Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Red War

erschien 2018 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2018 by Cloak & Dagger Press, Inc.

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-805-6

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

PROLOG

Kreml

Moskau, Russland

Die Straßen waren überlaufen.

Trotz gegenteiliger Zusicherung seines idiotischen Beraters musste der russische Präsident feststellen, dass die Menschen auf dem Roten Platz protestierten. Aktuelle Schätzungen sprachen von mehr als 200.000 Demonstranten, die sich versammelt hatten, um den Betrieb in Moskaus Geschäftsvierteln zum Erliegen zu bringen. Viele Unermüdliche marschierten aktuell in Richtung Machtzentrale.

Die graue Kolonne der Menschlichkeit war vielleicht zehn Meter breit und von undefinierbarer Länge. Im steten Regen verschwand das hintere Ende außer Sichtweite. An der Spitze lief Roman Pasternak, der rote Jacke und Basecap wie eine Zielmarkierung trug und Russlands Sicherheitskräfte lockte, gegen ihn vorzugehen. Maxim Krupin blickte durch zusammengekniffene Augenlider auf den Schauplatz des Geschehens, nahm den Mann jedoch nur als vagen Umriss wahr. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er noch jedes erdenkliche Detail registriert, doch damit war es vorbei. Die Phasen mit verschleiertem Blick kamen immer häufiger und dauerten mittlerweile Stunden statt Minuten.

In seinem Alter wurde es wohl langsam Zeit, das Vorurteil abzulegen, dass eine Brille von Schwäche zeugte. Oder doch nicht? Seit jeher nutzte er Schwächen und Krankheiten von anderen aus, hatte selbst seit der Kindheit jedoch um beides einen großen Bogen gemacht. Er vertraute sich dem medizinischen Apparat höchstens an, um Sport- oder Jagdverletzungen behandeln zu lassen. Die Narben trug er anschließend mit Stolz zur Schau.

Männer wie Pasternak hätten nie verstanden, dass sich politische Macht in Russland nicht durch wirtschaftlichen Aufschwung, Freiheit oder ein Sicherheitsempfinden der Bevölkerung erlangen ließ. Nein, mächtig war, wer als mächtig wahrgenommen wurde. Krupin wirkte in dieser Hinsicht unerschütterlich. Er hatte sich seine Position erkämpft, indem er den Menschen in seinem Umfeld die Illusion vermittelte, nur für sie zu arbeiten. Nichts weiter als ein Instrument, um ihren Willen in die Tat umzusetzen. Eine Waffe, deren Klinge er ständig nachschärfte, indem er sorgsam orchestrierte Bedrohungen inszenierte. Durch die Amerikaner. Die Russen. Schwule. Vor allem aber durch demokratische Kräfte, die sich direkt hinter der Fassade der gesellschaftlichen Normalität scharten.

Im Vergleich zu dem gertenschlanken Protestführer, der unten sein Gefolge organisierte, war Krupin ein Bär von einem Mann. 90 Kilogramm Körpermasse verteilten sich auf gut 1,82. Eine eindrucksvolle Erscheinung, obwohl er von Tag zu Tag etwas stärker abbaute. Seine schwarzen Haare wuchsen dicht, nicht nur auf dem Kopf, sondern auch auf der Brust und am Rücken. Er symbolisierte den verrußten Bergmann, der half, die für die sowjetische Dominanz so wichtige Wärme und Elektrizität bereitzustellen. Den Fabrikarbeiter, der Maschinen und Waffen herstellte. Den Landwirt, der hungrige Mäuler stopfte. Und natürlich den Soldaten, der die Welt zittern ließ.

Er beobachtete, wie sich die Menschen unter ihm vorbeischoben und die Sicherheitskräfte um Kontrolle kämpften. Erwartungsgemäß waren die meisten Demonstranten junge Leute – verwöhnte Studenten oder Emporkömmlinge der sogenannten New Economy. Sie arbeiteten in Funktionen, die nach Einschätzung von Ökonomen die Zukunft des Landes sicherten, aber nichts Greifbares produzierten. Kein Militärgerät, keine imposanten Gebäude oder Segnungen für die Öffentlichkeit. Nichts als seitenweise Programmcode und eine endlose Batterie von Diensten, um der nächsten Generation das Leben zu erleichtern.

Diese verwöhnten Bälger, die schweigend über den Roten Platz marschierten, liebten nicht ihr Land, sondern vor allem sich selbst. Sie sprachen nie über den Glanz von Mütterchen Russland, stattdessen ging es pausenlos um Bürgerrechte und den Luxus der westlichen Zivilisation, der ihnen vorenthalten blieb. Allmählich schlug der Tenor ihrer Forderungen um. Zunehmend selbstbewusst definierten sie sich als Zukunft Russlands und verspotteten ihn als Relikt der Vergangenheit.

Krupin bemerkte ein mehrfaches dumpfes Aufflackern im peripheren Sehen und wappnete sich für die Welle von Übelkeit, die in der Regel folgte. Ansonsten ließ er sich nichts anmerken. Es blieb noch Zeit, bis das Gefühl von Orientierungslosigkeit und brennender Schmerz einsetzten. Allerdings nicht so viel Zeit wie bei der letzten Attacke. Die Abstände wurden kürzer.

In einem Akt des Widerstands, der vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wäre, schwärmten die Protestierenden vor dem Turm aus, in den er sich zurückgezogen hatte. Seine Reaktion beschränkte sich darauf, sie durch die regennasse Scheibe anzustarren.

Seine Untergebenen zögerten von Tag zu Tag mehr, gegen die zersplitterte, aber wachsende politische Opposition im Land vorzugehen. Statt sie zu zerschlagen, verließen sie sich auf die Fähigkeit der Staatsmedien, sie entweder der Lächerlichkeit preiszugeben oder ihre Aktionen zu verschweigen. Jedes direktere Vorgehen, warnten sie, könnte einen Dominoeffekt auslösen, der womöglich außer Kontrolle geriet. Die an- und abschwellenden Protestwellen könnten ihn am Ende mitreißen, so wie bei Hussein, Gaddafi und anderen.

Das Schwindelgefühl setzte noch schneller ein, als Krupin erwartet hatte. Es zwang ihn, sich von den verstörenden Szenen hinter dem Fenster abzuwenden. Als Nächstes kam der betäubende Kopfschmerz, der als fast unmerkliches Pulsieren begann, bis er Ausmaße erreichte, die das Maß des Erträglichen bis zum Anschlag ausreizten. Dann setzte Orientierungslosigkeit ein. Das war das Schlimmste. Für einen Mann in seiner Position konnte jeder noch so kurze Aussetzer tödlich enden.

