Leichter als Vakuum

Die Zwystein-Manuskripte

Die größte Reise

Phantastische Geschichten

von Erik Simon, Angela Steinmüller

und Karlheinz Steinmüller

Simon & Steinmüller

Simon’s Fiction. Band 6

A. und K. Steinmüller:

Werke in Einzelausgaben. Band 8

Herausgegeben von

Sara Riffel und Erik Simon

Impressum

(Erik Simon:

Simon’s Fiction, Band 6)

Herausgegeben von Sara Riffel

(A. und K. Steinmüller:

Werke in Einzelausgaben, Band 8)

Herausgegeben von Erik Simon

Der vorliegende Band ist Bestandteil beider Werkausgaben.

Vignetten von Thomas Hofmann

Originalausgabe

© 1985–2017 Gundula Sell, Erik Simon sowie Angela und Karlheinz Steinmüller (für die Erzählungen)

Die Zuordnung der Texte zu den einzelnen Autoren ist den Fußnoten zum Inhaltsverzeichnis zu entnehmen. Die Daten der Erstpublikationen sind am Ende des Bandes bei den »Quellen und Anmerkungen« verzeichnet.

© 1993 Michael Stöhr (für »Ernst Wegbreiter – ein vergessener deutscher Utopiker«)

© 2017 Erik Simon (für die Kommentare)

© 2017 Erik Simon (für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)

© 2017 Thomas Hofmann (für die Vignetten)

© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Korrektur: Sara Riffel

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.de]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

ISBN: 978-3-948616-10-6 (Buch)

ISBN: 978-3-948616-11-3 (E-Book)

Die Zwystein-Manuskripte

Autobiographische Notiz und Vorbemerkung des Herausgebers Simon Zwystein

Ich wurde am 16. 9. 1947 in Caaschwitz (heute zu Bad Köstritz) geboren, wuchs aber im sächsischen Oschatz auf, wo ich von 1954 bis 1966 zunächst die Allgemeinbildende Polytechnische und dann die Erweiterte Oberschule besuchte. Während meines Dienstes in der NVA zog ich mir eine Verletzung am Knie zu, die zu bleibender Lahmheit und meiner vorzeitigen Entlassung führte, anschließend konnte ich an der Berliner Humboldt-Universität Philologie und Geschichte studieren. Nach dem Abschluß als Diplomhistoriker im Jahre 1972 arbeitete ich in der Akademie der Wissenschaften der DDR – zunächst am Zentralinstitut für alte Geschichte und Archäologie, seit Mitte 1984 am Grimmschen Wörterbuch. Im Zuge von Reorganisation und Personalabbau verlor ich Ende 1992 meine Anstellung bei der Akademie. Nach kurzer Arbeitslosigkeit wurde ich Fremdsprachenreferent bei einer Importfirma und blieb es, bis ich 2012 in Rente ging.

Ich habe diese Notiz an den Anfang meiner Vorbemerkung gestellt, da meine berufliche Laufbahn in enger Wechselwirkung mit der Kompilation und Erschließung seltener und merkwürdiger Manuskripte stand, und dies, obwohl letztere nicht zu meinen Aufgabengebieten an der AdW gehörte und rein quantitativ weit hinter meiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit zurücksteht. Einerseits verdanke ich meinen Kontakten zu Kollegen im In- und Ausland – Kontakten, die zum Teil auch nach meiner Entlassung aus der Akademie fortdauerten – sowohl Hinweise auf einige der Manuskripte als auch Unterstützung bei weiterführenden Recherchen. Andererseits habe ich Grund zu der Annahme, daß insbesondere die ersten Publikationen solcher Dokumente meinem Werdegang nicht förderlich waren. Nachdem ich 1983 in den Sitzungsberichten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften meinen Beitrag über neue Aspekte der Wechselbeziehung von karolingischem Hof und Bagdader Kalifat veröffentlicht hatte[1], wurde mir Anfang 1984 mitgeteilt, daß die von mir angestrebte Promotion aus Kapazitätsgründen vorerst aus dem Plan genommen worden sei, und ich wurde zum Grimmschen Wörterbuch versetzt, einer rein germanistischen Routinearbeit.

Die nachfolgende Veröffentlichung der Germelshausen-Manuskripte nicht in einer fachwissenschaftlichen, sondern einer literarischen Zeitschrift[2] hatte zunächst auf meinen beruflichen Status keinerlei Auswirkungen; Anfang der neunziger Jahre wurden jedoch beide Publikationen von mißgünstigen Kollegen gegen mich ins Feld geführt, als die Konkurrenz um die wenigen bei den Nachfolgeeinrichtungen der AdW verbliebenen Arbeitsplätze ihren Höhepunkt erreichte. Nachdem ich dank meinen weit gefächerten Sprachkenntnissen recht schnell einen Brotberuf abseits der Wissenschaft und damit eine gewisse Unabhängigkeit gefunden hatte, mußte ich jedoch feststellen, daß die äußerst prekären Anstellungsverhältnisse im ostdeutschen Wissenschaftsbetrieb ein Klima allgemeinen Mißtrauens und Duckmäusertums erzeugt hatten – meine Versuche, das sensationelle Dokument Gratiers in einem Fachperiodikum zu veröffentlichen, stießen überall auf Ablehnung, so daß ich den Text schließlich an eine Science-Fiction-Anthologie gab.[3]

Die beiden restlichen Textkompilationen werden hier erstmals veröffentlicht. Die Manuskripte um Marcus Paulus waren zur Publikation in einem Band des Berliner Shayol Verlags vorgesehen; warum dieser Verlag lieber seine gesamte Tätigkeit de facto einstellte, als diese politisch doch ziemlich harmlosen Dokumente zu drucken, entzieht sich meiner Kenntnis – es mag auch Zufall sein.

Die seinerzeit sehr knappe editorische Notiz zum »Bericht der Sklavin« habe ich für den hier vorliegenden Sammelband modifiziert und stark erweitert. Die Einführungen und Kommentare zu den 1985 bzw. 1994 publizierten Texten lasse ich unverändert, denn ebenso wie die älteren Manuskripte können sie als Zeitdokumente dienen. (So scheint seinerzeit niemandem aufgefallen zu sein
– zum Glück auch nicht den zuständigen Stellen –, daß der im Zusammenhang mit den Germelshausen-Manuskripten erwähnte Karlheinz Prohaska ja tatsächlich verschwunden war, und zwar im Grenzgebiet der DDR zur BRD.)

Außer den Kompilationen alter (und sehr alter) Dokumente enthält dieser Band auch eine Science-Fiction-Novelle, also eine rein literarische Arbeit. Mit den übrigen Texten hat sie gemein, daß es sich auch dabei um ein von mir entdecktes, weil im Original verschollenes und nur in einer nahezu unbekannten Übersetzung erhaltenes Werk handelt, das ich in meiner (Rück-)Übersetzung dem deutschsprachigen Publikum wieder zugänglich machen will. Näheres findet sich dort in einer gesonderten Vorbemerkung.


