Die Autorin

Julia Rogasch – Foto © Privat

Julia Rogasch, geboren 1983, lebt mit ihrem Ehemann und ihren Töchtern in Hannover. Seit 2010 sorgt ihr Leben als Mama mit Job täglich für Inspirationen.
Ihr großes Glück ist die Familie, welche sie nun mit der Arbeit und der Leidenschaft fürs Schreiben vereinbaren kann, da man ihr die Chance bot, im Marketing via Homeoffice für das Autohaus ihre Kreativität auszuleben, für das sie bis 2010 Autos verkaufte. Wann immer der Familientrubel es zulässt, widmet sie sich privat dem Schreiben.

Das Buch

Clara ist mit ihrer Kraft so gut wie am Ende. Seitdem beim gemeinsamen Sohn eine schwere Atemwegserkrankung festgestellt wurde, stehen sie und ihr Mann Paul unter Druck. Finanziell ist es eng, da Clara weniger arbeitet, um ganz für ihren Sohn da zu sein. Sie und Paul streiten viel. Da tritt von einem auf den anderen Tag ihr alter Jugendfreund, ihre erste große Liebe Max wieder in ihr Leben. Max, der sein Leben lang nichts anbrennen ließ, erfolgreich im Job ist und der damals nach einer gemeinsamen Nacht mit Clara den Kontakt zu ihr abbrach. Er bietet der erschöpften Familie völlig überraschend sein Ferienhaus auf Sylt an, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Clara nimmt widerwillig an, um der Gesundheit ihres Sohnes Willen. Doch kaum auf Sylt angekommen, bemerkt sie, dass ihre Gefühle für Max immer noch stark sind. Aber ist es mehr als Freundschaft? Und sie ahnt: Max‘ Sinneswandel und Großzügigkeit müssen einen Grund haben …

Von Julia Rogasch sind bei Forever erschienen:
Honigmilchtage
Mit dir am Horizont
Das Geheimnis vom Strandhaus
Der kleine Laden am Strand
Das kleine Haus in den Dünen

Julia Rogasch

Das kleine Haus in den Dünen

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Januar 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-533-3

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Widmung

Meinen Herzensmenschen.
Meinen wundervollen Lesern.
All jenen, die an ihre Träume glauben.
Dir, denn mein Traum lebt durch dich.

Prolog


»Freunde für immer?« Die Stimme der neunjährigen Clara klang ernst, als ihre strahlend blauen Augen ihren besten Freund Max fixierten. Die von der Sommersonne hellblond gefärbten Haare, locker zum Pferdeschwanz zusammengebunden, waren zerzaust vom langen Tag am Strand und dem Mix aus Sonne, Nordseewind und Salzwasser. Sie schimmerten golden im Licht der Abenddämmerung. Auf Stirn und Nase des Mädchens zeugten unzählige Sommersprossen davon, dass sie in jeder freien Minute den Sommer auf Sylt genoss.

»Für immer und ewig.« Max nickte, wobei ihm ein paar Strähnen seiner dunklen Haare in die Stirn fielen. Die Kinder gaben sich die Hand, lächelten verschwörerisch und umarmten sich.

Der Wind rauschte durch die Kiefern und es dämmerte am Himmel über Kampen. Das Zwitschern der Vögel wurde leiser, bis es in der anbrechenden Dunkelheit ganz verstummte. Heute hatten sie Luftschlösser in den strahlend blauen Himmel gemalt und sich anvertraut, was ihre größten Träume waren. Sie hatten sich versprochen, diese als beste Freunde gemeinsam wahr werden zu lassen.

Die Kinder hatten Pläne geschmiedet, was sie mit dem neuen Tag auf ihrer Lieblingsinsel anfangen würden, auf die Max' Familie seine beste Freundin Clara in den Sommerurlaub mitgenommen hatte. Clara war mit ihren Eltern noch nie im Urlaub gewesen. Aber dem Mädchen fehlte es an nichts, außer an einem Geschwisterkind. Bis sie bei der Arbeit ihrer Mutter Max kennengelernt hatte. Von diesem Tag an hatte sie endlich den Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte.

Wäre es nach Clara gegangen, wäre das Brahnfeldtsche Anwesen in der Nähe von Hannover schon Abenteuer genug und sie hätte die gesamten Ferien dort verbringen können. Vom ersten Moment an war Clara aber dann von Sylt begeistert und verliebt in diese Insel, deren salzige, raue Luft für sie nach Abenteuer und Freiheit schmeckte. Das Mädchen schien jede Sekunde an diesem Ort einzusaugen. Sie und Max vergaßen die Zeit, wenn sie wieder einmal gemeinsam am Strand nach Abenteuern suchten und täglich fündig wurden. Clara wirkte mit ihrem nordischen Aussehen, als gehörte sie genau hierher, dachte sich Bina, Max' Mutter, oft, wenn das Mädchen ihr, voller Überzeugung und mit leuchtenden Augen, erklärte, dass sie irgendwann einmal auf Sylt leben wollte. Und Bina wünschte Clara von ganzem Herzen, dass dieser Traum in Erfüllung gehen würde.