Er ließ sich langsam auf einen zweckmäßigen Stuhl hinter einem noch zweckmäßigeren Schreibtisch sinken. Das winzige Büro befand sich in einem weitgehend ungenutzten Teil des Kreml, in der seit der Sowjetära keine Renovierungen mehr stattgefunden hatten. Die Wanduhr hatte schon vor Jahren ihren Dienst eingestellt, doch die Zahlen auf dem Mobiltelefon verkündeten ihre Botschaft unerschütterlich: 11:59.

Er zog eine Mappe vom Stapel am Rand der Tischplatte und ließ das Band zurückschnappen, das den Deckel fixierte. Der Inhalt war nicht von Bedeutung, doch die Beschäftigung half, die Risse in der mühsam erarbeiteten Fassade zu übertünchen.

Weniger als eine Minute später klopfte es an der Tür. Pünktlichkeit bei anderen zu erzwingen gehörte für ihn zu den größten Vorzügen seiner gefühlten Allmacht innerhalb der Grenzen Russlands.

»Herein.«

Der Mann, der eintrat, lief leicht gebeugt. Er war 60, wirkte aufgrund des körperlichen Gebrechens allerdings älter. Sanftmütige Augen und graue Haare, ein wenig zu lang getragen, hätte Krupin sonst als Zeichen von Schwäche interpretiert. In diesem Fall kündeten sie von einer versteckten Weisheit, die ein Gefühl von Unbehagen in ihm auslöste.

Er sah von den Unterlagen auf und musterte seinen Leibarzt. Dabei gab er sich große Mühe, nicht zu blinzeln, um klarer zu sehen. Üblicherweise ging es bei den Besuchen des Mediziners um Routinechecks oder kleinere Beschwerden. Die Medien bekamen davon nichts mit. Es sei denn, es handelte sich um eine Verletzung, die sich öffentlichkeitswirksam ausschlachten ließ, um sein Image zu verbessern.

Heute verhielt es sich anders.

Eduard Fedkin war noch nie in diesen verlassenen Winkel des Kreml beordert worden und reagierte überrascht, den höchsten Staatsmann hier anzutreffen. Vermutlich lag es daran, dass er nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Oder steckte doch mehr dahinter?

»Haben Sie Neuigkeiten für mich, Doktor?«

»Unsere Tests, Sir …« Der Mann zögerte, doch sein Schweigen hielt Krupins durchdringendem Blick nicht lange stand. »Wir sind auf eine Anomalie in Ihrem Gehirn gestoßen.«

Eine Flut von Adrenalin schwappte über Krupin hinweg und verstärkte den pochenden Schmerz im Kopf. Sein Gesicht verriet nichts davon.

»Was für eine Anomalie?«

»Ein Tumor.«

»Und?«

»Er ist vermutlich für die Symptome verantwortlich, die wir diagnostiziert haben.«

Krupin strengte sich an, mit fester Stimme zu sprechen. »Ist es Krebs?«

»Das lässt sich anhand dieser Tests nicht nachweisen. Dazu sind weitere Untersuchungen notwendig.«

Auf Krupins Drängen hatte der Termin bei ihm zu Hause stattgefunden. Mit portablem Equipment, das sich völlig diskret hinein- und wieder hinausbringen ließ.

»Sie haben doch sicher eine Vermutung?«

»In Anbetracht der Tatsache, dass Sie nur mit verschwommenem Sehen und leichten Kopfschmerzen zu kämpfen haben, hoffe ich, dass der Tumor gutartig ist und nur langsam wächst.« Fedkin sprach langsam und wählte seine Worte mit Bedacht.

Krupin hatte Fedkin gegenüber nicht offen über die Wucht der Attacken gesprochen und ihm auch die nachfolgende geistige Verwirrung verschwiegen. Fedkin gehörte zu den besten Ärzten des Landes, aber für besonders loyal hielt er ihn nicht. Laut Erkenntnissen des russischen Geheimdienstes war der Mann weitgehend unpolitisch, einer der vielen Intellektuellen, die sich nicht mit vermeintlichen Lappalien des Tagesgeschehens abgaben. Dennoch musste er vorsichtig sein, was er ihm anvertraute.

»Es steht außer Frage, dass wir eine umfassende Untersuchung durchführen müssen. So bald wie möglich.«

»Es gibt keinen Grund für übertriebene Eile«, verkündete Krupin mit einer Ruhe, die er nicht verspürte. »Ich werde meinen Assistenten bitten, nach einer passenden Lücke in meinem Terminkalender zu suchen.«

Fedkin blieb stehen und starrte Krupin nachdenklich an, als würde er abwägen, ob es sich lohnte, Widerspruch vorzubringen. Schließlich drehte er sich um, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu.

Nachdem der Riegel klickend eingerastet war, ließ Krupin den Kopf auf die Tischplatte sinken, umklammerte ihn mit den Händen und kämpfte gegen eine Welle von Übelkeit an. Laute Rufe drangen von draußen herein, laut genug, um die Wände beben zu lassen. Die Demonstranten, die Moskaus Straßen verstopften, fielen ihm jäh wieder ein. Feinde, keine Frage, aber nicht die gefährlichsten. Das waren eher die Männer in seiner direkten Nähe. Die Männer, die um sein Alter und seine Schwächen wussten und sich unauffällig auf das vorbereiteten, was zwangsläufig folgte.

Er zwang sich, seine Gedanken zu fokussieren, und klopfte die Männer, die er für die wahrscheinlichsten Verräter hielt, auf Faktoren wie Einfluss, persönliche Schwächen und Ehrgeiz ab. Das war sein wahres Talent. Nicht Wirtschaft oder Geopolitik, nicht mal Militärstrategie. Nein, er führte den flächenmäßig größten Staat der Erde, weil er sich mindestens so gut wie jede andere historische Persönlichkeit darauf verstand, Feinde – sowohl externe wie interne – auf Distanz zu halten. Er setzte Informationen und Fehlinformationen in Umlauf, verteilte Komplimente und Drohungen, Belohnungen und Strafen und spann ein Netz, in dem jeder hängen blieb, der damit in Kontakt kam. Effektiv, aber ungeheuer schwierig aufrechtzuerhalten. Kümmerte man sich nicht ständig darum, bildeten sich unweigerlich Schlupflöcher.

Weiteres Johlen von draußen, diesmal gefolgt von der elektronisch verstärkten Stimme Roman Pasternaks.

»Warum sind wir hier?«

Krupin wurde aus den Gedanken gerissen. Pasternak hatte seine Jünger nicht nur auf den Roten Platz geführt, jetzt hielt er dort sogar eine Rede? Vor fünf Jahren hätte man sich über die bloße Ankündigung eines solchen Vorhabens amüsiert. Allerdings konnte niemand die Zeit und die Änderungen, die sie mit sich brachte, kontrollieren.