[1] Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Reihe, Band 298 (1983), S. 715–726, 743. Nach der Auflösung der Länder in der DDR blieb die Sächsische Akademie der Wissenschaften de jure als selbständige Körperschaft bestehen, sie führte jedoch – wie auch die Leopoldina und andere alte Akademien auf dem Gebiet der DDR – ein Schattendasein und war durch Personalunion der Präsidenten de facto der AdW der DDR zugeordnet.

[2] Neue Deutsche Literatur, Nr. 12/1982, S. 98–121.

[3] W. Jeschke (Hrsg.): Gogols Frau. München 1994, S. 517–539.

Der Bericht der Sklavin

Neue Aspekte der Wechselbeziehung von karolingischem Hof und Bagdader Kalifat

Im Herbst 1979 nahm ich in Prag an einem Symposium über arabische Einflüsse auf die europäische Lyrik zur Zeit der Kreuzzüge teil; dabei lernte ich Dr. Badran kennen, einen Kollegen von der Universität Aleppo. Anfang 1980 informierte er mich über einen Fund in der Universitätsbibliothek, ein Bündel von drei offensichtlich sehr alten Briefen in verschiedenen Sprachen – Arabisch, Griechisch und Latein. Ob es sich um einen aktuellen Fund handelte oder um vor Ort seit längerem bekannte Dokumente, teilte er nicht mit. Er schickte mir Photokopien des lateinischen und griechischen Briefs, legte eine Rohübersetzung des arabischen bei und bat um Übersetzung des lateinischen Textes. Für eine Übersetzung aus dem Griechischen hatte er schon jemanden gefunden; die Übersetzung des lateinischen Manuskripts, die ihm ein Kollege an der Universität erstellt hatte, erschien ihm wegen einer rätselhaften Stelle gegen Ende unsicher – es handelte sich dabei um die nämliche Unsicherheit, die auch im betreffenden Brief selbst thematisiert wird.

Ich habe den Text seinerzeit prompt übersetzt und das Ergebnis nach Aleppo geschickt, dann aber auch nach mehrfacher Rückfrage nichts mehr von Dr. Badran gehört. Daraufhin habe ich, unterstützt von meinem Berliner Kollegen Dr. Henryk Stein, den griechischen Text selbst übersetzt und 1983 alle drei Manuskripte zusammen publiziert.

Den arabischen Originaltext habe ich leider nicht gesehen, allerdings bin ich des Arabischen ohnehin nicht mächtig, und gerade dieser Brief wirft inhaltlich die wenigsten Fragen auf. Wer die drei Briefe gebündelt hat, kann ich nicht einmal mutmaßen; relativ sicher scheint mir indes, daß keiner der Briefe seinen Adressaten erreicht hat.

Zu dem – in Fachkreisen selbstverständlich bekannten – historischen Hintergrund kann ich hier folgendes vorausschicken: Die in allen drei Briefen erwähnte Gesandtschaft Karls des Großen an den Hof Harun ar-Raschids in Bagdad ist belegt. Die Gesandtschaft brach 797 in Aachen auf und kehrte 802 zurück. Die beiden Emissäre Karls, Sigismund und Lantfrid, waren auf der Rückreise gestorben; doch der jüdische Kaufmann Isaak, der die beiden als Dolmetscher begleitet hatte, brachte Geschenke Haruns an den fränkischen Hof. (Wir dürfen annehmen, daß außer den drei Hauptpersonen auch noch namentlich nirgends erwähntes Dienstpersonal zur Gesandtschaft gehörte.) Während sich nun in arabischen Chroniken keinerlei Hinweise auf die Gesandtschaft finden, hat eins dieser Geschenke bei den Zeitgenossen Karls und bei der europäischen Nachwelt einen bleibenden Eindruck hinterlassen: ein Elefant, der noch bis 810 lebte. Darüber, ob es sich um einen seltenen weißen Elefanten handelte, sind die Quellen uneins, überliefert ist aber der Name des Tiers, Abu’l Abbas, zweifellos ein Hinweis auf die Kalifen-Dynastie der Abbasiden, der Harun angehörte.

Über einen konkreten Anlaß der Gesandtschaft ist nichts bekannt, und sie scheint auch keine sichtbaren politischen Folgen gehabt zu haben, was bei der erheblichen Entfernung zwischen dem Frankenreich und dem Bagdader Kalifat nicht wunder nimmt. Diese Entfernung freilich dürfte auch der Hauptgrund für freundschaftliche Beziehungen gewesen sein, denn es gab zwei mächtige Staaten, die für beide als potentielle Gegner in Frage kamen: Byzanz und das Emirat von Córdoba. In letzterem herrschten Nachkommen der Umayyaden, des vorangehenden Kalifengeschlechts, das im Osten von den Abbasiden verdrängt worden war (und das den Gegensatz später betonte, indem es wieder einen Kalifentitel annahm). Das zuvor meist distanziert-friedfertige Verhältnis zwischen dem Emirat und den Franken verschlechterte sich im späten achten Jahrhundert, als die Franken über die Pyrenäen und in direkten Kontakt zu den iberischen Arabern kamen, während diese ihrerseits nach den fränkischen Balearen griffen.

Byzanz hatte einen Vorstoß der Araber 782 nur durch Tributzahlungen beenden können, das Verhältnis war entschieden feindselig. Mit dem Frankenreich teilte sich Byzanz das Christentum und das römische Erbe, was indes beides auch eine Rivalität mit sich brachte. Der Papst betrieb eine Art Schaukelpolitik zwischen beiden, immer bestrebt, seine eigene ziemlich machtlose Position aufzuwerten: Im Jahre 800 – also just, als sich Karls Gesandtschaft in Bagdad befand – überraschte er seinen fränkischen Schutzherrn, indem er ihn zum (west-)römischen Kaiser krönte und rangmäßig der byzantinischen Kaiserin Irene gleichstellte; im Jahr darauf unterstützte er Karls Plan einer Ehe mit Irene, der sich allerdings erledigt hatte, als Irene wiederum ein Jahr später gestürzt wurde. Nicht allein, daß eine Verbindung beider Reiche realpolitisch keinerlei Chancen gehabt hätte – man fragt sich, was Karl wohl bewogen haben mag, um die Hand einer nach damaligem Verständnis alten Frau anzuhalten, die im Jahre 797, als die fränkische Gesandtschaft nach Bagdad aufbrach, ihre Macht zu sichern glaubte, indem sie ihren eigenen Sohn, Kaiser Konstantin, blenden ließ.