Das Grundstück säumte ein Friesenwall mit Heckenrosen und die Blüten strahlten in hellem Pink mit dem blauen Himmel um die Wette. Die untergehende Sonne versteckte sich zum Teil schon hinter dem Reetdach des Ferienhauses der Familie Brahnfeldt, dem Strandhaus, wie Clara es liebevoll nannte, und tauchte den Himmel in ein zartes Rosé. Ihr Licht ließ ein Beet voller Hortensien lange Schatten werfen. Sie wirkten wie eine Armee aus Gespenstern, wie sie im Wind hin und her schaukelten, und es sah aus, als marschierten sie auf die Kinder zu.

Clara kuschelte sich bei diesem Anblick an ihren besten Freund. Sofort fühlte sie sich sicher, als dieser die Wolldecke, die sie sich mit in den Strandkorb genommen hatten, fester um seine Freundin wickelte und schützend den Arm um sie legte. Der Korb hielt den Wind fern und wenn es nach den Kindern ginge, hätten sie die ganze Nacht hier verbringen können.


Als die Sonne immer tiefer sank und alle Brote und Würstchen aus dem Picknickkorb verzehrt waren, hörten die Kinder irgendwann Bina, die sie ins Haus rief. Ein Tag mit vielen kleinen und großen Abenteuern, Lieblingseis und Lachen, bis der Bauch weh tat, ging zu Ende. Clara und Max konnten es beim Einschlafen kaum erwarten, am nächsten Morgen wieder in den Garten zu laufen, wo Bina, Max' Mutter, ihnen täglich das leckerste Frühstück der Welt zauberte. Dazu gehörten die legendären Quarkbrötchen von Max' Lieblingsbäcker und ein Glas Honigmilch. Clara würde diesen Geschmack nie im Leben vergessen und immer mit dem geborgenen und aufregenden Gefühl dieser einmaligen Zeit verbinden. Bina empfing ihren Sohn und Clara, Ulrikes Tochter, ihr Goldstück im Haushalt, die mittlerweile auch eine gute Freundin war, auch am Abend mit einer heißen Honigmilch an der Terrassentür. Nach deren Genuss sprangen die Kinder unter die Dusche und kuschelten sich dann in die gemütlichen Kojenbetten im Kinderzimmer. Dort wurden sie beim Schmieden der Pläne für den nächsten Tag irgendwann vom Schlaf übermannt und brachen schließlich auch in ihren Träumen zu neuen Abenteuern auf.

1. Kapitel


Max

Der Gang des älteren Herrn in weißem Kittel erschien mir langsamer als vorhin, als er den Raum verlassen hatte. Nervös lockerte ich meinen Hemdkragen. Mir war, als presste eine unsichtbare Faust voller Kraft gegen meinen Brustkorb.

Das Parkett der Jugendstil-Villa knarzte unter seinen Füßen, als der Arzt zu seinem Stuhl ging. Dr. Lorenz Schwarz trat an den Schreibtisch, vor dem ich in einem der Designersessel saß, und nahm mir gegenüber Platz.
Bildete ich es mir ein, oder vermied er es, mir in die Augen zu schauen?
»Max«, begann er. Seine sonore Stimme beruhigte mich normalerweise, war mehr als vertraut, kannte ich ihren Klang doch schon seit ich Kind war. Lorenz Schwarz war schon lange mit meinen Eltern befreundet. Er war rund fünfzehn Jahre jünger als mein Vater. Ob als Arzt oder als Intimus der Familie, wir schätzten uns gegenseitig, auf eine freundschaftliche Art. Wir tauschten uns gerne aus über unsere gemeinsamen Hobbys, Autos, Uhren oder Reisepläne.

Gerade hatten wir uns darüber unterhalten, ob wir in diesem Jahr gleichzeitig auf Sylt sein würden. Er fuhr wie ich im Sommer einige Wochen auf die Insel in sein Haus. Dies lag in der Nähe von meinem und dem meiner Eltern. Während Dr. Schwarz dort mit seiner Familie Urlaub machte, fuhr ich meist allein. Er suchte dort die Ruhe und die Erholung, ich stürzte mich ins Partyleben. Inzwischen traf ich dort seine fast schon erwachsenen Kinder beim Feiern.

»So schwer es mir fällt, dir das zu sagen, Max«, fuhr Lorenz Schwarz fort, machte dann aber eine Pause, als suche er nach den richtigen Worten. Augenblicklich gefror das Blut in meinen Adern. Eine Beklommenheit überkam mich, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte.

Ich war zu ihm gekommen, weil ich in der letzten Zeit immer häufiger spürte, dass mir die Luft wegblieb. Mein Hobby war der Motorsport, hier und da fuhr ich eine Rallye, meist mit meinem Vater gemeinsam in einem unserer Oldtimer. Wir reisten manchmal quer durch Europa. Körperlich fit zu sein, war mir wichtig. Dafür absolvierte ich laufend Ausdauertrainings und joggte nahezu täglich. Weil ich eigentlich gut im Training war, hatte mich meine Kurzatmigkeit beunruhigt. Ernsthaft damit gerechnet, dass etwas nicht stimmen könnte, hatte ich jedoch nicht. Schließlich war ich jung, hatte nur darauf getippt, einen Infekt auszubrüten oder dergleichen, den ich ungern verschleppen wollte.