Er wollte schon aufstehen, ließ sich jedoch auf den Stuhl zurückfallen. Nein. Pasternak war zwar eine Bedrohung, aber keine akute. Um ihn konnte er sich immer noch kümmern.

»Russland taumelt seit Jahren von einer Rezession in die nächste. Der Zustand der Wirtschaft ist davon abhängig, was wir dem Boden abringen. Unsere Lehrer und andere Arbeiter werden nicht bezahlt. Die Infrastruktur steht vor dem Kollaps …«

Krupin griff zum Stift und legte eine Liste an, für die er vor wenigen Monaten noch keine Verwendung gehabt hätte. Sie begann mit Boris Utkin, seinem Premierminister. Ein relativ junger, technisch versierter Mann, dem er es zutraute, sich mit der jungen Generation zu verbünden, die Krupin bewusst auf Abstand hielt. Ein fähiger Politiker, der ihm Loyalität vorgaukelte, sich aber immer eine Hintertür zum Rückzug offenhielt. So lavierte er geschickt zwischen der beinharten Kontrolle, die Krupins Regierung ausübte, und der Anarchie, die der Mann auf dem Roten Platz, der gerade wieder in sein Megafon brüllte, seinen Anhängern versprach.

»Wir verfügen über eine motivierte, gebildete Bevölkerung, doch wir nutzen ihre Stärken nicht. Wir generieren keine Erfindungen, obwohl in der Innovation die Zukunft liegt. Stattdessen berauben wir unser Land seiner Bodenschätze und verhökern sie für ein Taschengeld an wohlhabendere Länder.«

Grischa Asarow landete als Nächster auf dem Zettel. Der Killer, der so effizient für ihn gearbeitet hatte. Er ließ sich nicht von Einfluss und Reichtum locken, mit denen Krupin ihm vor der Nase rumwedelte, sondern hatte sich für ein anonymes Leben in Mittelamerika entschieden. Für sich genommen keine Bedrohung, aber unvorstellbar gefährlich, falls andere ihn für ihre Interessen einspannten.

»Maxim Krupin ist der reichste Mann der Welt. Er verteilt Treuegeschenke an seinen innersten Zirkel, während der Rest von uns hungert.«

Tarben Schkalow. Der Mächtigste der Oligarchen. Zu alt und international zu gut vernetzt, um Krupin zu fürchten. Ihm ging es allein um stabile Verhältnisse. Er stärkte jedem den Rücken, der dafür sorgte.

»Fünf Prozent unserer Wirtschaftsleistung werden in den Militärapparat gesteckt. Wofür? Zur Erweiterung unseres Territoriums? Die Experimente auf der Krim und in der Ukraine haben uns Milliarden Rubel gekostet und nichts als weltweite Sanktionen beschert. Absicherung gegen Militärschläge?« Pasternaks elektronisch verstärktes Lachen wurde durch eine Rückkopplung verzerrt. »Wer will dieses Land schon haben?«

Krupin entglitt der Stift aus den tauben Fingern. Das vertraute Gefühl von Zorn stieg in ihm hoch, aber es schwang noch etwas anderes mit. Etwas, das er kaum kannte.

Furcht.

»Der Präsident lenkt die alten Leute mit Nationalismus und der Erinnerung an ruhmreiche sowjetische Zeiten ab, doch diese Ära ist vorbei. Ein Glück, wenn ihr mich fragt.«

Krupin stellte fest, dass er seinen mächtigsten Gegner überhaupt nicht notiert hatte: die Zeit. Was bedeutete diese Anomalie in seinem Gehirn für ihn? Ein schrittweises Hinübergleiten in Demenz und Wahnsinn? Aggressive Therapien, die nur den Schatten des Mannes zurückließen, der er heute war? Verrottete er langsam, während die Schwächlinge sich um ihn drängten und darum stritten, wer ihm das Messer in den Rücken rammen durfte?

Er dachte an die bedeutungslose Menge auf dem Platz, die ihre Jugend und Vitalität als selbstverständlich hinnahm. An die Millionen von Menschen, die ihr sinnloses Leben fortsetzten, während sein eigenes verblasste. An eine Welt, die ihn nicht länger fürchtete und sich an diesem neu gewonnenen Selbstvertrauen berauschte.

»Russland hat eine stolze Geschichte, aber wir dürfen uns nicht länger vom Rest der Welt isolieren …«

Die Schmerzen in seinem Schädel wurden stärker und stärker. So schlimm war es bisher noch nie gewesen.

»Wir müssen unseren neuen Platz in der globalen Weltordnung einnehmen, statt uns an den Fantasien eines überkommenen Machthabers abzuarbeiten, der sie beherrschen will.«

»Halt die Klappe!«, brüllte Krupin und stellte beunruhigt fest, dass seine Stimme selbst von diesem mickrigen Büro augenblicklich verschluckt wurde. Er sprang auf, griff nach dem Telefonhörer und rief noch einmal: »Halt die Klappe!«

1

Östlich von Manassas, Virginia

Mitch Rapp lief etwas langsamer und ließ Scott Colemans Vorsprung auf knapp drei Meter anwachsen.

Sie rannten über einen kaum erkennbaren Feldweg, der sich einen Berg hochschlängelte – westlich von dem Hügel, auf dem er sein Haus errichtet hatte. Sie hatten die Aktion mit voller Absicht auf den Spätnachmittag verlegt, in die pralle Sonne. Die Temperaturen kratzten an der 30-Grad-Marke, die Luftfeuchtigkeit war am Anschlag. Ein dünner Schweißfilm bedeckte Rapps Körper. Erste Schweißflecken zeichneten sich auf dem Shirt ab.

Coleman schien dagegen frisch aus einem Swimmingpool geklettert zu sein. Er schwitzte so stark, dass man die nasse Spur, die er durch den Schlamm zog, selbst vom Weltraum aus gesehen hätte. Sein Atem ging stoßweiße. Das pfeifende Keuchen prädestinierte ihn für die Rolle des nächsten Opfers in einem Slasherfilm. Positiv ließ sich anmerken, dass seine Schritte relativ gleichmäßig ausfielen und er nicht über die Wurzeln und losen Steine auf dem Boden stolperte.

Auf dem restlichen Viertel zum Gipfel schlug er sich so wacker, wie man es unter diesen Bedingungen erwarten konnte. Doch Rapp erwartete mehr. Er wollte die letzten Reserven aus dem früheren Navy SEAL herauskitzeln.