Auch die drei folgenden Briefe können diese Frage nicht befriedigend klären, aber doch einen interessanten Einblick in gewisse Hintergründe bieten. Verfaßt wurden sie vermutlich in den Jahren 799 und 800. Ich habe sie hier nach der anzunehmenden Reihenfolge ihrer Abfassung angeordnet; beim ersten Brief handelt es sich um den im Original arabischen.

I. Umars Brief

Allahs Friede sei mit dir, Bruder,

mögen Deine Geschäfte sich der Gunst des Allerhöchsten erfreuen, so wie die meinen.

Wisse: Der, der »den Geduldigen ihren Lohn ohne Rechnung« gibt, hat auch meine Geduld belohnt, als ich in Damaskus weilte. Den Suq vor der großen Moschee[4] kennst du ja, Händler aus allen Weltgegenden betreiben dort ihre Geschäfte, man findet selbst lackierte und vergoldete Chinaware, die feinsten Teppiche und Schmuck aus Sind, also alles, was die Herzen der Edlen begehren.

Als die Schatten der Minarette länger wurden, entdeckte ich vor den Stufen der Moschee eine Frau, dem Gewand nach eine Pilgerin aus Frankistan, die sich in unbeholfener Sprache an die eine oder andere Marktsklavin wandte.

Ihr Blick streifte mich aus Augen wie die der Sukaina[5], und Allah – gepriesen sei sein Name! – sandte mir eine Eingebung. Ich wandte mich ihr zu und fragte – so langsam, wie ich sonst mit Händlern aus dem Reich der Ungläubigen spreche, – ob sie die Gebeine des Täufers sehen wolle. Sie verneinte: Ihr Weg führe zum Palast des Kalifen. Wenn ich ihr diesen weisen könne, möge der Dank des Himmels mich belohnen!

So sind die Reisenden aus Frankistan; sie wissen noch nicht einmal, daß der Kalif seinen Hof in die Stadt des Friedens[6] verlegt hat. Da ich ohnehin dabei war, nach jener Stadt aufzubrechen, bot ich ihr an, sie in meine Karawane aufzunehmen. Zwar sind die Wege derzeit wieder leidlich sicher – Allah sei Dank dafür! –, doch führt manch Pfad in die Irre, und was ich von wilden Tieren und trügerischen Wasserlöchern zu berichten wußte! Gewiß, Bruder, erinnerst du dich noch, was unser Vater – Allah erbarme sich seiner! – von Händlern und Märchenerzählern sagte, daß den letzteren die Kunst der ersteren abginge, aber noch kein guter Händler geboren worden wäre, der nicht zugleich ein überzeugender Märchenerzähler sei.

Nun wohl, die Pilgerin bedankte sich mit manch glühendem Augenaufschlag; jede Gesangssklavin müßte sie darum beneiden! Auch nutzte ich die Gelegenheit, um wieder einige Brocken Fränkisch auszuprobieren, so wie sie sich die Zeit dadurch verkürzte, ihren Zungenschlag in unserer Sprache zu verbessern. Auf drei Dinge, nämlich Gewänder, Geschmeide, Gewürze, ist der Sinn der Frauen gerichtet. Wie es am Hofe des Kalifen zuging, das erweckte ebenfalls ihre Neugier, von jenem umherstreifenden Hofe in Frankistan[7] wußte sie nichts zu berichten, ja sie kannte noch nicht einmal den Namen ihres Herrschers, was uns nicht weiter verwundern sollte.

Der Weg blieb ereignislos und führte uns gerade zu Beginn der Dattelblüte durch das Syrische Tor, dort, wo die Wachen untergebracht sind, in die Stadt des Friedens. Friedlich war sie tatsächlich, doch nicht ohne Aufregung und Durcheinander. Neben Schiffsladungen teurer Waren von den Gewürzinseln und einer Karawane aus Samarkand war gerade eine Gesandtschaft aus Frankistan eingetroffen, Kuffar, die, wie du weißt, die Spaltung der Umma ausnutzen wollen. Möge Allah ihnen die gerechte Strafe zukommen lassen.

An wen sie sich denn nun wenden solle, fragte die Christin. Den Weg zur Goldenen Pforte und der »runden Stadt« mit dem Palast[8] konnte ich ihr wohl zeigen, doch was nützt es, den Weg zu kennen, wenn sich das Tor nicht öffnet? Darin gleicht die neue Stadt ja doch, wie manche meinen, dem Paradiese. Nur der Gläubige – dank der Gnade des Allerbarmers – gelangt hinein ...

Gewiß, Bruder, erinnerst du dich an Maslama, ja, den, der ständig mit seinen gelben Zähnen auf dem Zahnreiniger herumbeißt, der die Nase hoch trägt, als stamme er aus dem edelsten Geschlecht; schon an seinen Schuhen, feinstem Ziegenleder, merkt der Kundige, daß der Herr Maslama nie einen staubigen Pfad betritt, nie einen Weg mit scharfen Steinen einschlägt ... Aber insgeheim nimmt er, wie einige munkeln, Geld von den Byzantinern, die erfahren wollen, was im Palast vor sich geht. Und nun horcht er die Franken aus! Aber ich will nicht abschweifen, denn der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Heil! – sagt, die Zunge eines Mannes sei sein gefährlichster Feind.

Also wisse: Ich traf, wie ich vermutet hatte, Maslama in der vornehmsten Teestube, wo er sich gerade von einem der Gesandten aus Frankistan verabschiedete. Ich entbot ihm Allahs Segen, erinnerte an die alten Zeiten, die Geschäfte auf dem Basar in Damaskus. Er hätte doch stets eine Vorliebe für Exquisites, wie es ihm gezieme, gehabt. Seit kurzem sei ich, Allah sei Dank dafür, im Besitze einer Sklavin mit Augen wie die der Sukaina. Für unsereins aber, arme Händler, die von Stadt zu Stadt ziehen, sei solcherlei Besitz, wie angenehm er auch sein könne, doch letztlich eher hinderlich, denn drei Dinge – nun, ich muß das dir, lieber Bruder, wohl nicht näher ausführen.

Maslama, du kennst ihn ja, tat, als hätte er hundert Frauen, eine schöner als die andere, eine Last im Grunde, doch sei er, um der Freundschaft willen, bereit, einen Blick auf jene zu werfen. Wer so redet, versucht bereits, den Preis zu drücken, was mir bedeutete, daß ich etwas höher ansetzen konnte.

Noch unterwegs zur Herberge vertraute mir Maslama an, daß er nicht länger nur erster Gehilfe des Obereunuchen sei, sondern darüber hinaus das Amt des Pantoffelbewahrers innehabe dank der besonderen Gunst des Kalifen, Allah möge ihm eine ruhmreiche Herrschaft schenken! Ich gratulierte ihm mit vielen Worten – in der Nähe des Herrschers zu atmen, welch ein Beweis des Vertrauens! Und steckte in Gedanken den Preis noch ein wenig höher.