»Mein Verdacht hat sich bedauerlicherweise bestätigt, Max. Die Werte der Lungenfunktionsdiagnostik und das Röntgen sowie die Blutgasanalyse haben Klarheit ergeben. Die Ursache für deine Atemprobleme ist tatsächlich COPD. Die chronisch obstruktive Lungenerkrankung, wir hatten darüber gesprochen.« Lorenz machte eine Pause, schaute mich ernst über den Rand seiner Brille an. »Deine Atemwege sind dauerhaft verengt und entzündet. Leider ist die Krankheit schon recht weit fortgeschritten. Hast du jetzt, wenn wir hier sitzen, Probleme beim Atmen?«, fragte Lorenz.

Ich hörte seine Worte wie durch Watte. Was sollte das jetzt bedeuten? Was war schon dabei, hier und da mal husten zu müssen? Hatten das nicht viele Menschen? In meinem Kopf suchte ich hilflos nach Strohhalmen, die meine Angst relativieren sollten. Aber schon, als er das erste Mal aussprach, was er vermutete, als ich vor einigen Tagen die Tests gemacht hatte, hatte ich mich im Internet informiert. Natürlich hatte ich das. Die Worte, die ich da gelesen hatte, schossen mir wie Speerspitzen aus Informationen durch den Kopf und stießen mich direkt auf die bittere Wahrheit. Schlagartig tauchten Bilder vor meinem inneren Auge wieder auf, die meinen geliebten Großvater zeigten, wie er immer mehr abbaute und sein ehemals strahlendes Leben als mein größtes Vorbild verblasste. Denn auch von ihm hatte diese Krankheit Besitz genommen, wenn auch erst in hohem Alter. Ich erinnerte mich noch heute daran, wie er mir, schwer atmend gesagt hatte, ich solle leben, solange mein Leben lebenswert ist. Diese Worte hatten mich geprägt. Er hatte sie, trotz der schwachen Stimme, mit so viel Nachdruck gesprochen. Mein Großvater hatte sich vorgenommen, irgendwann den Weg zu wählen, sein Leiden zu beenden. Spätestens, wenn sein Leben an einem mobilen Atemgerät hängen würde.

»Max?« Über den Rand seiner Hornbrille sah mich Lorenz an.

»Ja?«, fragte ich und zuckte ertappt zusammen. Ich hatte vergessen, was er gefragt hatte.

»Wie geht es dir jetzt in diesem Moment, was deine Atmung angeht?« Fragend schaute er mich an.

Ich zuckte die Schultern. »Alles okay. Mir geht es gut. Also jetzt gerade geht es mir gut, ja.« Bekräftigend nickte ich.

»Fakt ist, dass das Stadium schon ein recht weit fortgeschrittenes ist. Das zeigen die Bilder.«

»Aber was bedeutet das? Was kann ich tun? Ich habe mit dem Rauchen aufgehört. Es muss doch dann sicher bald besser werden, oder? Kommt das vom Rauchen? Bin ich selbst schuld?« Die Fragen überschlugen sich in meinem Kopf und meine Lippen kamen kaum hinterher, die Sätze zu formulieren. Ich rang meine schweißnassen Hände und meine Stimme klang dünn.

Lorenz schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Auch genetische Veranlagungen sind denkbar. Rauchen ist die Ursache Nummer eins. Das ist richtig. Allerdings trifft auch Nichtraucher diese Krankheit.«

»Das musst du jetzt wohl sagen, klar«, stieß ich hervor und stand auf. Wie ein Tiger hinter Gittern lief ich durch das Sprechzimmer auf und ab. Die stylischen Möbel um mich herum verwischten zu einer einzigen silbernen Wand.

»Wird es wieder gut?«, fragte ich und sah Lorenz in die Augen.

Dieser schien unbeweglich. Ihm fiel es sichtbar schwer, mir die Wahrheit zu sagen. Sein Schweigen war Antwort genug.

Ermattet ließ ich mich wieder in den Sessel fallen. Das Gesicht vergrub ich in meinen auf den Beinen abgestützten Händen. Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben. Gerade verwandelte sich hilflose Verzweiflung bei mir in unbändige Wut. Auf wen war egal. Weder Lorenz Schwarz noch irgendwer anders konnte etwas dafür, was gerade geschah. Wenn, dann musste sich die Wut gegen mich selbst richten, was es kaum erträglicher machte.

