spielen! Jetzt, heute, hier, wo die Sehnsucht nach Erzählung und Identifikation, zumindest nach den Maßstäben des allgemeinen Serienkonsums zu urteilen, bei einer jüngeren Generation wächst wie lange nicht mehr. Was könnte man da für Stoffvergleiche anstellen, was für Wirkungsgeschichten aufzeigen – auf den Zeitgeist eben nicht nur mit Aktualitätsversprechen antworten, sondern mit einer enthusiastischen Gegenfrage. Nicht darüber verzweifeln, was das mit uns zu tun haben könnte, sondern neugierig danach suchen, womit wir immer noch nicht fertig geworden sind. Mit einer so starken Subventionierung im Rücken, wie sie deutsche Theater (noch) haben, müsste hier doch eigentlich jedes Abenteuer, jedes Risiko möglich sein.

Was könnte man also spielen? Das war die Ausgangsfrage einer Serie im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ein Jahr lang mit großer Neugier zu Unrecht in Vergessenheit geratene Theaterstücke vorstellte. Mehr als vierzig Beiträge von Autorinnen und Autoren gingen ein und warben dafür, ein bestimmtes Werk aus seinem unverdienten Exil zu befreien und als Kronzeugen ins Zentrum eines alternativen Spielplans zu stellen. Es ging dabei nicht um Kuriositäten, um Abseitiges oder Obskures, sondern um zentrale Werke europäischer Theaterkunst, die auf unsere Bühnen gehören, weil sie dieser Zeit etwas zu sagen oder ästhetisch Aufregendes zu bieten haben.

Keine kritische Revision des Höhenkamms war das Ziel, sondern ein werbender Blick in die Magazine: Gibt es wirklich niemanden neben Strindberg und Ibsen? Wen kennen wir außer Beckett und Ionesco? Könnte sich das repräsentative Interesse an Geschlechtergerechtigkeit nicht auch einmal inhaltlich zeigen? Mehr Dramatikerinnen gespielt werden? Welche jüdischen Theaterautoren haben wir vergessen? Welche Dramenfragmente lohnen einen zweiten Blick? Wieviel Sturm und Drang geht dem Theater verloren, wenn es keinen Byron spielt? Welche Sprache fehlt uns ohne die Sätze von Anna Gmeyner? Oder die von Alexander Blok? Welche fremden Seelen lernen wir kennen bei George Sand, Dagny Juel oder Aphra Behn? Was für ein funkelnder Gegenkanon ließe sich bilden mit de Vega, Ostrowski, Molnár, Carrington und Shaw? Wie noch einmal anders auf die deutsche Geschichte schauen durch die Augen von Jakob Lenz, Karl Schönherr und Max Herrmann-Neiße. Was alles an Russland verstehen durch »Tarelkins Tod« oder »Phoenix«? Welche Antike lebt fort in Hebbels »Herodes und Mariamne«, Hans Henny Jahns »Medea« und Peter Hacks »Senecas Tod«, wie nah rückt uns Byzanz in Andreas Gryphius’ »Leo Armenius«? Wie viel weniger lachen wir ohne die Stücke von Gustav Wied, August von Kotzebue oder Jean Anouilh? Wer erinnert sich an Pablo Picassos surrealistisches Drama? Wer kennt den Theatertext zum Film »Frankie and Johnny«? Wird Else Lasker-Schülers »Wupper« wirklich oft genug gespielt? Und Turgenjews »Monat auf dem Lande«? Und Fleißers »Starker Stamm«?