Dann stand die Pilgerin vor uns, die, wie es sich geziemte, die Augen niederschlug. Und ich pries schnell und schneller sprechend ihre Vorzüge, Demut und Verschwiegenheit und noch andere Dinge, und Maslama stocherte zwischen seinen gelben Zähnen herum, daß ich annehmen mußte, ich könne die Forderung noch ein wenig höher schrauben. Die Fränkin aber verstand kaum etwas von meinen Worten, außer, daß ich ihr gerade den Weg in den Palast ebnete. Und den beschritt sie auch bald hinter Maslama, der wähnte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. – Welches Geschäft sich aber als gut erweist, das liegt allein in Allahs Hand!

Beim Abendgebet dankte ich ihm, der die Geschicke der Menschen lenkt. Glücklicher – und ertragreicher! – hätte der Tag für mich nicht verlaufen können. Silberweiße Dirhams klimperten in meinem Beutel. Und Maslama mit dem Zahnreiniger und der hochgereckten Nase hatte nun – wie Allah es wollte! – eine christliche Pilgerin versklavt! Die Byzantiner würden darüber nicht so leicht hinwegsehen können, und was wäre wohl, wenn Maslamas neue Freunde aus Frankistan davon erführen! Wovon angesichts der Mengen Tee, die in der Stadt des Friedens fließen, auszugehen war. Was immer die Gesandten des Frankenherrschers mit dem Kalifen aushandeln wollten, zuerst würde sich die Rede um den Pantoffelbewahrer und das Schicksal von christlichen Pilgern drehen, denen der Kalif seinen Schutz versprochen hat!

Mein Bruder, meine Tage in der Stadt des Friedens, für manche ein Paradies, für andere nicht, sind gezählt. Du aber kennst die Wege, die Worte nehmen müssen, um das Ohr unseres Herren zu erreichen. Gewiß wird der Emir – möge Allah ihm durch rechte Führung Erfolg und Glück und eine lange ruhmreiche Herrschaft verleihen! – unsere Botschaft mit Freuden vernehmen, denn wie du weißt, haben die Franken in jüngster Zeit unserem Herrscher die Freundschaft gekündigt, drängen von den Bergen herab und suchen neue Verbündete. Alles, was einem Bündnis der Franken mit dem Kalifen Harun al-Raschid schadet, kann also nur gut sein.

Wisse zum Letzten, daß ich gedenke, die Stadt des Friedens für einige Zeit zu verlassen und mich von Beirut aus einzuschiffen. Zu Haus in Cartagena werden wir uns wiedersehen – so Allah will.


[4] Gemeint ist wohl die Umayyaden-Moschee mit den Gebeinen Johannes des Täufers.

[5] Urenkelin des Propheten, galt als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit.

[6] Später nach dem in der Nähe liegenden Dorf Bagdad genannt.

[7] Dies ist wahrscheinlich eine Anspielung auf das Reisekönigtum.

[8] Die »runde Stadt« war der vermutlich von einer kreisförmigen Mauer umgebene Stadtkern mit der Residenz, zu dem nur »hoffähige« Personen Zutritt hatten.

II. Bericht von Agent Zeta

über ein Treffen mit Quelle M

Dieser Brief beginnt mit obiger Überschrift und verwendet ein merkwürdiges Griechisch – einerseits näher an der Volkssprache, als dies unter gebildeten Griechen des 8. Jahrhunderts üblich war, andererseits mit einer Unzahl von Siglen und Abkürzungen, von denen manche nicht einmal allen berufsmäßigen Schreibern bekannt gewesen sein dürften. Ich habe darauf verzichtet, diesen Duktus auch nur andeutungsweise wiederzugeben, muß aber betonen, daß mir der Brief ohne die Hilfe Dr. Steins unverständlich geblieben wäre, und frage mich, ob Dr. Badran wohl in Aleppo eine brauchbare Übersetzung bekommen konnte. Quelle M ist offensichtlich der im vorigen Brief erwähnte Maslama; bei der »Allerhöchsten Person« dürfte es sich um Irene von Byzanz handeln. Zur Identität von »Agent Zeta« läßt sich anhand des Briefs absolut nichts sagen, außer daß ein Strich neben dem Buchstaben anzudeuten scheint, daß er, wie seinerzeit üblich, die Zahl 7 darstellt.

In den vergangenen Monaten hat sich, wie bereits berichtet, M als eine außergewöhnlich nützliche Quelle für Neuigkeiten aus der Umgebung des Kalifen erwiesen, und es ist durchaus als ein Glücksfall zu betrachten, daß M durch ein weiteres Amt seinem Herrscher noch näher gerückt ist. Zugleich aber werden Treffen schwieriger. Die jüngste Begegnung verschob M dreimal, möglicherweise auch nur, um seinen neuen Status zu betonen. Nach diesen Verzögerungen saßen wir im Eckzimmer der Teestube zusammen, durch den Marktlärm hinter den Mauern gut gegen Lauscher geschützt. M zeigte sich anfangs besorgt: Sein Vorgänger hat wegen banaler Indiskretionen, über die man bei uns allenfalls schief lächeln würde, sein Haupt verloren. Ich war in dieser Situation gezwungen, ihm über seine Bedenken hinwegzuhelfen, indem ich ihm eine größere Summe ankündigte.

Ich brachte unser Gespräch sogleich auf die fränkische Gesandtschaft und das geheime Schreiben des Frankenkönigs an den Kalifen. Bevor M antwortete, reinigte er sich umständlich die Zähne. Gewiß, da gebe es ein Schreiben. Gewiß, das sei von höchster Bedeutung, denn es trage das kreuzförmige Siegel.[9] Gewiß, gewiß. Aber gewiß sei auch, daß nicht einmal die beiden Gesandten mit seinem Inhalt vertraut seien. Nur unter Mühen und mit beträchtlichen Kosten habe er in Erfahrung bringen können, daß jene Epistel nun im Geheimsekretariat des Wesirs aufbewahrt werde. Zu diesem habe lediglich der Wesir höchstselbst Zutritt. Keiner sonst. Allah allein wisse, was der Wesir da alles unter Verschluß halte!

Auf meine Frage nach anderen Wegen und nach den Wachen vor diesem Raum zuckte er nur mit den Schultern: Wo keiner Zutritt habe, öffneten auch Goldmünzen keinen Weg. Vielleicht könnte ich es ja einmal bei den beiden Schreibern der Gesandten versuchen, vielleicht wüßten die etwas von jenen anderen Schreibern, die das Schreiben ursprünglich geschrieben hätten, vielleicht auch nur abgeschrieben oder umgeschrieben oder – er verhedderte sich und beschäftigte sich wieder mit seinen gelben Zähnen.