Ich hörte noch halb, wie er davon sprach, dass der Verzicht auf Zigaretten dafür sorgen würde, dass die Krankheit langsamer voranschreite. Zerstörtes Gewebe würde jedoch nie wieder repariert werden. Sport sollte ich weiterhin machen, wenn auch in Maßen. So würde ich das ein oder andere Jahr an Lebenszeit gewinnen. Ich solle mein Befinden im Auge behalten und jederzeit auf ihn zukommen, wenn ich Veränderungen feststellte. Gemeinsam würde man einen Weg finden, mit der Krankheit umzugehen. Er druckte mir einige Seiten darüber aus, welche Therapien erfolgversprechend klangen. Ich nahm sie in die Hand, wusste aber nicht, ob ich sie überhaupt lesen wollte. Er stellte noch ein Rezept aus für ein Medikament. »Wir versuchen es erst einmal hiermit, bevor wir die noch stärkere Rezeptur ausprobieren.« Mit diesen Worten hielt er mir das Papier entgegen, welches ich mit zittrigen Fingern nahm.
Wir standen beide auf. Er trat um den Schreibtisch herum und nahm mich väterlich in den Arm. Dankbar für diese Geste nickte ich schwach und klopfte ihm auf den Rücken. Ein Lächeln wollte mir nicht gelingen.

»Max, kann ich gerade irgendetwas für dich tun, außer der Medikamente?«, erkundigte sich Lorenz Schwarz.

Ich schüttelte langsam den Kopf und presste ein »Danke« hervor, bevor ich den Raum verließ.

Vorbei an der bildhübschen Empfangsdame, die verführerisch ihre blonde Mähne aus dem Gesicht warf, als ich den Tresen passierte, und mir einen Blick zuwarf, der unter anderen Umständen vielversprechend gewesen wäre, verließ ich die Arztpraxis. Hatte ich beim Betreten der Praxis noch mit ihr geflirtet, war mit einem Mal alles anders. Der Max, der vor wenigen Minuten die Praxis betreten hatte, war im Sprechzimmer von Lorenz Schwarz verschwunden. Herausgekommen war ein gebrochener Mann, dem das Leben nichts mehr von dem in Aussicht stellte, was er sich ausgemalt hatte. Die Pläne für meine Zukunft, die sich zwischen meinen Hobbys und einem unbeschwerten, unabhängigen Leben bewegten, waren mit einem Mal ins Wanken geraten.


Mir war, als stünde ich neben mir und betrachtete mich von außen.

Eins wurde mir mit jedem klackenden Schritt meiner Lederschuhe auf dem Asphalt klar, als ich in meine Penthouse-Wohnung nahe des Hannoveraner Stadtwaldes lief. Ein Max Brahnfeldt würde nicht elendig dahinsiechen. Alle Hebel würde er in Bewegung setzen, um rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, um auf niemanden auf der Welt angewiesen zu sein. Die Aussicht darauf, eines Tages elendig und womöglich nach dem Sex mit einem One-Night-Stand oder gar ganz allein in einem Jacuzzi auf der Dachterrasse zu ersticken, war wenig verlockend. Ich, der ich soeben gebrochen worden war, beschloss in diesem Moment, mein Ende selbst zu wählen, sobald absehbar war, dass mein Leben tagtäglich weniger lebenswert werden würde.

2. Kapitel


Clara

»Lennart, hast du dich angezogen?« Ich klopfte an die Zimmertür, die über und über mit Postern tapeziert war, und horchte daran, konnte jedoch nichts hören. Vorsichtig öffnete ich die Tür und lugte ins Zimmer. Der Raum war klein und die wenigen Möbel füllten ihn komplett aus. Mein Sohn saß inmitten unzähliger Blöcke und Stifte am Schreibtisch mit Blick aus dem Fenster. Ich lächelte. Er war vertieft in seine Arbeit, hatte gar nicht mitbekommen, dass ich gerufen hatte. Lennart hatte ein Faible für außergewöhnliche Autos und Helikopter. Sein Zimmer war voller Exemplare aus Bausteinen oder Plastik und in jeder freien Minute zeichnete der Neunjährige selbst an einem Comic mit seinem persönlichen Superhelden in großen Autos. Ich liebte seine Leidenschaft fürs Zeichnen, weil sie meiner, dem Handlettering, ähnlich war und ich da eine Seite erkannte, die ich gerne an mein Kind weitergegeben hatte. Außerdem half ihm, wie mir auch, das kreative Arbeiten. Wir zeichneten uns in unsere Traumwelt, die aus Helden und Autos bei ihm und tiefgründigen Worten bei mir bestand, und beide schöpften wir daraus auf unsere Art neue Kraft, wenn uns mal wieder alles über den Kopf wuchs, was aktuell leider häufiger der Fall war.

»Lenni, ziehst du dich an?«, sagte ich und mein Sohn zuckte erschrocken zusammen.

»Mach ich.« Dann legte er die Stifte zur Seite, stand auf und trat zum Schrank. Zufrieden ging ich wieder nach unten.