Er duckte sich unter niedrig hängenden Zweigen links von Coleman und übernahm die Führung. Nachdem er den alten Freund knapp eine Minute in dessen Tempo hatte gewähren lassen, beschleunigte er langsam. Der Rhythmus der Schritte hinter ihm klang nach Kapitulation. So wie immer.

Coleman hatte mehr als ein Jahr darauf verwendet, sich komplett von der Konfrontation mit Grischa Asarow zu erholen, dem Schergen des russischen Präsidenten, der über schier übermenschliche Kräfte zu verfügen schien. Inzwischen hatte Asarow Vaterland und Arbeitgeber den Rücken gekehrt – leider erst, nachdem er Coleman eine zertrümmerte Schulter, eine zwischen den Rippen abgebrochene Messerklinge und mehrere Schussverletzungen verpasst hatte. Der Blutverlust allein hätte manchem halb so alten Soldaten den Rest gegeben, aber der Ex-SEAL stand die Sache durch und hielt sich über Wasser.

Der schwierige Teil kam danach. Als er es endlich schaffte, sich aus dem Bett zu hieven, dauerte es fast einen Monat, das Laufen neu zu lernen. Hinzu kam die mentale Belastung. Wenn man mal stärker, taffer und schneller als jeder andere gewesen war und plötzlich auf einen Elektroroller zurückgreifen musste, um einkaufen zu gehen, hinterließ das Spuren. Zudem fiel es ihm schwer zu akzeptieren, mit welcher Leichtigkeit Asarow ihm den Schneid abgekauft hatte. Coleman kämpfte nach wie vor, sein angeknackstes Ego zu reparieren, das früher unerschütterlich gewesen war.

Rapp hatte es als Überraschung – eine der seltenen guten Sorte – empfunden, als Scott vor seiner Tür auftauchte und ihn zu einem Berglauf einlud. Ein gutes Indiz dafür, dass der alte Draufgänger langsam zurückkehrte. Rapp hatte sich daran gewöhnt, dass der Freund ihm den Rücken freihielt. Das Jahr ohne ihn war nicht besonders gut gelaufen. In seinem Geschäft hinkte man schnell hinterher, wenn die Leute hinter einem hinkten.

Rapp schielte auf den Pulsmesser am Handgelenk. 165 Schläge pro Minute. Dieses straffe, aber erträgliche Tempo hielt er gut drei Stunden durch, bevor sein Kreislauf protestierte. Hinter ihm klang Colemans Atem zunehmend verzweifelt. Seine Schritte ließen den gewohnten Schwung vermissen. Er stolperte immer häufiger, fing gerade so einen Sturz ab. Die Oberschenkel machten dicht. Immerhin fiel er nicht hin. Noch nicht.

Sie brachen zwischen den Baumreihen hervor. Rapp legte noch einen Zahn zu, als der Gipfel in Sichtweite kam. Coleman geriet ins Straucheln und musste sich mit einer Hand am Boden abstützen, kämpfte sich jedoch verbissen voran, ohne an Schwung zu verlieren. Allein Wille und Stolz hielten ihn im Rennen. Kein Problem, denn von beidem besaß er mehr als genug.

170 Schläge pro Minute, verriet die Anzeige.

Coleman keuchte lauter, ein verstörendes Pfeifen tief aus dem Brustkorb. Er verschluckte sich und fing an zu husten. Rapp zögerte kurz, dann verfiel er in einen Sprint. Falls sein alter Freund zusammenklappte, dann lieber jetzt als in Afghanistan oder Syrien, wo sich andere auf ihn verließen.

Rapp wechselte in einen lockeren Trab, sobald er den Berggipfel erreichte. Mit zusammengekniffenen Augen inspizierte er den grünen Teppich, der sich im Tal ausbreitete. Er erkannte sein Haus als reflektierenden Punkt im Osten, umgeben von einigen weiteren Wohngebäuden auf ähnlich großzügig dimensionierten Grundstücken. Sein unverschämt reicher Bruder hatte die komplette Gegend gekauft und die einzelnen Parzellen für einen symbolischen Dollar an Rapps Kollegen veräußert, damit sein älteres Sippenmitglied nur loyale und schussfreudige Nachbarn bekam.

Etwas südlich von der Zufahrt zu Rapps Anwesen war ein modernes Haus aus Holz und kugelsicherem Glas so gut wie fertiggestellt. Ob sein Besitzer die letzten 50 Meter ihres Laufs überlebte, um dort einzuziehen, blieb abzuwarten.

Zum Glück ließ die Antwort nicht allzu lange auf sich warten. Coleman überwand den letzten Anstieg, quälte sich in Rapps Richtung und brach auf dem felsigen Untergrund neben ihm zusammen. Er schaffte es, sich auf alle viere aufzurichten, stand jedoch nicht auf, sondern behielt den Kopf unten und versuchte, sich nicht die Seele aus dem Leib zu kotzen. Nach etwa einer Minute bekam er genug Luft, um ein Wort auszustoßen: »Zeit?«

Rapp schaute auf die Uhr. »Eine Stunde, 16 Minuten und 33 Sekunden. Bald bist du fit genug, um dich für die Olympischen Seniorenspiele zu bewerben.«

In Wirklichkeit hätte ihr Tempo ein Drittel der SEALs im aktiven Dienst überfordert. Gar nicht so übel für einen alten Seebären, der laut Ärzten für den Rest seines Lebens auf einen Gehstock angewiesen war.

Coleman schaffte es, eine Hand vom Boden zu lösen und ihm den Mittelfinger hinzustrecken. »Was ist deine Bestzeit?«

Rapp überlegte, ob er ehrlich antworten sollte, entschied sich jedoch sofort dagegen. Coleman hatte so viel Arbeit in seine Reha gesteckt und machte unglaubliche Fortschritte, da wollte er ihn nicht unnötig demoralisieren.

»1:11:40.«

»Wie würde sich Asarow schlagen?«

»Woher zum Henker soll ich das wissen?«

»Verarsch mich nicht, Mitch. Du hast mit ihm zusammengearbeitet.«

Rapp hatte Asarow für eine Mission eingespannt, die er Colemans Jungs nicht zumuten wollte. Der frühere SEAL konnte die Entscheidung nachvollziehen, ausgerechnet auf den Mann zurückzugreifen, der ihn fast umgebracht hätte. Es war eine vollkommen illegale Operation gewesen. Die Männer, die ihm seit Jahren so treue Dienste erwiesen, hätten es nicht verdient, dass sie ihnen um die Ohren flog. An Scotts Konkurrenzdenken änderte diese Tatsache nichts.