Selbstverständlich hatte ich bereits vorher Erkundigungen bei den Begleitern und Dienern der Gesandten eingezogen. In dem ganzen Troß gibt es wenige Leute, die auch nur die Namen der Städte nennen könnten, durch die sie gezogen sind! Wenn die Franken keine besseren Männer aufzubieten haben! Der Schreiber, ein Benediktinermönch, war einem Schwätzchen bei Tee und dem Gesang hübscher Sklavinnen nicht abgeneigt. Er prahlte mit seiner Kunst im Führen der Feder, und vor allem damit, daß er die neuen Minuskeln »wie kein zweiter« beherrsche. Gern malte er sie mir mit dem Finger auf dem Tisch. Sobald es aber um Konkretes ging, blieben die Siegel seiner Lippen verschlossen, wohl eher aus Unwissenheit denn aus Loyalität. Immerhin hat mir ein Leibdiener Einblicke in die fehlende Tugendhaftigkeit der Gesandten vermittelt – und in körperliche Gebrechen, die sich aus dem Lebenswandel ergeben. Wenn nötig, hoher Herr, können wir hier ansetzen, um die Glaubwürdigkeit der Boten zu untergraben.

Kurzum: Die Beobachtung der fränkischen Gesandtschaft hat bisher nichts ergeben, was das Projekt der Hohen Vermählung unmittelbar gefährden könnte. Da aber eine Annäherung zwischen dem Frankenkönig und dem Kalifen generell nicht im Interesse unseres Reiches und der Allerhöchsten Person liegt, habe ich meine Anstrengungen in dieser Angelegenheit noch verstärkt (siehe im Weiteren).

Nachdem also der Hauptgegenstand abgehandelt war, ließ sich, ab und an auf dem Zahnreiniger kauend, Quelle M weitläufig über das Schisma innerhalb der Umma aus.[10] Der Emir von Córdoba, so M, festige seine Macht, und gerade in diesen Tagen habe ein gewisser Kaufmann Umar, dessen verdeckte Tätigkeit für den Emir allseits bekannt sei, versucht, eine Spionin in den Haushalt des Kalifen einzuschleusen. Nur seiner Wachsamkeit, also der von Quelle M, sei es zu verdanken, daß besagte Spionin in untergeordneter Position quasi neutralisiert sei. – Daß es sich um eine christliche Pilgerin handelte und M sie selbst gekauft hatte, verschwieg er mir allerdings. Unter der Hand wollte er mit dieser Geschichte wahrscheinlich andeuten, daß er sich sehr wohl andere Auftraggeber suchen könne. Hier in Bagdad sind solche Seitenwechsel durchaus an der Tagesordnung, auch wenn sie oftmals direkt ins Verderben führen.

Meine Nachforschungen ergaben, daß jener Umar die Pilgerin offensichtlich mit einem Trick vom üblichen Rückweg aus Jerusalem abgebracht, von Damaskus nach Bagdad gelockt und recht unverfroren an M als Sklavin verkauft hat. In ihrer Einfalt scheint sich die Pilgerin, wie mir berichtet wird, inzwischen mit ihrer neuen Rolle abgefunden zu haben. – Was jedoch den Verstoß gegen die Schutzrechte für Pilger in keiner Weise rechtfertigt, ein Vergehen, das auch nach hiesiger Auffassung strafwürdig ist.

Der Vorfall bot eine Gelegenheit, den beiden fränkischen Gesandten deutlich vor Augen zu führen, mit welcher Laxheit im Reich des Kalifen mit Recht und Gesetz, zumal wenn es Christen betrifft, umgegangen wird. Ich, Zeta, habe ihnen daher die Angelegenheit über einen Mittelsmann zur Kenntnis gebracht. Aber das Schicksal ihrer Landsmännin scheint bei ihnen nicht auf das geringste Interesse zu stoßen. Wie im königlichen Spiel der Perser[11] werden kleine Figuren zu höheren Zwecken geopfert.

Gegen den Kaufmann Umar, einen ungeschickten Agenten, der eher lästig als gefährlich ist, habe ich also gutes Material in der Hand. Aber Umar zu belasten, hieße, unseren Gewährsmann M unnütz bloßzustellen. (In seiner Gier hat M beim Schatzamt den Kaufpreis, den er dem Umar für die Sklavin bezahlt hat, gleich in doppelter Höhe abgerechnet!) Wir würden riskieren, diese wertvolle, wenn auch nicht immer absolut zuverlässige Quelle zu verlieren. Außerdem ist Umar möglicherweise gewarnt worden; jedenfalls hat er die Stadt verlassen und kann daher momentan weder belangt werden noch seinerseits stören. Unter den gegebenen Umständen werde ich also diese Linie nicht weiter verfolgen, zumal sich ja letzten Endes derzeit die Interessen unserer Herrschaft mit denen von Al-Andalus treffen.

Ich gebe, hoher Herr, zu erwägen: In einigen Wochen wird die Gesandtschaft Bagdad verlassen und damit nicht mehr den unmittelbaren Schutz des Kalifen genießen. Obwohl die Gesandten den Wortlaut des Schreibens nicht kennen, setzt ihre Mission voraus, daß sie über Sinn und Zweck und endlich auch die Ergebnisse im Bilde sind. Die Straßen durch das Reich des Kalifen sind, wie wir wissen, nicht so sicher, wie manche meinen. Notfalls könnte man sich also der Gesandten bemächtigen und sie eindringlich nach ihrem Auftrag befragen. Über Zeitpunkt und Route der Rückreise werde ich das Nötige in Erfahrung bringen und es auf dem üblichen Wege übermitteln.


[9] Gemeint ist offensichtlich das Kreuzrhombus-Monogramm Karls des Großen.

[10] Damit bezieht sich Zeta auf die Spaltung der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, in einen westlichen Teil, hauptsächlich im Süden der iberischen Halbinsel (Al-Andalus), und das Kalifat im (größeren) östlichen Teil. Interessanterweise parallelisiert er diese Spaltung mit dem Schisma innerhalb der Christenheit, Byzanz versus Rom.

[11] Gemeint ist das Schachspiel, dessen Kenntnis sich damals über den arabischen Raum nach Europa ausbreitete.