Heute waren wir bei alten Freunden meiner Eltern eingeladen. Meine Mutter hatte mich gebeten, mitzukommen. Ich freute mich darauf, das Ehepaar nach Jahren einmal wiederzusehen. Viel zu lange war unsere letzte Begegnung schon her. Dabei mochte ich die zwei. In meiner Kindheit hatte ich jede freie Minute bei den Brahnfeldts verbracht. Schuld daran, dass wir uns nicht mehr sahen, war deren Sohn. Max Brahnfeldt und ich waren in Kindheits- und Jugendtagen beste Freunde gewesen. Zusammen hatten wir die Abenteuer unserer Kindheit erlebt. Nichts und niemand hätte uns je trennen können, dachten wir. Leider hatten wir dann mit 25 eine Affäre und mussten lernen, dass es sehr wohl Dinge gab, die uns entzweien konnten. Nämlich die Fähigkeit, einen Menschen zu lieben und an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Diese besaß bedauerlicherweise nur ich. Ich war in Max verliebt bis über beide Ohren und es gab nichts anderes mehr in meinem Kopf als ihn. Obwohl wir schon ewig unzertrennlich waren, war ich vollkommen überrumpelt davon gewesen, wie anziehend ich diesen Mann mit einem Mal fand, nachdem er nach einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt war. Er war erwachsen geworden, meinte ich jedenfalls. Er sah umwerfend aus und hatte eine Ausstrahlung, die plötzlich unwiderstehlich war. Nach seiner Rückkehr war er in das Unternehmen seines Vaters eingestiegen. Max hatte eine Leidenschaft für Sportwagen und verbrachte im Rahmen verschiedener Rallyes und Autorennen mehrere Wochen im Jahr an exklusiven Orten rund um die Welt. Ich schaute bewundernd zu ihm auf. Weniger, weil materielle Werte mir imponierten. Es faszinierte mich vielmehr, wie er das lebte, was ihm Freude bereitete und dabei voll in seinem Element war. Seine Augen strahlten, wenn er mir Bilder seiner Fahrten zeigte und er riss mich in seiner Begeisterung mit, auch wenn das nie meine Welt war. Wobei mir persönlich der Ort, an den seine Familie mich manchmal mitnahm, von allen Orten, die ich kannte, am besten gefiel. Seine Eltern besaßen ein Haus auf Sylt. Schon als Kind fuhr ich einige Male mit auf die Insel und spürte noch heute das Gefühl von Freiheit und Glück, wenn ich an die Stunden am Strand und die Streifzüge durch die Heidelandschaft oder die kleinen Wäldchen der Insel dachte. Bis weit über die Kindheit hinaus fuhren wir immer mal gemeinsam nach Sylt. Zuletzt in dem Monat, in dem unsere Freundschaft ein Ende nahm. Wir hatten in diesem Sommer vor über zehn Jahren das Haus nur zum Feiern oder zum Entspannen am Strand verlassen. Dieser Sommer würde für immer eine Erinnerung in meinem Herzen bleiben, die ich mit der Insel, meinem Herzensort, verband. Die Tage mit Max, die wir dort verbrachten, waren das Paradies für mich. Leider überschattet davon, dass ich nie die Einzige für diesen Mann war und sich noch während des Urlaubes unsere Wege trennten. Er servierte mich nach einer gemeinsamen Nacht ab, gestand mir, bereits seit längerem mit mehreren anderen Frauen ebenfalls was am Laufen zu haben. Die anderen Frauen seien ihm egal, zu mir wollte er wenigstens ehrlich sein. Für mich brach eine Welt zusammen, obwohl ich im Rückblick froh sein konnte, diesen Menschen los zu sein, und es heute auch war. Ich wollte eine Familie und für ihn kamen Kinder nicht in Frage, sie interessierten ihn überhaupt nicht.

Bald darauf begegnete ich dann Paul. Ich war schnell schwanger und wir bekamen unser Kind Lennart. Es hatte so sein sollen, dass ich noch mitten in meiner Trauer um das Ende meiner Freundschaft mit Max Pauls Nähe zuließ. Es gelang mir mit jedem Jahr besser, die Geschichte mit Max zu vergessen und mich ganz auf meine Familie und meine Arbeit als Erzieherin zu konzentrieren, obwohl mein bester Freund von früher mir oft fehlte.

Nach dieser Geschichte hatte ich seine sympathischen Eltern dann nicht mehr so oft gesehen. Ich freute mich daher wirklich auf das heutige Treffen. Der Garten des Brahnfeldtschen Anwesens war gigantisch und würde Lennart ein paar Stunden spannende Beschäftigung bieten. Das war in meiner Kindheit schon so gewesen, wenn ich meine Mutter zu den Brahnfeldts begleiten durfte. Das Größte für Lennart wäre eine Fahrt in einem der Autos von Konrad, Max' Vater.


Polternd kam Lennart in diesem Moment die Treppe herunter. Bei seinem Anblick stellte mein Mutterherz gerührt fest, dass er meinen eher scherzhaft gemeinten Hinweis, es handele sich bei der Familie, bei der wir zu Gast waren, um äußerst feine Leute, durchaus ernst genommen hatte. Er trug eine dunkelblaue Hose und hatte dazu sein einziges weißes Hemd angezogen. Die braunen Haare hatte er mit Papas Gel sorgfältig zur Seite gekämmt. Unsicher grinste er mich an. »Ist es so okay, Mama?«, fragte er und legte den wohlfrisierten Kopf schief. Ich lächelte, beugte mich zu ihm und nahm ihn fest in den Arm. »Du siehst toll aus, mein großer Schatz. Du machst mich sehr stolz«, flüsterte ich ihm ins Ohr und drückte ihm einen Kuss auf die weiche Wange, den er entrüstet abwischte. Ich musste schmunzeln. Wann war mein Baby eigentlich so groß geworden? Ich war froh, dass er so glücklich wirkte.