Diese Anthologie präsentiert dreißig Stücke, die das Theater heute braucht. Sie plädiert für eine Spielplan-Änderung. Ist durchzogen von dramatischer Goldgräberstimmung und poetischer Entdeckerlust. Das Buch ist zusammengestellt von Theaterleuten und Theatergängerinnen, Lesern, Kritikern, Dramatikerinnen und Dichtern, kurz, von Menschen, die sich für die Bühne begeistern. Und die endlich mehr Vielfalt sehen wollen. Nicht nur innerhalb der Ensembles, sondern auch bei den monatlichen Programmankündigungen. Die vergessenen oder noch gar nie entdeckten Stücke, die – immer eingeleitet von einem szenischen Ausschnitt – empfohlen werden, stammen aus vier verschiedenen Jahrhunderten. In ihrer stilistischen, dramaturgischen und programmatischen Unterschiedlichkeit bilden sie zusammen den Entwurf eines Spielplans jenseits des konventionellen Kanons. Sie machen Lust auf ein ausgefallen literarisches Theater. Ein Theater, das sich aus den verschiedenen Sprachräumen, Ideengeschichten und Wertevorstellungen speist, das sich durch ästhetische und ideologische Traditionen anregen lässt und der wissenschaftlichen Musealisierung der Texte entgegentritt.Es geht um die Wiederentdeckung verloren gegangener Geschichten, ausgeschlossener Figuren und vernachlässigter Sprechweisen. Um die Frage nach der Eigenart der dramatischen Gattung. Darum, für 250 Seiten so zu tun, als wäre mit diesem, unserem deutschen Theater alles möglich. Als müssten wir keinen »turns« gehorchen, uns nicht hinten anstellen und laut »Post« sagen, weil sich sonst alle böse umschauen. Als gäbe es kein Vorwärts und Zurück, kein Hinten und Vorne, als spielte die Zeit keine Rolle bei der Bewertung von Sätzen und Sinnestäuschungen, als wäre die Wirkung alles. Und das Theatertreffen nichts.

Dieses Buch ist wie eine Schatzkarte. Auf ihr sind viele verschiedene Geheimwege verzeichnet, denen zu folgen sich sehr lohnt. Wer mit ihr in der Hand durch die verschiedenen dramatischen Fantasiewelten läuft, wird viele Kostbarkeiten entdecken. Und vielleicht am Ende wirklich ankommen in jener golden glänzenden Kammer, wo alles spielt: auf der Bühne …

Lope de Vega:
Das berühmte Drama von Fuente Ovejuna (16191)

3. Akt, 3. Szene

(Laurencia wendet sich an die Frauen.)

LAURENCIA Nur vorwärts, denn der Himmel erhört euch.

Ah …, ihr Frauen des Ortes!

Kommt herbei, damit

eure Ehre wiedererlangt werde! Kommt alle herbei!

(Pascuala, Jacinta und weitere Frauen treten auf.)

PASCUALA Was gibt es? Warum schreist du so?

LAURENCIA Seht ihr nicht, dass alle sich daran machen,

Fernán Gómez zu töten,

und Männer, Burschen und Knaben

wutentbrannt zur Tat eilen?

Wäre es denn recht, dass nur sie allein

sich des Ruhms dieser Tat erfreuen sollen,

da doch die Kränkungen, die die Frauen

ertragen mussten, nicht geringer sind?

JACINTA Nun denn, was hast du vor?

LAURENCIA Dass wir alle, in geordnetem Zug,

eine Tat in Angriff nehmen,

die das ganze Erdenrund in Staunen versetzen soll.

Jacinta, dein großes Leid

soll Feldwebel sein, übernimm die Verantwortung

für eine Abteilung der Frauen.

JACINTA Die deinen sind nicht geringer!

LAURENCIA Pascuala, du sollst Fähnrich sein.

PASCUALA Dann lass mich

die Fahne an einer Stange hissen;

du wirst sehen, ob ich den Titel verdiene.

LAURENCIA Wir haben keine Zeit dafür,

denn das Glück steht uns zur Seite;

es genügt, dass wir

unsere Hauben als Kriegsfahnen mit uns führen.

PASCUALA Ernennen wir einen Hauptmann.

LAURENCIA Auf keinen Fall.

PASCUALA Warum?

LAURENCIA Weil dort,

wo meine Tapferkeit zur Stelle ist,

die Cid und Rodomonte nutzlos sind.

Paul Ingendaay

Manchmal wäre man ja schon froh, wenn Theaterleute auf der Suche nach neuen Stoffen einfach in die Buchhandlung gingen und ein bisschen stöberten – wenn sie nicht danach fragten, was jetzt als »gesellschaftlich relevant« nach »Aktualisierung« schreit, weil es die eigenen politischen Besorgnisse spiegelt, sondern sich mit nichts als Neugierde durch ein paar alte Texte treiben ließen. So würde man etwa auf ein orangefarbenes Reclam-Büchlein mit Lope de Vegas berühmtem Stück »Fuente Ovejuna« stoßen, geschrieben vor ziemlich genau vierhundert Jahren.