III. Der Bericht der Sklavin

Der dritte Brief ist in einem – gemessen an der Epoche – vorbildlichen, geradezu klassischen Latein verfaßt, und er ist chiffriert: kurze Passagen, mitunter nur einzelne Wörter, insgesamt 15 bis 20% des Textes, sind nicht in Lateinbuchstaben geschrieben, sondern in tironischen Noten, einer in der Antike entwickelten Stenographie, die im achten Jahrhundert so weit in Vergessenheit geraten war, daß nur noch eine Handvoll hochqualifizierte Schreiber sie kannten und gelegentlich verwendeten, um mit ihrer Hilfe Marginalien an offiziellen Dokumenten anzubringen, womit deren Authentizität bestätigt und gegen Fälschungen gesichert werden sollte. Daß eine christliche Pilgerin – eine Frau! – über dieses Wissen verfügte, ist kaum anders zu erklären, als daß sie längere Zeit und gezielt für einen Auftrag ausgewählt und ausgebildet wurde. Leider geht aus dem Brief weder der Name des Adressaten noch der Verfasserin hervor, und ebensowenig der genaue Auftrag.

Ehrwürdiger Vater, ich hoffe, daß du mein langes Schweigen verzeihst. Nachdem es mir mit Gottes Hilfe unerwartet leicht gelungen ist, in den Palast des Herrschers vorzudringen, habe ich ihn selbst doch nie zu Gesicht bekommen, und wenn vielleicht doch, so erst vor kurzem. Ich war hier als Dienerin[12] größtenteils mit Küchenarbeiten beschäftigt und bin es immer noch, doch habe ich meine arabische Sprache vervollkommnet, und weil ich gut rechnen kann, werde ich oft beauftragt, mit den Händlern zu sprechen, die Lebensmittel in den Palast bringen; unter ihnen ist auch ein Mann, der Datteln und Feigen verkauft und den mir andere Frauen hier als zuverlässigen und diskreten Boten für Briefe der privateren Art bezeichnet haben. Durch ihn wird diese Nachricht mit Gottes Beistand das erste Stück ihres Weges zu dir, ehrwürdiger Vater, zurücklegen.

Meiner Aufgabe näher zu kommen, war mir lange nicht vergönnt, doch vor vier Tagen bot sich eine Gelegenheit, die ebenso merkwürdig wie unvorhersehbar war. Sie will ich berichten. Zwei oder drei Stunden nach Mittag kam der Majordomus selbst zu mir in die Küche und fragte, ob es wahr sei, daß ich die Sprache der Römer sprechen und sogar lesen könne, was ich bestätigte. Er schickte mir dann zwei Sklavinnen, die mich neu einkleideten, und führte mich in ein prachtvolles, aber nicht besonders großes Zimmer, in dem sich drei Männer befanden. Zwei davon saßen, der dritte stand bei einem kleinen, niedrigen Tisch. Keinen der drei hatte ich je zuvor gesehen, doch man hatte mir gesagt, daß einer der Wesir selbst sei, Yahya ibn Chalid.[13] Ich erkannte ihn sogleich an seiner prächtigen Kleidung, und er war es auch, der die Frage wiederholte, die mir schon der Majordomus gestellt hatte und die ich abermals bejahte. »Dann sage mir, was das hier ist«, befahl er und gab dem Stehenden – wie er selbst ein älterer Mann, aber sichtlich von weniger hohem Range – einen Wink, woraufhin jener ein Pergament nahm, das auf dem Tisch lag, und mir reichte. Es war in lateinischer Sprache abgefaßt.

Nachdem ich es überflogen hatte, sagte ich, dies sei ein Sendschreiben des Königs der Franken an den Herrscher der Gläubigen.[14] Ich begann, das Schreiben zu übersetzen, doch der Wesir unterbrach mich und sagte: »Das wissen wir. Es geht um eine ganz bestimmte Stelle. Zeig sie ihr.« Und während sein Untergebener das tat, fuhr er fort: »Er sagt, dort stehe etwas von einer Tochter aus dem ruhmreichen Geschlecht der Abbasiden. Wir können das nicht recht glauben. Es ist absurd.«

Absurd war es fürwahr, stand da doch geschrieben, der Kalif möge ihm, dem Frankenkönig, eine unter seinen Töchtern schicken, um die freundschaftliche Verbindung mit dem ruhmreichen Geschlecht des Abbas zu bekräftigen. Allerdings stand dort statt »filias« »fillas«, wie auch an anderen Stellen die Sprache des Briefes von zweifelhafter Güte war. Ich erfaßte sogleich, daß mir abermals göttliche Fügung unverhofft half, den Auftrag der Väter vom SOS[15] zu erfüllen, wußte aber nicht gleich, wie ich es bewerkstelligen könnte. Ich sagte also nur, von einer Tochter könne dort tatsächlich keinesfalls die Rede sein, das sei ein anderes, wenngleich ähnliches Wort. Und ich schlug vor, doch die Gesandten selbst nach der Bedeutung der Stelle zu fragen. Der Wesir beschied mich darauf, das habe man getan, die beiden seien aber der alten Sprache nicht mächtig, wenn sie denn überhaupt lesen könnten, und der Inhalt der Botschaft sei ihnen unbekannt – entweder habe der Franke, wie er den König nannte, keine besseren Leute, oder er traue ihnen nicht.

Also faßte ich mir im Vertrauen auf die Gnade Gottes und die Weisheit seiner Vorsehung ein Herz und erklärte, der Herrscher der Franken bitte offensichtlich um etwas, das es in seinem Lande und in den Ländern ringsum nicht gebe und wofür seine Sprache kein Wort habe, wie wohl auch nicht das Latein, das man dort gebrauche. So hätten sie denn für jene überaus seltene und kostbare Sache einfach das arabische Wort eingesetzt, das ist Fil.[16]

Der Wesir sagte mir daraufhin, er sehe nicht, wieso das mehr Sinn haben solle, doch da fiel ihm der dritte anwesende Mann, der bisher geschwiegen hatte, ins Wort, und sein Ton ließ erkennen, daß er kein Untergebener des Wesirs sein konnte. Er sagte: »Aber es ist ein erfüllbarer Wunsch. Man soll sich darum kümmern.« Dann sprach er mich direkt an: »Ich höre, du arbeitest in der Küche. Wieso eigentlich?«

So habe ich also hoffentlich mit Gottes Hilfe einen Teil meines Auftrages erfüllt. Was indes den Rest angeht, so erlaube mir, ehrwürdiger Vater, die Frage, ob der mir erteilte Generaldispens auch, wenn es denn zum Wohle unserer Mutter Kirche notwendig und hilfreich sein wollte, einen Wechsel des Bekenntnisses einschließt.


[12] So die mittellateinische Hauptbedeutung des Wortes, welches in der Antike für »Sklavin« stand.

[13] Ich setzte hier die heute übliche Schreibweise ein. Er hatte das Amt des Wesirs bis 803 inne, als das mächtige Geschlecht der Barmakiden von Harun ar-Raschid gestürzt wurde.

[14] Es ist merkwürdig, daß die offensichtlich in christlichem Auftrag agierende Verfasserin diese Titulatur benutzt.