Lennart hatte vor einigen Tagen gehört, wie wir wegen des Geldes stritten. Ich hatte im Zorn gesagt, dass ich für Lennart, für unser Glück vieles aufgegeben hätte und das auch nicht immer leicht für mich wäre. Es würde das Geld fehlen und es wäre auch mein Beruf, der mir fehlte.

Dabei würde ich jede Sekunde wieder so entscheiden und alles dafür tun, um für ihn da zu sein. Paul warf mir im Streit vor, nicht anzuerkennen, was er täglich für uns leistete. In dem Moment war es Paul dann gelungen, mich bis aufs Blut zu reizen und mich im Zorn zu dieser Aussage zu bringen. Wie eine Narbe hatten diese Gedanken sich im Kopf meines Sohnes eingebrannt und sorgten an schwarzen Tagen dafür, dass er traurig war, und ich erst recht. Das machte meine Vorwürfe Paul gegenüber nicht unbedingt kleiner und wir befanden uns in einem Teufelskreis.

Wenn ich ehrlich war, fiel es uns schwer, die Fassade der heilen Familie aufrechtzuerhalten, die wir aktuell gar nicht waren. Zeitweise funktionierte ich nur noch. Wir traten so auf, als wäre alles wie immer und spielten uns vielleicht selbst vor, dass das irgendwann dazu führen würde, dass es wirklich wieder wie immer werden würde.

Seufzend griff ich nach der Jacke und reichte sie meinem Sohn, dankbar, ihn heute so voller Vorfreude zu sehen. Sein Anblick zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Die Sonne schien und wir würden uns einen schönen Nachmittag machen. Die Aussicht auf Konrad Brahnfeldts Sportwagen-Sammlung hatte Lennart schon Abende zuvor einiges an Schlafenszeit geraubt. Auch Paul kam mit. Er hatte sich extra Zeit genommen.

3. Kapitel


Max

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Während ich, entgegen aller Warnungen von Lorenz, den Tag im Zwiegespräch mit Google verbracht hatte, um möglichst gut über meine Krankheit informiert zu sein, hatte meine Mutter angerufen. Meine Eltern luden für den nächsten Tag zum gemütlichen Kuchenessen mit ihrem alten Freund Theo Loeser und dessen Frau ein. Theo und Ulrike waren schon ewig mit meinen Eltern befreundet und wir hatten uns immer gut verstanden. Es kam nicht mehr oft vor, dass wir uns trafen.


Warum sie ausgerechnet auf meine Gesellschaft Wert legten bei diesem Kaffeeklatsch, war mir schleierhaft. Ich hatte wenig Lust, zumal mein Kopf sich seit dem Termin mit Lorenz nur noch um die Diagnose drehte. Mir war aktuell nicht danach zumute, fröhlich plaudernd Kaffee und Kuchen zu genießen.

Die Nachricht auf meiner Mailbox ließ ich zunächst unbeantwortet und überlegte, was ich meiner Mutter sagen sollte, ohne dass sie hellhörig werden würde. Ich wollte mit niemandem über die Erkrankung reden.

Um mich abzulenken, griff ich zum Handy und schrieb Philip eine Nachricht. Ein Abend mit ihm würde mich vorerst auf andere Gedanken bringen.


Schon eine Stunde später lehnten wir an der Bar unserer Stammkneipe. Reza, der Barkeeper, philosophierte wie immer über das Leben. Wir bestellten bei Reza jeweils ein weiteres Getränk und Philip zeigte mir seine neuste Errungenschaft.

»Hier!« Auf seinem Handy sah ich ein Foto einer Uhr. »Ich bin der Erste, der sie bekommen hat. Genial, oder?« Philips Augen strahlten. Ich nickte anerkennend. »Stark. Gratulation!« Ich lächelte und Philip lehnte sich zufrieden zurück. »Ich gönne mir das jetzt. Die letzten Monate waren gigantisch. Man muss schließlich wissen, wofür man das alles tut. Irgendwann ist man alt und dann sollte man doch zurückschauen und sagen Hey, war geil!, oder?« Philips strahlend weiße Zähne fielen mir auf, während er voll in seinem Element war. Wieder nickte ich. Ich schaute ihn an und überlegte, dass gerade nur noch fehlte, dass er sich selbst auf die Schulter klopfte. Ob er merkte, dass meine Gedanken woanders waren? Normalerweise lagen wir absolut auf einer Wellenlänge. Mir war es ja selbst unheimlich, aber was er erzählte, drang kaum noch zu mir vor. Ich wusste nicht, wie schnell die Krankheit komplett Besitz von mir ergreifen würde. Ob ich jemals alt sein würde und auf irgendwas zurückschauen könnte? Aktuell stand das in den Sternen. Wobei das leider so gar nicht stimmte. Wenn ich Lorenz Glauben schenken wollte, wusste ich, dass ich sicher niemals alt werden würde. Dazu würde es nicht kommen. Ganz abgesehen davon, konnte ich mir nicht mehr eindeutig beantworten, ob es wirklich materielle Werte waren, auf die ich gerne zurückschauen wollte. Bis vor Kurzem war ich komplett Philips Meinung. Doch die Diagnose hatte mich bereits verändert.