»Im Moment verbringt er seine Tage damit, Bier am Pool zu schlürfen und mit seiner Freundin zu surfen.«

Coleman kämpfte sich auf die Beine. »Okay, Mitch. Wenn du es mir nicht sagen willst, verrat mir wenigstens deine echte persönliche Bestleistung.«

»Na schön. Eine Stunde, vier Minuten. Glatt.«

»Scheiße.« Coleman setzte sich auf einen Felsbrocken und beäugte die Landschaft. »Ich werd nie so flott sein wie früher. Zu klapprig und zu viele Meilen auf dem Tacho.«

»Beim Kämpfen geht’s nicht nur drum, die Hügel raufzufliegen, Scott. Und das weißt du. Ich mach mir eher Sorgen um deinen Kopf.«

Coleman nickte und starrte stur auf den Horizont. »Im letzten Jahr hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht zu viel.«

»Und?«

»Ich hab keine Angst, falls du das meinst. Wenn deine Nummer aufgerufen wird, kannst du es eh nicht ändern. Was Asarow mit mir angestellt hat, hab ich weggesteckt. Immerhin ist er ein junger, mit Dopingmitteln aufgepumpter Bursche. Ein Leistungssportler, der mich schlicht auf dem falschen Fuß erwischt hat.«

Ein kaum erkennbares Lächeln kroch in seine Mundwinkel. »Und dich hätte er auch fast erledigt.«

Das stimmte. Rapp hatte seinen Kampf gegen den Russen zwar gewonnen, wäre am Ende aber beinahe mit angesengten Haaren von einer Ölplattform geschleudert worden. Allzu viele solcher Siege überlebte man nicht.

»Es wird dunkel, Scott. Und ich will’s auf dem Weg nach unten etwas langsamer angehen. Mein Knie zwickt.«

Colemans Lächeln wurde bei der offenkundigen Lüge ein gutes Stück breiter.

Das war noch so etwas, das sich unmöglich ersetzen ließ, falls er entschied, nicht in den aktiven Dienst zurückzukehren. Sie wussten gegenseitig, was der andere gerade dachte, und konnten dessen nächste Aktion vorausahnen. Immerhin waren sie gemeinsam in diesem Geschäft groß geworden. Rapp bezweifelte, dass sich jemand finden ließ, mit dem er ein ebenso blindes Einverständnis entwickelte.

»Ich bin damit zufrieden, wo ich jetzt stehe«, meinte Coleman. »Die Frage ist, ob du’s auch bist. Es wäre fatal, wenn du dir da draußen ständig Sorgen machst, dass ich dich im Stich lasse.«

Rapps Handy klingelte. Er zog es aus einer der eingenähten Taschen an der Rückseite seines Laufshirts. Claudia.

»Was gibt’s?«, fragte er nach dem Abnehmen.

»Wie geht’s Scott? Du hast ihm doch nicht etwa wehgetan?«

Claudia Gould war nicht länger nur die Frau, mit der er zusammenlebte. Sie arbeitete inzwischen auch als logistische Koordinatorin für Colemans Firma. Ihr verstorbener Ehemann war einer der besten privaten Auftragskiller gewesen, bevor Stan Hurley ihm die Kehle rausgerissen hatte. Keine idealen Voraussetzungen für eine Beziehung, aber bisher lief es für alle Beteiligten ziemlich gut. Claudia hatte Rapp geholfen, etwas aufzubauen, das als ›normales Leben‹ durchging, und hielt bei SEAL Demolition and Salvage alles am Laufen, während Coleman seine Tage mit Personal Trainern und Psychotherapeuten verbrachte.

»Er sitzt neben mir.«

»Aufrecht und aus eigener Kraft?«

»Sag ihr, dass du okay bist.« Rapp hielt ihm das Telefon hin.

»Ich hätte ihn am Gipfel fast eingeholt, Claudia. Lass dir nichts anderes von ihm erzählen.«

Rapp verzog spöttisch das Gesicht und griff nach dem Handy. »Siehst du?«

»Ist er fit genug, um wieder in Einsätze zu gehen?«

»Ich glaube, er ist so fit, dass er gleich den ganzen Laden schmeißen kann. Ops und Logistik zusammen.«

Sie wechselte zu Französisch, was sie gerne tat, wenn sie verärgert war. »Ich weiß, dass du dir das wünschst, Mitch, aber er wird mich nicht feuern. Ich bin jetzt für diesen Teil des Geschäfts verantwortlich. Du profitierst übrigens auch davon, denn er zahlt wesentlich besser als die CIA.«

Diesen Kampf konnte er nicht gewinnen, erkannte er. Claudia entlastete Coleman massiv und er ließ keinerlei Ambitionen erkennen, sich selbst wieder um die Arbeit im Hintergrund zu kümmern. Außerdem war sie darin besser als er, das gab er bereitwillig zu. Für Rapp bestand das Problem darin, dass die Frau, mit der er schlief, in direkter Schusslinie saß, wenn mal eine Mission den Bach runterging. Die Grenzen zwischen privater und beruflicher Beziehung verliefen alles andere als klar. Sie befanden sich noch in der Abtastphase.

»Lass uns ein andermal drüber reden, Claudia. Scott und ich kommen jetzt runter. Es dürfte noch eine Weile dauern. Anna kann ja schon mal was essen, wenn sie hungrig ist. Ich freu mich aufs Abendessen, wenn ich zurück bin.«

»Bedaure, aber du wirst nicht runterkommen und das gemeinsame Abendessen musst du dir auch abschminken. Schau mal nach Norden.«

Er drehte sich um und spähte zum Horizont. Nach ein paar Sekunden entdeckte er den kleinen Punkt über den Gipfeln.

»Es ist ein Laptop an Bord, auf dem du das komplette Briefing findest. Sei vorsichtig, okay?«

Sie trennte die Verbindung und er steckte das Handy weg, bevor er in Richtung des näher kommenden Hubschraubers zeigte. »Na, wie sieht’s aus, Scott? Bist du zurück oder nicht?«

2

In der Nähe von Dominical, Costa Rica

»Kannst du wieder nicht schlafen, Grischa?«

Cara Hansen lag neben ihm auf der klammen Matratze. Das Display seines Handys beleuchtete ihren nackten, verschwitzten Körper. Normalerweise hätte sie sich an ihn gekuschelt, aber seitdem die Klimanlage nicht lief, beschränkte sie sich darauf, ihn mit dem Finger anzustupsen.