[15] SOS: Die Abbreviatur ist unklar. Ein Sanctum Officium Secretum gab es in viel späteren Zeiten, für das gesamte Mittelalter ist von der Existenz solch einer Einrichtung nichts bekannt. Freilich gehört es auch nicht zu den vornehmlichen Aufgaben solcher Einrichtungen, ihre Existenz bekanntzumachen.

[16] Fil: der Elefant.

Die Germelshausen-Manuskripte

Herausgegeben, ins moderne Deutsch übertragen, bearbeitet und kommentiert von Simon Zwystein

I. Aus der Germelshausener Dorfchronik

Das folgende Fragment einer Dorfchronik auf dem 13. Jahrhundert fand sich in dem mir zugesandten Bündel als mittleres von drei Dokumenten. Ich stelle es an den Anfang, da es offensichtlich vor den beiden anderen Texten geschrieben wurde. Bei der Übersetzung habe ich den Versuch unternommen, den Duktus des mittelhochdeutschen Originals soweit wie möglich zu bewahren, Lexik und Syntax wurden jedoch im Interesse der Verständlichkeit den gegenwärtigen Normen angeglichen.

Seit über einer Woche ist der Schreiber verschwunden, deshalb muß ich die Chronik fortführen und habe doch keine Übung darin. Gerade dieser Tage geschehen soviel Wunderzeichen um unser Dorf: Bauern irren von altvertrauten Wegen ab, seltsame Fremdlinge wandern unvermutet herbei, die Vögel sind geflohen, und im roten Erdrauch verschwimmt der Horizont. Welch Schrecknis erwartet uns? Ist’s der Fluch des Pelegrims, der uns in den Abgrund zieht? Ach, so vieles muß ich berichten! Wo soll ich da beginnen? Mein Vater, der Schulze, sagt, ein Dorf ohne Chronik ist wie ein Waisenkind, welches sich vergebens befragt, woher es stammt, wohin es gehört. – So will ich denn in Gottes Namen.

Ich klage nicht, daß ich jetzt als Einzige im Dorfe des Schreibens kundig bin. Denn damals, vor zwei Wintern, als der heilige Bruder Solfrinus aus dem Lombardenland unter unserem Dache weilte, um uns von der Gleichheit aller Menschen vor dem Herrn und der eitlen Nichtigkeit der Römischen Kirche zu predigen, da hab ich ihn bedrängt, bis er mich die Kunst lehrte, die Feder recht zu gebrauchen. Bewahr mich der Herr nur davor, daß ich Fron- und Zehntlisten aufstellen muß, worum stets solch Gezänk und Ärger anhebt! Der Pfaffe, dem dies Amt sonst obläge, ist auf und davon, und einen neuen wird der Bischof so bald nicht daherschicken, da wir dem alten, der nichts Besseres wußte, als sich den feisten Bauch vollzuschlagen und des Müßigganges zu pflegen, das Leben vergällten, bis daß er sich davonscherte. Mag sein, das war Unrecht und Sünde und unser Verderb, ich weiß es nicht. Denn der Bischof ist ein harter Mann und sein Abt zu Fulda noch ärger, die fackeln nicht lang, wenn sie Ketzerei riechen. Hat sich manch einer, befragt bis aufs Blut, die Seel aus dem Leib geschrien und sich und seinen Nächsten um Kopf und Kragen geredt.

Wenn ich nur ahnte, was dem Schreiber widerfuhr. Indes wär’s mir ganz recht, wenn er fortbliebe. Hab seine begehrlichen Blicke nie leiden gemocht und seine geschmeidige Zunge und die Art, mit der er den Herrn auf dem Hof herauskehrte, als wär’s der seine, wo er doch nur meines Vaters Neffe und mein Vetter ist und ich als das einzige Kind dereinst erben werd. Vor nunmehr neun Tagen schnürte er seinen Wandersack. Da sprach er zu mir, er müsse nach Marisfeld, einen Handel abzuschließen, doch womit wollte der Habenichts handeln? Ich solle, meinte er keck, nur hübsch auf ihn warten, die Zeit käme noch, da würd ich ihn lieben lernen. Das denkt er sich so, dabei trag ich meinen Heinrich im Herzen. Indes, dies gehört wohl nicht in eine Chronik. Denn ich soll, sagt mein Vater, nur schreiben, was war, und soll nichts hinzutun und nichts weglassen. So helfe mir der Herr dabei.

Beginnen muß ich mit dem Tag davor, also dem Samstag nach Mariä Himmelfahrt. Denn als die Bauern noch zu Markte waren, da stieg ein Fremder den Weg über den Hügel herab. Den Pelegrim sah man ihm von weitem an. Baren Fußes lief er und bedeckten Hauptes, eine Kutte schwarz und schwer verhüllte seine dunkle Gestalt. Ohne Zögern fragte er nach meines Vaters Haus, denn seinen Namen wußte er wohl, gab sich ihm zu erkennen als ein Bruder aus fernen Landen und bat uns um ein Lager von Stroh, sein Haupt zu betten, und wollte uns predigen, auf daß wir voranschritten auf dem Pfade der Gerechten, denn weit schon rühme man unser Dorf, daß es die wahre Vollkommenheit anstrebe.

Mein Vater litt dies Reden wohl, nahm ihn auf als einen Gesandten des Herrn und hieß mich, ihm die Kammer zu richten, und saß mit ihm und dem Schreiber des Abends zusammen, bis die Kerzen verlöschten. Am anderen Morgen aber, das war der Sonntag nach Mariä Himmelfahrt, verließ der Schreiber unser Dorf, und ich muß jetzt sein Amt versehen.

Wie es unser Brauch ist, sammelten wir uns auf dem Anger, um mit dem Vaterunser den Tag zu heiligen. Denn die Kirche, lehrt der heilige Bruder Solfrinus, ist nichts als ein Steinhaufen und alle Zeremonia der Pfaffen eitel Singsang und Possenspiel. Auch der Pelegrim lobte unsere einfache Weise, den Herrn zu preisen. Indes war’s nur Verstellung. Am Mittagstisch erfuhren wir’s.

Den Hasen, den ich und die Magd so lecker gebraten mit allen nötigen Kräutern, den Hasen wollt er nicht anrühren! Ein Greuel wär’s, unsre Brüder vor dem Herrn so gierig zu verschlingen! Und trauriger noch für ihn, uns so in Sünde zu wissen, wo wir das wahre Licht so begehrten.