Aber ich wollte keinen Streit mit ihm.

Philip schwafelte weiter von Dingen, die heute nicht zu mir vordrangen.

Mit einem Zug trank ich mein Getränk und stellte das leere Glas auf den Tresen. Reza zückte sofort ein Neues. Ich gab ihm jedoch zu erkennen, dass ich nichts mehr trinken wollte. Irritiert hob er die Schultern und schaute Philip fragend an.

»Ist alles in Ordnung, mein Bester?«, fragte Philip und legte die Hand auf meine Schulter.

»Klar«, log ich. In dem Moment, in dem ich ihm in die Augen sah und nickte, spürte ich, wie oberflächlich unsere Freundschaft war. Er hatte gar keine andere Antwort hören wollen. Sein Blick wanderte schon wieder durch den Raum und war auf der Suche nach einer möglichen Bekanntschaft. Diese Erkenntnis war ernüchternd.

»Alles okay. Ich bin irgendwie müde. Sei nicht sauer, aber ich muss ins Bett«, entschuldigte ich mich und klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter. Außer eines verständnislosen Blickes kam nichts von ihm.

Als ich gerade aus der Tür ging, kamen zeitgleich die zwei Frauen herein, die wir vor einigen Monaten kennengelernt hatten. Wir hielten lockeren Kontakt, der meist über Philip lief. Die eine der Frauen, Eva, lebte abwechselnd auf Sylt und in Hannover. Ihr Vater betrieb einige Hotels. Derzeit war sie für ein paar Wochen in ihrer Heimatstadt in Niedersachsen, wie mir Philip berichtet hatte.

Eva blieb stehen, als sie mich sah. »Max, schön, dich zu sehen«, hauchte sie mir ins Ohr. Sie legte ihren schlanken Arm um meinen Hals und ihr süßer Duft umnebelte mich. Mir fiel auf, wie gepflegt ihre Haare waren und wie aufwendig sie ihre Nägel lackiert hatte. Ich erwiderte ihre Umarmung und in dem Moment, in dem ihre Hand meine Wange berührte und ich meine auf ihre legte, dachte ich kurz darüber nach, wie verlockend die Aussicht auf eine weitere Nacht mit ihr wäre. Aber zu meinem eigenen Entsetzen reizte mich diese Vorstellung nur einen Wimpernschlag lang. Dann zog ich die Hand zurück und vergrub sie in meiner Manteltasche. Ein fragender Blick traf mich, bevor ich schweigend die andere Hand hob und mich verabschiedete. »Max, ich würde gerne mit dir reden«, rief Eva mir hinterher, doch ich tat so, als höre ich sie nicht. Ich wollte nicht mit ihr reden, das stand fest. Nicht heute und auch in den nächsten Tagen nicht. Für einen Moment fürchtete ich, sie würde mir folgen, was sie aber nicht tat. Erst eine SMS, die mich auf dem Nachhauseweg erreichte, zeigte mir, dass meine Veränderung nicht unbemerkt geblieben war und die Frau andere Pläne für den Abend gehabt hatte.

Eva 0153 484 736 666

Sie kam von Philip.

Ich löschte die Nachricht.

4. Kapitel


Clara

»Wow!« Lennarts Augen wurden immer größer, als wir das Anwesen der Familie Brahnfeldt erreichten. Eine Villa wie aus einem Roman über eine Adelsfamilie stand inmitten eines weitläufigen Parks. Alter Baumbestand, der zum Klettern einlud, zeigte sich, ebenso ein großer Pool vor der Terrasse. Mit einem Mal waren Bilder von früher da, die ich lange verdrängt hatte. Ich schluckte und knetete meine Hände. Jahrelang war ich nicht mehr hierhergekommen. Ich seufzte, woraufhin ich ertappt zusammenzuckte, weil ich hoffte, Paul habe es nicht mitbekommen.

»Das wäre dein Preis gewesen«, sagte Paul mit einem Mal. Irritiert schaute ich ihn an.

Paul nickte wie zur Bestätigung seiner Feststellung. »Was geht dir durch den Kopf, wenn du das hier alles siehst?«, fragte er.