»Hör auf, mit dem Teil rumzuspielen. Du hast kaum Netz und verschwendest bloß unnötig Strom.«

Asarow löschte per WLAN das Licht im oberen Schlafzimmer. Er ließ es normalerweise brennen, um den Eindruck zu erwecken, dass sie dort die Nacht verbrachten. Das taten sie schon seit drei Tagen nicht mehr, als der Strom in weiten Teilen des Landes ausgefallen war. Hier im Erdgeschoss war es gut zehn Grad kühler, aber das änderte nichts daran, dass er nicht einschlafen konnte. Ruhe fand er nachts vermutlich erst, wenn er den genauen Grund kannte, weshalb das Netz ausgefallen war, und wenn er wusste, wann es repariert wurde.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und schaltete das Display ab. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Ich hab sowieso nur gedöst. Es ist viel zu warm. Hast du ’ne Idee, zu wem ich in diesem Land ins Bett springen muss, damit die Klimaanlage für ein paar Stunden anspringt?«

Genau genommen zu ihm. Sie wusste allerdings nicht, dass er im Keller drei riesige Tesla-Kraftstoffzellen bunkerte, deren Kapazität er nur für den unbedingt notwendigen Strom antastete. Seit Tagen war es wolkig, was die Solaranlage auf dem Dach weitgehend nutzlos machte. Der Dieselnachschub für den Generator ließ ebenfalls auf sich warten.

Die Bewohner der kleinen Küstenstadt mit der aktiven Surferszene, in deren Hängen er wohnte, hatten diesen Umstand schulterzuckend zur Kenntnis genommen und lebten weiter, als wäre nichts geschehen. Im Gegensatz zu ihm waren sie nicht so abhängig von Technik. Obwohl er seit Jahren hier lebte, schaffte er es nicht, sich den optimistischen Fatalismus der Einheimischen anzueignen.

»Du könntest einfach vormittags zur Tankstelle fahren und von der persönlichen Zapfsäule des Tankwarts ein paar ihrer restlichen Dieselvorräte abpumpen.«

»Sehr witzig.« Aus dem spielerischen Stupsen wurde ein Stoß in die Rippen.

Es fiel ihm schwer, sich in Erinnerung zu rufen, wie lange sie zusammen waren. Offiziell mochten es erst Monate sein, doch er liebte sie schon seit Jahren.

Sie stammte ursprünglich aus Kalifornien, war Surflehrerin und verdiente sich mit gelegentlichen Teilzeitjobs etwas dazu. Anfangs hielt er eine Beziehung mit ihr für utopisch. Immerhin arbeitete er als Problemlöser für den russischen Präsidenten, der ein sicheres Gespür dafür besaß, was anderen Menschen etwas bedeutete und wie er es gegen sie einsetzen konnte. Asarow hatte zwar keine Gelegenheit ausgelassen, Cara für Arbeiten im Haus anzuheuern, mimte aber in ihrer Gegenwart den Gleichgültigen, um Krupin nicht auf ihre Fährte zu locken.

Er streckte die Hand aus und strich mit der Hand durch ihr feuchtes Haar. »Bevor du hier eingezogen bist, hattest du gar keine Klimaanlage. Nicht dass du mir verweichlichst.«

»Man gewöhnt sich eben an Luxus.« Sie rollte sich zur Seite, um der Hitze zu entfliehen, die von seinem Körper ausging.

Ohne das Leuchten des Handydisplays wurde die Welt von Dunkelheit verschluckt. Asarow erfasste durch die Fensterscheibe die vagen Umrisse der Blumen, die Cara im Garten gepflanzt hatte. Danach kam nichts als kilometerweiter Dschungel, dicht genug, um so gut wie alles zu verschlucken.

Er hatte seinen Job bei der russischen Regierung an den Nagel gehängt, ging jedoch nicht davon aus, dass Krupin ihn vergessen hatte. Krupin hatte seinem Rücktritt nie offiziell zugestimmt und war nicht daran gewöhnt, abserviert zu werden. Ob er etwas vom Stromausfall in Costa Rica wusste? Nutzte er ihn womöglich aus, um sich an Asarow zu rächen, weil der ihn kurzerhand im Stich gelassen und Mitch Rapp nicht getötet hatte? Als mahnendes Beispiel für alle, die es wagten, ihm den Rücken zuzukehren?

Vielleicht war es sogar noch schlimmer und Krupin hatte gezielt Cyberspezialisten auf Costa Rica angesetzt. Ein Land, das auf den Angriff der zentralen Stromversorgung nicht im Geringsten vorbereitet war. Nahm er in Kauf, den kompletten Südwesten lahmzulegen, nur um Vergeltung an einem Mann zu üben, der ihm jahrelang treue Dienste geleistet hatte?

Nein. Reinste Paranoia. Krupin mochte größenwahnsinnig sein und alles und jeden in seinem Umfeld kontrollieren wollen, aber er handelte strikt rational. Alles, was er tat, diente dem eigenen Überleben und Machterhalt. Krupin ließ sich grundsätzlich nicht zu Racheakten verleiten, die ihm nicht direkt nützten und schlimmstenfalls auf ihn zurückfielen. Russlands Präsident handelte stets aus Kalkül. Er war ein Feigling und Manipulator.

Hinzu kam, dass es laut seinen Quellen längst einen Nachfolger für ihn gab. Einen Mann namens Nikita Puschkin. Der Jüngere schien den Berichten zufolge äußerst talentiert zu sein und, genau wie Asarow früher, loyal und pflichtbewusst. Das schien für alle Beteiligten eine klare Verbesserung zu sein. Der Neue wurde mit allem überschüttet, was er sich wünschte, Krupin bekam einen Beschützer, der jederzeit sein Leben für ihn geopfert hätte, und Asarow konnte in aller Ruhe sein persönliches Glück finden und ausleben.

Neben ihm wurde Caras Atem länger und tiefer, doch ihm ging zu viel durch den Kopf, um sie in den Schlaf zu begleiten. Was, wenn es ein anderer auf ihn abgesehen hatte? Jemand mit Verbindungen zu einem der vielen Menschen, die er auf dem Gewissen hatte? Jemand, der wusste, dass er nicht länger unter Krupins persönlichem Schutz stand?

Unwahrscheinlich. Mächtige Männer durften, wenn sie erst einmal tot waren, in der Regel nicht länger auf die Loyalität ihrer Befehlsempfänger hoffen. Ihr direktes Umfeld stritt sich dann viel lieber darum, wer das entstandene Machtvakuum ausfüllte.

Damit blieb nur noch Amerika übrig. Nicht Rapp allerdings. Asarow hatte ihm beim Schlag gegen die Saudis geholfen und der CIA-Agent hatte deutlich gemacht, dass er etwas bei ihm guthatte. Auf ihn war Verlass, und Irene Kennedy wäre nie ohne sein Okay gegen ihn vorgegangen.

Scott Coleman und sein Team? Nein, Coleman schien wieder auf dem Damm zu sein und …

Asarow schloss für einen Moment die Augen, um den Kopf freizubekommen. Wenn er sich damit beschäftigte, jeden Feind durchzugehen, den er sich im Laufe der Jahre gemacht hatte, wurde es eine lange Nacht.