Mein Vater vermochte nicht, sein Ungestüm zu bändigen, der Pelegrim stürzte auf den Anger und schrie unsre braven Bauern zusammen. Gänse und Schweine segnete er vor ihren Augen und hieß jedermann zu leben wie im Paradeis, wo das Lämmlein neben dem wilden Leu lagerte, und befahl uns, aller Lust des Fleisches Valet zu sagen und den Leib zu kreuzigen, auf daß der Geist auferstehe. Denn der Leib sei vom Bösen Gott geschaffen und Ehe nichts als Unzucht. Zwei Götter nämlich regierten die Welt, der Gute Gott, welchem ist der Geist, und der Böse Gott, welchem ist das Fleisch und die Sünde.

Dies Reden fuhr uns wie ein Pfeil ins Herz, und die Bauern erbosten sich darob. Solches könnte ein Knecht des Bischofs predigen, uns zu verführen und zu verderben! Also haben sie ihren Spaß getrieben, der Müller und der Heckenbauer und andere noch, haben Gras gerupft und es ihm als Wegzehrung unter die Nase gehalten und ihm um ein Haar die schwarze Kutte vom Leib gerissen – wollte er so ins Paradeis gelangen, wo Adam und Eva nackend gingen, wie Gottvater sie geschaffen? Und sie haben sein Sprechen nachgeäfft und ihn aus voller Kehle verhöhnt.

Sogleich befiel ihn der heftigste Ingrimm, und er zieh uns, keine Christenmenschen zu sein, sondern lästerliche Teufel in Menschengestalt. Ein Blendwerk des Verderbers, ihn zu foppen! Und er hieb das Kreuzeszeichen wider uns.

Da haben sie ihn gegriffen und ihm das Maul aufgezerrt und vom sauren Apfelwein hineingegossen, bis es ihm vom Barte troff. Denn er sollte im Rausch verraten, ob der Bischof ihn gedungen. Indes, er lallte nur in fürchterlichen fremden Zungen. Zum Schlusse gar torkelte er wie ein trunkener Ritter und wälzte sich im Kot. Da hat ihm der Müller einen großen Brocken Fleisches gereicht und gemeint, es wär ungesäuertes Brot und hülfe, und er hat’s verschlungen.

Am anderen Morgen, welch ein Jammer! Als hätt er den Teufel auf beide Backen geküßt! Nun sei er kein perfectus mehr, greinte er, und müsse ganz von vorn den steilen Pfad zur Vollkommenheit erklimmen. Kinder wie Alte sind ihm nachgerannt, als er von hinnen wankte. Bei den Hecken hielt er ein und schob die Kapuze vom Kopf, daß sein weißes Haar herauswallte, und hob drohend beide Hände. Seine Stimme schallte wie Trompeten, und die Vögel alle sind davongestoben auf Nimmerwiedersehn. Verflucht bis an den Tag des Zorns hat er uns und der Erde anbefohlen, Germelshausen von ihrem Angesicht zu verstoßen, daß kein Weg mehr aus unserem Sündenpfuhl hinausführe und uns die Zeit, dies Trugbild des Bösen Gottes, auf immerdar in ihrem toten Schoß verschließe.

Mir ist ein Schauer darob den Rücken hinabgelaufen wie damals, als der heilige Bruder Solfrinus uns predigte. Und ich beschwor den Pelegrim, wenn er ein wahrer Heiliger sei, uns arme irrende Adamskinder zu verschonen im Namen dessen, der uns am Kreuze von unseren Sünden erlöst hat. Da fuhr er mich an und schalt mich eine Ungläubige. Doch wollte er mir dieses zum Zeichen geben, daß für uns hundert Jahre wie ein Tag seien, und sein Bann die Kraft verlieren soll, wenn auch nur ein Mensch aus freien Stücken unser Höllenlos zu teilen begehrte. Sagte es – so oder ähnlich – und entschwand. Mir aber war, als ginge ein Ruck mitten durch mich hindurch, und als ich benommen zurückstolperte, krochen rote Schwaden aus der Erde.

Dieser Erdrauch! Fein wie ein Hauch ist er hier im Dorf, stärker draußen auf den Feldern, und vor dem Horizont steht er wie eine rötliche Wand. Mag sein, daß ihn die Vögel scheuen. Auch scheint’s mir, daß er jedes Geräusch dämpft, nächtens schweigen die Wälder, und am Tage dringt der Ruf nicht weit. Indes, die Bauern kümmert’s nicht, es ist Erntezeit und besser ein Erdrauch als Wolkenbruch und Landregen. Wird wohl der rechte Sturm fehlen, ihn zu zerblasen. Doch das ist meine Meinung, und mein Vater sagt, nur die Fakta soll ich berichten. Ist’s aber ein Faktum für die Chronik, daß der alte Kuhhirt, welcher wirr ist im Kopf vom vielen Apfelweine, tags darauf heulend durchs Dorf lief? Er fände nimmer den Weg, jammerte er, zum Schwager in Dillstedt, dessen Krüge er so gerne leert. Er sei auf den Hügel gestiegen, und oben vom Kamm habe er auf der anderen, der Dillstedter Seite, unsern Kirchturm vor sich gesehen. Das ist, wie der Müller meint, nur Gefasel, aber heißt es nicht: Kinder und Greise, Narren und Weise sprechen wahr?

Zur Wochenmitte schickte mein Vater den Hinze, den Jungknecht, nach Marisfeld, um nach des Schreibers Verbleib zu forschen. Denn wenn dem etwas zufuhr, beträfe es auch uns. Und wenn ihm nichts zugestoßen, was treibt er sich so lange herum mitten in der Ernte? Indes kehrte der Hinze spät nach der Vesper unverrichteterdinge zurück und gab vor, sich verirrt zu haben. Das glaub ihm, wer wolle! Wo jeder weiß, daß er seine Arbeit versäumt, um mit Sassens Hanne im Heu zu liegen. Mein Vater war sehr zornig und schloß ihn ein und wollte zum Donnerstag selbst nach Marisfeld, doch da trat der tückische Rappe den Altknecht, und Vater mußte an seiner Statt aufs Feld.

Und am Freitag sollte des Heckenbauern Kuh kalben, wofür er seine Hand versprochen. Mußten aber bis auf den Samstag warten und hatten nichts davon als eine Totgeburt ohne Augen.

Gleichwohl verfolgt den Hufschmied das Mißgeschick. Denn als der zum Köhler um Holzkohle fuhr, trübte der Erdrauch ihm den Blick, und er wich ab vom Wege und blieb mit Pferd und Karren im Sumpf am Ansbach stecken. Das geschah in der Nacht auf den Samstag. Die Bauern, die am Morgen darauf zu Markte wollten, sahen ihn, wie er entkräftet am Geschirre zerrte. Sie spannten um, der Pferde neun bedurfte es, den Karren flottzuziehen, und des gesamten Vormittags. So schafften sie es nimmer beizeiten zu Markte und ritten vergrämt zurück. Im Wirtshaus heißt’s seitdem: Das war der Fluch des Pelegrims.