»Dass ich froh und dankbar bin, dich getroffen zu haben, und dass ich unser Leben um nichts in der Welt eintauschen würde«, sagte ich und griff nach Pauls Hand. Ich drückte sie leicht. Paul hatte mich, als meine Eltern mal von den Brahnfeldts erzählten, gefragt, warum mein Freund Max und ich nie ein Paar geworden waren. Von unserer Affäre wusste Paul gar nichts. Sie lag vor unserer Zeit und da Max seit seinem Abgang keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt hatte, fand ich auch, dass diese eine Nacht kein Thema mehr sein musste. Meine beste Freundin Maja hatte mir damals dann ihren Bruder Paul vorgestellt. Sie hatte es nicht länger ertragen können, mich Max hinterhertrauern zu sehen. Sie hasste Max und war seit jeher überzeugt, dass Paul der Richtige für mich war. Zu schwach, um damals diese Verkupplungsaktion abzuwenden, war ich mitgegangen, wollte meine Sorgen wegtanzen und bei lauter Musik vergessen. Dass Paul mit mir flirtete, wie es noch nie ein Mann getan hatte, und mich an diesem Abend auffing, überrumpelte mich selbst, aber ich ließ es dankbar zu. Es war dann schnell mit uns gegangen. Ich hatte mich in die herzensgute und fürsorgliche Art des Bruders meiner besten Freundin verliebt. Sie schmeichelte meinem verletzten Herz, das sich so sehr nach liebevollen Umarmungen gesehnt hatte. Ich dachte lange Zeit trotzdem weiter an Max, weil er mir als mein bester Freund fehlte.

Ich hasste es, wenn Paul so sprach wie jetzt. Wenn ich die Erzählungen meiner Mutter richtig deutete, gab es kaum jemanden, der einen höheren Verschleiß an Frauen vorwies, als Max. Wenn es im Leben darum ging, möglichst wenig Freunde zu haben und umso mehr Menschen zu verletzen, war er wahrscheinlich heute der ungeschlagene König dieser Disziplin, wenn er in den letzten zehn Jahren weiterhin ähnlich skrupellos wie mir gegenüber durch seinen Bekanntenkreis gepflügt hatte. Wie als verband uns nie mehr als eine schnelle Bekanntschaft, hatte er sich aus meinem Leben verabschiedet. Unsere Eltern wussten nicht, warum unsere Freundschaft ein Ende nahm. Sie dachten, wir hätten uns aufgrund unserer völlig verschiedenen Interessen und Ziele im Leben einfach auseinandergelebt, was auch plausibel erschien.


Als wir unseren alten Golf direkt neben einem der neusten Geländewagen-Modelle parkten, wurden schlagartig Lennarts Augen größer. Andächtig lief er zur Fahrertür und schaute in das Fahrzeug. Er pfiff anerkennend. »Das ganz neue Modell. Ein Traum!«, geriet er ins Schwärmen und lief um das Auto herum, als sei es der Heilige Gral. Paul zog er hinter sich her. Gemeinsam betrachteten sie jedes Detail und unser Sohn kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Mit verschränkten Armen stand ich da und beobachtete das Treiben schmunzelnd.


Das Auto meiner Eltern parkte bereits vor dem Haus. In diesem Moment ging die Haustür auf und Bina stand im Türrahmen. Bina war eine warmherzige Mama und Ehefrau, die ihrem Mann auch im Unternehmen eine Stütze war. Sie arbeite an der Seite ihres Mannes in der Buchhaltung des Autohauses. Sie hatte mir immer das Gefühl gegeben, dass ich ein gern gesehener Gast war im Hause Brahnfeldt.

»Bina!« Ich trat auf sie zu und umarmte sie zur Begrüßung. Ihr Parfum duftete noch genauso wie damals und gab mir ein vertrautes Gefühl.

»Clara, Liebes! Ich freue mich so sehr, dass du mitgekommen bist! Wir haben dich entschieden zu lange nicht gesehen. Wie wunderbar, dass du es einrichten konntest!« Binas Strahlen wirkte aufrichtig begeistert und ich meinte es ebenso ernst, als ich erwiderte, dass ich mich freute, endlich wieder hier zu sein.

»Paul, nehme ich an?«, sagte sie freundlich und schritt auf meinen Mann zu, der noch immer um das Auto herumschlich. »Guten Tag, Frau Brahnfeldt. Herzlichen Dank für die Einladung«, entgegnete Paul höflich. Sie reichten sich die Hand und Bina deutete uns an, einzutreten.

Lennart drehte sich zu ihr um und hielt ihr zur Begrüßung schüchtern die Hand entgegen. Bina legte ihre Hände um seine und lächelte ihn an. »Lennart, wie schön, dass du auch da bist. Wie du siehst, steht auch schon ein Auto bereit.« Sie zwinkerte und Lennart grinste von einem Ohr zum anderen.

Wir begrüßten meine Eltern und Bina bat uns, Platz zu nehmen. Als alle saßen, fiel mir auf, dass ein Gedeck übrigblieb. Mein Puls schnellte in die Höhe. Ich fürchtete, es konnte nur einen Grund geben, warum für eine zusätzliche Person eingedeckt war.

Ich konzentrierte mich darauf, nicht panisch zu werden, und atmete tief ein und aus. Meine Hände wurden feucht und ich ärgerte mich darüber. Warum um alles in der Welt gelang es mir als erwachsene, noch dazu verheiratete Frau mit Mann und Kind an ihrer Seite nicht, über den Dingen zu stehen, die in der Vergangenheit geschehen waren? So sehr mich Max Brahnfeldt damals verletzt hatte, so positiv war mein Leben schließlich seitdem verlaufen.

Ich stand auf, um Bina zu helfen, die gerade ein Tablett mit Champagner hereintrug.