Deutsche könnten den Namen des spanischen Dramatikers (1562 bis 1635) im Zusammenhang mit dem Makler Sigismund Gosch aus Thomas Manns »Buddenbrooks« kennen. Von diesem »gelehrten und merkwürdigen Menschen« geht im Roman die Rede, er arbeite »seit seinem zwanzigsten Jahre an einer Übersetzung von Lope de Vega’s sämtlichen Dramen«. Ihren Witz erhält die Information dadurch, dass von Lopes laut eigener Behauptung 1500 Stücken immerhin mehr als vierhundert erhalten sind. Nimmt man dann noch hinzu, dass uns das iberische fünfzehnte Jahrhundert, in dem »Fuente Ovejuna« spielt, unendlich fern steht und das Theater des Goldenen Zeitalters mit Vertretern wie Lope de Vega, Calderón de la Barca und Tirso de Molina heutigen Theatergehern kaum noch ein Begriff ist, scheint das distanzierende Etikett schon fertig und geklebt: verstaubter Klassiker.

Bei diesem Stück ist das Gegenteil der Fall. Lopes Bühne ist das einfachste Ding – keine Theaterbauten, keine Requisiten, keine Szenenanweisungen außer: Einer tritt auf, einer tritt ab. Die Sache spielt in drei gesellschaftliche Sphären: bei den Monarchen Fernando und Isabella, die als »katholische Könige« im Begriff sind, Kastilien und andere Teile des Landes mit Kreuz und Schwert zu einen; beim machtlüsternen Adel, hier vertreten durch den Großmeister des Jakobsordens und dessen brutalen Komtur Fernán Gómez; und unter den Bewohnern des Dorfes Fuente Ovejuna, das von seinem Lehnsherrn grausam tyrannisiert wird.

Die Handlung ist schlicht, aber wie so oft bei Lope, dem »Monstrum der Natur« (so sein Konkurrent Cervantes), von größter dramatischer Wucht: Der Komtur bringt das Dorf gegen sich auf, als er das Landmädchen Laurencia an ihrem Hochzeitstag verschleppt und missbraucht. Da es im spanischen Drama oft obsessiv um Konzepte von Ehre, Würde und Reinheit des Blutes geht, konnte auch Lopes Publikum verstehen, dass den Bauern von Fuente Ovejuna der Kragen platzt, gesellschaftliche Hierarchien hin oder her. Schon bei früheren Anmaßungen des Komturs hat Laurencias Verlobter mit der Armbrust auf den übergriffigen Adeligen gezielt und ihn so zum Rückzug gezwungen. Bei anderer Gelegenheit greift ein Dörfler zur Schleuder: Gegen das Arsenal berittener Streitkräfte, die ans Plündern, Schänden und Niederbrennen gewöhnt sind, bringt das Stück »Fuente Ovejuna« erst die primitiven Waffen der Proletarier in Stellung – und dann die radikale Tat, die alles verändert.

Denn als die Willkür des Komturs schrankenlos wird, rottet sich das Dorf zusammen und tötet den Oppressor. »In ungezügeltem Rasen«, so wird dem erstaunten König berichtet, »stürzen sie ihn hinunter, wo auf Piken und Schwertern die Frauen ihn auffangen.« Es sind nicht von ungefähr Frauen, die sich beim Töten hervortun. Sie durchschauen die Lage viel schneller, weil sie immer die ersten Opfer sind. Als Schafe, Feiglinge und »halbe Männer« haben sie die Dörfler beschimpft, weil sie die Ehre der Frauen gegen den Komtur nicht zu verteidigen wussten. Jetzt sind sie vornedran im Gemetzel. »Bei Gott, ich muss dafür sorgen«, klagt Laurencia, »dass Frauen alleine … das Blut dieser Ruchlosen erbeuten!« Am Ende ist die Wut auf den skrupellosen Komtur so groß, dass von ihm nur noch »als größte Fleischfetzen die Ohren übrig bleiben«. Lope tändelt nicht, er bringt ungezügelte Emotionen auf die Bühne und ist ein drastischer Unterhalter. Sein »Fuente Ovejuna« lässt sich auch als Splatter-Movie verstehen.