Er öffnete die Augen, holte das Handy aus dem Stand-by und startete seine Security-App. Die Alarmanlage und alle Notfallsysteme waren weiterhin aktiv. Seine Kraftstoffzellen wiesen noch 80 Prozent ihrer Kapazität auf. Die Internetanbindung per Satellit funktionierte zwar theoretisch, war allerdings so überlastet, dass man sie kaum benutzen konnte.

Cara verpasste ihm einen trägen Schlag gegen die Brust. Ihr Gesicht steckte halb im Kopfkissen, sodass er sich anstrengen musste, um zu verstehen, was sie sagte.

»Wenn du weiter auf dem Teil rumtippst, geh bitte aus dem Zimmer.«

Er rechnete nicht damit, in nächster Zeit einzuschlafen, also stand er auf und schlüpfte in seine Shorts. Cara erklärte sich seine Rastlosigkeit mit der Hitze und dem, was sie GRM nannte – generelle russische Melancholie. Natürlich nur, weil sie ihm die Geschichte abkaufte, dass er ein russischer Energieberater war, der sich schrittweise in den Ruhestand zurückzog. Dabei sollte es auch bleiben. Er ertrug den Gedanken nicht, dass sie erfuhr, was er alles getan hatte. Er wollte nicht, dass sie Angst bekam. Eine Frau wie sie verdiente ein glückliches, behütetes Leben.

Er trottete zur Tür und blieb kurz stehen, als er erneut ihre Stimme hörte.

»Du bist doch nicht wieder traurig, oder, Grischa?«

»Nein.«

»Und du hast auch noch nicht genug von deiner Freundin?«

Er grinste. »Ich sag Bescheid, wenn’s so weit ist.«

»Willst du eine Runde mit mir schwimmen? Meinst du, dann geht’s dir besser?«

»Nein. Schlaf ruhig weiter.«

Die Bewölkung des Tages hatte sich verzogen und der Mond stand so hell am Himmel, dass sein Schein ausreichte, um durch die Treppe zur Küche im ersten Stock zu laufen. Er überlegte kurz, die Kühlschranktür zu öffnen, tat es aber als Verschwendung von Elektrizität ab und wollte auch nicht, dass jemand Licht im Haus sah. Verfolgungswahn? Irgendwie schon, aber es gab keinen Grund, leichtsinnig zu werden.

Stattdessen füllte er in der Spüle ein Glas mit Leitungswasser und näherte sich der Fensterfront nach Norden. Die Berge zeichneten sich als vage Umrisse unter dem Sternenzelt ab. Seine Nachbarn in einiger Entfernung schienen alle zu schlafen. Die wenigen, die noch Strom hatten, vergeudeten ihn doch tatsächlich für ihre Außenbeleuchtung.

Er bemerkte ein Aufblitzen, das sein Verstand – geprägt vom jahrelangen Training – augenblicklich als Schuss einordnete. Er stammte von einer felsigen Hügelkuppe in der Nähe, auf der er selbst herumgeturnt war, als er den perfekten Standort für das Haus ausgekundschaftet hatte. Die Entfernung war mit 750 Metern beträchtlich, aber man hatte aus leicht erhöhter Lage einen guten Blick auf das Gebäude.

Die Scheiben sollten theoretisch kugelsicher sein, aber jeder, der gut genug war, auf ihn angesetzt zu werden und diese Position einzunehmen, hätte sicher Munition eingesetzt, die jedes lästige Hindernis durchschlug. Asarow tauchte auf den Boden ab, im Wissen, dass ihm weniger als eine Sekunde bis zum Einschlag blieb. Er prallte hart auf den Beton, doch nichts geschah. Er hörte nur das erstickte Summen von Insekten.

Hatte er sich geirrt? Bloß eine Zigarette, die jemand anzündete? Eine Taschenlampe?

Ihm blieb keine Zeit, weitere Erklärungsansätze durchzuspielen, denn in diesem Moment brandete der ohrenbetäubende Lärm einer automatischen Waffe am unteren Ende der Zufahrt auf. Das Glas vor seinen Augen verwandelte sich in ein Spinnennetz und zerbarst. Die Splitter regneten auf ihn herab, während er zur Kücheninsel in der Mitte des Raums kroch.

3

Nikita Puschkin hatte die erhöhte Stellung bezogen und vom Norden her einen relativ unverstellten Blick auf Asarows Haus. Die nicht asphaltierte Straße, auf der er parkte, wurde schon länger nicht mehr benutzt und war stellenweise überwuchert. Im Gegensatz zum umliegenden Dschungel kam man trotzdem halbwegs gut voran. Die Entfernung zum Zielobjekt betrug rund einen Kilometer, was eine direkte Mitwirkung am Einsatz quasi unmöglich machte. Doch seine Rolle war heute ohnehin eine andere.

Durch den Feldstecher beobachtete Puschkin, wie das Licht im Hauptschlafzimmer endlich erlosch. Zwei Uhr morgens. Die Angewohnheit, früh zu Bett zu gehen, schien eine Angewohnheit aus Militärzeiten zu sein, die Asarow abgelegt hatte.

Ein Sondereinsatzkommando hatte den steilen Abhang vor dem Haus erklommen, sollte aber nur im äußersten Notfall zum Einsatz kommen. Sie spekulierten darauf, dass der Scharfschütze, einen halben Kilometer westlich postiert, die Sache beendete, bevor sie richtig anfing. Dummerweise hatte Asarow seit der dreisten Attacke von Maxim Krupin auf Costa Ricas Stromnetz das Gebäude nicht mehr verlassen. Umsicht gehörte also nicht zu den militärischen Angewohnheiten, die sein Vorgänger ohne Not ablegte.

Tagsüber sorgte die Reflexion der Scheiben dafür, dass man nicht hindurchsehen konnte. Nachts bewies Asarow das erstaunliche Talent, sich nicht in ihrer Nähe aufzuhalten. Dann brannte nur eine Notbeleuchtung, die allein dem Zweck zu dienen schien, Beobachter außerhalb des Gebäudes zu blenden.

Selbst nach dem Chaos, das durch den Zusammenbruch der Energieversorgung entstanden war, hielt er es für puren Wahnsinn, sein Team so lange im Hinterland von Mittelamerika zu belassen. Am liebsten wäre er direkt vor die Tür gerollt und hätte dem Kerl die Kerzen ausgepustet, aber Krupin hatte ihm eine direkte Konfrontation untersagt. Der Präsident betonte, dass solche waghalsigen Manöver nicht länger zu seinem Aufgabengebiet gehörten. Er war kein einfacher Soldat mehr, sondern ein General.