Es bleibt eine unerhörte Tat: Die nichts haben, formieren sich zum Kollektiv und erarbeiten sogar eine Strategie für das Danach, die einzige überhaupt, die Erfolg verspricht. Sie setzt allerdings schrankenlose Solidarität voraus. Auch unter Folter nämlich geben die Bewohner dem Untersuchungsrichter nichts anderes preis als den Satz: »Fuente Ovejuna hat es getan.« Niemand war Anstifter, niemand war Täter – alle gemeinsam waren es, weil die Gemeinschaft des Nests aus einem Munde spricht. Mit dem spontanen Tyrannenmord verbindet das schlaue Dorf das Treuebekenntnis zum König.

Lope hält die Fäden seiner Handlung immer fest in der Hand, und wie die Sache ausgeht, ist lange unklar. »Ich scheiße auf den Prozess!«, sagt der Vater des missbrauchten Mädchens in der Übersetzung von Hartmut Stenzel, der dem Stück einen klugen Stellenkommentar und ein ausführliches Nachwort beigegeben hat. Ähnlich bildhaft steht es auch im spanischen Original. Der opportunistische Großmeister des Jakobsordens indessen dient sich mit seinen Leuten sofort dem König an und bittet um Erlaubnis, das Dorf dem Erdboden gleichmachen zu dürfen. Nur der Untersuchungsrichter begreift, dass es so nicht geht, und gibt dem König einen guten Rat. Da es unmöglich sei, die Wahrheit herauszufinden, »so musst du allen verzeihen, oder den ganzen Ort töten lassen«. Der König wählt das Erste.

So lässt sich das Stück als Schilderung einer lokal begrenzten Rebellion, doch ebenso als Affirmation der höheren (monarchischen) Ordnung lesen, und anderes wäre auf spanischen Bühnen in der Dekadenzphase nach dem Tod Philipps II. auch nicht zu erwarten gewesen. Und doch wird hier sehr realistisch die Anleitung zum Tyrannenmord vorgespielt und die Frage nach der Verantwortung politischer Macht gestellt.

Rainer Werner Fassbinder hat diese Ambivalenz nicht ausgehalten – oder sie hat ihn nicht interessiert. In seiner Bearbeitung unter dem Titel »Das brennende Dorf«, die 1970 in Bremen gezeigt wurde, tötet das Volk auch noch den König und kippt damit gleich die gesamte Gesellschaftsordnung. Lopes Stück bleibt bei dieser Achtundsechziger-Lösung ausgequetscht und sinnentleert zurück. Nicht, dass die frühen sowjetischen Inszenierungen es wesentlich anders gemacht hätten. Man würde das Drama heute gern offener vorgeführt bekommen, provozierender, undogmatischer, dann könnte »Fuente Ovejuna« viel mehr sein: eine Reflexion über Gewalt, politisches Kalkül und Mitläufertum, über bürgerliches Engagement in vorbürgerlichen Zeiten und die Schranken der Macht.

Andreas Gryphius:
Leo Armenius (um 1650)

5. Akt, 3. Szene

THEODOSIA Wen schleift die grimme Schar!
O Jammer! Ist es der

Der dieses Reich beherrscht. Welch’ Abgrund
welches Meer

Der Schmerzen schluckt uns ein. Was können wir erkennen,

das nicht zu schlagen sei? Ist hier ein Glied zu nennen,

das nicht das Schwert zerstückt? Wo ist sein schönes Haar?

Das mit besteintem Gold noch erst umwunden war?

Wo ist die starke Hand / die Schwert und Zepter führte:

Die Brust, die blanker Stahl sowohl als Purpur zierte?

Weh’ uns / wo ist er selbst? Schaut! Sein nicht-schuldig Blut gereizt durch unsere Angst /

Spritzt eine neue Flut

durch alle Wunden vor! Sein Blut ruft emsig Rache!

Ob seine Lippe stumm. Sein Blut tut eurer Sache

mordgierig Unrecht dar! […] Reißt uns mit ihm! Der Tod bringt euch und uns Gewinn

Setzt Spieß und Säbel an! Braucht Flamm’ und grimme Waffen!

Wir wünschen (lasst uns hier) wir wünschen zu entschlafen

auf dem erblassten Mund, auf der geliebten Brust.

MICHAEL Reißt ihr die Leiche aus.

THEODOSIA Wo sind wir? Was für Lust

empfinden wir anjetzt? Der Fürst ist nicht erblichen:

O Freud’ / Er lebt! Er lebt! Nun ist dies Leid gewichen

Er wischt die Tränen selbst uns ab mit linder Hand!

Hier steht er! Er ergrimmt und schüttet Schwert und Brand

auf der Verräter Haupt.

I. VERSCHWÖRER Der Schmerz hat sie bezwungen!

Sie rast vor höchster Angst.

THEODOSIA Mein Licht! Sie sind verdrungen!

Die Mörder sind erwürgt! Er beut uns seinen Kuss:

O unverhoffte Wonn! O Seel erquickend Gruß!

Wilkommen werter Fürst! Beherrscher unserer Sinnen!

Gefährten trauert nicht mehr / er lebt.

MICHAEL Schafft sie von hinnen!

Andreas Kilb

Man müsste das Stück übersetzen. Es herausholen aus dem Gefängnis der barocken Sprache, der gelehrten Metaphern, so wie Brecht in »Mutter Courage« die von Grimmelshausen erzählte Geschichte der Landstörzerin Courasche verwandelt und in die Moderne übersetzt hat. Aber der Weg zu uns wäre diesmal viel kürzer, denn »Leo Armenius« ist ja schon ein Drama, ein Trauerspiel von Andreas Gryphius, erstmals erschienen im Jahr 1650. In der Ausgabe von 1663, die Gryphius vor seinem Tod im folgenden Jahr noch einmal gründlich redigiert hat, macht schon der Titel klar, worum es geht: »Leo Armenius / Oder Fürsten-Mord«.

Die Handlung spielt im Kaiserpalast und in der »Burg« von Konstantinopel, von Heiligabend nachmittags bis zum Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages im Jahr 820 nach Christus. Michael Balbus (»der Stotterer«), der Oberbefehlshaber des byzantinischen Heeres, hat sich gegen seinen einstigen Freund und Förderer Leo Armenius (»der Armenier«) verschworen, der jetzt auf dem Kaiserthron sitzt. Der Tyrann müsse gestürzt werden, erklärt Michael, weil er sich »im Blut der Untertanen wäscht« und »seinen Gelddurst stets mit unsern Gütern löscht«.

Aber das ist nicht der Leo, den wir kurz darauf kennenlernen. Im Gegenteil, der Kaiser, den Gryphius vor uns erstehen lässt, ist ein Melancholiker und Zauderer, die Macht liegt ihm wie ein Stein auf der Brust. »Was ist ein Prinz doch mehr als ein gekrönter Knecht?«, fragt Leo, den im Schlaf Albträume quälen »mit Brand, mit Ach und Tod« und dessen Reich von allen Seiten bestürmt wird. Die Verschwörung, die bald aufgedeckt wird, könnte er mühelos ersticken; aber noch lieber will er, dass Balbus, »die kalte Schlang’«, seinen Verrat bereut, bevor er stirbt. So lässt sich der Kaiser von seiner Gattin Theodosia überreden, die Hinrichtung bis nach Weihnachten aufzuschieben. Das ist sein Verhängnis. Die Verschwörer, die Michael aus dem Kerker heraus lenkt, schleichen sich als Priester verkleidet während der Christmette in die Hagia Sophia und ermorden Leo, der sich verzweifelt wehrt, am Altar; und Michael Balbus wird Basileus von Byzanz.

Gryphius hat die historischen Tatsachen, auf die er sich stützt, auf bezeichnende Weise umgeschrieben. Leo V., oströmischer Kaiser von 813 bis 820, war ein knallharter Machtpolitiker, der seinen eigenen Vorgänger auf einem Feldzug gegen die Bulgaren schmählich im Stich gelassen und anschließend entthront hatte. Michael II. wiederum, sein Nachfolger, wurde bei seiner Verschwörung vor allem durch den byzantinischen Klerus gestützt, der sich von der Ermordung des ikonoklastischen Kaisers ein Ende der Bilderverfolgungen erhoffte, was auch tatsächlich geschah. Dafür löste Michaels Thronbesteigung allerdings einen dreijährigen Bürgerkrieg aus, der das Reich der Byzantiner militärisch auf lange Zeit schwächte und die arabische Eroberung von Kreta und Sizilien möglich machte.