Stimmte das denn? Oder hielt Krupin ihn in Wahrheit für den Unterlegenen? Puschkin wurde den Eindruck nicht los, dass sein Mentor ihm nicht so blind vertraute wie früher Asarow.

Das empfand er als absolut unfair. Immerhin hatte er bisher jeden Befehl minutiös umgesetzt und seine Loyalität mehrfach unter Beweis gestellt. Er zögerte nicht, Krupins Feinde zu töten und Verbündeten zu Hilfe zu eilen, ohne lästige Fragen zu stellen. Seine Einsätze und Leistungen mussten jeden Oligarchen, Politiker oder militärischen Befehlshaber Russlands in Angst und Schrecken versetzen.

Voller Abscheu spuckte er auf den Boden.

Der viel gepriesene Grischa Asarow. Ein Mann, der im Zwielicht zwischen Legende und Realität operierte. Ein Racheengel, der durch Wände laufen konnte und mit einer simplen Handbewegung jeden Gegner aus dem Weg räumte.

Doch was war aus ihm geworden? Ein Nichts. Ein Niemand. Ein weiterer Rentner, der sich im Ausland den Bauch vollschlug und den ganzen Tag am Strand die Sonne auf den Leib brennen ließ.

Asarow hatte den Mann im Stich gelassen, dem er alles verdankte. Bei seiner letzten Mission in Saudi-Arabien versagte er völlig und ließ sich von Mitch Rapp anschießen. Dann war er mit vollgepinkelter Hose vor dem CIA-Agenten geflohen und hatte damit eine der entscheidendsten Operationen in der Geschichte von Mutter Russland zum Scheitern verdammt.

Trotz seiner Feigheit und des abschließenden Verrats hing er wie ein dunkler Schatten über Puschkin. Seine Ausbilder hielten ihm ständig Asarows deutlich größeres Geschick vor, dessen eiskalte Persönlichkeit und die roboterhafte Fähigkeit, taktische Situationen blitzschnell einzuschätzen. Dabei übersahen sie drei wichtige Eigenschaften, die dem anderen abgingen: Überzeugung. Dankbarkeit. Patriotismus.

Wie sein legendärer Vorgänger war Puschkin ein Emporkömmling aus einfachen Verhältnissen. Der vierte Sohn einer Familie, die ihr Dasein mehrere Generationen lang in einem abgeschiedenen Winkel Russlands gefristet hatte. Seine Verpflichtung beim Militär war für ihn eine Flucht vor der niederen Herkunft. Zugleich trieb ihn der Wunsch, seiner glorreichen Heimat zu altem Glanz zu verhelfen. Er wurde bei den Special Forces angenommen und strengte sich mehr an als jeder andere. Das verdankte er der Fähigkeit, Schmerz und Angst auszublenden. Auch die lähmende Wirkung von Selbstzweifeln war ihm unbekannt.

Nach drei Jahren makellosem Dienst hatte Puschkin sich aus seiner Einheit verabschiedet und einem deutlich anspruchsvolleren Programm angeschlossen, das von einigen der weltweit besten Leute ihres Fachs verantwortet wurde. Waffen, Taktik, das Ausloten von körperlichen Grenzen mithilfe von leistungssteigernden Präparaten. Sprach- und Kulturschulungen halfen ihm bei der nahtlosen Eingliederung an Einsatzorten in aller Herren Länder. Selbst in Literatur, Kunst und Rhetorik wurde er unterrichtet, um sich souverän in den sozialen Zirkeln zu bewegen, denen er in diesem neuen Leben angehörte.

Alles, was er sich wünschte, lag nur ein Fingerschnippen entfernt. Geld, Frauen und Macht. Die Vorzüge, die Asarow einst genossen hatte, fielen jetzt ihm in den Schoß.

»Bericht«, raunte er ins Kehlkopfmikro.

»Wir sind auf Position und bereiten den Einsatz der Scheinwerfer vor.«

Die Lampen arbeiteten auf einer Wellenlänge, die für das menschliche Auge nicht erkennbar war, dafür aber in der Lage, Glas zu zerschmettern. Sein Scharfschütze dürfte das Innere des Hauses durch sein Nachtsicht-Equipment bald perfekt im Blick haben.

Nach ein paar Minuten meldete sich die Stimme im Ohr erneut. »Scheinwerfer einsatzbereit.«

Puschkin wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Zu gern wäre er jetzt selbst unten im Tal gewesen, um den Job zu erledigen. Er hätte die Tür aufgerissen, Asarows furchtvollen Blick genossen und ihm eine Kugel zwischen die Augen gepflanzt, um Krupin zu zeigen, dass sein einstiger Superheld in Wahrheit eine Pfeife war.

»Scharfschütze, Bericht. Können Sie das Innere des Zielobjekts sehen?«

Schweigen.

»Scharfschütze, Bericht.«

Die Stimme klang überrascht, was man selbst über die stark verschlüsselte Audioverbindung hörte. »Zielperson steht direkt an der nördlichen Fensterfront.«

Nun war es an Puschkin, überrascht nach Luft zu schnappen. Der Mann, den der große Maxim Krupin so sehr fürchtete, dass er dafür ein Viertel von Costa Ricas Stromnetz außer Kraft setzte, leistete sich einen solchen Patzer? Der Mann, dessen Namen man nur im Flüsterton und hinter verschlossenen Türen in den Mund nahm?

»Schießen. Sofort!«

Aus dem Augenwinkel nahm er ein Aufflackern wahr. Kein Geräusch. Irritiert drehte er sich zur im Schatten liegenden Bergkuppe um, auf der der Scharfschütze stationiert war. Zumindest hätte man hören müssen, wie das Projektil die Schallmauer durchbrach.

»Scharfschütze, Bericht.«

Nichts.

»Bericht!«, bellte er nervös und spähte durchs Fernglas. Es war nicht dafür ausgelegt, die Infrarotscheinwerfer zu erfassen, sondern registrierte lediglich die Dunkelheit, die das Haus einhüllte.

Nach wie vor keine Antwort.

»Bodenteam. Wie ist die Lage?«

»Keine Schäden am Glas, aber Asarow ist in Deckung abgetaucht und außer Sichtweite.«

Puschkin zögerte. Sein Verstand konnte sich keinen Reim darauf machen. Wobei er sich von einer Erklärung ohnehin nichts kaufen konnte. Nach Russland zurückzukehren, ohne Asarow erledigt zu haben, kam nicht infrage.

Er drehte sich um und rannte zum Jeep, den er im Dschungel versteckt hatte. »Zugriff. Schaltet das Ziel aus. Feuerbefehl erteilt.«